Verraten, verkauft, verfeindet

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Verraten, verkauft, verfeindet
Friedenspolitiker mit Makel
Staatsmann in Denkerpose: So sah sich Peres gern. Das Bild entstand 2012 in New York. Foto: Todd
Heisler (Laif)
Israels ehemaliger Präsident Shimon Peres ist gestorben. Ob er als Architekt des OsloAbkommens tatsächlich der grosse Friedenspolitiker war, als der er galt, ist zweifelhaft.
Ein Nachruf von Claudia Kühner, TA vom DO 29. September 2016
Er war international eine der geachtetsten Figuren Israels. Im Alter von 93 Jahren ist der
frühere Staatspräsident Shimon Peres gestorben. Aus Polen als Kind nach Palästina
eingewandert, wurde aus Peres der am längsten dienende Politiker Israels.
In Staatsgründer David Ben Gurion hatte er seinen Förderer gefunden, und als Mitglied der
jahrzehntelang dominierenden Arbeitspartei bekam er schon jung wichtige Posten in der
Ministerialbürokratie. Peres hat in den Anfangsjahren des Staates Wesentliches für die
Waffenbeschaffung geleistet - bis 1967 war hier Frankreich der wichtigste Partner Israels.
Ebenso ist Peres Name mit Israels Atompolitik und der Errichtung des Kernreaktors in Dimona
verbunden, was ebenfalls Frankreich zu verdanken war. Peres führte die entscheidenden
Verhandlungen.
Mangelnde Militärerfahrung
Auf diese frühe Zeit geht aber auch ein entscheidendes Manko für seine künftige Karriere
zurück: Peres hat im Unabhängigkeitskrieg von 1948 nicht gekämpft wie seine späteren Rivalen
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Moshe Dayan oder Yitzhak Rabin. Er liess sich stattdessen von Ben Gurion ins Ausland
schicken, um Waffen zu kaufen. Peres hat keinerlei militärische Verdienste aufzuweisen - was
mit dazu beitrug, dass er nie das Ansehen seiner Konkurrenten und schliesslich nie eine Wahl
zum Premierminister gewann. Selbst Staatspräsident wurde Shimon Peres 2007 erst im zweiten
Anlauf.
1959 wurde Peres erstmals in die Knesset gewählt. Er bekleidete zahlreiche hohe Posten in
verschiedenen Ministerien, wurde 1974 unter Premier Rabin Verteidigungsminister und
gleichzeitig Rabins ewiger interner politischer Rivale, dem er in parteiinternen Wahlen stets
unterlag. Sein Nachfolger konnte er nur werden, weil Rabin 1977 zurücktrat und 1995 nach
dessen Ermordung.
Als Parteichef hatte Peres 1977 die historische Niederlage der Arbeitspartei nach vierzig Jahren
zu verantworten, die der Rechten unter Menachem Begin den Weg an die Macht ebnete. Dass
Peres 1984 wieder für zwei Jahre Premier wurde, war nur einem Rotationsabkommen in einer
Grossen Koalition zu verdanken.
Geheimkontakte zur PLO
In Erinnerung wird Peres als Architekt des Oslo-Abkommens von 1993 zwischen Israel und der
PLO bleiben. Er war nun Aussenminister unter Rabin und hatte im Geheimen via Norwegen
Kontakte zur PLO geknüpft. Das war eine couragierte Tat, die schliesslich 1994 gekrönt wurde
vom Friedensnobelpreis für ihn, Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat. Doch es war Yitzhak Rabin
gewesen, der dafür mit dem Leben bezahlte.
Statt nach der Ermordung Rabins 1995, nach der er automatisch im Amt folgte, rasche
Neuwahlen zu lancieren, zögerte Peres die Wahl bis 1996 hinaus, die er aufgrund eigener
Verdienste gewinnen wollte. Das Kalkül ging nicht auf, er unterlag Benjamin Netanyahu. 1996,
nach Raketenangriffen der Hizbollah auf Nordisrael, ordnete er die Operation «Früchte des
Zorns» im Libanon an, in deren Folge auch über 100 Zivilisten starben. Dieser kleine
Libanonkrieg kostete ihn nun auch die Stimmen der israelischen Araber, was zu seiner
Wahlniederlage mit beitrug. In der Bevölkerung war Peres ohnehin nie beliebt; man traute ihm
und seinen politischen (Wende-)Manövern nicht. 2001 schloss er als Chef der Arbeitspartei eine
Grosse Koalition mit dem politischen Gegner Ariel Sharon und wurde erneut Aussenminister.
2005 nach dem Rückzug aus dem Gazastreifen wechselte Peres gar zu Sharons neuer Partei
Kadima - es war die fünfte Partei in seiner langen Karriere. Er befürwortete den Rückzug aus
dem Gazastreifen, den Sharon aus Kosten-Nutzen-Erwägungen durchsetzte. Der Parteiwechsel
hatte aber auch damit zu tun, dass Peres seinem Rivalen Amir Peretz unterlegen gewesen war
bei der Wahl zum Parteichef und der ihm für die Wahlen 2006 keinen sicheren Listenplatz
garantieren wollte.
Peres seinerseits wurde nun immer mehr als bedeutender Friedenspolitiker angesehen und
inszenierte sich auch so. Das allerdings galt im Wesentlichen nicht für sein Ansehen in Israel
selber, sondern nur im Ausland. Und obwohl sich Oslo nicht als das grosse Friedensprojekt
erwies. Nicht erweisen konnte, weil die Besiedlung der besetzten Gebiete und das harte
Besetzungsregime ungebremst fortgeführt wurden. Auch Shimon Peres hatte eine zwiespältige
Haltung gegenüber einer echten Zweistaatenlösung. Er war wie alle massgebenden
zionistischen Politiker überzeugt vom Recht, die besetzten Gebiete zu besiedeln. Ohnehin war
die Siedlungspolitik nie nur eine Politik der Rechten. Einer der grössten Förderer war
beispielsweise Ehud Barak gewesen, auch er einstiger Spitzenpolitiker der Arbeitspartei. Die
Palästinenser schätzten auch Peres in erster Linie als ein Sicherheitsproblem ein, dem nur
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militärisch beizukommen war - etwa angesichts der Selbstmordattentate ab Mitte der 90erJahre.
Die israelisch-deutsche Historikerin und Autorin einer kritischen Peres-Biografie, Tamar AmarDahl, erklärt diese vordergründigen Widersprüche mit der allgemeinen und von Peres geteilten
Haltung, wonach militärische Gewalt immer nur als Selbstverteidigung und somit als rechtens
zu werten ist. Vor diesem Hintergrund verteidigte er auch Sharons Projekt eines Sperrwalls in
der Westbank. So blieb auch Peres Eintreten für eine Zweistaatenlösung im Wesentlichen ein
Lippenbekenntnis, dem keine Taten folgten und das vor allem das Ausland günstig stimmen
sollte. Darin war Peres dann allerdings höchst erfolgreich. Auch wenn von Oslo nichts übrig
geblieben ist. Die Verantwortung dafür hat man in Israel immer auf der anderen Seite gesehen.
Er sammelte Berühmtheiten
1997 gründete er das Peres-Center for Peace. Auf der Website preist sich das Center als
«führend» in der Friedensarbeit zwischen Israelis und Palästinensern an. Allerdings spiegelt
sich das in der öffentlichen Wahrnehmung nicht. Mit den Jahren und besonders seit er 2007
Staatspräsident wurde, entwickelte sich um Peres eine Art Personenkult in demokratischem
Gewand - jedenfalls sehen das seine Kritiker so.
Peres sammelte ausländische Zelebritäten um sich, von Bill und Hillary Clinton über Tony Blair
bis zu Barbra Streisand, und wenn die nicht gerade in der Nähe war, notfalls Iris Berben. Der
eine schmückte sich mit dem anderen. Jetzt endlich genoss Peres das Ansehen, das er als
aktiver Parteipolitiker nie gehabt hatte. Das glänzende Image wurde schlagartig überschattet,
als bekannt wurde, dass zu seinem 90. Geburtstag 2013 Bill Clinton im Peres Center ein Referat
für 500 000Dollar halten sollte, bezahlt vom Jüdischen Nationalfonds. Die öffentliche
Empörung war gross und legte sich erst, als Clinton zusagte, das Honorar für Stipendien zu
stiften. Abgehobenheit und übergrosses Ego wurden Peres seither wiederholt vorgeworfen.
Seinem Ruf tat auch nicht gut, dass er sich nach Ende seiner Amtszeit auf ein Angebot einer
israelischen Bank einlassen wollte, das umgerechnet 30 000Franken pro Monat eingetragen
hätte. Als Kritik laut wurde, gab er den Plan auf. Solches Verhalten kontrastierte zu sehr das
Image, das er von sich verbreiten wollte, das des selbstlosen, nur der grossen Sache des
Friedens dienenden Mannes.
Mit seinem Namen wird immer der Begriff «Oslo» verbunden bleiben. Aber er impliziert auch
ein Scheitern, und das zu verhindern, hat Shimon Peres nichts beizutragen vermocht.
«Trump ist das Sprachrohr des Hasses gegen uns»
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Valerie Wilson Wesley im Garten ihres Hauses in Montclair, New Jersey: «Eltern versuchen, ihre Kinder vor
dem Rassismus zu schützen.»
Die afroamerikanische Krimi-Autorin Valerie Wilson Wesley hat gelernt, mit dem Rassismus in
den USA zu leben. Bei den Wahlen hofft sie auf einen Sieg von «Sister Hillary», rechnet aber
mit dem Schlimmsten.
Mit Valerie Wilson Wesley sprach Christof Münger
Montclair, New Jersey, TA vom DI 27. September 2016
Der Rasen ist überall gemäht an der Upper Montclair Avenue, die Bäume sind hoch, die Häuser
gepflegt. Nicht steril oder protzig, wie man es aus neuen amerikanischen Vorstädten kennt,
sondern unaufgeregt und alteingesessen. Filmregisseur Steven Spielberg und Mondfahrer Buzz
Aldrin haben hier ein Haus, auch «Kojak» Telly Savalas wohnte in der Gegend, sein
Einsatzgebiet Manhattan ist mit der S-Bahn New Jersey-Transit in einer halben Stunde
erreichbar.
Wir sind unterwegs zu Valerie Wilson Wesley (68), Krimi-Autorin und Erfinderin von Tamara
Hayle, der ersten schwarzen Privatdetektivin in der US-Literatur. Die Ermittlerin arbeitet
allerdings nicht hier im beschaulichen Montclair, sondern im nahen Newark. Das ist die grösste
Stadt New Jerseys, die Europäer kennen sie vom Namen her wegen des gleichnamigen
Flughafens. Valerie Wilson Wesley ist selber Afroamerikanerin. Ihr Mann Richard Wesley
schreibt Drehbücher und Theaterstücke.
Ob es sich bei Upper Montclair eher um ein weisses oder ein schwarzes Quartier handelt, wissen
wir nicht, niemand ist auf der Strasse. Alles ruhig. Neben Valerie Wilson Wesleys Haustür steht
ein Kindervelo. «Das gehört meinem neunjährigen Enkel, dem Sohn meiner älteren Tochter»,
sagt sie, als sie öffnet. Der Knabe wohne mit seiner Mutter ebenfalls hier. «Sonst hätten wir
dieses grosse Haus längst verkauft.» Valerie Wilson Wesley freut sich über das mitgebrachte
Schweizer Sackmesser, das Tamara Hayle jeweils bei sich trägt, wenn sie verdeckt ermittelt.
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«Endlich das Original», lacht Wilson Wesley und setzt sich fürs Interview in einen
Schaukelstuhl.
Häufig werden Afroamerikaner getötet, wenn sie auf die Polizei treffen, zuletzt
Keith Lamont Scott in Charlotte oder Philando Castile bei Minneapolis. Sind die
USA rassistischer geworden?
Nein, das waren sie schon immer. Nur haben die Jugendlichen heute Kameras dabei. Wir haben
die Polizei immer gefürchtet. Als Kind hatte ich Albträume, dass meinem Vater etwas zustösst.
Und ich weiss noch, wie Angst in seine Augen kam, als er einmal von der Polizei kontrolliert
wurde. Man weiss nie, ob es ein guter oder ein schlechter Polizist ist. Dazu kommt, dass viele
Waffen im Umlauf sind. Trayvon Martin wurde in Florida von einem Zivilisten getötet. Wenn
jemand Schwarze oder Latinos nicht mag, sind diese vielen Waffen die Zutaten für ein Desaster.
Helfen die Kameras, weitere Desaster zu verhindern?
Zumindest kann nun jeder sehen, was passiert. Früher behauptete man, die Polizei behandle die
Leute in armen Gegenden gleich wie alle anderen. Das ist vorbei. Vor 23Jahren gab meine ältere
Tochter, sie war damals 19, hier zu Hause eine Party. Mein Mann und ich waren unterwegs. Es
war eine Party von schwarzen Jugendlichen. Unser Quartier ist mehrheitlich weiss und nicht
arm, die Stadt ist liberal, wir fühlten uns sicher und beschützt. Bis zu jenem Abend, als die
Polizei kam und zuschlug.
Weshalb?
Ich weiss es nicht. Von unseren weissen Nachbarn wollte niemand die Polizei gerufen haben.
Als wir heimkamen, herrschte Chaos, der Teppich war voller Blut, die Möbel waren umgedreht,
als ob die Polizei etwas gesucht hätte. Aber sie fanden nichts, keine Drogen, nicht mal Schnaps.
Mehrere Jugendliche wurden verhaftet, auch meine Tochter, die sich den Polizisten tapfer
entgegengestellt hatte. Es war ein Wunder, dass niemand erschossen wurde.
Waren die Polizisten weiss?
Es hatte auch einen oder zwei Schwarze dabei. Aber die Polizei ist nicht schwarz oder weiss,
sondern blau. Ich berichtete über den Vorfall im «Essence»-Magazin (eine Frauenzeitschrift,
die sich an Afroamerikanerinnen richtet, die Red.) und in meinem Blog. Heute würde alles
gefilmt. Ich selbst fühlte mich nicht mehr sicher. Wenn ich einen Polizisten sah, hatte ich Angst.
Ich befürchtete, dass die Polizei uns Drogen unterjubelt, um nachträglich die Aktion zu
rechtfertigen.
Wie hat Ihre Tochter reagiert?
Ihr Verhältnis zur Polizei ist seither gestört, sie ist immer noch wütend. Meine beiden Töchter
gewöhnten sich daran, dass sie anders behandelt werden, weil sie schwarz sind. Als sie aufs
College gingen, wurden sie immer wieder von der Polizei angehalten, jedoch stets laufen
gelassen, weil sie Mädchen waren. Einmal jedoch durchsuchten die Polizisten nicht die Jungs,
sondern meine Töchter nach Waffen und Drogen. Und wie sie die Mädchen anfassten - das war
ein sexueller Übergriff. Den Polizisten ging es nur darum, die Jungs, die dabei waren, zu
provozieren. Deshalb mache ich mir Sorgen wegen meines kleinen Enkels.
Hat er auch schon Bekanntschaft mit der Polizei gemacht?
Nicht direkt. Aber vor einem Jahr spielte er mit einem Freund vor unserem Haus. Dieser Knabe
hatte eine Spielzeugpistole dabei. Das war, kurz nachdem ein Bub in Cleveland von der Polizei
erschossen worden war, weil er eine solche Plastikpistole in der Hand hielt. Als mein Mann
unseren Enkel mit der Spielzeugpistole sah, rannte er wie eine Furie aus dem Haus und entriss
sie ihm.
Die Heldin Ihrer Krimis ist Tamara Hayle, eine Art Alter Ego von Ihnen. Sind Ihre
Krimis politisch?
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Es geht mehr um die Familie. Der neue Hayle-Krimi, an dem ich arbeite, ist politischer, weil
darin ein Schwarzer von Polizisten erschossen wird. Ich werde ja beeinflusst von dem, was ich
in den News sehe. Aber es geht vor allem um die schwarzen Frauen, die sich verletzlich fühlen
wegen ihrer Söhne und Brüder. Sie wissen nie, was passieren wird.
Als alleinerziehende Mutter hat Tamara Hayle permanent Angst, dass ihr
halbwüchsiger Sohn getötet wird. Begleitet diese Angst jede schwarze Familie?
Inzwischen ja. Nicht nur wegen der Polizisten, sondern auch wegen der Gangs, Drogen und
vielen Waffen. In diesem Land sind schwarze und vor allem arme Kinder weit verletzlicher als
andere.
Leiden die Afroamerikaner an einem Minderwertigkeitskomplex?
Alles hängt davon ab, was man hat. Arme haben keine Macht. Sie stehen unter Druck, das löst
eine Reaktion aus. So wie in Milwaukee oder nun in Charlotte, wo der Tod eines
Afroamerikaners zu schweren Unruhen führte. Halt geben kann eine starke Familie, aber das
Problem der Hautfarbe bleibt. Als ich ein Kind war, durften wir nicht einmal ins Restaurant.
Aber Ihr Vater war doch US-Offizier.
Und was für einer! Er war ein hoch dekorierter Oberst der Luftwaffe. Er gehörte zu den
berühmten Tuskegee Airmen, den ersten schwarzen US-Militärpiloten, und kämpfte im Zweiten
Weltkrieg. Trotzdem wurde er danach in den USA diskriminiert. Er war im Krieg für sein Land,
aber seine Kinder mussten in eine nach Hautfarbe getrennte Schule. So wurden wir Teil der
schwarzen Gemeinschaft, und darüber schreibe ich.
Bewegten Sie sich als Kindnur unter Schwarzen?
Meistens. Unsere Eltern veranstalteten jeweils am Sonntag ein Picknick, damit wir nicht die
Demütigung einer Abweisung vor dem Restaurant erleben mussten. Eltern versuchen, ihre
Kinder vor dem Rassismus zu schützen. So kann man aufwachsen, ohne je Weisse zu sehen,
womit das Problem ausgeklammert wird. Es gibt ein Gedicht von Lucille Clifton, einer
grossartigen Dichterin, das unser Lebensgefühl gut beschreibt (holt das Buch und liest vor):
//Hört Kinder /Hebt euch das auf / Für immer / Wie auch immer / Und tragt es immer bei
euch / Wir haben Schwarz nie gehasst / Hört / Wir haben uns geschämt / Hoffnungslos müde
wütend / Aber immer / Wie auch immer / liebten wir uns / Wir haben uns immer geliebt / Wie
auch immer Kinder / Sagt es weiter /.
Sagen Sie es Ihrem Enkel weiter?
Ich arbeite an einem Kinderbuch über die afroamerikanische Geschichte. Ich versuche, den
Kindern eine Idee davon zu geben, was uns widerfahren ist. Mein Enkel soll verstehen, weshalb
die Polizei Schwarze erschiesst. Um zu wissen, wer man ist, muss man die Geschichte kennen.
Es ist hart, über die Sklaverei zu schreiben, aber es ist wichtig.
Hat sich Ihr Leben währendder Obama-Jahre verbessert?
Ich war nie benachteiligt oder arm, ich hatte immer eine Krankenkasse. Aber es ist wichtig, dass
wir sehen, dass ein Afroamerikaner eine solche Machtposition einnehmen kann. Vor allem für
meinen Enkel. Seit er denken kann, ist ein Afroamerikaner Präsident der USA - das war vor ein
paar Jahren unvorstellbar. Das ist ein wichtiges Erbe von Obama und macht uns optimistisch.
Ich freue mich, wenn ich ihn sehe, wie er sich elegant, souverän und voller Selbstvertrauen auf
der Weltbühne bewegt - das macht uns stolz. Amerika wird erst in 20Jahren realisieren, was für
ein Geschenk Obama dem Land gemacht hat.
Sie haben gesagt, Sie seien nicht benachteiligt worden. Haben Sie auch nie
Rassismus erlebt?
Doch. Jedes Mal, wenn ich einen Laden betrete, werde ich beobachtet. Jede schwarze Person in
Amerika erlebt Rassismus. Selbst Obama oder seine Töchter würden gemustert. In den Schulen
behandeln die Lehrer die schwarzen Buben anders, auch hier in Montclair, das wohlhabend ist.
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Die Leistungen der schwarzen Kinder sind schlechter. Mich bedrückt, dass meinem Enkel
weniger zugetraut wird als anderen Kindern.
Tragen die Afroamerikaner selber keine Schuld an dieser Situation?
Nein. Sie wurden seit je diskriminiert. Der wirtschaftliche Aufstieg der USA wäre nicht möglich
gewesen ohne Sklaverei. Meine Eltern erwähnten allerdings nie, dass sie diskriminiert wurden.
Meine Grossmutter war gelernte Krankenschwester, was in den 1920er-Jahren eine
Riesensache war. Doch als sie nach New York kam, liess man sie nicht in einem Spital arbeiten.
Damit lebt man, und die Diskriminierung wird Teil der eigenen Persönlichkeit. Das sagt auch
dieses Gedicht. Wir sind, wer wir sind.
Trotzdem: Die meisten Verbrechen an Afroamerikanern verüben nicht weisse
Polizisten, sondern Afroamerikaner. Weshalb?
Waffen und Drogen sind zu einfach erhältlich. Dazu kommt, dass viele Familien zerbrechen.
Und viele Männer haben keine festen Jobs. Eric Garner wurde in New York getötet, weil er
Zigaretten verhökerte. Wenn er einen legalen Job gehabt hätte, wäre es nicht so weit
gekommen. Und es kommt aufs Umfeld an. Die Schulen in Montclair sind besser als etwa jene
in Camden, New Jersey. Unser Schulsystem ist richtig schlecht. Aber die Eltern machen, was sie
können.
In Dallas und in Baton Rouge kam es zu Racheakten, Afroamerikaner töteten
Polizisten. Was können die US-Behörden dagegen tun?
Beide Täter waren bei den Streitkräften, doch als sie aus dem Krieg heimkamen mit dem
posttraumatischen Stresssyndrom, kümmerte sich niemand um sie. Und die Polizei muss
endlich den Rassismus in ihren Reihen angehen.
Ihre Figur Tamara Hayle ist eine ehemalige Polizistin. Sie sagt, die meisten Cops
seien nette Kerle.
Es gibt viele gute Polizisten, wir brauchen Polizisten. Sie sollten aber dort wohnen, wo sie
arbeiten, dann erfahren sie, was läuft. Nur so können sie Zwischenfälle wie jenen mit dem
Buben in Cleveland verhindern. Die meisten Cops leben weit weg in Suburbs und fahren nur
zum Dienst in die armen Gegenden.
Heute ist oft die Rede von den «wütenden weissen Männern». Sie jubeln Donald
Trump zu und können es nicht ausstehen, dass Afroamerikaner in die Mittelklasse
aufsteigen. Ist das der Preis für den ersten schwarzen Präsidenten?
Ja, das kam mit Obama. Es gibt eine Gruppe von Weissen, denen es nicht gut geht, das Land
hat sich nie um sie gekümmert. In den USA herrscht eine steile gesellschaftliche Hierarchie, die
Hautfarbe ist dabei nur ein Kriterium. Aber die Tür zum Aufstieg ist offen. Wenn man fair
behandelt wird, hart arbeitet und Glück hat, erhält man vielleicht eine Chance. Deshalb gibt es
Aufsteiger wie die Obamas. Das weckt Neid.
Lässt sich damit der Erfolg von Donald Trump erklären?
Er hat Emotionen entfesselt, die sich in den Obama-Jahren angestaut haben. Die Ressentiments
gegen einen Schwarzen im Weissen Haus bestehen seit Obamas Amtsantritt. Nun hat dieser
Hass auf uns ein Sprachrohr erhalten, Trump ist dieses Sprachrohr. Für Schwarze und Latinos
war Obamas Wahl eine Freude, für viele andere nicht. Und die können nun dank Trump vom
Leder ziehen.
Ist Donald Trump ein Rassist?
Worte können nicht beschreiben, was er ist und was er tut. Er ist ein Mann, der Kinder
erschreckt, mein Enkel und seine Freunde fürchten ihn. Und ja, er ist ein Rassist: Er war
angeklagt wegen Diskriminierung. Dann stellte er infrage, dass Obama in den USA geboren
wurde und rechtmässig Präsident ist - kompletter Unsinn! Dazu kommen seine Anti-MuslimRhetorik und seine Angriffe auf die Mexikaner. Trump ist ein Affront für die USA.
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Kommt es zum Krieg auf den amerikanischen Strassen, wenn er gewählt wird?
Ich weiss nicht, was passieren würde. Aber wir Schwarzen haben Schlimmeres erlebt. Wer
Sklaverei und Rassentrennung überlebt hat, überlebt auch Trump. Wer die Polizei überlebt, die
einem die Kinder tötet, überlebt Trump.
Macht Trump nicht einfach nur Gebrauch von der Redefreiheit, die in der USVerfassung verankert ist?
Ja, aber es gibt eine Grenze. Geht es nach Trump, muss man nicht mehr höflich sein, sondern
darf und soll fies sein. Davon ist nicht die Rede in der Verfassung, er missbraucht sie. Trumps
Sprache ist gewalttätig und führt zu Gewalt. Unser Land basiert auf Höflichkeit. In den USA
leben verschiedene Menschen. Wenn die Leute gegenseitig nicht mehr die unterschiedlichen
Identitäten respektieren, bleibt nichts anderes übrig als Trump. Falls er gewinnt, wird es
schrecklich. Es braucht nicht viel, um das Land auseinanderzudividieren. Deshalb ist diese
Wahl ein Kampf um die Seele unseres Landes.
Gibt es keine Afroamerikaner, die Trump unterstützen?
(lacht) Ein Prozent. Das sind nur Narren.
Hillary Clinton, «Sister Hillary», ist bei Schwarzen populär. Weshalb?
Sie arbeitete für Präsident Obama, und sie fuhr nach Charleston, als es dort ein Massaker gab.
Frauen meines Alters unterstützen sie, weil sie eine Frau ist. Wenn Obama nicht gewesen wäre,
hätte ich sie schon 2008 gewählt.
Viele Amerikaner mögen Clinton nicht. Sie sagen, sie sei arrogant und zu nahe bei
der Wallstreet.
Sie ist eine Politikerin. Und ihre Nähe zur Wallstreet ist mir egal, wenn ich an Trump denke.
Viele mögen Hillary nicht, weil sie eine starke Frau ist. Sie hat hart gekämpft und strahlt kaum
Wärme aus. Ich respektiere sie aber, sie hat sich für die Bürgerrechte eingesetzt. Sie hat nicht
das Charisma von Obama oder Joe Biden. Die Medien waren immer hart mit ihr, schon als Bill
Gouverneur von Arkansas war. Ihre Kleider und ihre Frisuren wurden kritisiert. Doch sie blieb
bei ihrem Ehemann nach dessen Torheiten. Es war nicht sie, die mit einer Praktikantin ein
Verhältnis hatte, aber alle lieben Bill, nicht Hillary.
Vorausgesetzt, Clinton wird gewählt, wird die Gewalt zwischen Schwarz und
Weiss abnehmen?
Zunächst: Verlassen Sie sich nicht darauf, dass Clinton gewinnt. Aber sie würde wohl mehr in
die Ausbildung der Polizisten investieren. Und sie würde dafür sorgen, dass für Kleinkinder
besser gesorgt wird. Auch die schwarzen Buben hätte sie im Auge.
Wird die amerikanische Geschichte mit Sklaverei, Rassentrennung und
Rassismus je überwunden?
Solange die Amerikaner nicht verstehen, was passiert ist, glaube ich nicht. Viele wissen nicht,
dass erst die Sklaverei aus den USA das machte, was sie heute sind. Es geht nicht nur um einige
Plantagen. So waren viele Amerikaner erstaunt, als Michelle Obama exemplarisch publik
machte, dass Sklaven das Weisse Haus gebaut hatten. Nun aber sind sehr gute Bücher dazu
erschienen.
Welches würden Sie Hillary Clinton empfehlen, falls sie gewählt wird?
«The Half Has Never Been Told» des Historikers Edward Baptist. Er zeigt auf, wie die USA
dank der Sklaverei zur Weltwirtschaftsmacht wurden.
Und welches Donald Trump?
(winkt ab) Er liest nicht.
Und Barack Obama? Er hat bald viel Zeit, um zu lesen.
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Er liest bereits jetzt viel, er hat alle Bücher, die ich gelesen habe, auch gelesen. Derzeit angeblich
«The Underground Railroad», die eindrückliche Geschichte eines Sklavenmädchens in Georgia.
Und Obama ist klug, ganz anders als Trump.
Zum Schluss die grosse Frage: Wer gewinnt am 8.November?
Tamara Hayle (lacht herzhaft). Nein, ich wünsche mir Hillary, sie wäre eine gute Präsidentin.
Ich weiss nicht, was ich tun werde, wenn Trump gewinnt. Ich fürchte ihn. Er wäre das absolut
Schlechteste, was unserem Land passieren könnte.
«Seit mein Enkel denken kann, ist der Präsident ein Afroamerikaner.»
Offene Feldschlacht
John Kerry und Sergei Lawrow waren nie Freunde, aber sie haben eine persönliche Ebene
gefunden, die manches möglich erscheinen liess - gar einen Friedensplan für Syrien in letzter
Minute. Jetzt finden sie keine gemeinsame Sprache mehr.
Von Stefan Braun, Julian Hans und Paul-Anton Krüger, New York, Moskau und Kairo,
TA vom SA 25. September 2016
Dass dieser Tag schlecht enden würde, deutete sich schon an seinem Anfang an. Eigentlich
wollte Sergei Lawrow gar nicht mehr kommen. Wieder sollte das Treffen der Internationalen
Syrien-Unterstützergruppe im Palace Hotel in New York stattfinden, wo John Kerry logierte
und die US-Delegation. Und darauf hatte Lawrow keine Lust mehr. Auf Augenhöhe verhandeln,
auf neutralem Boden - das wollte der russische Aussenminister. Und das hatte er John Kerry
auch gesagt am Rande des UNO-Sicherheitsrates. Alles war organisiert, spontanes Umplanen
nicht möglich. Also mussten andere Delegationen bei Lawrow betteln. Und sie mussten warten.
Boris Johnson, der Brite, tat das in einer kleinen Bar des Hotels. Frank-Walter Steinmeier
trank, als er es im grossen Saal nicht mehr aushielt, mit seinen Leuten Kaffee in der Lobby. Und
Kerry harrte dort aus, wo er längst mit Lawrow sitzen wollte: in einem kleinen Nebenzimmer,
für finale Absprachen. Derart ätzend sei der US-Aussenminister noch nie sitzen gelassen
worden, sagte einer seiner Sicherheitsleute.
Der Start war rau
Es scheint nicht viel übrig zu sein von einer unkonventionellen Arbeitsbeziehung zweier
Männer, die sich schon mit «mein Freund Sergei» und «mein lieber John» angesprochen
haben. Sie waren nie Freunde, aber sie haben neben dem professionellen Umgang miteinander
eine persönliche Ebene gefunden, die manches möglich erscheinen liess - gar einen Syrien-Plan
in letzter Minute. Trotz der Spannungen zwischen Washington und Moskau. Trotz des frostigen
Verhältnisses zwischen ihren Präsidenten.
Barack Obama und Wladimir Putin gehen sich aus dem Weg, aus ihren versteinerten Gesichtern
spricht die gegenseitige Abneigung. Ganz anders Kerry und Lawrow; sie gingen spazieren,
manchmal Stunden, um Dinge unter vier Augen zu klären. Ihre Chefs überliessen ihnen das
Geschäft - in den von ihnen vorgegebenen Grenzen.
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Der Start war rau; Kerry ist zwei Wochen im Amt, als Nordkorea Raketen testet. Er will Lawrow
sprechen. Auf den Rückruf wartet er: sechs Tage. Doch im folgenden halben Jahr treffen sich
die beiden ein halbes Dutzend Mal. Kerry, heute 72, Diplomatensohn, weltgewandt, spricht fünf
Sprachen, findet in seinem Gegenüber, 66, etwas, das es eigentlich nicht geben konnte: den
sowjetischen Mann von Welt. Während die wenigsten Sowjetbürger überhaupt reisen konnten
und es sich heute nur wenige Russen leisten können, ist Lawrow nicht nur überall auf der Welt
zu Hause, er kennt sich auch aus mit Whisky und Zigarren. Beide schätzen das gute Leben,
Kerry aber eher einen guten Rotwein oder ein Bier. Beide gehören einer Generation an, haben
ihre prägende Jahre im Kalten Krieg erlebt.
Von seinen 66 Jahren hat Lawrow 44 Jahre im diplomatischen Dienst verbracht - sein
Gedächtnis lässt ihn nie im Stich, wenn er einen Präzedenzfall braucht, um seine Argumente zu
stützen. Für Kerry war Lawrow schon immer da. Für Lawrow ist Kerry der vierte Chef des State
Departments, mit dem er zu tun hat. Er leitete den auswärtigen Ausschuss im Senat, bevor
Obama ihn ins Kabinett berief. Im State Department fürchten sie seine unbedachten
Bemerkungen. Am 9. September 2013 ist Kerry in London, will für einen Militärschlag gegen
das Regime in Damaskus werben. Assads Armee hat Hunderte Menschen mit Chemiewaffen
getötet, Obamas rote Linie ist überschritten. Da wird Kerry gefragt, ob der Angriff noch
abzuwenden sei. Dafür müsste Syrien alle Chemiewaffen abgeben, antwortet er. Es ist eher ein
rhetorischer Einwurf, wie seine Sprecherin später klarstellt. Keiner glaubt ernsthaft daran, dass
das passieren könnte.
In Moskau aber lässt Lawrow eilig die Medien zusammenrufen. Der Aussenminister stürmt in
den Saal, er spricht genau eine Minute und vierzig Sekunden: Wir greifen den Vorschlag von
Kerry auf. Wenn der Militärschlag sich damit abwenden lässt. Der syrische Aussenminister ist
gerade zu Gast und signalisiert Zustimmung. Lawrow hat die Initiative an sich gerissen. Assad
ist gerettet, Obama erleichtert - und Kerry fortan der Überzeugung, dass er mit dem als Mister
Njet verschrienen Russen das grosse Rad drehen kann. Keiner seiner Vorgänger - ganz sicher
nicht Hillary Clinton - hat so unermüdlich versucht, praktisch unlösbare Konflikte zu lösen.
«Drohe nie einem Iraner!»
Manchmal scheitert er, wie bei seiner mit grossem Pomp begonnenen Mission, endlich Frieden
zwischen Israelis und Palästinensern zu vermitteln. Manchmal gelingt ihm ein «Triumph der
Diplomatie», wie er das von ihm ausgehandelte Atomabkommen mit Iran sieht. Er rechnet es
Lawrow hoch an, dass die Russen eine konstruktive Rolle spielen.
In Wien, wo nächtelang um das Abkommen gerungen wird, rettet der Russe mit seinem
sarkastischen Humor die Stimmung. Als Mohammed Jawad Sarif empört aufspringt und brüllt:
«Drohe nie einem Iraner!», lehnt sich Lawrow im Sessel zurück und sagt nach einem Moment
der betretenen Stille nur trocken: «Und nie einem Russen!» Die Runde lacht, es geht weiter.
Doch Humor, an dem es Kerry nicht mangelt, hilft nicht mehr weiter. Die beiden Minister
haben sich beharkt in Pressekonferenzen, aber da wusste jeder, das ist für das Publikum zu
Hause. Jetzt finden sie keine gemeinsame Sprache mehr. Eine «offene Feldschlacht», hätten sie
sich geliefert im Palace Hotel, sagt einer, der bei dem Treffen dabei war. Vorher hatte Kerry
Lawrow im UNO-Sicherheitsrat schon vorgeworfen, er lebe «in einer Art Paralleluniversum».
Kerry soll anfangs zu den Kabinettsmitgliedern gehört haben, die Schläge gegen Syriens
Luftwaffe forderten - was Obama ablehnte. Spätestens nach dem Chemiewaffen-Deal aber
wussten die Russen, dass die USA nicht direkt in Syrien eingreifen würden. Kerry hat anders als
Lawrow keine wirklichen Druckmittel. Er kann nur versuchen zu überzeugen. Putin vor einem
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zweiten Afghanistan warnen. Gut möglich, dass er es noch einmal probiert. «Was Syrien angeht,
ist er fast manisch», wie es ein hoher Diplomat formuliert. Bis Ende des Jahres bleibt ihm noch,
dann ist seine Amtszeit vorbei. Sergei Lawrow wird sich dann mit seinem Nachfolger
auseinandersetzen.
Am Ende ass die Mannschaft der «Terror» sich
gegenseitig
Die HMS Terror im Eis, gemalt von William Smyth 1836. Foto: De Agostini Picture (AKG-Images)
Im Jahr 1845 wollte John Franklin endlich die mysteriöse Nordwestpassage durchfahren.
Weder seine beiden Schiffe noch die Mannschaft kehrten zurück. Jetzt wurde das Wrack der
HMS Terror entdeckt.
Von Florian Stark, TA vom MI 21. September 2016
Die HMS Terror der Royal Navy trug ihren Namen zu Recht. Das bewies das Schiff, das 1813
vom Stapel gelaufen war, umgehend im Britisch-Amerikanischen Krieg (1812-1815). Denn als
Bombarde war die Terror dazu gebaut worden, mit ihren schweren Mörsern Stellungen an Land
zu zerstören. Zu ihren Opfern gehörten diverse US-Forts und die Stadt Baltimore.
Anschliessend ausser Dienst gestellt, wurde das Schiff in den 1830ern wieder aktiviert, für eine
wissenschaftliche Sensation: Gemeinsam mit der HMS Erebus sollte die Terror unter dem
Kommando des britischen Admirals und Polarforschers Sir John Franklin die sagenumwobene
Nordwestpassage durchfahren. Doch diesmal kam der Schrecken über die Besatzung. Wie auf
der Erebus kam kein Mitglied mit dem Leben davon. Der Untergang von Franklins Expedition
gilt als die grösste Katastrophe der Arktisforschung.
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Im August 1845 wurde die HMS Terror zum letzten Mal schwimmend gesehen. Jetzt, 171 Jahre
und diverse Suchexpeditionen später, kann die kanadische Marine die Wiederentdeckung des
Wracks melden. Es wurde ausgerechnet in einer Bucht mit dem fast zu gut passenden Namen
Terror Bay gefunden, 50 Kilometer vom Wrack der Erebus entfernt, das bereits 2014 entdeckt
worden war.
Die perfekte Zeitkapsel
Wie erst jetzt bekannt wurde, ortete das Forschungsschiff Martin Bergmann am 3. September
die Terror in 24 Meter Tiefe. Untersuchungen mit einem Unterwasserroboter zeigen, dass noch
alle drei Masten des Schiffs aufrecht stehen sowie einige Glasfenster am Rumpf die Zeiten
überdauert haben. «Es ist eine perfekte Zeitkapsel», sagt Adrian Schimnowski von der Arctic
Research Foundation, der mit seinem Team im Auftrag der kanadischen Regierungsbehörde
Parks Canada die Suche nach der Terror vorantrieb. Auch eine Kanone und eine Ankerwinde
habe man identifiziert. Das Steuerruder sei in geradezu perfektem Zustand.
Auf die Spur der so weit von der Erebus entfernten Terror seien die Forscher durch einen
Bewohner des nahe gelegenen Orts Gjoa Haven gekommen, sagt Schimnowski. Dieser habe
berichtet, dass er bei der Jagd in der Bucht einen Mast aus dem Wasser habe ragen sehen. Erst
dieser Hinweis brachte die Forscher dazu, ihre Suche in dieses Gebiet auszudehnen. Denn nach
allen bis dahin vorliegenden Zeugnissen und Erkenntnissen früherer Expeditionen wurde als
letzte Position der Terror ein Ort mehr als 90 Kilometer weiter nördlich angenommen. Dass das
Schiff offenbar noch einmal flottgemacht wurde, ist die eigentliche Sensation des Fundes.
Terror und Erebus waren 1845 wegen ihrer massiven Bauweise für die Expedition ausgewählt
worden, mit der die Royal Navy endlich die Nordwestpassage kartieren und damit einen
nördlichen Weg nach Asien finden wollte. Mit der Leitung wurde John Franklin beauftragt.
Zweifel, ob er wegen seines fortgeschrittenen Alters von 59 Jahren den Strapazen der Reise
gewachsen sein würde, tat man mit Hinweis auf seine Erfahrungen im Polargebiet ab.
Ausserdem wurde ihm ein handverlesenes Offizierskorps an die Seite gestellt.
Gestrandet im Eis
Die Rümpfe der beiden Schiffe wurden mit Eisenplatten verstärkt und erhielten mit 20-PSDampfmaschinen die Möglichkeit, unabhängig vom Wind zu manövrieren. Im Magazin lag
Proviant für drei Jahre. Wissenschaftliche Geräte, Tausende Bücher und Jagdwaffen
vervollständigten die Ausrüstung. Franklin selbst setzte seine Flagge auf der Erebus, während
Francis Crozier das Kommando über die Terror übernahm.
Zwei Walfänger waren im Juli 1845 die letzten Europäer, die die 130 Expeditionsteilnehmer auf
ihren Schiffen sahen. Was danach geschah, lässt sich nur durch archäologische Funde, Berichte
von Inuit und dürftigen Aufzeichnungen rekonstruieren, die die letzten noch lebenden Männer
kurz vor ihrem Tod in einem Tresor aus Stein im Nordwesten der King-William-Insel
deponierten.
Nach dem Vorbild früherer Entdeckungsfahrten liess sich Franklin im Winter vom Eis
einschliessen, um im Sommer weiter in die Passage vorzudringen. Dabei gelangte er wohl bis in
die Höhe des 77. Breitengrades, wo er das Meer aber keineswegs so eisfrei fand, wie es nach der
damals populären Theorie vom eisfreien Nordpol zu erwarten gewesen wäre. Als Franklin am
11. Juni 1847 starb, waren bereits zahlreiche seiner Männer den Strapazen erlegen. Den Rest
besorgte das Wetter.
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Flucht in den Tod
Man nimmt an, dass es ein letztes Aufbäumen der Kleinen Eiszeit war, das den arktischen
Sommer 1847 beinahe ausfallen liess. Packeis blockierte die Schiffe und erzwang eine dritte
Überwinterung im Eis. Da sie über keine Ski oder andere Geräte verfügten, um im Winter auf
die Jagd gehen zu können, schwanden die Vorräte dahin. Nach einer Theorie soll das in den
Lötstellen der Konservendosen gebundene Blei zudem zu einer schleichenden Vergiftung
geführt haben.
Wie dem auch sei. Im April 1848 sah Cozier nur noch eine Chance: Die etwa 100 Überlebenden
wollten sich zu Fuss bis zu einem Lager der Hudsons Bay Company 350 Kilometer weiter
südlich durchschlagen. Hunger, Kälte und Krankheiten machten daraus einen Todesmarsch.
Dass die schwindende Gruppe der Überlebenden am Ende ihr Heil in Kannibalismus suchte,
wie Inuit berichteten, haben Spuren an den Knochen der Toten bestätigt. Der Fundort der
Terror macht nun wahrscheinlich, dass einige Männer beizeiten versucht haben, sich mit dem
Schiff nach Süden durchzuschlagen.
Da die Navy davon ausging, dass Franklin mehrere Winter im Eis verbringen würde, machte
man sich in London zunächst wenig Sorgen über das Ausbleiben von Nachrichten. Erst im
Frühjahr 1848 lobte die Admiralität 20 000 Pfund für das Aufspüren der Verschollenen aus.
Für dieses Vermögen waren zahlreiche Wagemutige bereit, die Herausforderung anzunehmen.
Doch erhöhten sie in der Regel nur die Zahl der Todesopfer. Einige Ausrüstungsgegenstände
wurden gefunden, Skelette, 1857 schliesslich die Nachricht, die Cozier neun Jahre zuvor beim
Aufbruch zu seinem Verzweiflungsmarsch auf der King-William-Insel hinterlassen hatte.
Am Ende Politik
1992 hat die kanadische Regierung den Ort, an dem Erebus und Terror sanken, in die Liste der
Denkmäler von historischer Bedeutung aufgenommen. Nach dem Fund beider Wracks muss die
Lokalisierung einer deutlichen Revision unterzogen werden. Pläne, Franklins
Hinterlassenschaft zu heben, gebe es derzeit nicht, sagt Adrian Schimnowski. Wohl aber liefert
die Wiederentdeckung der berühmten Forschungsschiffe weitere Argumente für die Haltung
Kanadas, der arktische Archipel samt Nordwestpassage sei nationales Hoheitsgebiet.
Schliesslich habe Franklin seine Expedition im Auftrag Grossbritanniens durchgeführt, zu
dessen Empire seinerzeit auch Kanada gehörte.
Analyse
Im neuen russischen Parlament wird künftig niemand mehr als unabhängige Stimme sprechen.
Von Julian Hans, Moskau, TA vom DI 20. September 2016
Putin und die Ja-Sager
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Am Samstag nahm Wladimir Putin an den Feierlichkeiten zum 869. Geburtstag Moskaus teil. Foto: Sergei
Karpukhin (AP, Keystone)
Man muss sich vielleicht noch einmal klarmachen, wie bescheiden die Hoffnungen vor dieser
Parlamentswahl in Russland waren. Es ging nicht um einen Regierungswechsel, es ging nicht
einmal um neue Mehrheitsverhältnisse. In ihren kühnsten Träumen sahen Putin-Kritiker eine
Fraktion in der Staatsduma, die nicht auf das Wort aus dem Kreml hört. Realistisch schien es,
eine Handvoll Politiker ins Parlament zu bringen, oder zumindest einen einzigen, der
manchmal aufsteht und Wahrheiten ausspricht.
In der letzten Legislaturperiode stimmte der 36-jährige Dmitri Gudkow als einer von vier nicht
für den Anschluss der Krim an Russland. Und er beantragte eine Schweigeminute für den
ermordeten Boris Nemzow, der immerhin einmal Vizepremier und jahrelang Abgeordneter des
Hauses gewesen war. Als sein Antrag abgelehnt wurde, stand er alleine auf, ein einziger
Abgeordneter schloss sich ihm an. Einzelne Stimmen mögen nichts entscheiden, aber sie
können wenigstens für einen Rest Anstand eintreten.
In der nächsten Duma wird Dmitri Gudkow fehlen. Er hat den Kampf um ein Direktmandat
verloren, genauso wie alle anderen Kreml-kritischen Kandidaten. Wenn nicht einer der 450
Abgeordneten noch eine überraschende Wandlung durchmacht, wird künftig niemand mehr als
unabhängige Stimme sprechen. «Das Parlament ist kein Ort für Diskussionen» - das geflügelte
Wort aus dem Mund des ehemaligen Duma-Vorsitzenden Boris Gryslow ist bedrückende
Wirklichkeit geworden.
Resignation statt Reife
Wahlmanipulationen und der Einfluss des Staatsfernsehens werden sicher eine Rolle gespielt
haben beim Erzielen dieses Ergebnisses. Entscheidend aber war die historisch niedrige
Wahlbeteiligung. Präsident Wladimir Putin attestierte seinen Landsleuten politische Reife; statt
sich von leeren Versprechungen verführen zu lassen, hätten sie dafür gestimmt, Kurs zu halten.
Die Auszählungsergebnisse sprechen eine andere Sprache. Dass landesweit nicht einmal jeder
zweite Wahlberechtigte seine Stimme abgab, zeugt eher von Resignation als von Reife. Wenn
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man sich genauer ansieht, wo die Menschen zur Wahl gegangen sind, wird das Bild richtig
finster: In den Unruheregionen im Nordkaukasus, wo islamistische Kämpfer und
Sicherheitskräfte sich seit Jahren in einem schwelenden Bürgerkrieg befinden, soll die
Wahlbeteiligung bei über 80Prozent gelegen haben. Wer einmal Tschetschenien besucht hat,
der weiss, dass in keiner anderen Region des Landes der Groll auf Moskau so gross ist, aber
auch die Angst, die Staatsmacht zu kritisieren.
Derweil war die Wahlbeteiligung in der Hauptstadt und in Sankt Petersburg am niedrigsten,
gerade einmal einer von drei Wahlberechtigten machte sich auf den Weg an die Urne.
Zusammengenommen gibt das einen Eindruck davon, auf welche Mehrheit sich die russische
Führung stützt. Es sind diejenigen, die mit Zwang mobilisiert werden können. Beamte und
Angestellte von Staatsbetrieben, Kadetten, die in langen Schlangen vor Wahllokalen standen.
Die Elite der grossen Städte hat aus den erfolglosen Protesten gegen den frechen Postenwechsel
zwischen Premier und Präsident vor fünf Jahren den Schluss gezogen, dass Wahlen nichts
bewirken. Und den schwachen demokratischen Kräften ist es nicht gelungen, diese Hoffnung
wiederzubeleben.
Man könnte sagen, das ist die Sache der Russen, wenn sie so wählen, würde das Ergebnis nicht
fünf weitere Jahre Stagnation, Korruption und Frustration bedeuten, die allzu oft in
aussenpolitische Konfrontation umgeleitet wird. Damit muss man rechnen.
Liverpool, Hamburg und dann die Welt
«Wir schauten zueinander»: Die Beatles in jüngeren Jahren. Foto: Copyright Apple Corps Ltd.
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Erst die Freude und dann der Terror: Ron Howard dokumentiert die Beatles auf Tournee. Und
den Irrsinn, den sie dabei durchlebten. Dass die vier das ohne Schaden überlebten, hatten sie
ihrem Humor zu verdanken und ihrer Freundschaft.
Von Jean-Martin Büttner, TA vom MI 14. September 2016
Sie schauen sich kurz an, Paul zählt auf vier, die drei fangen an zu singen, John, Paul und
George; Ringo sitzt am Schlagzeug. Sie strahlen und spielen und schütteln die Köpfe, und ihr
Charme, ihr Humor und ihre Musik treffen einen wie ein Hitzestrahl. Natürlich sieht alles
unschuldig aus nach heutigen Standards, geradezu naiv, zumal der Refrain von «She Loves
You» im unterkomplexen Bereich verharrt: «Sie liebt dich ja, ja, ja», dreimal wiederholt, beim
vierten Mal kommt ein weiteres «yeah» dazu, wozu sich die drei Stimmen zu einem Sextakkord
auffächern.
Aber das spielt keine Rolle, denn die Musiker können einander gar nicht hören, das Geschrei im
Saal überdröhnt alles. Die Fans leiden an einer Krankheit, die sich in Grossbritannien als Virus
verbreitet, das bei den Angesteckten für Zuckungen sorgt, Schreie und unkontrollierbare
Tränenausbrüche: Beatlemania.
Es ist der 20.November 1963. Am selben Tag hat die UNO in Genf ihre Erklärung gegen jegliche
Form der rassischen Diskriminierung beschlossen. Schriftsteller Aldous Huxley lässt sich in Los
Angeles auf seinem Totenbett LSD spritzen. Am nächsten Tag wird John F. Kennedy, der
amerikanische Präsident, mit dem Helikopter nach Texas fliegen. Am übernächsten wird er in
Dallas erschossen.
Beatles zum Verkauf
Mit der Aufführung von «She Loves You» im ABC Cinema von Manchester beginnt Ron
Howards «Eight Days a Week - The Touring Years», seine Dokumentation über die Zeit
zwischen 1962 und 1966, als die Beatles vom Auto zum Flugzeug zum Hotel zur Bühne hetzten.
Binnen knapp vier Jahren gaben sie 815Konzerte in 90Städten und 15Ländern, sie spielten von
Japan bis Australien, Amerika bis Deutschland und in den Philippinen.
Als wäre das nicht genug, musste alle drei Monate eine neue Single samt Rückseite her,
zusätzlich jedes halbe Jahr ein neues Album. Dazu kamen Interviews, Radio- und
Fernsehauftritte, kam ein erster Film, dann ein zweiter. «Beatles for Sale» nannte die Band ihr
viertes Album sarkastisch, auf der Plattenhülle lachte keiner von ihnen. Zwei Jahre später
hörten sie mit den Tourneen auf, erschöpft und desillusioniert. Ihr letztes Konzert gaben sie am
29.August 1966 in San Francisco. Nach dem Auftritt wurden sie in einem Polizeiwagen aus dem
Stadion gefahren, der normalerweise Gefangene transportiert.
Ron Howard zeichnet diese Entwicklung in seinem exzellent montierten und kommentierten
Film nach: die Freude der Band am Musizieren, der Überdruss an ihrem delirierenden
Publikum und am Schluss die schiere Angst, von einem Fanatiker auf der Bühne erschossen zu
werden. Freude schlug um in Terror, Liebe in Hass. In Australien versammelten sich
Zehntausende vor ihrem Hotel, in Japan protestierten Rechtsextreme gegen ihren Auftritt im
Budokan-Zentrum, auf den Philippinen fühlte sich Imelda Marcos zurückgewiesen und tobte,
im amerikanischen Süden verbrannten Fans ihre Beatles-Platten, nachdem ein amerikanisches
Magazin den Satz von John Lennon nachgedruckt hatte, die Beatles seien populärer als Jesus
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Christus. Er musste sich öffentlich entschuldigen, was ihm schon deshalb schwerfiel, weil er
keinen Anlass dafür sah. «Hätte ich gesagt, das Fernsehen sei populärer als Christus, hätte man
mir das wohl durchgelassen», sagte er vor der amerikanischen Presse; keiner im Raum
widersprach.
Dass die vier das ohne Schaden durchhielten, hatten sie ihrer Freundschaft zu verdanken und
der gemeinsam durchlittenen Erfahrung: «Wir schauten zueinander» ist ein Satz, den man von
ihnen in diesem Film immer wieder hört. «Wir kommen aus Liverpool», hat George Harrison
einmal gesagt, «einer Stadt, die Aufschneider nicht ausstehen kann und in der sich jeder für
einen Komiker hält.» Mit solchen Attributen kommt man weit. Und sie konnten es brauchen:
Niemand hat je solche Reaktionen ausgelöst wie die Beatles, nicht einmal Elvis oder Sinatra,
und keine Band seither, weder die Stones noch Abba, Michael Jackson oder Beyoncé.
Dass sie als Band dermassen überzeugten, auch auf der Bühne, wenn man sie denn einmal
hörte, hat mit ihrer Sozialisierung zu tun. Bevor die Beatles zum ersten Mal das
Aufnahmestudio an der Abbey Road betraten - das hat der obsessive Bandbiograf Mark
Lewisohn errechnet -, hatten sie bereits über 1100Stunden zusammengespielt. Im Hamburger
Hafenviertel St.Pauli traten sie nächte- und monatelang für Huren, Zuhälter, Gangster und
betrunkene Matrosen auf, manchmal bis zu sieben Stunden hintereinander. Wer so etwas
überlebt, den beeindruckt kein Stadion mehr, den macht auch ein Studioauftritt vor siebzig
Millionen Zuschauern nicht nervös.
Er werde von ganz Amerika am Fernsehen gesehen, sagte ein Kameramann zu John Lennon,
was gehe ihm da durch den Kopf? Lennons Antwort: «Do you really wanna know?»
Als die Welt heller wurde
Das war bei ihrem ersten amerikanischen Auftritt in der «Ed Sullivan Show» am 9.Februar
1964. Die Beatles verzauberten an diesem Abend das amerikanische Publikum und halfen dem
Land aus der Trauer um seinen toten Präsidenten. «Es war, als werde die Welt plötzlich heller»,
erinnert sich Whoopi Goldberg. Die afroamerikanische Schauspielerin verkörpert einen Aspekt
des Films, der seinen Regisseur besonders auszeichnet, weil sich nämlich niemand sonst dafür
interessierte: dass die Beatles auch schwarze Fans hatten. Sie selber liebten die Black Music und
liessen keine Gelegenheit aus, Fans und Journalisten davon zu erzählen.
Darum konnten sie auch nicht verstehen, warum ein Land mit Musikern und Songschreibern
wie Chuck Berry, Smokey Robinson, Little Richard oder Ray Charles ausgerechnet ihnen
zuhören wollte, diesen bleichen Toasts aus Europa. «Die haben doch schon alles», sagt George
auf dem ersten Überflug, «warum brauchen die uns?»
Noch weniger konnten sie verstehen, dass sie in Florida vor einem segregierten Publikum
hätten spielen sollen. Die Beatles weigerten sich, sagten das öffentlich, liessen es in ihren
Tourvertrag schreiben und ermöglichten damit einem schwarzen Mädchen der Stadt
Jacksonville, sie zu sehen. Kitty Oliver lehrt heute als Professorin für afroamerikanische
Geschichte.
Ihre Erinnerung an das Konzert gehört zu den schönsten Szenen eines Films, der nicht nur vom
Archivmaterial profitiert, sondern auch von den befragten Gästen, darunter Songschreiber Elvis
Costello, Komiker Eddie Izzard und der Journalist Larry Kane. Er hatte die Beatles auf zwei
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ihrer US-Tour-neen begleitet. Er hatte sich bei ihnen Respekt verschafft, indem er sie ernst
nahm.
Sie selber nahmen niemanden ernst, am wenigsten sich selber. Ob ihre Musik ein Beitrag zur
westlichen Kultur sei, wollte ein Journalist von Paul McCartney wissen. «You gotta be kidding
me», gab der ungläubig zurück. Was sie denn bedeute, fragte der Journalist weiter? «A big
laugh», gab Paul zurück: ein einziges Gelächter.
Sie konnten Aufschneider nicht ausstehen und hielten sich alle für Komiker. Sie waren eine
Band wie keine.
«Das ist unfair und unseriös»
Samih Sawiris beklagt die Pauschalverurteilung Ägyptens bezüglich der Sicherheit des Landes. Foto:
Nicolas Righetti (Lundi13)
Orascom-Gründer Samih Sawiris klagt, dass es im Unterschied zu anderen Ländern für Ägypten
diverse Reisewarnungen gebe. Damit werde das Land pauschal als gefährlich abgetan. Derweil
hat er in Andermatt privat rund eine halbe Milliarde Franken investiert.
Mit Samih Sawiris sprach Stefan Eiselin, El Gouna, TA vom MO 12. September 2016
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In Ägypten bleiben die Feriengäste aus. Nach Terrorattentaten und dem
Militärputsch steckt die Tourismusbranche in der tiefsten Krise ihrer Geschichte.
Wie trifft das Orascom Development?
Wir spüren das an jeder Ecke. Die Hälfte unserer Hotels in ganz Ägypten mussten wir
schliessen. 5000 Mitarbeiter haben den Job verloren, weil wir sie einfach nicht mehr länger
bezahlen konnten. Das ist traurig, weil dadurch viele Familien existenzielle Probleme haben.
Einzige Ausnahme ist unsere Ferienanlage El Gouna bei Hurghada - eine eigene kleine Stadt,
die völlig autonom ist. Das reicht aber nicht, um den Rückgang an den anderen Orten
auszugleichen.
Welche Gäste bleiben denn fern?
Es sind die Leute, die Ägypten nicht kennen und noch nie hier waren. Sie tun Ägypten pauschal
als gefährlich ab. In den Medien entsteht ja auch der Eindruck, dass das Land - nur weil es im
Nahen Osten liegt - ein Pulverfass sei. Dieses Klischee wurde so oft wiederholt, dass es nun viele
glauben.
Aber es gab ja Terror, vor allem die Bombe im russischen Flugzeug . . .
Ja. Aber sachlich betrachtet, ist die Lage anders. In Frankreich sind innerhalb eines Jahres
mehr Menschen bei Terrorattentaten gestorben als in Ägypten in den letzten zehn Jahren.
Dennoch reisen die Menschen weiter nach Frankreich. Früher war das bei uns auch so. Es gab
nach einem Attentat einen Knick, dann kamen die Leute zurück. Jetzt ist die Krise tiefer. Wir
leiden seit vier Jahren.
Warum?
Ägypten wird anders behandelt als Länder, in denen es schlimmere Attentate gab und gibt. Das
hat auch politische Gründe. Es gibt Staaten, die auf diese Weise wirtschaftlichen Druck auf
Ägypten ausüben.
Welche Länder denn?
Die Türkei oder Katar zum Beispiel, aber auch die USA. Sie möchten das aktuelle Regime
loswerden und die Muslimbrüder zurück.
Die Muslimbrüder? Die sind ja islamistisch geprägt. Das passt doch dem Westen
nicht . . .
Es tönt widersprüchlich, ist aber so. Die Muslimbrüder waren nicht islamistische
Fundamentalisten, sondern gemässigt. Die Regierungen im Westen konnten sie sehr einfach
kontrollieren.
Was tun Sie selbst dagegen?
Ich spreche mit Regierungen, etwa in Deutschland, und versuche ihnen aufzuzeigen, wie die
Sicherheitslage in Ägypten wirklich ist. Für das Land gibt es bis heute von verschiedenen
Staaten Reisewarnungen, für Taba im Sinai und teilweise Sharm al-Sheikh gar ein Reiseverbot.
In Tunesien dagegen, wo wiederholt direkt Touristen attackiert wurden, gibt es das nicht. Oder
auch für die Türkei, wo immer wieder Bomben hochgehen, wurde das nicht getan. Das ist unfair
und unseriös. Und es ist gefährlich. Die ägyptische Armee schützt die Grenzen des Landes.
Wenn sie fällt, ist das Risiko gross, dass Millionen von Flüchtlingen aus Eritrea, dem Irak oder
aus Syrien, die heute in Ägypten leben, weiter nach Europa streben. Das kann nicht das sein,
was man will.
Werden Sie von der eigenen Regierung in der Tourismuskrise unterstützt?
Kaum. Die Hilfe ist leider nicht wirklich existent.
Nun ist wohl auch eine Militärregierung, die eine demokratisch gewählte
Regierung abgesetzt hat, nicht gerade förderlich für den Tourismus.
Das stimmt. Aber die tatsächlichen Verhältnisse sind etwas komplexer. Die Muslimbrüder
wurden zwar einst demokratisch gewählt - unterstützt vom Militär. Einmal an der Macht, haben
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sie sich aber als total unfähig und völlig korrupt herausgestellt und das Land an den Abgrund
geführt. Ihre Unterstützung im Volk haben sie im Nu verloren. Es drohte ein Bürgerkrieg.
Diesen hat das Militär verhindert. Heute trägt die grosse Mehrheit des ägyptischen Volkes den
Kurs der aktuellen Regierung mit.
Was braucht es denn, damitdie Touristen wieder wie frühernach Ägypten
kommen?
Dieser Negativismus, diese Pauschalverurteilung Ägyptens muss aufhören. Dazu müssen
Regierungen ihre Reisewarnungen anpassen. Die sind heute leider wie erwähnt wesentlich auch
politisch motiviert. Sie werden genutzt, um andere Staaten zu beeinflussen. Und sie geben nicht
die wirkliche Lage wieder.
Unabhängig von der aktuellen Krise: Vor 27 Jahren haben Sie in El Gouna am
Roten Meer mit Ihrem ersten Resort begonnen. Es brauchte mehr als 20 Jahre,
bis es wirklich zu einem guten Geschäft wurde. Wie lange wird es bei Ihrem
Schweizer Projekt Andermatt dauern?
Moment: El Gouna war früh profitabel, und in Andermatt ist der Zeitraum überblickbar. In El
Gouna gab es am Anfang nur Wüste. Da war nichts. In Andermatt haben wir vor zehn Jahren
begonnen. Damals gab es dort ja bereits ein Dorf, eine Infrastruktur. Daher brauchen wir in der
Schweiz sicher nicht mehr so lange, bis wir ernten können, vor allem jetzt, wo die
Zusammenführung der Skigebiete Sedrun und Andermatt bald realisiert ist. Gestalter Bernhard
Russi hat mir versprochen, dass zwei der neuen Pisten, die er dort baut, wirklich absolut
unvergleichlich seien. So etwas hat man in der Schweiz gemäss seinen Aussagen noch nicht
gesehen. Das glaube ich ihm. Da entsteht etwas ganz Tolles. Daneben haben wir einen schönen
Golfplatz, und es gibt immer mehr neue Geschäfte im Dorf. Als ich das erste Mal dort war, gab
es praktisch nichts Derartiges.
Wie viel haben Sie eigentlich bereits privat in Andermatt investiert?
Rund eine halbe Milliarde Franken.
Andermatt gehört zu 51 Prozent Ihnen privat und nur zu 49 Prozent Orascom
Development. Wird das immer so bleiben?
Nein. Ich halte diesen Anteil ja nur privat, damit Orascom Development nicht zu sehr mit
Schulden belastet wird. Mittelfristig soll sich das wieder ändern, und Andermatt soll wieder voll
konsolidiert werden.
Dennoch gibt es aber immer noch viele, die nicht daran glauben, dass Luxus im
Drittligaort Andermatt funktionieren kann.
So etwas kann nur jemand sagen, der nicht nach vorne schaut. Vergleichen Sie einmal, wie es
vor zehn Jahren in Andermatt aussah und wie heute - das sind Welten. Heute kann man im Ort
bereits in zwei Restaurants besser essen als in vielen anderen Destinationen, man kann
einkaufen, und man kann in erstklassigen Hotels übernachten. Bedenken Sie: Auch St. Moritz,
Zermatt oder Gstaad waren einmal einfache Dörfer . . .
Man hatte Sie ja einst angefragt, in Andermatt zu investieren. Was war es, das bei
Ihnen den Ausschlag für eine Investition gab?
Da ist einmal die Lage. Die ist perfekt. Sie erreichen Andermatt von Mailand und von Zürich aus
schnell. Das ist ganz wichtig. Dann gibt es im Dorf keine Bausünden aus den Sechziger- und
Siebzigerjahren. Es ist ein intaktes, schönes Alpendorf - gerade weil es eben so lange keine
Entwicklung dort gab. Und vor allem konnten wir sehr viel Land erwerben, sodass wir ein
schönes Ensemble schaffen können und es auch keinen Platz mehr für Konkurrenz hat.
Nirgendwo sonst könnten wir zudem so eng mit allen Vertretern der Tourismusbranche
zusammenarbeiten. Wir forcieren in Andermatt etwa gerade den Ganzjahresbetrieb. In anderen
Orten müssen sich erst die Hoteliers einig werden, ob sie das wirklich alle wollen, und dann
müssen sie auch noch die Bahnbetreiber überzeugen. Bei uns bleiben die Bahnen offen, solange
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wir wollen, sie gehören ja uns. Vielleicht machen wir dann dort sogar einen Verlust. Aber wir
können gleichzeitig bei den Hotels mehr Geld einnehmen. Also lohnt sich das.
Aber der Wintertourismus ist allgemein im Krebsgang . . .
Ich glaube nicht an Winter- oder Sommertourismus. Die Leute reisen an eine Destination, weil
sie etwas erleben wollen. Sie wollen eine schöne Landschaft, sie wollen gut essen, schön
schlafen, Wellness geniessen, einkaufen können und daneben noch etwas unternehmen. Das
bietet Andermatt im Winter, aber auch im Sommer.
Was für Gäste wollen Sie denn in Andermatt vor allem anziehen?
Unser Ziel ist es nicht, eine spezifische Kundschaft anzusprechen. Wir wollen nicht nur Reiche,
nicht nur Rentner, nur Deutsche oder nur Italiener. Wir streben eine natürliche Mischung von
Leuten an. Das erreichen wir durch ein breites Angebot an Läden, Freizeitangeboten,
Hotelkategorien und durch gezieltes Marketing in diversen Ländern.
Das Entwicklungsgeschäft ist extrem langfristig. Gleichzeitig ist Orascom
Development börsenkotiert, muss also alle drei Monate informieren. Ist das nicht
störend?
Das ist es nicht. Aber unsere Aktien sind definitiv keine Investition für Leute, die den schnellen
Gewinn suchen.
Aber warum bleiben Sie denn an der Börse?
Das gibt mir Sicherheit. Wenn wir viele ausländische Privataktionäre haben, wagt es die
ägyptische Regierung kaum, uns zu enteignen. Nach der Revolution wollte man uns etwa das
Land in El Gouna wegnehmen. Wir haben darauf hingewiesen, dass wir viele Schweizer
Aktionäre haben und diese international klagen werden. Das zeigte Wirkung. Es ist ein
Schutzmechanismus. Vor allem aber hilft es in Verhandlungen bei neuen grossen Projekten.
Dank der Börsenkotierung sind wir eine transparente Gesellschaft, die strengste GovernanceRegeln erfüllen muss. Das schafft Vertrauen weltweit. Einer Schweizer Publikumsgesellschaft
wird mehr getraut als dem Milliardär Sawiris aus dem Orient.
Eine Dekotierung ist also kein Thema?
Absolut nicht. Denn es gibt noch einen Grund. Die Kotierung sichert den Fortbestand des
Unternehmens, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Ich habe fünf Kinder, eine Frau und eine
Ex-Frau. Eine Erbteilung ist dank Börsenkotierung einfach. Da kann es keinen Streit geben, der
das Unternehmen als Ganzes gefährdet.
Der Hauptsitz in Altdorf wirkt etwas verwaist. Bringt Ihnen das noch etwas, oder
planen Sie da einen Wegzug?
Ihr Eindruck trügt nicht. Das ändert das neue Management gerade. Wir planen, in Altdorf den
Personalbestand auszubauen. Zudem sollen dort mehr Entscheide fallen. Es ist eine Schweizer
Gesellschaft, und daher muss mehr dort passieren. Das nur schon deshalb, weil Ägypten im
Konzern ein immer kleineres Gewicht hat.
«In Andermatt gibt es keine Bausünden aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Es ist ein
intaktes, schönes Dorf.»
Spion wider Willen
Die russischen Behörden haben kurz vor den Wahlen ein Umfrageinstitut zum «ausländischen
Agenten» erklärt. Dessen Chef will jedoch nur forschen.
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Julian Hans, Moskau, TA vom 7. September 2016
Eigentlich müsste einer wie Lew Gudkow gerade sehr gefragt sein. In elf Tagen wird in Russland
ein neues Parlament gewählt, und vor Wahlen schlägt die Stunde der Meinungsforscher. Doch
statt vieler Interviewanfragen fürs Fernsehen bekam der Direktor des unabhängigen LewadaZentrums einen Schuss vor den Bug. Am Montag setzte das Justizministerium das
Forschungsinstitut auf die Liste sogenannter «ausländischer Agenten». Ein Gesetz verlangt,
dass Organisationen sich diesen Titel anheften, wenn sie Geld aus dem Ausland bekommen und
politisch tätig sind. Seit einer Novelle Anfang des Jahres zählt der Paragraf auch «politische
Meinungsbildung mittels Umfragen» zu den politischen Tätigkeiten.
Spätestens seitdem war klar, dass das Lewada-Institut bedroht ist. Als Anlass dient nun
offenbar eine Kooperation mit der Universität im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin, bei
der Geld geflossen ist. Was anderswo als internationale Zusammenarbeit in der Forschung
begrüsst würde und noch vor gar nicht so langer Zeit auch von russischen Bildungspolitikern
verlangt wurde, wird jetzt als Verrat ausgelegt.
Aber das ist wohl eher ein Vorwand. Der wahre Grund dürfte darin bestehen, dass Gudkow und
seine Mitarbeiter nicht nur Umfragen durchführten, sondern die Ergebnisse auch in den
verbliebenen unabhängigen Medien kommentierten. Das staatliche Fernsehen lässt die
Forscher schon lange nicht mehr zu Wort kommen.
Alles begann mit Gorbatschow
Der 69-Jährige begann seine Laufbahn in einer anderen Zeit. Im Geiste von Glasnost, der neuen
Offenheit, liess Michail Gorbatschow 1987 ein Institut zur Erforschung der öffentlichen
Meinung (Wziom) gründen. Der Soziologe Juri Lewada, der erstmals Einblick gab, wie der
«gewöhnliche Sowjetmensch» denkt und fühlt, brachte Gudkow als Mitarbeiter. Als der Geist
der Freiheit langsam verwehte, bekam das staatliche Wziom 2003 eine Kreml-treue Leitung.
Die Mitarbeiter gingen und gründeten ein eigenes Institut; nach dem Tod Juri Lewadas 2006
wurde Lew Gudkow zu dessen Direktor gewählt.
Wenn europäische Abgeordnete oder Wissenschaftler nach Moskau kommen, suchen sie das
Gespräch mit ihm. Dann legt der Doktor der Philosophie die hohe Stirn in Falten und blickt mit
traurigen Augen durch seine Brille. In letzter Zeit konnte man ihm anmerken, dass er selbst
schwer trug an dem, was er zu berichten hatte: Hurra-Patriotismus, putinsche
Grossmachtgelüste, Stalin-Verklärung - der Mann, der Russland versteht wie kaum ein Zweiter,
leidet auch an ihm.
Als das Lewada-Zentrum sich im Mai 2013 schon einmal in die Agentenliste eintragen sollte,
gab es international einen Aufschrei. Jeder, der in der deutschen Osteuropawissenschaft einen
Namen hat, setzte diesen unter einen Solidaritätsbrief. Das wird wohl kein zweites Mal helfen.
Gudkow will juristisch gegen die Einstufung angehen; die Aussichten hält er selbst für gering,
eine Auflösung für möglich. «Agent» will er sich nicht nennen.
Die Feindin aller Liebenden
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Grünäugiges Monster: Wer wählen könnte, würde auf Eifersucht verzichten. Foto: Getty Images
Eifersucht kann wie eine Sucht sein. Viele möchten darauf verzichten, wenigen gelingt das
wirklich. Was dieses komplexe Gefühl, das zu Mord und Totschlag führen kann, über Menschen
und Kulturen verrät.
Von Michèle Binswanger, TA vom MI 7. September 2016
Raffaela war betrunken, aber sie hätte sein Auto wohl auch in nüchternem Zustand demoliert.
Sie war auf einer Party gewesen, zum ersten Mal seit langem als Single, frisch getrennt von
ihrem Freund - nicht zum ersten Mal. Raffaela ist eine kontrollierte Person, erfolgreiche
Grafikerin, mit liberalen Vorstellungen, was Sexualität und Gesellschaft betrifft. Sie hatte sich
an dem Abend vorgenommen, ihre Freiheit zu geniessen, vielleicht jemand Neues zu treffen.
Stattdessen traf sie auf ihren Ex-Freund. In einer dunklen Ecke ging er einer anderen an die
Wäsche. Raffaela stürmte davon, hinaus auf die Strasse. Als sie im Quartier das Auto ihres ExFreundes entdeckte, schmetterte sie ihm ihr schweres Veloschloss in die Windschutzscheibe.
«Ich konnte nicht mehr denken. Ich war wie von Sinnen.»
Jeder kennt das Gefühl, das man als «grünäugiges Monster» bezeichnet. Es fährt ein wie eine
Droge. Mit einem Schlag jagt das Herz, das Blut schiesst in den Kopf und vernebelt die Sinne,
die Gedanken drehen sich im Kreis, werden zwanghaft. Aber keiner gibt gern zu, eifersüchtig zu
sein. Denn Eifersucht ist etwas Kleinliches, nichts, auf das man stolz ist. Doch nicht alle können
die Sucht nach Missgunst kontrollieren. Und im Unterschied zu Drogen kann man nicht einfach
darauf verzichten.
Eifersucht kann alles vergiften: klares Denken, Gespräche, Beziehungen. In fast allen Fällen
häuslicher Gewalt gibt Eifersucht den Ausschlag, gefährlich wird es vor allem dann, wenn ein
Rivale oder eine Rivalin auftaucht. Wie im Fall eines italienischen Wachmanns, der Ende Mai
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seine Ex-Freundin auf besonders brutale Weise getötet hatte. Er ertrug es nicht, dass sie sich
auf eine neue Beziehung eingelassen hatte. Eine ganze Nacht lang stellte er ihr nach, bis er sie
am frühen Sonntagmorgen mit seinem Auto von der Strasse abdrängte, und als sie die Türe
öffnete, prügelte und würgte er sie, übergoss sie mit Benzin und zündete sie an. «Krankhafte
Eifersucht» habe den Mann zur Tat getrieben, sagten die Ermittler später.
Warum wir eifersüchtig sind
Eifersucht ist ein universelles Gefühl, bekannt in allen Kulturen und auf allen
Zivilisationsstufen. Sie betrifft nicht nur Sexualität in Paarbeziehungen, sie kommt unter
Freunden und Geschwistern vor, sogar Haustiere werden eifersüchtig. Ganz generell werden
Menschen eifersüchtig, wenn die einzigartige Position gegenüber einer wichtigen Bezugsperson
durch jemand anderen gefährdet scheint. Entsprechend definieren Psychologen Eifersucht als
«leidenschaftliches Streben nach Alleinbesitz der emotionalen Zuwendung einer Person mit
Angst vor echten oder vermeintlichen Nebenbuhlern». Sex kann, muss dabei nicht unbedingt
eine Rolle spielen.
Die Schwester der Eifersucht ist die Kränkung, die sich aus Zurückweisungen und
Ohnmachtsgefühlen ergibt. Oft steht sie am Anfang einer Kette, die zu häuslicher Gewalt oder
zu Amokläufen führt. Die forensische Psychiaterin und Buchautorin Heidi Kastner definiert sie
als eine «nachhaltige Erschütterung der Selbstdefinition durch eine relevante Person».
Eifersüchtige und Gekränkte fühlen sich in ihrem Selbstwert zurückgesetzt und reagieren mit
Wut und Ärger. Die Erfahrung ist eine ganz alltägliche, doch nicht alle Menschen können mit
starken Gefühlen umgehen. Gerade Männer, die es nicht gewohnt sind, sich zu artikulieren,
reagieren denn auch öfter mit explosiver Gewalt gegen andere, während Frauen eher zur
Depression und Selbstbezichtigung neigen.
«Woher rührt dieser Anspruch auf Exklusivität in der Liebe?», frage ich Ulrich Clement,
Paartherapeut und Sachbuchautor zum Thema Treue. Seine Antwort wäre eigentlich
romantisch, aber die Konsequenzen sind schmerzvoll: «Was die romantische Liebe ausmacht,
ist dieser Punkt der Einzigartigkeit. Dass ich nicht austauschbar bin, ist als Liebender Teil des
existenziellen Auf-der-Welt-Seins, es ist bedeutungsgebend und sinnstiftend. Wenn die andere
Person sich jemand anderem zuwendet, geht ein Grossteil von diesem Selbstverständnis
flöten.»
Mit dem Selbstverständnis geraten auch andere vermeintliche Gewissheiten ins Wanken,
Misstrauen und Argwohn sind die Folge. Ein Verdacht will sich bestätigt sehen, und nie waren
die Bedingungen für Hobbyspione besser als heute. Manche Frauen kontrollieren die digitale
Kommunikation ihres Partners regelmässig oder dann, wenn sie einen Verdacht haben. Auch
wenn sie zugeben, dass dieses Verhalten übergriffig ist, empfinden sie oft eine moralische
Berechtigung dazu. Besonders wenn sie dann auch fündig werden.
In einer Umfrage des Christlichen Friedensdienstes (CFD) und des Onlineportals «20 Minuten»
mit über 47 000 Teilnehmenden von 2014 gab rund ein Drittel der Frauen an, schon einmal das
Handy des Partners kontrolliert zu haben, bei den Männern ist es jeder vierte. Und je älter die
Befragten, desto negativer standen sie zur Eifersucht. Während bei den 20-Jährigen noch fast
jeder Zweite Eifersucht als Zeichen von Liebe wertete, war es bei den 30-Jährigen nur noch
jeder Vierte.
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Wenn Eifersucht eine anthropologische Konstante ist, muss sie einen evolutionären Sinn haben.
Verhaltensbiologen erklären sie mit der reproduktiven Agenda unserer Spezies, bei der die
Männer ihre wertvollen Gene möglichst weit streuen wollen und Frauen auf der Suche nach
einem ressourcenstarken Mann sind, der in gemeinsamen Nachwuchs zu investieren bereit ist.
In dieser Logik sind Männer eifersüchtig, weil sie sicherstellen wollen, dass ihre Frau ihnen kein
Kuckuckskind unterjubelt, denn das wäre eine Fehlinvestition.
Frauen hingegen müssen den Mann kontrollieren, damit er seine Spermien nicht woanders
ablädt, sich dabei möglicherweise verliebt und sie links liegen lässt. Und tatsächlich haben
Psychologen in empirischen Studien nachgewiesen, dass Frauen und Männer in Sachen
Eifersucht unterschiedliche Muster zeigen.
Einer dieser Unterschiede betrifft die Art der Untreue, ob es um sexuelle Fehltritte ohne
emotionale Bindung geht oder intensive emotionale Zuwendung ohne Sex. Demnach fühlen sich
Männer stärker durch sexuelle Untreue bedroht, während Frauen sich eher davor fürchten, dass
sich ihr Partner in eine andere verlieben könnte. Frauen sind denn auch eher bereit, rein
sexuelle Untreue zu verzeihen, solange sie nichts bedeutet. Solche Unterschiede zwischen den
Geschlechtern wurden in vielen, auch kulturübergreifenden Studien bestätigt. Dennoch ist
fraglich, wie aussagekräftig sie sind. Denn die Komplexität des realen Alltags wird in einer
Studie oft nur unzulässig abgebildet. Und die Frage, was schlimmer ist, wenn der Partner einen
One-Night-Stand hat, der nichts bedeutet. Oder wenn sich der sexuell treu bleibt, aber sich
anderweitig verliebt, lässt sich ohne Begleitumstände kaum beantworten.
Clement bestätigt zwar Unterschiede zwischen den Geschlechtern, gibt aber zu bedenken, dass
die Variationen innerhalb der Geschlechter ebenfalls gross und allgemeine Aussagen deshalb
schwierig zu treffen sind.
Tatsächlich bleiben bei der evolutionstheoretischen Erklärung viele Fragen offen. Zum Beispiel,
warum sexuelle Eifersucht in Kulturen mit liberalerer Beziehungsauffassung weniger verbreitet
ist. Oder warum auch in ein und derselben Kultur manche Menschen eifersüchtiger sind als
andere und warum sogar ein und dieselbe Person manchmal mehr, manchmal weniger
eifersüchtig reagiert.
Die Eifersuchtserfahrung zählt
Neuere Forschungsansätze konzentrieren sich denn auch mehr darauf, wie Lernerfahrungen
mit Untreue und Eifersucht das Verhalten beeinflussen. Denn ob jemand eifersüchtig reagiert
oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab: von der Persönlichkeit, dem Alter der Person, ihrer
Gebärfähigkeit, ihren Erfahrungen mit dem Thema, dem Anspruch an die Beziehung und der
Beziehungssituation und dem kulturellen Hintergrund. Was Letzteres anbelangt, geben drei
Faktoren den Ausschlag: Menschen aus Kulturen, in denen persönlichem Besitz grosser Wert
beigemessen wird, neigen zu grösserer Eifersucht. Dasselbe gilt für Kulturen, in denen
Sexualität starken Restriktionen unterliegt und die Frage der Nachkommenschaft wichtig ist für
den sozialen Status. Entscheidend ist letztlich, wie das Verhalten des Partners interpretiert und
bewertet wird.
So oder so bleibt Eifersucht eine Nemesis aller Beziehungen. Nicht selten bleibt von der Liebe
nur eine Leiche zurück, wenn das Monster erst mal zu wüten beginnt. Davon weiss Isabelle zu
berichten. Nach Jahren an der Seite eines depressiven Mannes suchte sie sich einen Liebhaber.
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Sie fand David, ebenfalls verheiratet, sie verliebten sich und unterhielten sechs Jahre lang eine
Affäre. Eifersucht war dabei ein wiederkehrendes Thema.
Isabelle konnte es nicht ertragen, dass David mit seiner Frau in die Ferien fuhr und auch hin
und wieder mit ihr schlief, während sie mit ihrem Mann seit Jahren keinen Sex mehr hatte. Als
sie deshalb vorschlug, sich einen zweiten Liebhaber zu nehmen, zögerte David so lange, dass
Isabelle einfach handelte. Sie begann eine weitere Affäre, was David wegen eines offenen SkypeFensters entdeckte. Isabelle gestand, aber David flippte aus. Nicht der Seitensprung sei das
Schlimmste, sondern dass sie ihn deswegen angelogen habe. Später fand Isabelle heraus, dass
er ebenfalls noch eine weitere Affäre eingegangen war.
Viele Paare halten es theoretisch für eine gute Idee, ihre Beziehung zu öffnen. Doch im Kopf mit
einem Vorschlag mitzugehen, bedeutet etwas anderes, als das auch real zu leben. Das Herz hat
oft seinen eigenen Kopf. Selbst Polyamoristen, die sich für offene Beziehungen entscheiden,
haben Probleme mit der Eifersucht. Ihre Lösung heisst Transparenz. Wer über alles Bescheid
weiss, kann nicht hintergangen werden, so die Idee. Doch erstens gibt es auch in offenen
Beziehungen schnell Geheimnisse, und zweitens nimmt die Dynamik zu, je mehr Leute in einer
Beziehung hängen. Das weiss jeder, der schon einmal eine Dreiecksbeziehung geführt hat.
Selbst wer vom Partner über ein sexuelles Verhältnis informiert wurde, ist nicht gefeit vor dem
Gefühl, betrogen zu werden. «Auch offene Beziehungen scheitern häufig an der Eifersucht», so
Clement. «Unsere Vorstellungen von demokratischen, fairen und jetzt auch noch offenen
Beziehungen sind ja schön. Aber das archaische Erbe ist viel älter und nicht immer so einfach zu
kontrollieren, wie wir uns das wünschen.»
Am Ende bleibt jedem nur, seine eigene Bewältigungsstrategien zu finden, um das grünäugige
Monster zu domestizieren. Und zu hoffen, dass man es erledigt, bevor es die Liebe erledigt.
Als die Sonne beinahe den Atomkrieg auslöste
Weil im Mai 1967 drei Radaranlagen ausfielen, versetzten US-Militärs Atombomber in
Alarmbereitschaft. Erst jetzt wird bekannt, dass Astrophysiker die Katastrophe in letzter Minute
verhinderten.
Von Berthold Seewald, TA vom DO 1. September 2016
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Kommandozentrale während des Kalten Krieges: Das «Combat Operation Center» des amerikanischen
Militärs in Colorado Springs. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1964. Foto: Interfoto
Im Frühjahr 1967 eskalierte der Kalte Krieg. In Vietnam wollten die amerikanischen Politiker
endlich eine militärische Entscheidung erzwingen und verlegten mehr Truppen in die Region.
In Griechenland stürzten Obristen die linksgerichtete Regierung. Und mit der weichen Landung
der unbemannten Sonde Surveyor 3 hatten sich die USA einen prestigeträchtigen Vorsprung im
Rennen zum Mond erarbeitet, sehr zum Missfallen der Sowjetunion, die überdies
zähneknirschend zusehen musste, wie Indonesiens neuer starker Mann, der Amerikafreund
General Suharto, Hunderttausende Kommunisten hinmetzelte.
Es war daher alarmierend, als am 23. Mai alle drei arktischen Radaranlagen des
amerikanischen Frühwarnsystems BMEWS (Ballistic Missile Early Warning System) in Kanada,
Nordengland und auf Grönland ausfielen.
Atombomber in Alarmbereitschaft
Da zugleich auch noch die gesamte Funkkommunikation zusammenbrach, witterten die USMilitärs umgehend einen feindlichen sowjetischen Akt und versetzten die in der Luft
patrouillierenden Atombomber in Alarmbereitschaft. Ausserdem wurden weitere Maschinen
auf ihren Basen mit nuklearen Waffen bestückt und startklar gemacht. Der dritte Weltkrieg
drohte auszubrechen.
Es war eine Szenerie wie in einem Thriller. Während die Bomberbesatzungen stur auf ihren
Einsatzbefehl warteten, suchten zivile Wissenschaftler verzweifelt nach einer anderen Deutung und fanden sie schliesslich: Ein aussergewöhnlich heftiger Sonnensturm hatte die Technik
lahmgelegt.
Damit war das Problem noch nicht gelöst. Denn was die Wissenschaftler erkannten, wollten die
Militärs nicht glauben - und setzten weiter auf Angriff. Wie es den Forschern gelang, die
Entscheidungsträger im Pentagon zu überzeugen, hat ein Team um Delores Knipp von der
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Boulder University in Colorado im Fachjournal «Space Weather» enthüllt: «Es war eine sehr
ernste Situation.»
Als die Militärs den Ausfall der Radarsysteme erkannten, gingen sie umgehend von einem
«Jamming» aus, also der gezielten Aussendung von Störstrahlung und dem Ausbringen von
Wellen absorbierendem Metallflitter in der Atmosphäre, um den Gegner elektromagnetisch zu
blenden und seine Kommunikation zu stören. In der aufgeheizten Stimmung des Frühjahrs
1967 sah man darin einen möglichen kriegerischen Akt, der nur von der Sowjetunion inszeniert
worden sein konnte.
Allerdings verliessen sich die Kommandeure des North American Aerospace Defense Command
(Norad) nicht allein auf ihre Operateure an den Funk- und Radargeräten. Im Zuge der
ambitionierten Raumfahrtpläne der USA war die Beobachtung des Weltalls ausgebaut worden.
Zu diesem Zweck hatte Norad auch eine Abteilung eingerichtet, die sich mit der Sonne
beschäftigte. Viele Militärs bei Norad wussten jedoch gar nichts von dieser Einheit oder hielten
deren Tun schlicht für Humbug.
Am frühen Morgen des 23. Mai hatten die Sonnenforscher ungewöhnlich starke Eruptionen
registriert. Ein Observatorium in Neuengland meldete von der Sonne ausgehende
elektromagnetische Wellen mit einer bislang noch nie beobachteten Intensität. Daraus
schlossen die Astrophysiker, dass wenige Stunden später ein ausserordentlich starker
Sonnenwind, also geladene Teilchen, auf die Erdatmosphäre treffen würde.
Die Abläufe haben Delores Knipp und ihre Mitautoren jetzt rekonstruiert. Am 18. Mai hatte sich
auf der Sonne eine ungewöhnlich grosse Anzahl von Sonnenflecken gebildet. In ihnen entstehen
starke Magnetfelder, sogenannte Flares, die den Hitzeabfluss aus dem Inneren der Sonne
behindern und sich dadurch stark mit Energie aufladen. Das führt nach wenigen Tagen zu einer
Sonneneruption, die sofort starke Radio- und UV-Strahlung ausstösst. Ihnen folgen dann die
geladenen Teilchen - Elektronen, Protonen, Alphateilchen. Sie benötigen vier Tage, um die
knapp 150 Millionen Kilometer von der Sonne zur Erde zurückzulegen.
Heute weiss man, dass der Sonnensturm, der sich im Mai 1967 entwickelte, zu den stärksten
gehörte, die je beobachtet wurden. Selbst in New Mexico waren damals Polarlichter zu sehen ein Phänomen, das üblicherweise nur in der Polarregion auftritt, wenn die von der Sonne
kommenden Teilchen auf das Magnetfeld der Erde treffen. «Die Effekte solarer Ausbrüche
können bis zu mehreren Tagen anhalten», erklärt Knipp. Dazu gehört auch, dass der
Sonnenwind die Strom- und Kommunikationsnetze stören kann. Die Sonnenspezialisten von
Norad folgerten, dass die ungewöhnlich starken Eruptionen der Sonne für den Ausfall der drei
polaren Radarstationen verantwortlich waren: Sie lagen so exponiert, dass sie tagelang dem
Strahlensturm aus dem All ausgesetzt waren.
Wie es den Spezialisten gelang, die Militärs zu überzeugen, ist nicht ganz klar. Aufgrund von
Zeugenaussagen und zugänglichen Dokumenten folgert Knipp, dass sich die Forscher direkt an
das Pentagon oder sogar an US-Präsident Lyndon Johnson wandten. Auf jeden Fall kam von
autorisierter Seite der Befehl, die Bomber in der Luft in ihren Patrouillenstreifen zu belassen
und die startbereiten Maschinen am Boden.
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Das geschah möglicherweise in letzter Minute. Denn die Besatzungen der riesigen B-52s hatten
grundsätzlich die Weisung, dem einmal erteilten Befehl Folge zu leisten, falls er nicht
ausdrücklich widerrufen würde. Das wäre in diesem Fall ab einem gewissen Punkt wohl nicht
mehr möglich gewesen - der starke Sonnensturm hätte die Funkkommunikation mit den
fliegenden Bombern wohl verhindert. Stanley Kubricks Film «Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte,
die Bombe zu lieben» hat 1964 dieses apokalyptische Szenario durchgespielt.
1200 Beinahe-Katastrophen
So ist der 23. Mai 1967 ein weiterer Eintrag in der langen Liste von Beinahe-Katastrophen mit
Atomwaffen. Mehr als 1200 solcher Beinahe-GAUs soll es von 1950 bis 1968 allein mit
amerikanischen nuklearen Bomben gegeben haben, schätzen Experten der Sandia Laboratories,
die dem US-Energieministerium unterstellt sind. Ihre Hauptaufgabe ist die Entwicklung von
Bauteilen für Atomwaffen.
Historisch belegt ist, dass die Sonne am 26. September 1983 wieder einmal um ein Haar einen
Atomkrieg ausgelöst hätte. Damals gab es in der Kommandozentrale der sowjetischen
Satellitenüberwachung den Alarm, zahlreiche US-Atomraketen befänden sich im Anflug. Der
leitende Offizier Stanislaw Petrow hatte die Nerven, seinem Radargerät zu vertrauen, das nichts
davon bestätigte. Erst später wurde klar, dass es sich um eine seltene astrale Konstellation
gehandelt hatte. Sonnenstrahlen erzeugten in den Satellitensensoren Spiegelungen, die wie
Raketenstarts aussahen.
In der Paranoia des Kalten Krieges hätte ein Naturphänomen zur Katastrophe führen können.
Zum Glück behielten einige Menschen einen kühlen Kopf: «Gerade als alles auf schreckliche
Weise schiefzulaufen schien, funktionierten einige Dinge in vorbildlicher Weise richtig», sagt
Delores Knipp.
Die Folgen einer guten Tat
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«Wir schaffen das»: Vor einem Jahr schwor Angela Merkel Deutschland auf den historischen
Flüchtlingsandrang ein. Wie kam es dazu? Was ist daraus geworden?
Eine Bilanz von Dominique Eigenmann, Berlin, TA vom MI 31. August 2016
Wie kam es zu «Wir schaffen das»?
Die deutsche Kanzlerin beendete ein langes Schweigen, als sie am 31. August 2015 in Berlin vor
die Presse trat und über die Flüchtlingskrise sprach. Gegen Ende ihres vorbereiteten
Eingangsvotums sagte sie: «Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese
Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das! Wir schaffen
das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.» Merkel betonte den
Satz, und er fiel auch auf, dennoch schaffte er es am nächsten Morgen längst nicht in alle
Zeitungen.
Zum Leitmotiv wurde der Satz erst in den Tagen und Wochen danach, als Merkel ihn refrainhaft
zu wiederholen begann. Er war anfangs rein appellativ gemeint, als Aufruf an ihr Land, alles zu
unternehmen, um die historische Herausforderung angesichts der mehr als eine Million
Kriegsflüchtlinge zu bewältigen. Auf beiden Seiten wurde er später überhöht: Merkel stellte ihn
in die Reihe kühner Mut-Worte christdemokratischer Kanzler von Adenauer bis Kohl. Ihre
Kritiker sahen in ihm dagegen eine Provokation, den Ausdruck sträflicher Naivität, ja des
Landesverrats, je mehr Deutschland unter den Folgen seiner guten Tat zu ächzen begann.
Weshalb wurden Anfang September die Grenzen geöffnet?
Merkels historischer Entscheid, die Grenze für die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge zu
öffnen, folgte keinem spontanen und freiwilligen emotionalen oder moralischen Impuls. Diesen
Schluss erlauben Recherchen verschiedener deutscher Medien. Es war vielmehr ein Entscheid
unter höchstem Zeitdruck, nachdem der ungarische Präsident Merkel mit einer bewussten
Eskalationsstrategie in eine alternativlose Lage gebracht hatte.
Viktor Orban, der schon zuvor gesagt hatte, die Flüchtlingskrise sei kein europäisches, sondern
ein deutsches Problem, machte es endgültig dazu, indem er am Abend des 4. September
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praktisch ohne Vorwarnung Tausende von Flüchtlingen mit Bussen an die österreichische
Grenze brachte. Um die Lage zu entschärfen, sagte Merkel dem österreichischen
Regierungschef zu, «ausnahmsweise» Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen. Allein
an jenem Wochenende kamen schliesslich 20 000 Menschen nach Bayern. Die «Ausnahme»
sollte ein halbes Jahr währen.
Welche Rolle spielte der Tweet des Bundesamts für Migration?
Die Nachricht stand in ihrer stolpernden Unzweideutigkeit dem Satz des DDR-Funktionärs
Günter Schabowski beim Mauerfall («Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort,
unverzüglich») in nichts nach: Am 25. August schrieb das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge auf Twitter: «Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum
gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht verfolgt.» Das Amt wollte damit
sagen, dass es aus Gründen der Effizienz dazu übergegangen sei, syrische Flüchtlinge pauschal
aufzunehmen, unabhängig davon, ob sie schon in einem anderen Land um Asyl ersucht hatten.
Der Tweet verbreitete sich in Windeseile. Die Syrer unter den Flüchtlingen - und viele andere,
die sich fortan als solche auszugeben versuchten - verstanden ihn als amtliche Garantie, in
Deutschland willkommen zu sein. Das entwickelte einen grossen Sog.
War Merkels Entscheid richtig?
Aus moralisch-humanitärer Sicht fällt das Urteil leicht: ja. Merkel hatte recht,
Hunderttausenden Menschen Zuflucht zu gewähren, die in Syrien und im Irak an Leib und
Leben bedroht waren. Die Kanzlerin hatte aber auch keine wirkliche Alternative. Sowenig
Deutschland auf eine Fluchtbewegung dieser Grösse vorbereitet war, sowenig war es das auf
eine Schliessung der Grenzen. Es fehlte an Polizei, Konzepten und dem politischen Willen.
Merkel war überzeugt, dass ihr Land die Bilder nicht würde ertragen können, wenn die
deutsche Polizei an der Grenze mit Tränengas und Schlagstöcken gegen Flüchtlinge vorgehen
würde. So blieb ihr nur die Wahl zwischen Willkommenschaos und Abschottungschaos. Einen
mittleren Weg gab es nicht. Sie wählte das erste Chaos. Sie wollte mit der «Ausnahme» Zeit
kaufen: um eine europäische Lösung zu finden, die die Migrationsströme auf rechtmässige und
humanitär vertretbare Weise kanalisieren sollte.
Hat Deutschland jemals erwogen, die Grenze wieder zu schliessen?
Eine Woche nach der Öffnung, am 13. September, einem Sonntag, lag im Innenministerium der
30-seitige Einsatzbefehl auf dem Tisch, die Grenze wieder zu schliessen. Zuvor waren bereits
mehr als 2000 Bundespolizisten nach Bayern verlegt worden. Deren Chef, Dieter Romann, war
einer der entschiedensten Verfechter einer kompletten Abriegelung. Um 14 Uhr neigte
Innenminister Thomas de Maizière noch zu Romanns Ansicht. Nach zwei oder drei Telefonaten
mit der Kanzlerin verwandelte er um 17.30 Uhr den Befehl zur Grenzschliessung in ein Mandat
für Grenzkontrollen, die an der Hauptsache - Flüchtlinge dürfen einreisen - nichts ändern
sollten. Romann war ausser sich und tobte, beugte sich aber schliesslich.
Merkels Weigerung hatte zwei Gründe: Wie Teile der Polizei glaubte sie nicht daran, dass eine
Schliessung der grünen Grenze überhaupt möglich sei. Und sie fürchtete die möglichen Folgen
für Europa: gewalttätige Jagdszenen an der deutsch-österreichischen Grenze, ein Dominoeffekt,
der die kleinen Balkanstaaten überfordern würde, Tumulte und Verzweiflung auf der
Flüchtlingsroute in Südosteuropa, ein Kollaps des Staats in Griechenland.
Wer stoppte schliesslich den Flüchtlingstreck durch den Balkan?
Erst gab Ende November Schweden seine bisher grosszügige Aufnahmepolitik auf und schloss
die Grenzen. Ende Januar erliess Österreich eine Obergrenze für Flüchtlinge. In den folgenden
Wochen nutzten die Balkanstaaten unter Führung Wiens die wegen des Winters geringeren
Flüchtlingszahlen, um Anfang März an der mazedonisch-griechischen Grenze die Balkanroute
zu versperren. Merkel lehnte dieses Vorgehen ab, weil es aus ihrer Sicht das Europa der offenen
Binnengrenzen unterminierte und Griechenlands Stabilität bedrohte. Im Namen der EU
handelte sie mit der Türkei ein Rückübernahmeabkommen aus, das ab Ende März die Grenze
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für Flüchtlinge in der Ägäis, also an der EU-Aussengrenze, faktisch schloss. Die Türkei, die
selber 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, hält sich bisher an das Abkommen,
droht aber mit der Kündigung.
Was passiert, wenn die Türkei das Flüchtlingsabkommen aufkündigt?
Wahrscheinlich würden wieder mehr Menschen aus der Türkei mit Booten nach Griechenland
flüchten. Da die Grenzen nach Norden aber faktisch geschlossen sind, würden sie in
Auffanglagern auf den griechischen Inseln stranden. Die EU müsste in diesem Fall Athen bei
der Aufnahme erheblich stärker unterstützen als bisher. In solchen Lagern liessen sich im
Prinzip auch EU-weite Asylentscheide treffen. Allerdings ist keine politische Mehrheit für eine
Verteilung der Asylsuchenden auf die EU-Mitgliedsstaaten absehbar.
Dass Merkel eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik für möglich hielt, war in der Krise
ihre grösste Fehleinschätzung. Dabei hatte sie es, bevor die Flüchtlinge plötzlich quasi direkt
nach Deutschland kamen, selbst so gehalten: Jahrelang hatte sie den Eindruck erweckt, die
Flucht über das Mittelmeer sei ein exklusives Problem der Küstenstaaten Italien und
Griechenland.
Wie hat sich in Deutschland die Stimmung gegenüber Merkels Flüchtlingspolitik
verändert?
Die anfängliche Euphorie, von manchen Medien als «Sommermärchen» bezeichnet, wich bald
Ernüchterung, Erschrecken, auch Wut. Nach den sexuellen Übergriffen von Migranten in der
Silvesternacht von Köln und den von Flüchtlingen verübten islamistischen Anschlägen von
Würzburg und Ansbach im Juli war der Unmut besonders gross. Mittlerweile ist eine deutliche
Mehrheit mit Merkels Flüchtlingspolitik unzufrieden, obwohl neun von zehn Deutschen nach
wie vor der Meinung sind, dass Notleidenden in Deutschland Schutz zusteht.
Die Beliebtheitswerte der Kanzlerin sind erheblich gesunken, liegen aber mit fast 50 Prozent
immer noch deutlich über den Tiefstwerten während der Eurokrise 2010. Merkels unbeirrbare
Haltung hat die deutsche Gesellschaft jedoch polarisiert. Der Fremdenhass äussert sich heute
offener und aggressiver denn je in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit der Alternative für
Deutschland hat er zudem erstmals eine ernst zu nehmende politische Heimat gefunden. Auch
kam es zu Hunderten von Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Asylheime. Der Ton Muslimen
gegenüber, von denen in Deutschland mittlerweile 4,5 Millionen leben, wird zunehmend
aggressiver.
Was ist vom «freundlichen Gesicht» Deutschlands, das Merkel zeigen wollte, übrig
geblieben?
Viel und wenig zugleich. «Unser Herz ist weit», sagte Bundespräsident Joachim Gauck, «aber
unsere Möglichkeiten sind endlich.» Merkel wurde bald klar, dass sie ihrem Land einen zweiten
Flüchtlingssommer wie den von 2015 nicht zumuten konnte. Obergrenze und Schliessung der
eigenen Grenze lehnte sie weiterhin ab, daneben setzte sie aber alle Hebel in Bewegung, um eine
Wiederholung der Krise zu verhindern. Sie setzte dabei auf die Türkei, akzeptierte aber faktisch
auch die Schliessung der Balkanroute: Aufrufe, die an der griechisch-mazedonischen Grenze
gestrandeten Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, lehnte sie ab. Mehrmals verschärfte
Merkel auch das Asylrecht. Forderungen, es praktisch abzuschaffen, wies sie aber stets zurück.
Deutschland investiert Milliarden, um die anerkannten Flüchtlinge möglichst schnell Deutsch
zu lehren und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Engagement der Zivilgesellschaft für
Flüchtlinge ist immer noch beeindruckend gross, ebenso der politische Rückhalt für einen
humanen Umgang mit ihnen. Im Vergleich zu Frankreich, Österreich oder den USA ist selbst
der politische Protest von rechts aussen hier noch immer die Sache einer radikalen Minderheit.
Deutschland, bilanziert «Die Zeit», sei trotz der unvermeidlichen «Selbstverhärtung ein Hort
der Vernunft und Stabilität» geblieben.
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Schafft Deutschland das?
Das hängt davon ab, was man damit meint. Wenn gemeint ist, dass die Flüchtlinge von 2015 mit
Unterkünften, Sprachkursen und Asylentscheiden versorgt werden, dann hat Deutschland die
Aufgabe ordentlich bewältigt. Im Ausnahmezustand ist das Land schon lange nicht mehr, die
Verwaltung greift wieder, in den Turnhallen der Republik wird längst wieder geturnt. Was
wirkliche Integration angeht, wird der Weg aber noch sehr lang und mühselig werden. Obwohl
es aktuell eine Million offene Stellen im Land gibt, werden nach Ansicht von Experten selbst in
fünf Jahren höchstens die Hälfte der Flüchtlinge von 2015 einen Job haben. Nichts aber
integriert so gut wie Arbeit.
Mit arabischen Einwanderern hat Deutschland bisher wenig Erfahrung. Die Integration der
Türken verlief insgesamt recht erfolgreich, allerdings weniger gut als die anderer
Ausländergruppen. Eine Prognose erlauben solche pauschalen Betrachtungen aber nicht. Das
gilt auch für die Flüchtlingskrise als solche, die alles andere als gelöst ist. Der Druck auf Europa
und vor allem auf Deutschland wird voraussichtlich noch für Jahre, ja Generationen bestehen
bleiben. Fraglich ist auch, wie sich das politische Klima entwickelt. Verhärtet es sich weiter,
oder bleibt es eher grosszügig? Das hängt nicht zuletzt von der Wirtschaftslage ab.
Verschlechtert sie sich, könnte die Stimmung Einwanderern gegenüber schnell erheblich
feindseliger werden. Bereits absehbar ist die Gefahr, dass der um sich greifende Islamhass zu
zunehmender Illiberalität in der Gesellschaft und zu einer Radikalisierung moderater Muslime
führen wird.
Zum Schluss eine Gegenfrage: Hat Deutschland die Wiedervereinigung geschafft? Selbst 26
Jahre danach fällt eine einfache Antwort schwer - ausser der lakonischen: irgendwie schon.
Bis die Kinderhand schmerzt
Sommerferien gibt es theoretisch auch in China. Doch selbst in diesen sechs Wochen müssen
die Kinder Unmengen an Hausaufgaben bewältigen. Zum Schulstart erholt ist keines.
Von Kai Strittmatter, Peking, TA vom MI 31. August 2016
Die kleine Anli aus Peking, bald 12 Jahre alt, hat eben die fünfte Klasse hinter sich. Sie geht
jeden Morgen um fünf joggen. So früh aufstehen müsste sie jetzt gar nicht, es sind
Sommerferien. Aber sie ist es so gewohnt von der Schulzeit. Frühstücken, lesen, ein bisschen
zeichnen. Um neun Uhr setzt sie sich an ihren Schreibtisch, zieht ihre Bücher hervor.
Hausaufgaben. «Aber ich gehöre zu den Glücklichen», sagt Anli. «Um zwölf bin ich meistens
schon fertig.»
Hausaufgaben. Jeden einzelnen Ferientag. Sechs Wochen lang: Hausaufgaben. Auch am
Wochenende: Hausaufgaben. Die Ferien sind morgen vorbei, aber nein, sagt Anli, erholt fühle
sie sich nicht. Klar, es ist kein Vergleich mit der Schulzeit, wo sie oft erst um Mitternacht ins
Bett fällt. Aber dennoch.
Das waren Anlis Hausaufgaben in den letzten sechs Wochen:
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Mathematik: Zehn Seiten aus dem Übungsheft. Ein Aufsatz: «Empfehle ein gutes Buch über
Mathematik». Ein Mathematik-Tagebuch («Heute ging ich mit Mami in den Supermarkt. Sie
kaufte 3 Pfund Äpfel zu je . . .»). Täglich Kopfrechenspiele mit den Eltern.
Englisch: Im Übungsheft alle 100 Aufgaben vollenden. Jeden Tag in der App «Wir machen
Hausaufgaben» anmelden und die neuesten Aufgaben des Lehrers herunterladen. Die Vokabeln
aus dem Lehrbuch für die neue, die kommende sechste Klasse abschreiben.
Chinesisch: Das Lehrbuch für die sechste Klasse vorbereiten. Die Zusammenfassungen der
ersten 7 Kapitel abschreiben. Von den ersten 32 Kapiteln die zum Auswendiglernen markierten
Absätze abschreiben. Zwei Essays, je eine A4-Seite, über zwei Romane, die man sich aussuchen
durfte. Ausserdem sechs Aufsätze, ein jeder nicht unter 400 Schriftzeichen. Über ihre
Erlebnisse während der Ferien. «Aber was habe ich denn erlebt?»
Ausweg Hausaufgabenagentur
Ach ja, der Sport: In einem Formular führt Anli Buch über die drei Kilometer, die sie jeden Tag
rennt. Manchmal übt sie Weitsprung, auf dem Asphalt der Gasse vor ihrer Haustür. Ausserdem
müssen die Eltern beim Klassenlehrer eine Evaluation ihres Benehmens abliefern, Bonuspunkte
gibt es für «zivilisiertes Verhalten» und «Respekt vor Älteren». «Beim Essen kriege ich nicht die
volle Punktzahl», sagt Anli. «Ich bin ein wenig heikel, esse keine Pilze - aber dafür mag ich
Broccoli!» Der Vater macht sich Sorgen. «Das war doch bei uns früher nicht so», sagt er. «Wir
konnten damals noch vor die Tür gehen, spielen, Spass haben.» Als Anli beim EnglischvokabelAbschreiben die Hand so schmerzte, dass sie den Stift nicht mehr halten konnte, da sprang der
Vater ein: «Ich habe den Rest abgeschrieben. Das waren noch einmal 30 bis 40 Seiten.» Viele
Eltern tun es ihm gleich.
Es gibt noch einen Ausweg: Hausaufgabenagenturen. «Sie kommen erst jetzt?», ruft am Telefon
der Leiter der Agentur Magischer Stift. «Es ist Ferienende, was meinen Sie, was hier los ist? Wir
sind ausgebucht.» Die Agentur ist billig: Umgerechnet 1.50 Franken verlangt sie normalerweise
für 1000 Schriftzeichen. Gegen Ferienende steigen die Preise. Und ja: «Wir imitieren die
Handschrift Ihres Kindes perfekt.» Der Chef hat selbst Mitleid mit seinen Kunden. «Neulich rief
uns einer an, dessen Sohn hatte allein in Biologie 40 Hausaufgaben. Nur ein Fach!
Schrecklich.»
«Sollten die Sommerferien nicht eine Zeit der Freude sein?», fragte die Zeitung «China Daily».
«Stattdessen erdrücken wir unsere Kinder unter Hausaufgaben.» Und wollten wir unsere
Kinder nicht zu innovativem Denken erziehen?, so das Blatt weiter: «Wie soll das denn gehen,
wenn sie nicht einmal mehr die Zeit zum Denken haben?»
Der neueste TV-Hit bei Chinas geplagter Mittelschicht ist die Serie «Kleiner Abschied». «Du
willst, dass ich dich respektiere?», brüllt da die Tochter ihren Vater an. «Du behandelst mich
wie eine Prüfungsmaschine.» Auf den Strassen sieht man Chinas Kinder kaum: Sobald sie
eingeschult werden, verschwinden sie hinter ihren Schul- und Schreibtischen - und werden erst
nach dem Uniabschluss wieder ausgespuckt. Alle schimpfen auf die Lehrer, aber das ist nur die
halbe Wahrheit: «Es sind die Eltern, die so Druck machen», sagt der Vater der Fünftklässlerin
Anli. «Ein jeder hat panische Angst, sein Kind könnte schlechter abschneiden als der Rest der
Klasse. Es ist schlimm, aber viele Eltern verlangen die Hausaufgaben.»
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Die Konkurrenz ist gross, wenn man einer von 1,3 Milliarden ist. Und das Ziel ist schon vom
Kindergarten an klar: der Gaokao, die Hochschulaufnahmeprüfung. Auf diesen einen Tag
lernen sie ihr Leben lang hin. «Wenn du jetzt nicht zu den 100 Besten gehörst, dann kommst du
nie in ein gutes Gymnasium», redet in der TV-Serie die Mutter ihrer Tochter ins Gewissen.
«Und wenn du in kein gutes Gymnasium kommst, dann kommst du nie an eine gute Uni. Und
wenn du nicht an eine gute Uni kommst, dann ist dein ganzes Leben kaputt.» Die Regierung
nahm schon ein paar gut gemeinte Anläufe: 2013 erliess das Erziehungsministerium ein Verbot
für Hausaufgaben in den Ferien. «Aber keiner hält sich daran», sagt Anlis Vater.
Seine Tochter Anli, wie gesagt, gehört zu den Glücklichen. Mehr als zwei Stunden brauchte sie
in den letzten Wochen selten für ihre Aufgaben. Auch besucht sie keinen der Nachhilfekurse,
die die Lehrer ihrer Klasse anbieten - schon weil die Eltern das Geld nicht haben. Anli liest, ab
und zu zeichnet sie. «Aber ich bin müde, immerzu müde», sagt sie. «Manchmal träume ich von
Ferien ohne Hausaufgaben. Aber für uns gibt es kein Entkommen.» Die drei Fernsehfamilien in
«Kleiner Abschied» helfen ihren Kindern bei der Flucht: Sie alle schicken sie schliesslich auf
Schulen im Ausland.
«Ich bin müde, immerzu müde. Manchmal träume ich von Ferien ohne Hausaufgaben. Aber es
gibt kein Entkommen.»
Schmerz ohne Ende
Sogar ein Modell der 5000-jährigen Altstadt wurde beschossen: In Diyarbakir ist vieles zerstört. Foto: Mike
Szymanski
In der Kleinstadt Eruh begann vor drei Jahrzehnten der bewaffnete Kampf der PKK gegen den
türkischen Staat. Eine Reise an die Anfänge des Konflikts.
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Eine Reportage von Mike Szymanski, TA vom DI 30. August 2016
Als Süleyman Aydin 1984 zum Militär ging, haben sie ihn im Dorf Mertekli gefeiert. Einer von
ihnen brach zu einem Abenteuer auf. «Wovor sollten wir damals Angst haben?», sagt Cemal
Aydin, sein Bruder. PKK? Nie gehört.
Die Türkei und die kurdische Arbeiterpartei PKK. Das ist heute eine Geschichte von Schmerz
ohne Ende. Mehr als 40 000 Tote in mehr als 30 Jahren. Dies ist die Reise an den Anfang des
Konflikts. Sie führt in ein Dorf in der osttürkischen Provinz Erzincan. Auf einen Friedhof am
Rande schneebedeckter Berge. Süleyman Aydin liegt dort begraben. Er wurde 19 Jahre alt. Er
ist der erste Terrortote der PKK. Gestorben im Sommer 1984. Die Reise führt nach Eruh, in eine
Kleinstadt im Südosten. Hier hat die PKK ihren Zerstörungswillen beurkundet. Und sie führt
nach Sur, in das von Kämpfen gezeichnete Altstadtviertel von Diyarbakir. Dort lebt eine Frau,
eine Kurdin. Grüne Strähne im schwarzen Haar, immer eine selbst gedrehte Zigarette in der
Hand. Sie ist älter als der Soldat Aydin damals, 29. Was hat sie aus der Geschichte gelernt?
«Frieden schenkt uns niemand», sagt sie. «Wir müssen ihn uns nehmen!»
Cemal Aydin findet keinen Frieden. In Schlangenlinien führt der Feldweg zum Grab seines
Bruders Süleyman. Cemal Aydin ist Rentner, 68 Jahre alt. Mertekli war ein ruhiges Dorf. Die
Kämpfe der späten Siebziger zwischen Rechten und Linken kamen hier nicht an. Die Bauern
hatten keine Zeit für Anarchie. Der Militärputsch von 1980? Nichts, was ihr Leben aus den
Angeln gehoben hätte. Anfang der Achtziger hatten sie nicht einmal Strom. Süleyman Aydin
wollte den Militärdienst schnell hinter sich bringen. Er wollte Handwerker werden. Nach dem
Grundwehrdienst wurde er nach Eruh versetzt, in ein Städtchen mit damals 4000 Einwohnern.
Die PKK ist zu dem Zeitpunkt schon eine gut aufgestellte Untergrundorganisation. Sie wartet
darauf, losschlagen zu können. Einige Hundert Kämpfer trainieren in Syrien und im Nordirak.
Die chaotischen Siebziger hat Abdullah Öcalan genutzt, um unter den Wütenden Kämpfer zu
rekrutieren. Wer sich ihm anschloss, wollte mit Waffengewalt einen kurdischen Staat schaffen.
Denn für die kurdische Identität war in der Türkei kein Platz. Die Sprache: verboten. Lieder und
Bräuche: verboten.
«Die PKK braucht Blut»
Öcalans Arbeiterpartei Kurdistans war die radikalste unter den kurdischen Bewegungen. Und
Öcalan der entschlossenste unter den Anführern. Der Militärputsch von 1980 spielte ihm in die
Hände. Danach blieben nur die Härtesten übrig. Ihre Anhänger zogen durch die Dörfer im
Südosten und warben für den Kampf. Aber die Bauern belächelten die Jungen anfangs nur. «Sie
hörten uns nicht richtig zu», erinnerte sich einer der Kämpfer im Gespräch mit der Autorin
Aliza Marcus. Sie hat ein bemerkenswertes Buch über die PKK verfasst. Darin lässt sie die Kader
zu Wort kommen. Unter ihnen ist Sari Baran, Vizekommandeur, einer der Planer des Anschlags
in Eruh. «Es war nicht unser Ziel, viele Soldaten zu töten. Es ging darum, die Bevölkerung für
unsere Sache zu gewinnen. Wir wollten zeigen, wozu wir in der Lage sind.»
Lange bevor die PKK ihren Guerillakrieg startete, haftete ihr schon ein furchterregendes Image
an: «Die PKK braucht Blut.» Die Berge bei Eruh boten Schutz beim Rückzug. «Wir waren uns
sicher, dass der Staat nichts ahnte. Er fühlte sich stark», erinnert sich Baran. Drei
Terrorkommandos brachen auf, jedes zwischen 10 und 30 Mann stark.
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Es ist früher Abend in Eruh, der 15. August 1984. Gegen 19.30 Uhr dringen 30 Kämpfer in die
Stadt ein. Das Militär hat neben dem Marktplatz seinen Stützpunkt. Süleyman Aydin schiebt
Wache. Eine Gruppe eröffnet sofort das Feuer. Aydin wird getroffen. Ein zweites Team besetzt
die Moschee. Über deren Lautsprecher verkündet die PKK ihre Botschaft: Dieser Angriff sei der
Beginn des kurdischen Befreiungskriegs.
Aydins Grab ist das einzige, an dem eine Türkeifahne weht. Der Friedhof trägt den Namen des
Soldaten. Der erste Märtyrer dieses Krieges. Heute lernt man in fast jeder Nachrichtensendung
neue Märtyrer kennen.
Es gab Jahre der Friedensverhandlungen. Das war die terrorfreie Zeit. Recep Tayyip Erdogan
schien erkannt zu haben, dass dieser Krieg mit Waffengewalt nicht zu lösen ist. Ende 2012
begann seine Regierung Gespräche mit der PKK. Im Frühjahr 2015 gab es eine Art
Friedensfahrplan. Neben der PKK war mit der prokurdischen HDP eine Partei entstanden,
welche die Chance bot, den Konflikt im Parlament in Ankara zu lösen. Es kam anders. Die
selbstbewusste HDP machte Wahlkampf gegen Erdogan. Dessen Regierungspartei AKP verlor
bei der Wahl im Juni 2015 die absolute Mehrheit. Die HDP war Erdogan zu stark geworden. Der
Friedensprozess kam zum Erliegen. Die PKK sabotierte ihrerseits die Gespräche. Im Juli 2015
richtete sie zwei Polizisten hin. Seit einem Jahr wird wieder gekämpft.
Cemal Aydin erzählt, wie am Tag nach dem Anschlag von 1984 die Nachricht von Süleymans
Tod das Dorf erreichte. Alle hätten geweint. Es dauerte Monate, bis die Familie erfuhr, dass
Süleyman Opfer einer Terrororganisation namens PKK geworden war. Die Familie Aydin litt.
Der Vater hat den Verlust nie überwunden. Er starb bald. Die Wut grub sich immer tiefer in die
Herzen. Süleymans Schwester sagte fast zehn Jahre später in einem Interview: «Jeden Morgen
bete ich vor seinem Grab, dass Gott Öcalan und seine Leute im Blut erstickt.» Cemal Aydin hört
man die heisse Wut nicht mehr an. Vielleicht liegt es daran, dass mittlerweile 32 Jahre
vergangen sind und kein vergossener Tropfen Blut seinen Schmerz gelindert hätte.
«Wir sind da. Wo ist Erdogans Armee?», steht auf einem Rollladen in Sur, dem Altstadtviertel
von Diyarbakir. Die PKK-nahe Kämpferjugend hat die Botschaft hinterlassen. Weiterkämpfen?
Es ist schon alles kaputt. Sur ist Herz und Gedächtnis von Diyarbakir, 5000-jährige Geschichte.
Drei Monate stand das Viertel unter Ausgangssperre. Ein Rundgang durch die engen Gassen,
ein Stopp bei den Handwerkern. Der Schmied bricht in Tränen aus. «Wir hatten nicht genug
Brot für unsere Kinder», sagt er. Der Hochzeitsfotograf Ümit Görgün, hager, das Resthaar über
die Glatze gekämmt, steht mit traurigem Blick in seinem Geschäft. «Es ist schwer geworden,
hier noch Glück zu finden, wenn man den Leichengeruch in der Nase hat.» Das letzte
Hochzeitspaar hatte er vor einem halben Jahr vor der Linse. Fotografiert hat er trotzdem. Eines
seiner Stillleben zeigt Dutzende Patronenhülsen im Rinnstein. Als hätte es Munition geregnet.
Polizisten haben sich Sofas und Stühle aus den Wohnungen geholt und auf die Strasse gestellt.
Das sind ihre Wachposten. Einer prüft seine Frisur in der getönten Scheibe eines parkenden
Autos. Die andere Hand hat er am Abzug seines Maschinengewehrs. Sur heute.
Ein Teehaus am Rande der verwundeten Stadt. Treffen mit der Frau mit der grünen Strähne,
die in diesen Konflikt hineingeboren ist. Anhängerin der HDP. Ihre Familiengeschichte ist
typisch für viele Kurden, die sich nach Frieden sehnen. Die Tante: kämpfte in der PKK. Die
Eltern: vom Militär aus ihrem Dorf vertrieben. Sie: gefangen in einer Endlosschleife von Gewalt.
Ihren Namen soll man nicht schreiben.
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Sie erzählt, wie sie als Kind im Westen der Türkei aufwuchs. «Ich fühlte mich nie dazugehörig.
In meinem Personalausweis steht, ich sei Türkin. So wie es dieser Staat will. Aber wenn ich im
Westen des Landes kontrolliert werde und die Beamten sehen, dass ich im Südosten geboren
wurde, fragen sie: Was willst du hier?»
Ihre Generation gilt als noch aggressiver, noch hemmungsloser als die Elterngeneration. Wo
kommt all die Wut her? Die Frau sagt: «Wir machen jetzt durch, was schon unsere Eltern
durchgemacht haben. Gewalt ist für uns zur Normalität geworden.» Und die Eltern sagen nicht:
Das hat keinen Sinn? «Nein!», erzählt die Frau. Sie könnten nicht verstehen, dass der Staat
nicht begreife. «Wir wollten glauben, dass Erdogan Frieden bringt», sagt sie. Gewalt hätte
nichts gebracht. Schlimmer noch: «Reden hat auch nichts gebracht.»
Von Diyarbakir bis Eruh sind es fast vier Stunden mit dem Bus. Eruh ist eine Kleinstadt, aber
davon spürt man nichts, wenn man auf dem verlassenen Marktplatz steht. Eruh wirkt wie ein
Dorf. Vor dem Kiosk haben sich Dorfältere versammelt. Sie hocken auf Holzschemeln, tragen
Pluderhosen und schwarz-weiss karierte Pusi-Tücher. Hier hat alles angefangen.
Zum Gedenken an Süleyman Aydin hat die Behörde auf dem Marktplatz einen Uhrenturm
errichtet. Die Vergangenheit steht wie ein Mahnmal im Raum. Aber die Leute tun so, als
würden sie sie nicht kennen. Fragt man die Jüngeren, sagen sie: «Sprich mit den Alten.» Fragt
man die Älteren, sagen sie: Sie könnten sich an jenen Abend des Jahres 1984 nicht erinnern.
Nur der Metzger redet. Er geht mit der Geschichte um wie mit seinem Fleisch. «Tot ist tot», sagt
er. Warum also zurückblicken? Die Männer auf dem Dorfplatz bedeuten einem, dass man
besser wieder geht. Auch der Landrat, der hier sein Büro hat, mag nicht reden. Dafür bekommt
man umgehend die Begleitung von fünf Polizisten. Fortan ist man keine Sekunde mehr allein
unterwegs. Noch immer existiert der Militärstützpunkt. Aber heute kommt kein Soldat mehr
unbekümmert zum Dienst. Gepanzerte Fahrzeuge fahren durch die Gassen, als sei Aydin
gestern erst gestorben.
Bis heute kann Eruh nicht trauern. Wenn man dort ist, spürt man keine Vergangenheit und
keine Zukunft. Mitten im Dorf steht ausgerechnet der Uhrenturm. Die Zeit läuft. Sie hat nichts
geheilt.
Mehr Sand als Zement
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Helfer suchen nach Verschütteten, doch es gibt kaum noch Hoffnung, sie lebend zu bergen. Foto: Roberto
Salomone (Keystone)
In die Trauer um die Opfer des Bebens in Mittelitalien mischt sich der böse Verdacht,dass
kriminell nachlässig gebaut wurde.
Von Oliver Meiler, Rom, TA vom MO 29. August 2016
Ein handgeschriebener Brief bewegt die Italiener, gezeichnet mit «Andrea» und einem kleinen
Herz. Es ist der Brief eines Feuerwehrmannes, der in Pescara del Tronto, einem der vier vom
Erdbeben verheerten Dörfer in Mittelitalien, mit seinen Kollegen nach zwei Mädchen gegraben
hatte, die unter den Trümmern eines Ferienhauses lagen. Die kleine Giorgia, vier Jahre alt,
konnte gerettet werden. Ihre fünf Jahre ältere Schwester Giulia aber war schon tot, als man sie
aus dem Loch zog.
«Ciao piccola», schreibt der Feuerwehrmann, «es tut mir leid, dass wir zu spät kamen, du
hattest schon aufgehört zu atmen.» Den Brief legte er auf den weissen Sarg von Giulia, der
neben 34 weiteren Särgen stand, aufgereiht für das Staatsbegräbnis am Samstag in Ascoli
Piceno, in den Marken. Alle hohen Würdenträger der Republik nahmen daran teil.
Staatspräsident Sergio Mattarella, ein beliebter und diskreter Mann, versicherte den
Angehörigen: «Wir werden euch nie allein lassen.»
Es war die erste Trauerfeier einer langen Reihe. In Pescara del Tronto, Arquata, Accumoli und
Amatrice sind nach neuer Erkenntnis 291 Menschen umgekommen. 388 Bewohner und
Feriengäste wurden verletzt. Noch immer wird nach Verschütteten gesucht, obwohl die
Aussicht, dass Menschen lebend aus den Schutt- und Steinhaufen geborgen werden können,
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sehr klein geworden ist. Den traurigsten Tribut bezahlt Amatrice, wo nur noch jedes zweite
Haus steht. Mindestens 230 Menschen verloren da ihr Leben. Der Ort ist nach Einschätzung
des Bürgermeisters nicht mehr zu retten. «Amatrice muss komplett dem Erdboden
gleichgemacht werden», sagte Sergio Pirozzi.
«Anormale Einstürze»
Mittlerweile ermitteln zwei Staatsanwaltschaften in der Frage, ob die dramatischen Folgen des
Unglücks nicht auch - und vielleicht sogar in beträchtlichem Mass - menschlichem
Fehlverhalten geschuldet sind. Die Untersuchungsrichter sprechen von «Crolli anomali», von
«anormalen Einstürzen». Viele Häuser, die in den vergangenen Jahrzehnten gebaut oder
erweitert wurden, sind nur noch Schutthaufen, obschon es spätestens seit 2001 harte Auflagen
gibt für das Bauen in Hochrisikozonen wie dieser. Schwere Betondächer, illegal angebaute
Zimmer und Veranden, aufgestockte Terrassen - offenbar kümmerte sich niemand um die
Sicherheit. Und die Behörden schauten weg. Die Staatsanwälte aus Ascoli und aus Rieti
sammeln nun Baubewilligungen und Prüfungsdokumente, um anhand der Papiere die Kette der
Verfehlungen nachverfolgen zu können.
Besonders viel zu reden geben zwei öffentliche Bauten, die trotz unlängst durchgeführten
Renovations- und Befestigungsarbeiten einfach in sich zusammengefallen sind. Die zerstörte
Schule von Amatrice, die Romolo Capranica, war mit 700 000 Euro aus einem Fonds für
Erdbebengebiete saniert und vor vier Jahren mit Pomp eingeweiht worden. Es hiess damals, für
die Sicherheit der Kinder sei nichts zu teuer. Nun wurde bekannt, dass die Baufirma ihren
Auftrag nach einer fragwürdigen Ausschreibung erhalten haben soll und bereits früher
juristische Probleme gehabt hatte. Die Ermittler vermuten, dass billig gebaut wurde: «Mit mehr
Sand als Zement», wie es einer von ihnen ausdrückte. Und vielleicht wurde auch geschmiert. In
Accumoli wiederum stürzte der alte Glockenturm ein, obschon er erst vor kurzem
erdbebensicher gemacht worden war. Dachte man jedenfalls. Er begrub eine Familie unter sich.
Der oberste Anti-Mafia-Staatsanwalt warnte vor einer Beteiligung Krimineller am
Wiederaufbau. Nach einem Erdbeben sei der Wiederaufbau ein Leckerbissen für Kriminelle und
ihre verbündeten Geschäftspartner, sagte Franco Roberti in einem Interview der Zeitung «La
Repubblica». Jedoch stünden einer möglichen Mafia-Verstrickung mittlerweile Behörden und
Ermittler viel stärker entgegen als in der Vergangenheit.
Fleet Street gehört nun Bankern und Anwälten
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Der Sitz des «Daily Express» an der Fleet Street wird 1932 von Schaulustigen belagert, als das Blatt über
einen britischen Flugpionier berichtet. Foto: Getty Images
Die letzten Journalisten haben sich verabschiedet aus Londons legendärer alter Zeitungsstrasse,
dem wohl berühmtestenLondoner Strassenzug nach Downing Street. Damit geht eine
jahrhundertealte Geschichte zu Ende.
Von Peter Nonnenmacher, London TA vom MO 29. August 2016
Seit 30 Jahren nimmt Grossbritannien Abschied von einer Strasse. Nicht von der Strasse selbst:
Die gibt es immer noch. Was sich mit dieser Strasse verband, ist aber nun endgültig Geschichte.
Auf Londons Fleet Street drängen sich Grossbanken, Versicherungen, Anwaltskanzleien,
Sandwichbuden. Was aus Fleet Street verschwunden ist, sind die Zeitungsleute. Gavin Sherriff
und Darryl Smith waren die Letzten. Sie haben diesen Monat ihre Laptops zugeklappt und die
Koffer gepackt. Bis zuletzt arbeiteten sie in Fleet Street für die «Sunday Post», eine in der
schottischen Stadt Dundee veröffentlichte Wochenzeitung.
Gavin, der Londoner Chefreporter des Blattes, war 32 Jahre lang in Fleet Street tätig. Sein
Kollege Darryl hielt zusammen mit ihm die letzten 25 Jahre über die Stellung in der nach
Downing Street wohl berühmtesten Strasse der Stadt. Nun sind auch diese beiden Posten
Sparmassnahmen und neuer Technologie zum Opfer gefallen. Inzwischen, sagt Darryl, könne
vieles von Schottland aus gemacht werden, was vorher nur vor Ort, in London, möglich war.
Das war einmal ganz anders. In Fleet Street, der Strasse am Flüsschen Fleet, im Westen der St.Pauls-Kathedrale, war das berühmteste Zeitungsgewerbe der Welt zu Hause. Bis ins Jahr 1500
zurück reicht die erstaunliche Druckerei- und Verlagsgeschichte in diesem Viertel. Anfangs
wurden Dokumente fürs benachbarte Gerichtsviertel, für Temple Bar und die Royal Courts of
Justice, produziert. 1702 eröffnete dann Londons erste Tageszeitung, der «Daily Courant», auf
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Fleet Street seine Redaktionsräume. Der «Morning Chronicle» war, bald darauf, die Nummer
zwei.
Das Reich der Pressebarone
Andere Blätter folgten, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drängte alles nach Fleet
Street. Die «Penny Press», die einen Penny pro Zeitungsexemplar kostete, setzte sich fest in der
Strasse und fand schnell Verbreitung. Ins 20. Jahrhundert hinein machten sich die
Pressebarone und ihre grossen, landesweit gelesenen Blätter dort breit. Praktisch alle wichtigen
Londoner Titel hatten nicht nur ihre Redaktionen, sondern auch ihre Druckanlagen im Gebiet
der Fleet Street. Mächtige neue Zeitungsburgen wurden in den Dreissigerjahren erstellt. Das
war die Zeit, in der «Fleet Street» zum Synonym für Zeitungsproduktion wurde.
Tagsüber manövrierten Grosstransporter Druckerschwärze und frische Papierrollen durch die
kleinen Nebenstrassen der Gegend. Nachts starteten ganze Flotten von Auslieferungswagen von
hier zu ihren Bestimmungsorten. Die vielen Kneipen der Strasse aber frequentierten bei Tag wie
bei Nacht Setzer, Drucker und Journalisten. Fleet Street kam nie zur Ruhe. Wehmütige
Erinnerungen verbinden sich für alle, die sie durchlebten, mit jener Ära. Noch in die
Achtzigerjahre hinein konnte, wer durch die Fleet Street schlenderte, aus offenen Fenstern das
Hämmern und Klingeln von Schreibmaschinen und dröhnende Stimmen an Telefonen hören.
Vor den Verlagsportalen riefen heiser Zeitungsverkäufer rund um die Uhr die letzten
Schlagzeilen aus.
Jeder Redaktion ihr Pub
In den Pubs konnte man vor Qualm kaum die Hand vor den Augen sehen. Jede Redaktion hatte
damals ihr «eigenes» Pub. Im King and Keys tranken die Redaktoren des königstreuen
«Telegraph», im Red Lion die Leute vom «Express» und im White Hart (das wegen finsterer
Personalmanöver den Spitznamen «Das Messer im Rücken» trug) diejenigen des «Mirror». Die
bekanntesten Kneipen waren Ye Olde Cheshire Cheese, das Punch Tavern und die El Vino
Winebar.
In dieser Zeit bezogen noch die meisten britischen Haushalte eine in Fleet Street gedruckte
Zeitung. Vor allem vor der Blütezeit der BBC, und lang vor der Geburt sozialer Medien, sorgte
Fleet Street für fast alle Information im Vereinigten Königreich. Evelyn Waugh setzte der
Strasse und ihrer Zeitungskultur im Roman «Scoop» 1938 ein satirisches Denkmal. Aber schon
viel früher, etwa bei Charles Dickens, kommt Fleet Street als charakterstarke Strasse vor. Für
britische Journalisten war Fleet Street die Strasse ihrer Träume. Karrieren wurden hier
gemacht - oder zerbrachen auf spektakuläre Weise. Reiche Verleger häuften Vermögen an und
übten unvorstellbare Macht aus.
Permanent alkoholisierte Schreiber und Redaktoren wurden als rotnasige «Hacks» verspottet.
Als «Street of Shame», als Strasse der Scham und Schande, ging Fleet Street bei nüchterneren
Zeitgenossen und bei Opfern entsprechender Sensationsstorys in die Geschichte ein. Ein
Zugereister, der Australier Rupert Murdoch, läutete das Ende ein für diese halbtausendjährige
Geschichte. Das war vor genau 30 Jahren, also im Jahr 1986.
Damals setzte der Eigentümer der «Times», der «Sunday Times», der «Sun» und der «News of
the World» fast 6000 seiner Journalisten, Setzer und Drucker auf die Strasse und eröffnete in
Wapping, in den Londoner Docklands, hinter hohen Zäunen und Stacheldraht eine nagelneue
Produktionsstätte, die mit Foto- statt mit Bleisatz und ohne Gewerkschaften betrieben wurde.
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Ein Jahr lang kämpften Tausende von Gewerkschaftern und Demonstranten damals gegen «das
Diktat» Murdochs. Es war, wie sich zeigte, eine vergebliche Schlacht.
Billigere Produktionsgelände
Bald schon folgten dem skrupellosen Modernisierer und Zeitungszaren die anderen
«Mächtigen» der Fleet Street ins örtliche Umfeld. Billigere Produktionsgelände lockten. Die
alten Behausungen liessen sich teuer verkaufen. Fleet Street hatte, als Standort, ausgedient.
1987, ein Jahr nach der «Times», verliess der «Daily Telegraph» seinen Art-déco-Tempel in der
Fleet Street und zog Richtung Docklands. Die «Financial Times» gab ihren stolzen Sitz
«Bracken House», nahe der St.-Pauls-Kathedrale, auf. 1988 verschwand auch die «Daily Mail»
aus der Traditionsstrasse. In den folgenden Jahren zogen nach und nach so gut wie alle
Pressehäuser aus der Strasse ab.
Inzwischen ist Fleet Street eine Strasse wie andere Strassen auch in der Londoner City. Auf ein
paar denkmalgeschützte Fassaden der Presse-Ära stösst man natürlich noch. Im alten
«Telegraph»-Gebäude aber betreibt heute die Investmentbank Goldman Sachs ihre Geschäfte.
In der früheren Behausung des «Mirror» hat der Supermarkt-Riese Sainsburys sein
Hauptquartier eingerichtet. Im White-Hart-Pub, dem «Messer im Rücken», gibt es einen PizzaExpress. Einige Medienorganisationen widerstanden dem Zeitentrend etwas länger als andere.
Vor elf Jahren erst schloss die Nachrichtenagentur Reuters ihr Fleet-Street-Büro. Und vor drei
Jahren bestellte dann der «Jewish Chronicle» die Umzugswagen nach Golders Green. Nur eben
die beiden «Sunday Post»-Reporter aus Dundee schrieben bis zuletzt noch ihre Geschichten
und Berichte mit Blick auf die berühmte Strasse.
«Wir sind noch immer hier!»
«Eine Menge Historisches» gehe mit ihrem Wegzug zu Ende, sagen die beiden. Gavin Sherriff,
der Ältere, der Mitte der Achtzigerjahre als 18-Jähriger in Fleet Street anfing, hat den ganzen
Exodus der Zunft miterlebt. Darryl Smith, sein jüngerer Kollege, schüttelt noch immer den Kopf
darüber, dass in den letzten Jahren ausser seinen unmittelbaren Kollegen in Schottland
offenbar kein Mensch mehr von seinem und Sherriffs hartnäckigem Verbleib in der Strasse
wusste.
«Einmal, vor ein paar Jahren, stand ich am Fenster», berichtete Darryl, «als draussen ein
Rundtour-Bus anhielt. Ich hörte, wie der Fremdenführer den Passagieren sagte, in der Fleet
Street arbeiteten keine Journalisten mehr. Da hab ich den Kopf zum Fenster rausgestreckt und
gerufen: «Wir sind noch immer hier!» Jetzt nicht mehr. Jetzt ist Fleet Street wirklich ohne
«Hacks». Kein Fremdenführer muss mehr befürchten, dass jemand empört den Kopf aus dem
Fenster streckt, wenn vom Tod der Presse in Fleet Street die Rede ist.
Stattdessen kann sich der Besucher-Pulk im Bus an nostalgischen Erinnerungen weiden und auf
schön grauselige Geschichten wie die von Sweeney Todd, dem legendären, kehleschlitzenden
«Barbier aus der Fleet Street», konzentrieren. Der soll gleich nebenan, in No 186, seinen
Coiffeurladen betrieben und seine Opfer im Keller zu Pastetenfüllung verarbeitet haben (eine
rechte Fleet-Street-Story für die «Penny Press»).
Einem anderen «Halsabschneider» aber können jene, die der Strasse nachtrauern, nie
vergeben. Natürlich, meinen die Veteranen des Gewerbes in London, konnte man sich
letztendlich nicht gegen Elektronik und neue Produktionsformen stemmen, genauso, wie man
sich heute nicht gegen die neuen Medien und das Onlinegeschäft wehren kann, die der alten
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Printtradition zu schaffen machen. Die Dreistigkeit jedoch, mit der Murdoch vor 30 Jahren das
Ende der Fleet Street einleitete, indem er Tausende Mitarbeiter feuerte und die
Druckergewerkschaften in die Knie zwang, ist unvergessen geblieben in London. Erneut
entfacht hat die Empörung Murdoch kürzlich selbst, mit einer für ihn typischen Provokation.
Zu seiner Hochzeit mit Jerry Hall wünschte sich der 84-jährige Medienmogul speziellen Segen
ausgerechnet in St Brides, der kleinen Kirche am östlichen Ende des Fleet-Street-Bezirks.
St Brides gilt als die «Pfarrkirche der Journalisten» im Vereinigten Königreich. Für Murdoch
selbst hatte die Wahl dieser Kirche offenbar nichts Kontroverses. Für seine Kritiker war es der
reine Hohn. «Der Mann hat vielleicht Nerven», schimpfte der frühere linke LabourAbgeordnete Dave Nellist, der die Proteste gegen Murdoch in den Achtzigerjahren mit anführte.
«Echt unverschämt» sei dessen Verlangen gewesen, wenn man seine Schlüsselrolle bei der
«Zerstörung» der Fleet Street bedenke in jenen Jahren: «Das ist, als ob Dracula in einer
Blutbank Heirat feiert.»
Das Monopoly-Feld bleibt
Der neuen Generation, die nun Fleet Street bevölkert, liegt die alte Geschichte der Strasse
freilich zunehmend fern. «Hier kommen keine Journalisten mehr her», hat jüngst
achselzuckend Mark Fuller, der Chef der historischen Weinbar El Vino, einem in der
Vergangenheit grabenden Reporter erklärt. Und im Punch Tavern, nicht weit entfernt, klagt
man darüber, dass die Banker und Anwälte der Strasse nach acht Uhr einfach heimgehen,
während die Journalisten nie heimgehen wollten.
Gelegentlich sieht man noch ein paar «Hacks», die sich einen Abend lang zu einer
Wiedersehensfeier in einem der Fleet-Street-Pubs zusammensetzen. Und in St Brides Church
stösst man nicht nur auf heiratslustige Verlagsmogule vom andern Ende der Welt, sondern auf
alle Arten hiesiger Presseleute, Fotografen und Verlagsmenschen, die sich schlicht nicht
trennen können von der gemeinsamen Vergangenheit.
Ansonsten erinnert ja immer noch eins der roten Felder des klassischen Londoner MonopolySpiels aus den Dreissigerjahren an dieses Stück Zeitungsgeschichte. Dort hat Fleet Street ihren
festen Platz, zwischen der Strasse Strand und Trafalgar Square.
Inside Facebook
Antonio García Martínez arbeitete zwei Jahre bei Facebook, dann wurde er gefeuert. Im Gespräch
erzählt er über Einstiegsgehälter, Arbeitsalltag, Codes – und wie es ist, Zuckerberg als Vorgesetzten
zu haben.
Obwohl Google, Apple und Facebook überpräsent sind in den Medien, gibt es relativ selten,
eigentlich: nie, Berichte aus dem Inneren der Konzerne. Wie ist es eigentlich, dort zu arbeiten? Was
haben die Firmen wirklich vor? Was denken die Mitarbeiter über ihre Arbeitgeber? Der Grund dafür,
dass wir nichts erfahren, ist eine Art Branchen-Omertà: Journalisten werden nicht reingelassen, und
wenn doch, dann nur, um porentief reine Biografien der Branchengrössen zu publizieren. Und die
Angestellten? Die fürchten sich vor millionenschweren Klagen, die ihnen drohen, sollten sie Details
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aus dem Innenleben von Silicon Valley ausplaudern. Umso erstaunlicher ist die Geschichte von
Antonio García Martínez. Der heute 40-Jährige arbeitete von 2011 bis 2013 als mittleres Kader bei
Facebook und hatte häufig mit Zuckerberg zu tun. Nach seiner Kündigung hat er, als Erster, seine
Erfahrungen komplett unverblümt in einem Buch aufgeschrieben. «Chaos Monkey» erschien diesen
Sommer auf Englisch.
Antonio García Martínez, Ex-Mitarbeiter von Facebook.
Ein Gespräch von Hannes Grassegger, Das Magazin vom SA 27. August 2016
Das Magazin — Wenn Sie an Ihr Vorstellungsgespräch bei Facebook zurückdenken: Was fiel
Ihnen damals als Erstes auf?
Antonio García Martínez — Auf den automatischen Schiebetüren am Eingang stand das Wort
«Hack». Das ist das oberste Gebot bei Facebook. Das neue Headoffice liegt an der Adresse «1
Hacker Way». Auf Google Earth erkennt man, dass das Wort «Hack» in riesigen Buchstaben in den
zentralen Hof des Campus eingelassen ist.
Was ist mit «Hack» gemeint?
Es kommt natürlich von «hacken». Im Silicon Valley meint «Hack» aber etwas Positives. Es steht
dafür, sich ein System zu erschliessen und es nach den eigenen Vorstellungen zu ändern.
Wie ging Ihr erster Tag dann weiter?
Ich musste am Empfang eine Vereinbarung unterzeichnen, dass ich niemandem jemals erzählen
würde, was ich hier drinnen gesehen habe.
Und schon waren Sie Teil von Facebook?
Nein, so was muss jeder Besucher unterzeichnen, der eine Einladung bekommt. Diese sogenannten
NDAs – Verträge, die einen unter Klageandrohung verpflichten, alles zu vergessen, was man hier
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sieht – sind in der Branche üblich. Es ist schon lustig, die Tech-Unternehmen leben davon, einen
abzuhören, ihre eigene Privatsphäre verteidigen sie aber mit allen Waffen.
Sie mussten später bei Facebook noch härtere Stillschweigeklauseln unterzeichnen. Jetzt
packen Sie in Ihrem Buch aus, nennen Namen, Summen, Interna. Fürchten Sie keine Klagen?
Das kann jederzeit passieren.
Zurück zu Ihrem Vorstellungsgespräch.
Erst mal gab es einen Tag lang Prüfungen, ein Meeting nach dem anderen. Persönlichkeitsscreening,
Logiktests, sie überprüften meine Vereinbarkeit mit der Facebook-Kultur.
Das klingt ähnlich wie bei vielen Unternehmen. Irgendwas Spezielles?
Zwischendurch ging ich mal auf die Toilette. Da hörte ich ein komisches Klackern. Ich kannte das
Geräusch. Da war jemand am Coden. Als ich mir die Hände wusch, sah ich im Mülleimer eine ganze
Menge gebrauchter Einweg-Zahnbürsten. Die wurden vom Unternehmen gestellt und offensichtlich
auch genutzt.
Wie fanden Sie das?
Ich sah, dass hier ernsthaft gearbeitet wurde. Das war nicht wie die Twitter-Hipster in Downtown
San Francisco, bei denen Kombucha aus dem Wasserhahn kam.
Dann wurden Sie eingestellt.
Ja. «On-Boarding» nennt man den Einführungstag. Im Publikum sind die Neulinge, die «Kids», auf
der Bühne gibt es mitreissende Reden über die neue Kultur und Philosophie, von der wir jetzt Teil
sind. Dann folgt eine sechswöchige Schulung. Ein «Bootcamp», wie beim Militär. Man wird in die
Philosophie eingewiesen und muss den Code des Netzwerks bedienen lernen.
Was heisst das?
Die Architektur von Facebook ist ein Code – der verblüffend einfach ist. Ich hab ihn runtergeladen
und dann den Like-Button auf meinem Account umbenannt in Fuck. Fortan habe ich nichts mehr geliked, sondern nur noch alles ge–fucked.
Wie sieht es drinnen bei Facebook aus?
Je näher man an Zuckerberg sitzt, desto wichtiger ist man. Es gibt ein zentrales
Besprechungszimmer, ganz aus Glas, alle nennen es «das Aquarium». Dort hält «Zuck» Hof. Es ging
das Gerücht um, es sei schusssischer. Das alte Facebook-Office, in dem ich mich vorstellte, war noch
nicht das Raumschiff von heute. Es war ein ziemlich ordinäres Bürogebäude, schmutzige
Büroteppiche, in denen Skateboards und Nerf-Spielzeugpistolen rumlagen. Überall hingen Poster in
so einer Revolutionsästhetik.
Wozu?
Es gab eine eigene Posterpresse bei Facebook für interne Propaganda. Die wichtigsten Lehrsätze
lauten: Make an impact! Go fast and break things! Done is better than perfect. Get in over your
Head. (Bewirke was! Sei schnell und zerbrich Sachen! Besser getan als perfekt! Überfordere dich!)
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Gibt es eine Kleiderordnung bei Facebook?
Am Einführungstag hat jeder ein blaues T-Shirt bekommen. Die Hälfte aller männlichen Mitarbeiter
trug das. Viele hatten Familienfotos rumstehen, auf denen Frau und Kinder ebenfalls die Shirts
trugen. Den Frauen wurde schon am Einführungstag «abgeraten», zu knapp angezogen zu sein.
Wie kamen Sie überhaupt zu Ihrem Job bei Facebook?
Ich hatte ein ziemlich heisses Start-up für Internetwerbung aufgebaut. Wir hatten ein paar der
bekanntesten Investoren an Bord. Nach zehn Monaten begann Twitter sich für uns zu interessieren.
Um deren Angebot zu erhöhen, versuchte ich sie gegen Facebook auszuspielen. Die wollten dann
mich. Mein Unternehmen und meine alten Partner hab ich an Twitter verkauft.
Was war Ihr Einstiegsgehalt bei Facebook?
Nicht so viel. 550 000 Dollar nach Steuern.
Klingt doch nicht schlecht!
Nein, das ist im Silicon Valley grade mal Mittelschicht. Ich bekam im Jahr 175 000 Dollar
Grundlohn. Dazu gab es einmalig ein Paket von 75 000 Unternehmensanteilen, die später 38 Dollar
pro Stück wert waren. Hin und wieder gab es Boni. Wichtig sind im Valley allein die
Unternehmensanteile, Cash zählt nicht.
Was war Ihre Aufgabe bei Facebook?
Die Monetarisierung. Ich sollte persönliche Daten in Geld verwandeln. Der Plan: Man versteigert
Suchwörter meistbietend an Werbepartner*. Es war das Jahr 2011, und Facebook musste endlich
Geld verdienen.
Das war Zuckerberg sicher ziemlich wichtig!
Zuckerberg interessierte sich überhaupt nicht für Geld. Das hat er komplett an seine Vize Sheryl
Sandberg übergeben.
Wo standen Sie in der Hierarchie?
Ich war mittlere Ebene, ein Produktmanager, einer von Dutzenden damals. Nach innen hin war ich
nicht das höchste Tier. Wenn ich aber als Facebooker Firmen ausserhalb sprechen wollte, kam im
Handumdrehen deren Chef angelaufen. Die wussten, der ist nur zwei Sprünge von Zuckerberg
entfernt.
Kurz nach Ihrem Antritt blies Google zum Grossangriff. Man wollte das soziale Netzwerk
Google+ einführen.
Das war der totale Wahnsinn. Alle bei Facebook waren völlig überrascht. Über dem Aquarium
blinkte plötzlich ein Schild aus Leuchtbuchstaben auf: «Lockdown». Zuckerberg beorderte uns per
Mail um 13:45 Uhr zum Aquarium, es war, als ob eine Regierung den Ausnahmezustand verhängt.
Zuckerberg ist eigentlich ein schlechter Redner, aber jetzt begann er frei zu sprechen.
Was sagte er?
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Dass es um alles oder nichts gehe. Die oder wir. Dass es jetzt doch um Qualität gehe. Es begann wie
eine Lektion und endete als Schlachtrede. Langsam wurde aus unserer Verunsicherung eine
Kampfstimmung. Am Ende zitierte er Cato. Zuckerberg ist ja so ein Harvard-Bubi, er kennt die
Klassiker. Er sagte: Carthago delenda est – Google muss zerstört werden. Google war für Facebook
die alte Welt.
Was passierte dann?
Die Leute jubelten. Die Posterpresse wurde angeworfen. Carthago delenda est. Wir wurden
angehalten durchzuarbeiten. Sieben Tage die Woche. Unsere Familien bekamen Besuchszeiten am
Wochenende. Rund um die Uhr versuchten wir, unser Produkt zu verbessern, Detailarbeit an allen
Ecken und Enden.
Wenn Facebook sagt, es kämpfe für eine offenere und vernetzte Welt, glauben Sie das
eigentlich?
Ich glaube, dass sie das ernst meinen. Schauen Sie, Facebook hat eine Luftfahrtfirma gekauft, damit
es via Drohnen Facebook in alle Ecken der Welt bringen kann. Bald werden Leute Facebook haben,
die nicht mal ein Klo haben.
Wollen wirklich alle Menschen einen Facebook-Account?
So oft, wie die Leute das täglich nutzen, denke ich, Facebook ist legales Crack.
Darf man bei Facebook intern Facebook benutzen?
Die ganze Zeit. Das gilt als Arbeit. Alles ist Facebook dort. Für alles gibt es Gruppen. Ausserdem
gibt es ein internes Netzwerk zur Zusammenarbeit, nur für Mitarbeiter.
Sie haben auch den Börsengang miterlebt, dabei wurden viele Mitarbeiter auf einen Schlag zu
Millionären.
Da hat Zuckerberg wieder eine Rede gehalten, diesmal im Hof. 2012 war das. Noch während er
sprach, waren einige hochrangige Mitarbeiter via Handy auf Immobiliensuche in San Francisco. Was
mich am meisten überraschte, war, dass am nächsten Morgen um acht wieder alle wie wild
weiterarbeiteten.
Dabei hätten sie eigentlich sofort aufhören können zu arbeiten.
Genau, aber ich bekam das Gefühl, denen geht es nicht ums Geld, sondern um eine Mission. Schauen
Sie, bei Facebook feiert man nicht seinen Geburtstag, sondern seinen «Faceversary», den
«Anniversary» (Jahrestag) des ersten Tages bei Facebook. Da gibts Blumen und Geschenke, die
Leute gratulieren. Dann werden ständig «Hack-athons» abgehalten. Auch an Orten, wo es gar keine
Programmierer gibt. Man pflegt die Rituale. Jeden Freitag gibt es ein Q & A, alle dürfen dann die
grossen Führer befragen. Oft auch Zuck. Danach gibts Drinks für alle. Aber wer kündigt, wird
gelöscht. Man verschwindet aus allen internen Gruppen und Netzwerken.
Wie ist Zuckerberg als Mensch?
Er ist ein natürliches Alphatier, der Gründer einer neuen Kirche und überhaupt nicht so ein Nerd wie
in «Social Network». Er spricht kurz und abgehackt, schnörkellos, sehr direkt. Er spricht so, wie man
Codes schreibt. Auch schaut er einem nie in die Augen, weshalb er auf Pressefotos immer etwas
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seltsam aussieht. Jedes Jahr setzt er sich selber eine grosse Aufgabe, die messbar sein muss. Als ich
anfing, war es: zehntausend Schritte am Tag gehen – das war, lange bevor jeder so ein Fitbit-Band
trug. Letztes Jahr las er ein Buch pro Woche. Jetzt läuft er eine Meile am Tag.
So hat das schon Benjamin Franklin gemacht. Jede Woche eine Aufgabe zur
Charakterbildung.
Zuckerberg ist okay. Er führt offensichtlich eine gute Ehe, ist seit über zehn Jahren mit derselben
Frau zusammen. Was mich störte, waren seine Freunde. Wir nannten sie FoZ – Friends of Zuck. Sie
waren wie der Adel. Furchtbar arrogant.
Was hat Zuckerberg eigentlich vor?
Dieses Unternehmen wird noch lange existieren. Die haben eine grosse Vision. Ich glaube, dass die
EU zum Beispiel langfristig gegen Facebook kapitulieren muss.
Worum geht es Facebook eigentlich?
Ich habe viel drüber nachgedacht, was Facebook eigentlich ist. Dem ganzen Silicon Valley geht es
eigentlich darum, etwas Vorhandenes durch etwas Eigenes zu ersetzen. Ein System zu hacken. Uber
sagt: Wir brauchen keine Taxis mehr. Airbnb sagt: Wir brauchen keine Hotels mehr. Einen Teil
meines Buches hab ich in Barcelona geschrieben. Ganze Teile Barcelonas sind nur noch AirbnbTerritorium. Die Silicon-Valley-Firmen ziehen irgendeiner Branche, die sie für reif halten, einfach
mal den Stecker und schauen dann, was passiert.
Was halten Sie davon?
Ich weiss nicht, ob die Gesellschaft stabil genug ist, um das zu ertragen.
Und im Fall von Facebook?
Ich glaube, bei Facebook geht es darum, wie wir leben. Es ist ein Ersatz für Gemeinschaften. Für
Stämme.
Wie meinen Sie das?
Es gibt diese eine Zahl, sie heisst Dunbar-Zahl. Die besagt, dass Menschen, egal in welcher Epoche
und an welchem Ort, eigentlich immer nur mit etwa 150 Leuten echte Beziehungen pflegten. Das
war Ihre Dorfgemeinschaft. Ihr Metzger, Ihr Freund, Ihr Berater. In unserer Zeit, wo man nicht mehr
dort lebt, wo man geboren wurde, gibt es dieses kleine Ding in unserer Hosentasche, die Facebook
App, die einen genau mit diesen Leuten verknüpft, ganz unabhängig davon, wo man ist.
Noch mal: Wenn Airbnb bedeutet, keine Hotels mehr, was bedeutet dann Facebook?
Eigentlich ist Facebook ein Hack des Staates. Der Gemeinschaft an sich.
In Europa und auch im US-Wahlkampf wird gerade diskutiert, ob Facebook die politische
Entwicklung beeinflusst.
Natürlich, man sieht das, wenn man in eine Bar geht. Das ist ja ein Ort, an dem man mit Freunden
und Fremden ins Gespräch kommt, auch über politische Themen. Wenn Sie aber heute in eine Bar
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gehen, sehen Sie nur Leute, die auf Facebook-Screens starren. Diese Menschen sind verbunden mit
einer anderen Gemeinschaft.
Sie meinen also, dass Facebook die Politik nicht nur dadurch beeinflusst, dass es bestimmte
Themen nach oben in die Timeline bringt und andere Themen gar nicht, sondern Sie glauben,
dass die Struktur unser politisches Verhalten verändern kann. Ist Zuckerberg denn eher
Demokrat oder Republikaner?
Das weiss ich nicht. Facebook geht es nicht darum, dich dazu bewegen, Demokraten oder
Republikaner zu wählen.
Welche Änderung an Facebook würden Sie Zuckerberg vorschlagen, damit er einfach neutral
wäre, also keinen Einfluss mehr auf die Demokratie nimmt?
Schwierig. Zuckerberg hat natürlich eine Menge Möglichkeiten, auf den Wahlkampf Einfluss zu
nehmen. Die Facebook-Timeline funktioniert so, dass du die Sachen siehst, die dir statistisch
gefallen – und damit bestätigen sie dich in deiner Meinung, anstatt sie herauszufordern. Es ist
vermutlich so, dass diese Echokammer ein starker Grund ist für die politische Polarisierung in
Europa und in den USA.
Könnte man die Echokammer umbauen?
Ja, sicher. Man könnte beispielsweise die Meinung deines am wenigsten geliebten Freundes
anzeigen. Aber ich glaube, die Menschen würden das als Manipulation empfinden. Ich sehe wenig,
was Facebook ändern könnte am eigenen Einfluss.
Sie wurden 2013, nach zwei Jahren, bei Facebook gefeuert. Was war der Grund?
Sie hatten sich gegen meine und für eine konkurrierende Produktstrategie entschieden. Dann musste
ich halt gehen. Ganz normal im Valley.
Was macht man nach Facebook? Wo bewirbt man sich?
Ich bin erst mal mit meinen drei Kindern aufs Land gezogen und habe das Buch geschrieben. Jetzt
muss ich schauen, wie es weitergeht. Ich habe keine gute neue Geschäftsidee.
Sie wissen viel mehr über die fortschreitende Digitalisierung als die meisten anderen
Menschen. Welche Schlüsse haben Sie gezogen?
Was die Zukunft meiner Kinder angeht: Ich werde sie nicht auf Facebook lassen. Ich werde
versuchen, sie von der Technologie abzuschirmen. Ich werde sie davor schützen, soweit ich es kann.
Sie sollen in der Realität einer kleinen Gemeinschaft aufwachsen, nicht in einer Simulation davon.
* Die Haupteinnahmequelle von Firmen wie Facebook und Google ist Werbung. Sie bieten
Unternehmen die Möglichkeit, Werbung zu schalten, die exakt auf einzelne Nutzer passt. Das
funktioniert so: Die Unternehmer ersteigern bestimmte Suchbegriffe oder Worte, die Nutzer oft
eingeben oder posten. Eine Rechtsanwältin in Zürich kann beispielsweise einen Franken bieten,
damit ihr Werbefenster bei jedem auftaucht, der dort das Wort Scheidung sucht oder auf Facebook
postet. Das Höchstgebot gewinnt.
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Verraten, verkauft, verfeindet
Ein möglicher Grenzverlauf von Kurdistan
Die türkische Bodenoffensive in Syrien zeigt Wirkung: Die Kurden ziehen sich aus dem
Grenzgebiet zurück, und der Traum vom eigenen Staat rückt in die Ferne. Schuld daran ist
auch, dass sich die Kurden untereinander immer wieder gnadenlos bekämpft haben.
Von Tomas Avenarius, TA vom FR 26. August 2016
So verfeindet die vier Nachbarstaaten auch waren: Wenn es gegen die störrische kurdische
Minderheit ging, wurden die Türkei, der Irak, Syrien und der Iran immer schnell zu allerbesten
Freunden. Und wenn die seltsamen Allianzen dann zerbrachen, wiegelten die Herrscher die
Kurden im Nachbarland gegen deren Regierung auf, um gleichzeitig die Kurden im eigenen
Land blutig zu unterdrücken. Am Ende waren die Kurden stets die Verlierer: verkauft, verraten,
an ihrer eigenen Uneinigkeit gescheitert.
Jetzt scheint sich das Szenario im syrischen Bürgerkrieg zu wiederholen. Der türkische
Präsident Recep Tayyip Erdogan, bisher einer der erbittertsten Feinde von Syriens Herrscher
Bashar al-Assad, schickt seine Panzer über die Grenze. Nicht, um sie in Richtung Damaskus
rollen zu lassen. Nein, er will Terroristen bekämpfen. Und zwar nicht nur die vom Islamischen
Staat (IS), sondern auch die Kurden: die syrischen Kurden, die als YPGVolksverteidigungseinheiten gegen den IS kämpfen. Sie wurden von Assad während der ersten
Kriegsphase in einem Zweckbündnis geschont und dienen der westlichen Anti-IS-Koalition als
Stosstruppe. Nun verlangen Ankara und Washington, dass sich die Kurden in die Region östlich
des Flusses Euphrat zurückziehen.
Vom Bürgerkrieg profitiert
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Die syrischen Kurden konnten die Schwäche Assads bisher konsequent nutzen. In den Wirren
des knapp sechsjährigen Bürgerkriegs zwischen Assad und den sunnitischen Aufständischen
haben die säkular eingestellten Kurden ihren Herrschaftsbereich immer weiter ausgedehnt. Das
Szenario eines zusammenhängenden, autonomen oder gar unabhängigen Kurdengebietes im
Nachbarland Syrien aber schreckt Ankara weit mehr als die IS-Mörderbande.
Sollte die YPG ihre territorialen Ziele erreichen, würde zwischen der Türkei und Syrien ein
kurdisch kontrollierter Landstreifen entstehen: von der syrischen Kurdenhauptstadt Kamishli
im Osten bis nach Afrin im Westen, also fast bis ans Mittelmeer. Der «kurdische Korridor», die
syrischen Kurden nennen ihr Siedlungsgebiet «Rojava», würde entlang der syrisch-türkischen
Grenze zudem bis zum irakischen Kurdengebiet verlaufen: Aus dem kurdischen Fleckenteppich
im Nahen Osten entstünde eine zusammenhängende Region.
Im Irak leben die Kurden seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 weitgehend
unabhängig von der Bagdader Zentralregierung. Sie haben offiziell keinen eigenen Staat, ihre
«Autonome Region» könnte aber zu einem werden: Ein Parlament, einen Präsidenten und eine
Flagge haben die irakischen Kurden bereits. Ein zumindest geografisch zusammenhängendes
Kurdengebiet im Irak und in Syrien wäre nach Ansicht der türkischen Regierung eine geradezu
historische Aufforderung an die türkischen Kurden, sich im Südosten der Türkei ebenfalls ihr
eigenes Kurdengebiet zu erkämpfen. Auf der Landkarte betrachtet, ergäbe das durchaus Sinn.
In Wahrheit aber sind die Kurden in den vier nahöstlichen Staaten Türkei, Syrien, Iran und Irak
keineswegs so einheitlich, wie es die Bezeichnung Kurde auf den ersten Blick vermuten lässt.
Die 35Millionen Kurden entstammen zwar einem, historisch gesehen, sehr alten Volk. Sie
bezeichnen sich gern als weltweit grösstes «Volk ohne eigenen Staat». In Wahrheit aber
sprechen die Kurden nicht nur mindestens drei sehr unterschiedliche Dialekte, die manche als
Sprache begreifen. Sie sind sich auch politisch oft spinnefeind. Die syrischen, die irakischen, die
iranischen und die türkischen Kurden haben sich gegenseitig immer wieder bekämpft, an die
Regierungen der Nachbarländer verkauft, die angeblichen Brüder verraten.
Erdogans grösster Albtraum
Besonders die irakischen Kurden waren untereinander lange zerstritten und führten einen
Bürgerkrieg. Die syrischen und die türkischen Kurden hingegen verbindet etwas, was die
Regierung in Ankara skeptisch macht: die PKK, die Kurdische Arbeiterpartei. Die militante,
linksgerichtete Gruppe hatte seit Beginn der Achtzigerjahre in der Türkei für Unabhängigkeit
oder Autonomie gekämpft. Nach einer kurzen Phase der Gespräche zwischen Ankara und der
PKK herrscht nun wieder offener Krieg.
Die syrischen Kurden aber sind der PKK eng verbunden: Die YPG ist ein Ableger der PKK,
politisch und militärisch, die syrischen Kurden zählen zu den Gefolgsleuten von PKK-Gründer
Abdullah Öcalan. Wie die irakischen Kurden sind die syrischen Kurden zwar sunnitische
Muslime, aber ebenfalls sehr säkular ausgerichtet. Das macht die YPG-Kämpfer, unter ihnen
viele Frauen, zur idealen Kampfgruppe gegen den IS. Dass wegen des Kriegs gegen das ISKalifat aber eine syrische Kurdenregion in der Hand einer PKK-nahen Organisation entsteht,
das ist Erdogans Albtraum.
Frau Clinton hört zu
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Fast 50 Jahre in der Politik: Hillary Clinton. Foto: Scott Olsen (Getty Images)
Wer genau ist Hillary Clinton? Wofür steht sie? Und für wen? Selbst ihre Wähler misstrauen
ihr. Dabei gäbe es eine klare Antwort auf die obigen Fragen.
Ein Porträt von Constantin Seibt, TA vom DO 25. August 2016
Die interessante Figur im amerikanischen Wahlkampf ist Hillary Clinton. Und zwar deshalb,
weil Frau Clinton ein Geheimnis hat.
Bei Donald Trump liegt alles offen wie eine Wunde auf dem Operationstisch. Die Vulgarität, das
Testosteron, der Bombast. So nackt ist noch selten ein Politiker aufgetreten, so ohne Kenntnisse
und ohne jede Neugier darauf. Seine Rohheit ist faszinierend: Er demütigt sogar Parteikollegen,
die sich ihm unterworfen haben. Nichts an ihm bleibt im Schatten - ausser seine
Steuererklärung.
Dagegen ist Frau Clinton nach Jahrzehnten in der Weltöffentlichkeit erstaunlich
undurchsichtig. Ihr grösstes Problem im Wahlkampf ist: Wofür steht sie? Sogar 40Prozent ihrer
Wähler halten sie nicht für vertrauenswürdig. Hiesse ihr Gegner nicht Trump, hätte sie kaum
Chancen. Für viele Amerikaner ist es eine Wahl zwischen zwei Übeln.
Und das ist verblüffend. Denn so gut wie alle Leute, die je mit Hillary Clinton gearbeitet haben,
Kollegen, Angestellte, Gegner, haben eine völlig andere Meinung von ihr als die Wähler: Sie
schildern Clinton als brillante Frau mit Humor - und als extrem verlässlich. Ihr Ruf ist umso
korrupter, je ferner man ihr ist. Aus der Nähe gibt es kaum Klatsch. Und keine einzige
Enthüllungsstory eines Ex-Mitarbeiters über sie. Was in Washington etwa so selten ist wie eine
Schlange mit Ballettbeinen.
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Was erklärt diesen Bruch? Der Journalist Ezra Klein machte sich an die Recherche und befragte
vier Dutzend Ex-Mitarbeiter aus fünf Jahrzehnten. Und alle sagten, fast ohne Variation,
denselben Satz. Er ist so unauffällig, dass Klein ihn lange übersah. Er lautete: Sie hört zu.
Klein grub Dutzende von Geschichten dazu aus: Professoren, die Clinton komplizierte Papiere
über Fehler schickten, die in den Entwürfen der Regierung ihres Mannes steckten. Und sie rief
schon am Morgen danach zurück: Und hatte das Papier nicht nur gelesen, sondern sorgte dafür,
dass die Vorlagen geändert wurden. Als sie Aussenministerin war, stellten Diplomaten verblüfft
fest, dass ihre Memos tatsächlich gelesen wurden - meist Jahre zurück. Als Senatorin hielt sie
Sitzungen, in denen sie Berge von zerknüllten Notizen durchackerte, die sie bei Gesprächen mit
Wählern gemacht hatte - und daraus wurden tatsächlich Gesetze.
Die Frau hinter der Kaffeetasse
Am erstaunlichsten ist die Geschichte mit ihren Feinden. Als sie 2001 in den Senat gewählt
wurde, schworen die Republikaner, der Ex-First-Lady zu zeigen, dass sie «nur eine von 100»
sei. Kaum gewählt, setzte Clinton sich mit ihren Gegnern zum Kaffee und hörte ihnen zu. Selbst
ihre engsten Mitarbeiter waren von ihrer Schmerzfreiheit entgeistert. Sie sprach mit Politikern,
die sie über Jahre attackiert hatten. Und versucht hatten, ihren Mann mit der Lewinsky-Affäre
aus dem Amt zu jagen.
Will man Menschen überzeugen, ist Zuhören die wirksamste Art der Verführung - nur Anfänger
setzen auf Reden. In der Tat ist Clintons politische Bilanz einzigartig in einer Zeit, in der
Demokraten und Republikaner fast Todfeinde sind. Sie brachte Dutzende Vorlagen durch das
gespaltene Parlament. Typisch war etwa die Verbesserung des Adoptionsrechtes. Der
republikanische Mehrheitsführer Tom de Lay hatte selbst drei Adoptivkinder - Clinton nutzte
das für einen gemeinsamen Entwurf, weil sie ihm zugehört hatte.
Die Knochenarbeit hinter der Kaffeetasse machte aus Clinton eine der erfolgreichsten
Politikerinnen der USA. Jedenfalls, was Resultate angeht. Sie brachte etwa als First Lady ein
brandneues Sozialwerk durchs Parlament: eine nationale Kinderversicherung. Und erreichte
das nicht zuletzt, weil sie Woche für Woche am Kirchentee der Abgeordnetenfrauen teilnahm:
Die Frauen überzeugten dann ihre Männer.
Das zweite Resultat ihrer Methode waren Verbündete. Es gibt wenige Mächtige, die einem
zuhören. Und denen bleibt man verbunden. 40Jahre Zuhören brachte ihr Hunderte Loyalitäten
ein: zuletzt etwa von ihrem einstigen Wahlgegner Obama, für den sie als Aussenministerin
gearbeitet hatte. In der Vorwahl kämpfte seine gesamte Crew für sie.
Dies ist auch die Quelle für das Misstrauen: Ihre Reden für Goldman Sachs, ihre Freundschaft
mit Wallstreet-Leuten oder politischen Finsterlingen wie Henry Kissinger führten bei
Demokraten zur Frage, ob sie nicht die bessere republikanische Kandidatin sei. Ebenso wie
mehrere ihrer Entscheidungen: Dass Clinton für den Irakkrieg stimmte- war das
Opportunismus, rechte Politik oder schlicht das Pech, dass sie auf die falschen Experten hört?
Dazu hat Clintons Methode des Zuhörens eine ernsthafte Kehrseite: Ihre Reden klingen oft wie
Presseerklärungen eines Komitees, zusammengeschnitten aus den Schlüsselsätzen der Leute,
die sie sprach. Wenig klingt spontan, wenig reisst mit: Sorgfalt killt die Inspiration. Für
Aussenseiter ist es schwer, vor lauter Details die grosse Linie zu sehen.
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Dagegen wirkt Donald Trump mit improvisierten Reden - trotz Dutzender Lügen - auf
verblüffende Weise ehrlicher. Und auf eine Art ist er das auch: Er macht aus seiner
Mördergrube kein Herz.
Trumps Problem dabei ist, wie der «New Yorker» schrieb, seine absolute Leere. Ohne nähere
Kenntnis von Politik, ohne Manuskript, ohne detaillierte Ideen wird seine Aufgabe, eine Stunde
mit Worten zu füllen, immer mörderischer. Kein Zufall, machte er die brutalsten Fehler, als er
in den Umfragen absackte: Davor füllte er die Hälfte seiner Reden mit seinen Erfolgen bei den
Polls. Als die ausblieben, füllte er die tote Zeit mit Angriffen auf das, was gerade zur Hand war:
auf die Eltern eines toten Soldaten, die eigene Parteispitze oder mit der Bemerkung, dass nur
der Besitzer einer Waffe eine Präsidentin Clinton stoppen könne.
Kein Wunder, setzte Trumps neues Kampagnenmanagement ihn hinter den Teleprompter: Seit
er abliest, klingt er erstmals versöhnlich.
Clintons härtestes Problem ist das pure Gegenteil: die Fülle. Ihre Recherche endet nie. Ihr
Kampagnenteam fürchtet ihre nächtlichen Mailwechsel und Telefonate in Clintons, so Klein,
«weit verzweigtes Ökosystem»: Hört sie dabei ein neues Argument, wird am nächsten Morgen
alles neu diskutiert. Ihre schwerste Niederlage erlitt Clinton als First Lady bei der
Gesundheitsreform: Über zwei Jahre verwandelte sie das Weisse Haus in eine Universität - mit
Hunderten von Experten. Das Resultat war ein 500-Seiten-Papier, das niemand mehr verstand.
Kein Zufall, dass Clintons aktuelles Problem ein E-Mail-Skandal ist. Als Aussenministerin
führte sie ihre Geschäfte auch über einen privaten Server - und löschte 30 000 Mails. Die Hälfte
davon, rekonstruiert vom FBI, wird nun von ihren Feinden in Portionen bis zum Wahltag
veröffentlicht. Mit der Folge, dass Clinton weiter in Verdacht geraten wird. Als
Aussenministerin traf sie sich zu oft mit Politikern, Bankern, Firmenchefs, die gleichzeitig auch
Spender der Clinton-Stiftung waren.
Der Skandal trifft damit präzis ihre verwundbare Stelle: Beziehungspflege. «Ich bin eure
Stimme», donnerte Trump bei seiner Parteitagsrede. Clinton könnte denselben Satz sagen - nur
mit Betonung auf «eure» statt auf «ich». Ihr Problem ist, dass niemand genau weiss, wer bei
dem «eure» dabei ist und was das «ich» bei Clinton exakt bedeutet. Das ist der Kern aller AntiHillary-Vorwürfe: Insiderpolitik, Korruption, Undurchschaubarkeit.
Eine Frage der Härte
Das Verblüffende am Duell Clinton - Trump ist: Beide sind alt - fast 70 -, beide unbeliebt - sehr , aber beide trotzdem enorm zeitgemäss. Mit ihnen hat Amerika die Wahl zwischen zwei
Reaktionen auf die Komplexität des 21.Jahrhunderts.
Donald Trump ist die Fleisch gewordene Kommentarkultur im Internet, ein Troll in
Überlebensgrösse. Seine Antwort auf die Verwickeltheit der Welt ist Vorwärtsverteidigung: eine
Flut von Meinungen. Und das Rezept für alles: Härte. Trumps politisches Programm, sofern
erkennbar, ist radikale Komplexitätsreduktion, die Auflösung von Verträgen, Fakten und
Fremden aller Art. Sein Versprechen ist, dass wieder gehandelt wird: durch einen Präsidenten,
so stark, dass er auf Fakten keine Rücksicht mehr nimmt, sondern die Wirklichkeit schon rein
durch Reden ändert.
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Der Aufstieg autoritärer Führer ist eine starke Tendenz in der aktuellen Politik - aber nicht die
einzige. Eine andere ist, dass der Westen nach Clintons Sieg zum ersten Mal an den wichtigsten
Positionen von Frauen gesteuert werden könnte: Die Frauen Clinton, Merkel, May, Lagarde und
Yellen regieren dann die USA, Deutschland, Grossbritannien, den IWF und die amerikanische
Zentralbank.
So unterschiedlich diese Frauen sind, eines haben sie gemeinsam: Es sind Frauen. Und das
heisst, dass sie alle einen härteren Weg hinter sich haben als Männer. Hohe Politikerinnen, wo
immer sie stehen, sind fast alle harte Arbeiterinnen, erfahren im Nehmen, tief in ihren Dossiers.
Anders als Männer können sie sich keine Fehler leisten.
Clintons Preis für Politik war brutal. Kaum jemals wurde ein amerikanischer Politiker so
angegriffen wie sie: ohne Pause, ohne Gnade. Dass sie als First Lady eigene politische Pläne
hatte, verzieh man ihr nie. Das Scheitern ihrer Gesundheitsreform war ein Herzensanliegen
ihrer Gegner.
Egal, ob ihre Politik, ihre Frisur, ihr Ehrgeiz, ihr Mann, ihre Gesundheit, ihr Charakter - an
Hillary Clinton gibt es kein unkritisiertes Fleckchen Mensch. Gegen niemand strengten die
Republikaner so viele Prozesse an - mit so wenig Ergebnis. Hunderttausende Seiten
Untersuchungsakten, Hunderttausende Zeitungsartikel von dem Whitewater-Immobiliendeal
über Benghazi bis zu den bisher veröffentlichten E-Mails versickerten - und nirgends ein Beweis
für wirklich Übles. «Es mag Sie schockieren, aber Hillary Clinton ist völlig rechtschaffen»,
schrieb die Ex-Chefin der «New York Times» Jill Abramson, die Dutzende Reporter auf Clinton
angesetzt hatte, ohne jedes Ergebnis.
Was aber bleibt, ist der Verdacht. Und zwar, dass sie einfach eine zu raffinierte, zu gut vernetzte
Lügnerin ist, um erwischt zu werden. Nicht umsonst ist der Lieblingsslogan der TrumpAnhänger: «Sperrt sie ein!» Sie hat zu viele Bühnen, zu viele Bekannte, um unschuldig zu
wirken. Es ist der Preis, den Clinton für ihre Arbeitsweise zahlt, zuzuhören.
Nicht zuletzt zahlt Hillary Clinton auch, weil sie nie klein beigab. Die Sorte Härte, die alle
Frauen haben, die in der Politik etwas wollen, ist Hartnäckigkeit. Sie ist die traditionelle Tugend
aller Pioniere: Ohne Panzer, Geduld, Schläue und Kenntnisse hätten sie nicht überlebt.
In der Welt von heute, die durch hundertseitige Verträge geregelt wird, haben solche Politiker
einen Vorteil. Zwar wäre das Durchschlagen aller Bindungen oft erfrischend - nur wären die
Folgen unabsehbar. Es ist die Kunst der zeitgemässen Politik, in dem Dschungel an
Verflechtungen die offenen Möglichkeiten zu finden.
Und deshalb irrt, wer Clinton nur als Trumps kleineres Übel sieht. Natürlich ist es möglich, dass
ihre Präsidentschaft gelähmt wird: durch den Hass ihrer Gegner. Oder zu viele Stimmen in
ihrem Ohr.
Aber das ist nicht gesagt. Hillary Clinton hat einen langen Weg hinter sich. Sie hat das Zeug zu
einer grossen Präsidentin.
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«Wir vergessen nicht»
Einst ein stolzes Nomadenvolk, leben die Herero nun in Reservaten: Kinder und Frauen in ihren
traditionellen Kleidern. Foto: Africamediaonline
Dass das deutsche Kaiserreich in Namibia einen Völkermord beging, ist mittlerweile
unbestritten. Besuch bei den Nachfahren von Opfern und Tätern - und einem Farmer, der die
Geschichte umschreiben will.
Eine Reportage von Johannes Dieterich, Windhuk, TA vom DI 24. August 2016
Chief Vipuira Kapuuo kennt den Weg im Schlaf. Zielsicher steuert er seinen Geländewagen
zwischen den Büschen hindurch, die alle gleich aussehen. Trotzdem taucht direkt vor ihm
plötzlich eine liebevoll gepflegte Grabstätte mitten in der Wildnis auf: zwei übermannsgrosse
Aloen, vier Grabsteine, ein Kreuz. «Hier ruht in Gott: Leutnant d. R. Dr. jur. Burkhart Freiherr
von Erffa-Wernburg», steht auf einem der Steine.
Kapuuo senkt den Kopf und schliesst kurz die Augen. Er komme gerne mit einem Deutschen
hierher, sagt er dann: «So können wir zeigen, dass wir keinen Groll auf euch haben.» Würden
die Herero die Deutschen hassen, läge das Grabmal längst in Trümmern, gibt der Chief zu
bedenken: «Wir sind nicht zornig. Aber wir vergessen auch nicht.»
Nicht vergessen wird der Distrikt-Chef, dass die Rinderherden der Herero hier einst
ungehindert durch die Gegend zogen, während die Enkel der Nomaden heute in Reservate
gepfercht sind - von Tausenden von Hektaren grossen Farmen umgeben, die noch immer
Besitzern mit deutschen Namen gehören. Auch wird sich Chief Kapuuo stets daran erinnern,
dass im Gefecht von Oganjira ausser Freiherr von Erffa-Wernburg sein eigener Grossvater
starb: Will er dessen Grab besuchen, muss er die deutschen Farmbesitzer erst um Erlaubnis
fragen. Schliesslich wird das traditionelle Oberhaupt nicht vergessen, dass die Deutschen
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seinem Onkel einst im Konzentrationslager von Swakopmund den Kopf abgeschlagen haben:
«Sie nahmen seinen Schädel nach Deutschland mit. Was sie damit gemacht haben, wissen wir
nicht.»
Immer mehr Bleichgesichter
Hinter Vipuira Kapuuo geht die Sonne unter - wie schon über 40 000-mal seit dem Gefecht von
Oganjira, dem am 9. April 1904 neben den vier deutschen Soldaten 83 Herero zum Opfer
fielen. «Für uns ist es, als ob das gestern gewesen wäre», sagt der 69-jährige Chief: «Wenn
etwas nicht wiedergutgemacht wird, dann verschwindet es auch nicht.»
Jedes Herero-Kind weiss heute, was sich vor über hundert Jahren im Südwesten Afrikas
zugetragen hat.
Nachdem immer mehr Bleichgesichter aufgetaucht waren, die das weite, aber trockene Land
schliesslich zu ihrer Kolonie erklärten, blies Herero-König Samuel Maharero zum Aufstand.
Anfang 1904 ermordeten seine Kämpfer 123 deutsche Siedler: Das Kaiserreich erklärte
daraufhin den Krieg. Zur Verstärkung der Schutztruppe wurden aus Deutschland immer mehr
Soldaten herbeigeschafft. Und nach ersten Gefechten kam es im August desselben Jahres am
Waterberg zur Entscheidungsschlacht. Für die Herero führte sie in eine Katastrophe. Hunderte
starben bereits im Gefecht, Tausende verdursteten auf der Flucht durch die Halbwüste
Omaheke. Gefangene steckten die deutschen Besatzer in Arbeits- und Konzentrationslager, wo
viele elend verendeten.
Während der Ablauf des Konflikts einigermassen feststeht, sind dessen Details noch heute
umstritten. Die Nachfahren der Siedler sprechen von Ländereien, die ihre Ahnen käuflich
erworben hätten, von hinterlistigen «Eingeborenen» und deren selbstmörderischem Aufstand.
Dagegen berichten die Herero von deutschen Gräueltaten, von Massenhinrichtungen,
Auspeitschungen und auf Bajonetten aufgespiessten Kindern. Selbst die Zahl der Opfer ist
umstritten: Während die Herero von 75 000 getöteten Ahnen ausgehen und lediglich 15 000
Überlebenden, will die Gegenseite höchstens von 35 000 einst hier lebenden Einheimischen
wissen. Dass ein Grossteil des Nomadenvolkes damals ausradiert wurde, ist unbestritten.
«Selbstverständlich handelt es sich um einen Völkermord», sagt Zed Ngavirue. Der elegant
gekleidete 84-jährige Herr mit schwarz gefärbten Haaren sitzt in seinem Büro im sechsten
Stock des Windhuker Aussenministeriums: ein Diplomat wie aus dem Bilderbuch. Der
promovierte Historiker, Professor und Spross der adligen Kambasembi-Familie wurde
vergangenes Jahr von seiner Regierung aus dem Ruhestand geholt, um als Vertreter Windhuks
mit Berlin zu verhandeln.
Nachdem die Herero während der über 80-jährigen südafrikanischen Fremdherrschaft (die der
kurzen deutschen Kolonialzeit folgte) gar nicht daran hatten denken können, die Gräueltaten
der Schutztruppe zum Thema zu machen, wurde mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 ein
neues Kapitel aufgeschlagen: Jetzt konnten Repräsentanten das stark dezimierten Volks auf
eine Verurteilung der gewalttätigen Landnahme - und auf Wiedergutmachung drängen. Dabei
konnten sich die Herero auf neuere Studien berufen, die den Krieg der Deutschen als
«Genozid» bezeichneten. Schliesslich sei die Absicht des Schutztruppenkommandeurs
Generalleutnant Lothar von Trotha ausdrücklich «die Vernichtung» des Herero-Volks gewesen.
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Lange gab es aus Deutschland keine Reaktionen auf die neuen Töne aus Südwest. Wiederholt
suchten selbst hochrangige Bonner Politiker die Ex-Kolonie auf, ohne das Thema anzusprechen.
Erst Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul entschuldigte sich anlässlich der
Hundertjahrfeier der Schlacht am Waterberg für die damaligen «Gräueltaten, die heute als
Völkermord bezeichnet würden». Ein Recht auf Wiedergutmachung sollte sich aus diesem
Zugeständnis allerdings nicht ableiten lassen.
Darin war sich Berlin verblüffenderweise mit der namibischen Regierung einig. Denn in
Windhuk werden die Staatsgeschäfte vom Mehrheitsvolk der Ovambo dominiert, die ein eher
gespanntes Verhältnis zu den Herero haben. Die Ovambo seien vor allem darauf bedacht, «uns
niederzuhalten», sagt Chief Kapuuo: weshalb sie zu verhindern suchten, dass das dezimierte
Volk mit Geld entschädigt wieder einflussreicher werden könnte. Berlin und Windhuk gaben die
Parole aus, dass die Deutschen ihre historische Schuld statt mit Sonderzahlungen an die Herero
lieber mit Entwicklungsprojekten begleichen sollten, die allen Namibiern zugutekommen.
Zumindest die «Aufgeklärten» unter den Herero seien damit auch einverstanden, ist Diplomat
Ngavirue - einer der eher wenigen Herero mit guten Beziehungen zur regierenden Swapo überzeugt.
Vekuii Rukoro gehört in diesem Fall nicht zu den «Aufgeklärten», selbst wenn der Jurist einst
in Oxford promovierte. Rukoro darf sich «Paramount Chief» der Herero nennen: ein
Königstitel, der nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch eine Wahl verliehen wird.
Obwohl sie dieselbe Muttersprache und auch sonst viele Gemeinsamkeiten haben, sind Rukoro
und Ngavirue eingefleischte Kontrahenten: Der 30 Jahre jüngere Meatco-Chef wirft dem ExDiplomaten vor, ein «blosser Staatsangestellter» und Verräter an der Sache der Herero zu sein.
Schaden in Milliardenhöhe
Umgekehrt ist Ngavirue darauf bedacht, Rukoro aus den Verhandlungen herauszuhalten, die er
seit einigen Monaten mit Ruprecht Polenz, dem Sonderbeauftragten Angela Merkels in Sachen
Namibia, führt. Über den Stand der Gespräche schweigen sich beide Seiten aus. Fest steht
lediglich, dass Ngavirue kürzlich ein 72-seitiges Papier als Verhandlungsgrundlage der
namibischen Regierung vorgelegt hat. Darin enthalten ist auch das Resultat einer auf WeltbankStudien basierenden Computerberechnung, wonach der Vernichtungsfeldzug der Deutschen
gegen die Herero einen finanziellen Gesamtschaden von 31,6 Milliarden US-Dollar verursacht
habe.
In dem Papier wird nicht gefordert, dass dieser Betrag an die Herero ausbezahlt werden müsse.
Allerdings wird die Bildung eines Fonds vorgeschlagen, aus dem Monumente und
Gedenkveranstaltungen, Partnerschaften sowie Entwicklungsprojekte finanziert werden sollen.
Die höchst prekäre Landfrage wird gar nicht angesprochen.
Hinrich Schneider-Waterberg sitzt auf der Veranda seines über 100-jährigen Farmhauses - den
Blick auf den majestätischen Waterberg und über das Buschland schweifend, auf dem vor
112 Jahren die berüchtigte Entscheidungsschlacht tobte. «Eigentlich war es gar keine
Schlacht», wendet der 84-Jährige ein. Der Farmer weiss über den Konflikt zwischen der
Schutztruppe und den Herero mehr als jeder andere Mensch der Welt: Er nennt eine mehr als
zweitausend Titel umfassende Namibia-Bibliothek sein Eigen, hat Archive in Windhuk, London
und Berlin durchwühlt und das unveröffentlichte Tagebuch des Schutztruppen-Kommandanten
von Trotha gelesen.
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«Es war kein Genozid»
Vor allem Letzteres hat ihn in seiner Auffassung bestätigt, dass es sich bei dem Feldzug des
Generalleutnants keineswegs um einen kaltblütig geplanten Völkermord gehandelt habe: Die
Herero hätten der deutschen Umzingelung am Waterberg vielmehr entkommen können. Davon,
dass von Trotha die Herero absichtlich in die Wüste trieb, Wasserstellen vergiften und mit
seinen paar Hundert Soldaten den fast 300 Kilometer langen Wüstenrand «abriegeln» liess,
könne keine Rede sein, meint Schneider-Waterberg: «Einen Völkermord hat es niemals
gegeben.»
Die jüngst im «Spiegel» veröffentlichten Erkenntnisse des deutschstämmigen Farmers lösten in
Fachkreisen Debatten aus. Auswirkungen auf die bilateralen Gespräche zwischen Deutschland
und Namibia hatten sie allerdings keine. Unterhändler Ngavirue weiss von der Veröffentlichung
gar nichts und hält die Einwürfe Schneider-Waterbergs auch für wenig überzeugend.
Selbst wenn es keinen ausgesprochenen Vernichtungsbefehl gegeben haben sollte, seien die
verheerenden Folgen der deutschen Kolonialisierung noch heute zu spüren: «Keiner kann
bestreiten, dass die Herero dezimiert wurden, ihr gesamtes Vieh starb oder gestohlen wurde
und ihr Schicksal ruiniert war.»
Privat sind Ngavirue und Schneider-Waterberg die besten Freunde. Der fliessend Otschiherero
sprechende Farmer wird wie ein Mitglied der adligen Kambasembi-Familie behandelt und
gelegentlich als Berater beigezogen. Ngavirue kaufte vor wenigen Jahren einen Teil von
Schneider-Waterbergs Farm, die dessen Vater nach der Vertreibung der Herero 1908 für
30 000 Reichsmark erworben hatte.
Auf die Frage, ob er es nicht merkwürdig finde, das Land seiner Vorfahren für teures Geld
zurückkaufen zu müssen, zuckt der Diplomat nur lächelnd die Schultern: Sie wollten die
Deutschen nicht so behandeln, wie die Deutschen sie behandelt hätten, sagt der 83-Jährige
stolz.
Letzteres trifft auf Richard Muharukua nicht zu. Der jahrzehntelang auf einer weissen Farm
angestellte Rentner lebt mit 16 Familienmitgliedern auf einem sandigen Grundstück in
Oganjira. Nachdem ihm die Dürre die letzten fünf Rinder geraubt hat, sind drei Hütten aus
Blech und vier Ziegen sein ganzer Besitz. «Wie soll ich mein Verhältnis zu den deutschen
Farmern beschreiben? Die haben alles, wir haben nichts.»
In Windhuk berichtet ein deutschsprachiger Journalist, dass sich die Stimmung zwischen
schwarzen und weissen Namibiern zunehmend verschlechtere: «Gelegentlich wird man bereits
auf offener Strasse beschimpft.» Die Zahl der Namibier mit deutschen Vorfahren ist im
Schwinden begriffen. Als es um Investitionen auf seinem Grundbesitz geht, sagt ein
deutschstämmiger Farmer schlicht und einfach: «Na, warten wir mal ab.»
Herero-König Rukoro warnt unverblümt, dass die Geduld seiner Leute bald zu einem Ende
kommen könnte: «Falls wir nicht an den Gesprächen beteiligt werden und keine
Wiedergutmachung erhalten, wird in unserem friedlichen Namibia nichts mehr wie früher
sein.»
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«Vielleicht sollte Europa den Euro aufgeben, um
Europa zu retten»
«Das grösste Risiko besteht in Brexit-ähnlichen Krisen», sagt Joseph Stiglitz. Foto: Leemage, AFP
Joseph Stiglitz über die Eurokrise, die Gefahren des Durchwurstelns und wie er die Währung
retten würde.
Mit Joseph Stiglitz sprach Walter Niederberger, TA vom MO 22. August 2016
Als Student waren Sie 1959 erstmals in Europa. Später haben Sie als Ökonom
Regierungen beraten. Auch die griechische. Wie beurteilen Sie den Zustand der
Eurozone heute?
Als ich zum ersten Mal nach Europa kam, sah ich den Wiederaufbau nach dem Krieg und ein
starkes Wirtschaftswachstum. Wie in den USA erlebte Europa dann auch mehrere Rezessionen,
erholte sich aber immer wieder. Die Depression von 2008 änderte alles. Ich würde sagen, dass
die EU seither noch nie in schlechterer Verfassung war.
Solche wirtschaftlichen Katastrophen hätten mit der Schaffung der Eurozone
verhindert werden sollen. Was lief falsch?
Der Euro war ein Versuch, die wirtschaftliche Integration Europas zu beschleunigen, doch
geschehen ist das Gegenteil. Die Struktur der Einheitswährung hat die wirtschaftliche Erholung
verhindert und in vielen Fällen die Lage noch schlimmer gemacht. Wissen Sie, es gibt keine
perfekte Volkswirtschaft, doch haben Griechenland und Spanien frühere Krisen überstanden,
ohne dass dies zu massenhafter und anhaltender Arbeitslosigkeit und Depressionen geführt
hätte. Verantwortlich sind nicht nur die Politiker, die eine zu harte Sparpolitik durchsetzten.
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Der Euro allein ist weder nötig noch genügend, um eine starke wirtschaftliche und politische
Gemeinschaft zu erreichen.
Doch hinter der Schaffung der EU und des Euro steckt das politische Ideal eines
stabilen und auch wirtschaftlich erfolgreichen Europa.
Die Absichten waren die besten, doch gute Absichten führen nicht immer zu guten Resultaten.
Was in der Währungsunion fehlt, sind Instrumente, um tiefe Wirtschaftskrisen abzufedern und
sich daraus zu befreien. Die beiden wichtigsten Werkzeuge sind die Zinspolitik und freie
Wechselkurse. Die EU hat sie den Ländern weggenommen, ohne ihnen einen Ersatz zu geben.
Das Fehlen flexibler Wechselkurse macht es unmöglich, eine Währung abzuwerten, also die
Exporte zu stimulieren und neues Wachstum zu schaffen. Mit der Einführung des Euro wurde
enormer Druck auf die Mitgliedsländer ausgeübt, ihre Defizite und Schulden im Vergleich zur
Wirtschaftsleistung zu senken.
Viele dieser Politiker waren Sozialdemokraten. Würden Sie von ihnen nicht mehr
Verständnis für die sozialen Probleme in der Währungsunion erwarten?
Der Euro entstand in einem neoliberalen Umfeld. Der Glaube, dass die Märkte perfekt
funktionieren oder genügend gut, war weit verbreitet, auch bei Gerhard Schröder oder Tony
Blair. Ich habe Deutschland oft besucht und bin schockiert, wie stark dort dieser Marktglaube
noch vorhanden ist. In dieser Ideologie ist die Arbeitslosigkeit nur eine vorübergehende
Erscheinung und die Schuld von Regierungen, die Lohnanpassungen nach unten verhindern
wollen. Alles wird gut aus dieser Sicht, wenn der Staat nicht zu viel Geld ausgibt und die Löhne
sinken. Die Realität ist aber, dass die Theorie versagt hat. Selbst der einmal neoliberale
Internationale Währungsfonds hat sich davon distanziert.
Sie scheinen Deutschland fast alle Schuld zu geben und Griechenland als armes
Opfer zu sehen. Das scheint unfair.
Es ist klar, dass Griechenland viele Fehler machte. Sie haben Probleme mit den
Steuereinnahmen oder der Korruption. Aber diese Probleme sind alt, und sie wurden
angepackt. Griechenland hat nie zuvor einen derartigen Zusammenbruch erlebt, selbst nicht, als
die Militärdiktatur gestürzt wurde. Die Depression muss somit andere Gründe haben. Die
Starrheit des Eurosystems verhindert eine Lösung, und in diesem Punkt bin ich sehr kritisch
gegenüber Deutschland und der Haltung, wonach es keine Alternative zur Härte gegenüber den
Schuldnerländern gibt.
Wie konnte sich diese Haltung in den Köpfen der Politiker festsetzen, obwohl
doch die Folgen für alle sichtbar schlimm genug sind?
Viele Politiker sind Juristen. Es fehlt ihnen der Praxisbezug. Es sind Leute, die in der Zeit des
Neoliberalismus gross geworden sind und sich darin verkrallt haben. Meine jüngeren
Studenten, die in der Rezession von 2008 gross geworden sind, teilen diese Glauben an die
Märkte nicht mehr. In der EU wurde der Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus so
missverstanden, dass die freien Märkte immer perfekt funktionieren und für den Staat kein
Platz sei. Ein anderer Grund ist, dass die Akteure an den Finanzmärkten zum Beispiel diese
Ideologie lieben, weil sie damit viel Geld verdienen.
Sie kommen zum Schluss, dass eine Reform des Euro dringend ist, wenn die EU
aus der Krise herausfinden will. Wo soll die Reform beginnen?
Reformen sind äusserst dringend. Durchwursteln macht die Lage nur schlimmer. Die
menschlichen Opfer sind zu gross. Meine Vorschläge sind machbar, wenn der politische Wille
besteht. Konkret geht es um eine Anpassung des Bankensystems in Richtung einer
Bankenunion und um die Schaffung von Eurobonds. Alle Mitgliedsländer sollten eigene
Schuldscheine ausgeben können, die aber gemeinschaftlich durch alle Staaten abgesichert
werden. Weiter muss die Europäische Zentralbank ihr Mandat anpassen. Das grosse Problem
ist nicht Inflation, sondern die Arbeitslosigkeit und sogar die Deflation. Dazu braucht es einen
grösseren Solidaritätsfonds und das Bekenntnis, die harte Austeritätspolitik gegenüber
Griechenland und Spanien aufzugeben.
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Das EU-Budget beläuft sich nur auf ein Prozent der Wirtschaftsleistung der
Mitgliedsländer. Das reicht doch nirgends hin. In den USA liegt das Budget
dagegen bei 20 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Die EU sollte über ein Drittel bis zu einer Hälfte so viel verfügen wie die US-Regierung. Sieben
bis zehn Prozent also. Aber ich muss gestehen, diese Reformen scheinen ausserhalb der
politischen Realität zu liegen, da Deutschland keine Transferunion zulassen dürfte.
Was ist die Alternative?
Ich schlage vor, dass Deutschland zusammen mit einigen nördlichen Staaten aus dem Euro
aussteigt und ein flexibles Eurosystem zulässt. Es scheint mir wichtig, dass der Übergang
behutsam erfolgt, wie bei einer einvernehmlichen Scheidung. Da sich die südlichen,
schwächeren Länder ähnlicher sind als die nördlichen, sollten sie zusammen einen Süd-Euro
bilden. Dies liesse eine Abwertung gegenüber dem Nord-Euro zu, würde die Exporte der
südlichen Länder stärken und ihnen erlauben, ihre Schulden rascher zurückzuzahlen. Doch
auch Deutschland könnte die Schulden schneller begleichen. Das Risiko einer erneuten
Schuldenkrise würde sinken. Natürlich wird dies nicht einfach sein. Deutschland wird einen
Teil seiner Handelsüberschüsse verlieren und müsste einen neuen Wachstumsmotor finden.
Was passiert, wenn sowohl eine Reform des Euro wie die Alternative der zwei
Euros scheitern?
Das grösste Risiko besteht in einer Reihe von Brexit-ähnlichen Krisen und weiteren Wahlsiegen
extremistischer Parteien. Das Durchwursteln ist ein Fehler, es vergrössert alle anderen
Probleme. Die Probleme des Euro haben die Regierungen auch daran gehindert, sich genügend
mit anderen brennenden Fragen wie der Einwanderung auseinanderzusetzen. Die Mitteparteien
in Europa werden dafür verantwortlich gemacht. Das erhöht die Frustration der Leute mit dem
Establishment. Vielleicht sollte Europa den Euro aufgeben, um Europa zu retten. Ein Ende der
Einheitswährung wäre nicht das Ende des europäischen Projekts.
«Das Essen reicht bis Ende Monat»
In einem belagerten Vorort von Damaskus werden im April dieses Jahres vom
Welternährungsprogramm gelieferte Lebensmittel abgeladen. Foto: Bassam Khabieh (Reuters)
UNO-
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In einem belagerten Vorort von Damaskus werden im April dieses Jahres vom
Welternährungsprogramm gelieferte Lebensmittel abgeladen. Foto: Bassam Khabieh (Reuters)
UNO-
Der Schweizer Jakob Kern organisiert die Lebens mittelhilfe der UNO in Syrien. Er warnt vor
einer Katastrophe, sollten sich die Kriegsparteien nicht bald auf eine Waffenruhe für die
Millionenstadt Aleppo einigen.
Mit Jakob Kern sprach Vincenzo Capodici, TA vom SA 20. August 2016
In Aleppo toben heftige Kämpfe. Zehntausende Zivilisten sind im Osten der Stadt
eingeschlossen. Kann die UNO ihnen helfen?
Ost-Aleppo ist seit Wochen nicht zugänglich. Noch bis vor einem Monat konnte eine
Partnerorganisation von der Türkei aus rund 120 000 Menschen mit Nahrungsmitteln
versorgen. Das Welternährungsprogramm der UNO hat Ende Juni seine letzte Lieferung
geleistet: Wir erreichten die Familien mit Nahrungsmitteln für eineinhalb Monate. Damit das
Essen länger reicht, verteilen unsere lokalen Partner nur halbe Tagesrationen. Im Osten
Aleppos reichen die Nahrungsmittel noch maximal zwei Wochen, vermutlich bis Ende August.
Aber für Aleppo gilt doch seit letzter Woche täglich eine dreistündige Feuerpause.
Reicht das nicht für humanitäre Hilfe?
Jede Waffenruhe nützt den Bewohnern. In dieser Zeit können sie ihre Besorgungen erledigen.
Aber für unsere Ernährungshilfe sind drei Stunden Feuerpause nicht genug. Unsere schnellste
Mission in einem belagerten Gebiet dauerte sechs Stunden. In der Regel brauchen wir eine
Feuerpause von 48 Stunden. Vier bis fünf Stunden warten wir ab, um sicher zu sein, dass die
Waffenruhe tatsächlich eingehalten wird. Drei Stunden dauert es meist, bis an einem
Checkpoint alle Lastwagen kontrolliert sind.
Wird die dreistündige Feuerpause in Aleppo überhaupt eingehalten?
Das ist schwierig zu beurteilen. Darüber gibt es unterschiedliche Berichte. Wenn die Waffen
mehrere Stunden ruhen, kann das auch bedeuten, dass diese Zeit für das Nachladen benutzt
wird. Dann ist es keine offizielle Waffenruhe.
Wäre eine Luftbrücke die Lösung?
Kein Helikopter und kein Flugzeug landet in einem Gebiet, wo geschossen und bombardiert
wird. Auch für eine Luftbrücke braucht es eine Waffenruhe. Und bei einer Waffenruhe ist keine
Luftbrücke nötig. Wenn die Kämpfe für 48 Stunden eingestellt würden, könnten wir mit
unseren Lastwagen nach Ost-Aleppo.
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Wie ist die Versorgungssituation in West-Aleppo, das von der Regierung
kontrolliert wird?
Letzte Woche sperrten Kämpfer der Opposition die Hauptstrasse nach West-Aleppo. Für unsere
Lastwagentransporte benutzen wir eine Kiesstrasse, welche die Regierung als Alternativweg
nach West-Aleppo gebaut hat. Dort haben wir dieses Jahr 600 000 von 1,6 Millionen
Einwohnern versorgt. Im Osten der Stadt waren es bisher 150 000 von 300 000 Einwohnern.
So schlimm die Lage in Aleppo auch ist - in Syrien gibt es Städte, wo die Menschen längst am
Verhungern sind.
Welche Städte meinen Sie?
Foah, Kafraya, Madaya und Zabadani. Dort haben wir seit vier Monaten keinen Zugang. Anfang
Jahr gingen Bilder von ausgemergelten Menschen aus Madaya um die Welt. Die Lage in den
vier Städten dürfte wieder so schlimm sein.
Abwürfe von Hilfsgütern aus der Luft sind kein Thema?
Abwürfe über besiedelten Gebieten können wir nicht machen. Einzige Ausnahme ist die vom
Islamischen Staat belagerte Stadt Deir al-Zor in Ostsyrien. Dort haben wir seit April knapp 100
Abwürfe mithilfe von Flugzeugen und Fallschirmen durchgeführt. Lokale Partner kümmern
sich um die Verteilung der Nahrungsmittelpakete. In Deir al-Zor können wir 110 000 Menschen
versorgen. Hilfe in IS-Gebieten auf dem Landweg zu leisten, ist zu gefährlich. Der IS missachtet
humanitäre Grundsätze.
Wie viele Millionen Syrer brauchen Lebensmittelhilfe?
Von den 18 Millionen Syrern, die noch im Land leben, brauchen 8,7 Millionen Hilfe. Das
Welternährungsprogramm unterstützt über 4 Millionen Menschen und erreicht 13 von 14
Provinzen Syriens. Jeden Tag sind 200 bis 300 Lastwagen unterwegs. Weitere 2 Millionen Syrer
erhalten Ernährungshilfe von Partnerorganisationen der UNO. 2,7 Millionen können wir nicht
erreichen, weil sie in IS-Gebieten leben.
Russland, welches das syrische Regime unterstützt, sagt, es verteile viele
Hilfsgüter. Stimmt das?
Humanitäre Hilfe für die Bevölkerung leisten die Russen sporadisch. Sie helfen in Gebieten, wo
die Regierungstruppen belagert werden. Sehr engagiert sind die Russen, wenn es um
Verhandlungen über Waffenruhen geht. Wenn wir in belagerte Gebiete gehen wollen,
kontaktieren wir meistens russische Kanäle. Manchmal begleiten uns die Russen zu
Checkpoints, um sicherzustellen, dass wir in die Kriegszone reinkönnen.
Wie gefährlich sind Ihre Einsätze?
Mit Risiken verbunden sind Hilfslieferungen in belagerte und umkämpfte Gebiete. Von den
Kriegsparteien brauchen wir Bewilligungen und die Zusicherung, dass die Kämpfe eingestellt
werden. 2016 haben wir etwa 100 Hilfskonvois organisiert, die versprochene Waffenruhe wurde
nur zweimal gebrochen.
Was ist passiert?
In einem Fall wurde ein Lastwagenfahrer angeschossen. Im anderen Fall hatte erst die Hälfte
der Lastwagen den letzten Checkpoint passiert, als die Feuerpause gebrochen wurde. Wir
mussten mit beiden Seiten Verhandlungen führen. Nach drei Stunden konnten wir unsere
Arbeit fortsetzen. Wirklich gravierende Zwischenfälle gab es nicht. Es kann passieren, dass wir
eine Bewilligung erhalten, aber die Kämpfe wieder in Gang sind. Waffenruhen, um
Ernährungshilfe zu leisten, werden in der Regel respektiert. Es braucht aber viel Vorarbeit und
viel Geduld, bis die Lieferungen durchgeführt werden können.
Inwiefern wird Ihre Arbeit von den Kriegsparteien behindert?
Manchmal vergehen Tage oder sogar Wochen, bis unsere Transporte zugelassen werden. Jeder
Helfer braucht eine Bewilligung, jeder Lastwagen wird kontrolliert und versiegelt. Wir werden
von jeder Kriegspartei überprüft. Unsere Einsätze dauern durchschnittlich zehn bis zwölf
65
Stunden. Ich habe aber auch schon eine Hilfslieferung miterlebt, die knapp 37 Stunden dauerte,
obwohl wir nur 20 Minuten fahren mussten.
Was war das Problem?
An einem Regierungscheckpoint sassen wir 20 Stunden fest. Alle Nahrungsmittelpakete von 50
Lastwagen wurden ausgeladen und auf Waffen kontrolliert. Lastwagentanks wurden
ausgepumpt, damit wir keinen Diesel ins belagerte Gebiet schmuggeln konnten. Auch die
Kontrollen der anderen Kriegspartei dauerten ihre Zeit. Sie durchsuchte alle Lastwagen nach
Kämpfern und Waffen. Die Ablieferung der Hilfspakete geht ebenfalls sehr lange, das Abladen
dauert eine Stunde pro Lastwagen. Lokale Partner stellen sicher, dass die Notrationen an die
Menschen verteilt werden, die diese auch brauchen.
Was ist drin in solchen Notrationen?
Etwa zehn verschiedene haltbare Nahrungsmittel wie Kichererbsen, Linsen, Bohnen, Reis,
Weizenmehl, Salz und Zucker. Ein Nahrungsmittelpaket wiegt 64 Kilo. Es ist für eine Familie
mit fünf Personen gedacht und muss einen Monat reichen. Das sind 1700 Kilokalorien pro
Person und pro Tag. Damit kann man überleben, mehr nicht.
Sie haben in vielen Krisengebieten gearbeitet. Wie ordnen Sie den Syrienkrieg
ein?
Das ist der mit Abstand komplexeste Krieg, den ich erlebt habe. Es sind viele Konfliktparteien
involviert. Allianzen und Kampffronten wechseln ständig.
Der Sport hat ein Frauenproblem
Caster Semenya, Francine Niyonsaba und Margaret Wambui stellen den Sport vor eine grundsätzliche
Frage. Fotos: Getty Images
Heute werden über 800 m gleich drei Athletinnen starten, die ein Frauenbild jenseits der Norm
verkörpern. Das steht auch für Nöte.
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Von Christian Brüngger, Rio de Janeiro, TA vom MI 17. August 2016
Was hat sich Caster Semenya über die Jahre alles anhören müssen: Ein Mann sei sie, eine
vermännlichte Frau oder zumindest ein Mannsweib. Denn als die Südafrikanerin 2009 als
unbekannter Teenager an der WM in Berlin zu 800-m-Gold rannte, fiel sie auf. Sie war
muskulös, hatte kaum Brust, dafür eine tiefe Stimme und sehr breite Schultern. Sieben Jahre
nach ihrem turbulenten Durchbruch steht sie erneut in den Schlagzeilen. Semenya startet heute
als Favoritin ins 800-m-Turnier. Sie ist dabei eine von drei Athletinnen, welche das
durchschnittliche Frauenbild erweitern. Dazu gehören auch Francine Niyonsaba (Burundi) und
Margaret Wambui (Kenia), die ebenfalls für Medaillen schnell genug sein könnten.
Dass man über Semenya intimste Details kennt, hängt mit dem Versagen der Leichtathletikwelt
in ihrem Fall zusammen und der Schwierigkeit, wie mit solch speziellen Menschen umzugehen
ist. Semenya zählt zu einem sehr geringen Anteil, man geht von 0,2 bis 1,6 Prozent aus, den
Wissenschaftler als «Intersexuelle» bezeichnen. Solche Personen können nicht eindeutig dem
weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, aus genetischen, hormonellen
und/oder anatomischen Gründen. Denn das Geschlechtsorgan entsteht beim weiblichen wie
beim männlichen Embryo aus denselben Anlagen.
Im Fall von Semenya weiss man, dass sie weder Gebärmutter noch Eierstöcke aufweist, dafür
nie komplett ausgebildete Hoden, die im Körperinnern liegen. Diese Eigenschaften machen sie
trotzdem nicht zum Mann, weil die Kategorien Mann und Frau keineswegs nur von der Biologie
her definiert werden. Im Englischen existieren darum die Begriffe «sex» (biologisches
Geschlecht) und «gender» (soziologisches Geschlecht). Diese Differenz kennt die deutsche
Sprache nicht.
Menschen wie Semenya können also soziologisch gesprochen Frauen sein und sich von klein auf
ganz selbstverständlich als Mädchen bzw. später Frauen fühlen, sich starr biologisch ausgelegt
aber doch zwischen den klar definierten Geschlechtern befinden. Darum die Bezeichnung
«Intersexuelle».
Die Bedeutung von Testosteron
Die diffizile Diskussion darüber, was Menschen trennt bzw. wie sie «klassifiziert» werden
können, wäre für den Sport unwichtig, würde er nicht zwischen «Frau» und «Mann»
unterscheiden, also anhand des biologischen Geschlechts zwei Kategorien bilden. Er tut dies,
weil jeder Teenager erfährt: Sobald die Hormone im Körper so richtig zu fluten beginnen, sorgt
primär das Geschlechtshormon Testosteron dafür, dass ältere Mädchen gegenüber älteren
Buben im sportlichen Wettstreit plötzlich chancenlos sind. Davor sind oft die Mädchen besser.
Frauen also gegen Männer um Medaillen kämpfen zu lassen, wäre aus biologischer Sicht unfair.
Bloss zwingt diese Kategorisierung den Sport dazu, zu definieren, was er unter «Frau» versteht.
Weil er sich aus allen soziologischen Diskussionen zu Recht heraushält, wählte er eine sehr enge
Definition, die selbst von Experten kritisiert und doch akzeptiert wird, weil nach dem aktuellen
Stand der Forschung keine bessere vorhanden ist. Vereinfacht gesagt, lautet sie: Männer
verfügen über viel Testosteron, Frauen über wenig. Hier beginnt nun das Problem, denn
Intersexuelle wie Semenya haben einen um circa ein bis drei Prozent höheren
Testosteronspiegel als die Durchschnittsfrau.
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Der Einspruch der Richter
Was unbedeutend klingt, bringt Frauen wie Semenya allerdings einen Leistungsvorteil, womit
der Sport zu seiner Gretchenfrage kommt: Schützt er die durchschnittliche Topathletin und
damit die «Kategorie Frau», die er ja gerade bildete - oder gewichtet er das Recht von
Athletinnen wie Semenya höher, auch abseits der Norm in der Frauen-Kategorie dabei sein zu
können.
Der Leichtathletik-Verband sowie das IOK haben sich in einer «Lex Semenya» für einen
Kompromiss entschieden und einen Testosterongrenzwert festgelegt, den keine Frau
überschreiten darf, will sie in der Frauen-Kategorie teilnehmen. Er ist dreimal höher als der
Wert, den eine durchschnittliche Frau aufweist. Wer als Athletin darüberlag, hatte zwei
Möglichkeiten: den Testosteronwert unter das Limit zu drücken, durch Chemie und/oder einen
Eingriff - oder auf einen Start zu verzichten. Semenya entschied sich für einen Start und wurde
in der Folge ein bisschen weniger kantig - vor allem aber langsamer.
Hatte sie in ihren besten Jahren jeweils Zeiten von deutlich unter 2 Minuten erreicht, lief sie
nun klar darüber und erst auf diese Saison hin wieder unschlagbar schnell. Der Grund ist auf
einen Entscheid des Internationalen Sportgerichtshofs von 2015 zurückzuführen, der den
Testosteronansatz nach einer Klage einer indischen Sprinterin aufhob. Es sei wissenschaftlich
nicht ausreichend belegt, dass die Menge an Testosteron der primäre Leistungstreiber sei,
argumentierten die Richter. Training, Ernährung oder andere Faktoren könnten ebenso wichtig
sein. Darum muss der Leichtathletik-Verband bis 2017 beweisen können, dass er die
Testosteronstrategie fahren darf, ansonsten fällt der Passus weg.
In der Zwischenzeit sind Intersexuelle wie Semenya nicht mehr darauf angewiesen, ihre
Testosteronwerte künstlich zu drücken. Sie darum zu kritisieren, ist falsch. Sie hat schliesslich
nicht wählen können, wie sie sein will. Sie ist schlicht, wie sie ist. Der Sport hingegen befindet
sich in einer enorm schwierigen Situation: Erst zum Schutz der Frauen führte er die FrauenKategorie ein, nur um inzwischen zu erfahren, dass er damit im Moment die durchschnittliche
Spitzensport-Frau benachteiligt.
Wird die durchschnittliche Frau geschützt, oder die Integration von Intersexuellen höher
gewichtet?
Unsere komplizierte Liebe zur Türkei
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Auf einem Eichentisch, den die Schweiz der Türkei 2008 schenkte, wurde 1923 der Vertrag von Lausanne
signiert. Foto: Gamma, Getty
Die offizielle Schweiz reagiert milde auf das harte Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep
Tayyip Erdogan gegen seine Gegner. Das hat auch mit der historischen Beziehung beider
Länder zu tun.
Von Alan Cassidy, TA vom DO 11. August 2016 August 2016 August 2016
Es sind erstaunlich positive Worte, die der Chefdiplomat des Bundes für die Vorgänge in der
Türkei findet. Dort liess Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten
Militärputsch Mitte Juli Tausende Regierungsgegner verhaften, darunter viele Journalisten.
Auch die Todesstrafe will Erdogan wieder einführen. In Europa löste das vielerorts scharfe
Kritik aus - nicht aber in Bern.
Yves Rossier, Staatssekretär im Aussendepartement, relativierte die Situation im Interview mit
dem TA: Es sei «normal», dass es nach dem Putsch zu Verhaftungen gekommen sei. «Stellen
Sie sich vor, in der Schweiz würde das Militär das Bundeshaus angreifen und auf Zivilisten
schiessen. Man würde mit Verhaftungen reagieren.» Die Türkei habe in den vergangenen
Jahren grosse Fortschritte gemacht, «gerade unter der AKP-Regierung von Erdogan».
Dass die offizielle Schweiz die Vorgänge in der Türkei nicht klarer verurteilt, mag manche
enttäuschen. Überraschend ist diese Haltung aber nicht. Die Beziehung der Schweiz zur Türkei
war selten komplett frei von Spannungen, aber sie ist seit langem eng. Eine «schwierige
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Liebesbeziehung» nennt es der Historiker Hans-Lukas Kieser, einer der besten hiesigen Kenner
der Türkei.
Nationalisten am Genfersee
Die Liebe: Sie kam anfänglich vor allem von türkischer Seite. Es war die Schweiz, die sich vor
dem Ersten Weltkrieg, in den letzten Jahren des Osmanischen Reichs, zum intellektuellen
Zentrum der türkischen Nationalisten entwickelte. Sie trafen sich in «foyers turcs» in Lausanne
und Genf (man sprach Französisch, wie es in der osmanischen Elite üblich war), sie begeisterten
sich für den Mythos des Tyrannenmörders Wilhelm Tell und träumten von einer Republik. Am
Genfersee stiessen die «Türkisten» auf viel Goodwill.
Zur Geburtsstunde der modernen Türkei wurde dabei der Vertrag von Lausanne von 1923. In
langen Verhandlungen rang die türkische Regierung den Siegermächten des Weltkriegs die
Zugeständnisse ab, die das Fundament des neuen Staats bildeten. Die Schlussansprache hielt
der Schweizer Bundespräsident Karl Scheurer. In sein Tagebuch schrieb er: «Die eigentlichen
Sieger sind die Türken, was natürlich alle Abendländer in eine schiefe Lage bringt, uns
Schweizer inbegriffen. Auf der andern Seite ist es uns ganz sympathisch, dass die Grossmächte
und alle ihre Trabanten nicht weiter gekommen sind.»
Da war sie, die Sympathie der Schweizer für die junge Türkei. Den Eichentisch von Lausanne,
auf dem der Vertrag signiert wurde, brachte der damalige Bundespräsident Pascal Couchepin
vor einigen Jahren dem türkischen Präsidenten Abdullah Gül als Präsent mit. Und der zeigte
sich bewegt: Einen hohen «moralischen und emotionalen Gehalt» habe das Geschenk für sein
Land.
Kurz nach dem Vertrag von Lausanne übernahm die Türkei das Schweizer Zivilgesetzbuch und
das Obligationenrecht - und damit einen grossen Teil der Schweizer Rechtsordnung. Auch
wirtschaftlich war der Austausch schon früh eng. Die noch während des Osmanischen Reichs
gegründete Orientbank in Zürich half mit, den Bau des türkischen Eisenbahnnetzes zu
finanzieren, Schweizer Unternehmen waren an vielen Infrastrukturbauten beteiligt.
Duttweilers Experiment
Noch heute sieht man auf den Dächern mancher türkischer Supermärkte das orange M der
Migros. Die Logos gehen zurück auf einen Besuch Gottlieb Duttweilers im Jahr 1954. Der
Migros-Gründer und LdU-Nationalrat bereiste das Land auf Einladung der türkischen
Regierung, die dringend Ideen für eine bessere Lebensmittelversorgung der Bevölkerung
suchte. Duttweiler gründete schliesslich die Migros Türk. Erfolgreich war sie allerdings nicht.
1975 verkaufte sie die Migros Schweiz an eine türkische Firma, die das orange M seither in
Lizenz führt.
Aussenpolitik ist in der Schweiz immer ein Ringen darum, was höher zu gewichten ist:
Wirtschaftsinteressen oder Prinzipien. In der Beziehung zur Türkei wird dieses Ringen
besonders deutlich. Über dunkle Flecken in der türkischen Geschichte - vor allem die
Verfolgung von Minderheiten - sprach die Schweiz lange Zeit nicht. Man wollte es sich nicht mit
den Türken verderben. Die Schweiz schwieg sogar weitgehend, als 1993 in Bern ein kurdischer
Demonstrant durch Schüsse aus der türkischen Botschaft getötet wurde - das sei eine «interne
türkische Angelegenheit».
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Den Bruch mit dieser Politik erzwang die frühere Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Für
einen geplanten Besuch in der Türkei liess sie 2003 ein Reiseprogramm entwerfen, das
konsequent Menschenrechtsfragen zum Thema machte, was die Türken verärgerte. Als kurz
darauf das Waadtländer Kantonsparlament den Massenmord an den Armeniern als Genozid
anerkannte, nahm die Regierung in Ankara dies zum Anlass, Calmy-Rey auszuladen. Erst nach
einigen Jahren normalisierte sich das Verhältnis wieder.
Nichts geändert hat daran offenbar auch, dass die türkischen Behörden in der Schweiz Zensur
durchsetzen wollen, wie das jüngst in der Affäre um eine Fotoausstellung in Genf geschah - oder
dass sie kritische Schweizer Politiker gerne mit Belehrungen eindecken. Die Beziehung beider
Länder mag bisweilen kompliziert sein - doch sie bleibt eng. Auch wenn die Zeiten wieder
einmal ziemlich schwierig sind.
«Betrug hat immer mit Nähe zu tun»
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Kennt sich aus mit «nicht konformem» Verhalten: Matthias Kiener. Foto: Thomas Egli
Matthias Kiener ist Forensik-Spezialist beim Beratungsunternehmen KPMG. Er kennt die
alltägliche Korruption in Schweizer Firmen. Und weiss, warum einfache Angestellte für die
Prävention zentral sind.
Mit Matthias Kiener sprach Edgar Schuler, TA vom MI 17. August 2016
Sind die Schweizer ein ehrliches Volk?
Ich beobachte vor allem, dass Mitarbeiter in tieferen Chargen ein hohes
Gerechtigkeitsempfinden an den Tag legen - völlig unabhängig davon, ob sie Schweizer sind
oder nicht. Sie sind es, die das Telefon in die Hand nehmen, um zu melden, wenn etwas
krummläuft. Um Unrecht anzuzeigen, gehen sie sogar oft ein grosses Risiko ein.
Nimmt die Ehrlichkeit ab, je höher man die Karriereleiter hinaufsteigt?
Die Chefs haben mehr zu verlieren.
Geld? Macht?
Meist geht es einzig um den Ruf. Ein typisches Beispiel, natürlich ohne auf einen aktuellen Fall
Bezug zu nehmen: ein mittelgrosses Unternehmen, der grösste Arbeitgeber in einem
mittelgrossen Städtchen irgendwo in der Schweiz. Der Chef ist auch Präsident des Turnvereins,
Schulpfleger und steht einer Partei vor. Macht die Firma Bankrott, verliert dieser Unternehmer
nicht nur sein Geld, sondern auch sein Ansehen.
Und dann?
Wenn es der Firma schlecht geht, wird der Chef kreativ bei der Finanzberichterstattung, er
beginnt die Bilanz zu manipulieren . . .
Auf die Gefahr hin, seinen Ruf ohnehin zu ruinieren.
Da kommt das Prinzip Hoffnung ins Spiel. Er glaubt, dass es bald wieder bergauf geht und die
Gewinne im nächsten Geschäftsjahr die Löcher dieses Jahres stopfen. Er will dann die falschen
Buchungen überdecken, sodass niemand etwas merkt.
Es geht also gar nicht darum, sich zu bereichern.
Doch, schon. Aber das Geld wird nur dazu verwendet, den Status in der Gesellschaft beibehalten
zu können. Manche Leute sind Gefangene davon, dass sie gegen aussen etwas darstellen wollen,
was sie nicht mehr sind. Den sozialen Ruf zu verlieren, tut weh. Das verleitet manche dazu, sich
neue Geldquellen zu erschliessen . . .
. . . und zu betrügen.
Bei der Wortwahl müssen wir aufpassen. Wir sprechen von «nicht konformem Verhalten».
Und wenn dieses nicht konforme Verhalten doch einmal auffliegt?
Was die Betroffenen dann mehr fürchten als die höchste Busse, ist eine öffentliche
Gerichtsverhandlung und eine Gefängnisstrafe. Die öffentliche Schande ist für sie das
Schlimmste.
Können Sie uns ein Beispiel liefern, wie Sie jeweils involviert werden?
Bei einer mittelgrossen Firma kommt regelmässig ein Znüniwagen vorbei, bei dem sich die
Angestellten mit Kaffee, Gipfeli und Zigaretten eindecken. Eines Tages, als der Geschäftsleiter
mit einer Mitarbeiterin zum Znüniwagen geht, sagt sie zu ihm: «Hast du gewusst, dass der
Finanzchef das Geld für die Gipfel immer aus der Firmenkasse nimmt?» Der Geschäftsleiter
denkt sich vorerst nichts dabei. Aber ein paar Wochen später fällt ihm auf: Immer wenn der
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Wagen vorfährt, ist das Knacken des Zahlenschlosses am Tresor zu hören. Wir erhielten den
Auftrag und stellten fest, dass sich der Finanzchef systematisch im Kassenschrank bediente.
Was bedeutet das für das Erkennen von Betrügereien in der Firma?
Spesen sind ein gutes Beispiel: Da machen wir alle ab und zu Fehler. Aber wenn eine Person
immer wieder dadurch auffällt, dass sie zu viel abrechnet, dann raten wir dem Unternehmen,
genauer hinzuschauen. Da ist dann die Frage: Ist die Person in einer Position, in der es möglich
ist, Geld abzuzweigen? Arbeitet sie im Einkauf, wo sie von Lieferanten Kickbacks verlangen
kann, wenn sie berücksichtigt werden? Oder noch gefährlicher: Sitzt sie in der Buchhaltung und
kann eigenhändig Rechnungen manipulieren?
Weitere Signale?
Die Alarmlampen blinken, wenn ein Buchhalter sehr komplizierte Buchungen durchführt. Er
storniert Stornos, bucht etwas über fünf oder sechs Konten und bucht wieder zurück Buchungen, die ein normaler Buchhalter so nicht machen würde. Entweder hat so jemand
seinen Job nicht verstanden, oder er hat es bewusst gemacht. Fehlende Belege sind auch so ein
Thema, oder, noch etwas vertrackter: Rechnungen und Belege, die quasi jungfräulich im Ordner
abgelegt sind. Sie haben keinen Falz, das heisst, sie wurden nie in ein Couvert gesteckt, und
haben auch sonst kein Anzeichen, dass sie verschickt wurden.
Das ist in der Praxis tatsächlich schon vorgekommen?
Öfter, als Sie denken!
Man wundert sich, dass das nicht sofort auffällt.
Das läuft oft zwei, drei Jahre so! Das hängt damit zusammen, dass in Routineabläufen kaum je
etwas hinterfragt wird. Niemand stellt sich die Frage, warum eine Rechnung nicht gefalzt ist,
oder fragt nach einer Vereinbarung, auf die sich eine Rechnung bezieht. Man gibt sich zu schnell
mit einer auch nur fadenscheinigen Erklärung zufrieden. Wenn die Wirtschaftsdelinquenten
feststellen, dass niemand nachhakt, werden sie immer frecher. Dass solche Dinge oft
unentdeckt bleiben, ist übrigens auch ein Grund, warum jemand überhaupt zum Betrüger wird.
Agieren Betrüger allein?
Bei kleineren Schäden sind es meistens Einzeltäter. Aber sobald es um höhere Summen geht,
braucht ein Betrüger Hilfe. Entscheide über grössere Beträge müssen ja in den Firmen meistens
von mehreren Personen gefällt werden. Häufig braucht ein Betrüger deshalb zusätzlich Hilfe
von aussen, zum Beispiel bei einem Lieferanten, der Rechnungen über Leistungen erstellt, die
er gar nicht erbracht hat.
Man kann ja aber nicht einfach den Buchhalter eines Lieferanten fragen, ob er
einem beim Betrügen hilft.
Natürlich wählt man dafür niemand Wildfremden. Es hat immer mit Nähe zu tun. Man kennt
sich, man hat lange zusammengearbeitet, man hat früher zusammengearbeitet, oder man hat
verwandtschaftliche Beziehungen. Ein Beispiel: Ein Einkäufer tritt neu bei einer Firma ein. Und
plötzlich, schon zwei, drei Monate später, kommen auffällig viele neue Lieferanten ins Spiel. Da
muss sich eine Firma fragen: Warum?
Sind grosse Firmen mehr von Wirtschaftsbetrug betroffen als kleine?
Da stellen wir kaum Unterschiede fest. Aber die Schadensummen sind bei grossen Firmen
höher.
Wie gross ist der Schaden insgesamt, den Betrüger in der Schweizer Wirtschaft
anrichten?
Die Statistiken erfassen nur Fälle von verurteilten Betrügern. Aber nur bei einem sehr kleinen
Teil der Wirtschaftskriminalität kommt es zur Strafverfolgung.
In Zahlen?
73
In sieben von zehn Fällen, bei denen wir eingeschaltet wurden, gehen die betroffenen Firmen
gar nicht zur Polizei oder erstatten keine Strafanzeige.
Warum nicht?
Ob es zu einer Strafanzeige kommt oder nicht, ist ein unternehmerischer Entscheid - ausser bei
Organisationen, die beispielsweise der Finanzmarktkontrolle Finma unterstehen, oder auch bei
der öffentlichen Hand, wo grundsätzlich bei allen Verfehlungen die Strafverfolgung involviert
wird.
Was spricht dagegen?
Viele scheuen sich davor, nach einer Untersuchung durch uns nochmals Staub aufzuwirbeln.
Die Polizei führt ja dann ihre eigenen Ermittlungen durch, macht nochmals Einvernahmen und
so weiter. Das bringt wieder Unruhe in den Betrieb. Wenn die Polizei im Haus ist, besteht auch
die Gefahr, dass der Vorfall in die Zeitung kommt, der Ruf der Firma nimmt Schaden. Da fragen
sich die Firmen: Wollen wir das?
Eine strafrechtliche Untersuchung könnte ja auch ans Tageslicht bringen, dass
nicht einzelne Mitarbeiter, sondern die Chefs versagt haben.
Wenn ein Angestellter private Auslagen mit der Firmenkreditkarte bezahlt und die
Firmenreglemente in diesem Punkt nicht klar sind, kann es sein, dass ein Mitarbeitender
letztendlich straffrei ausgeht. Man darf aber nicht glauben, dass wir hier beide Augen
zudrücken.
Wie geht die Schweiz generell mit dem Thema Wirtschaftskriminalität um?
Die Hürden für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte, Wirtschaftskriminalität zu
ahnden, sind sehr hoch - höher als in anderen Ländern wie Deutschland und Italien. In der
Schweiz muss einem Betrüger arglistiges Verhalten nachgewiesen werden. Das macht es sehr
schwierig.
Würden mehr interne Kontrollen die Fälle von Wirtschaftskriminalität
verringern?
Untersuchungen kommen zum Schluss, dass mehr Kontrollen nur bis zu einem gewissen Punkt
zu besseren Ergebnissen führen. Man kann den Kontrollwahn auch übertreiben. Meine
Erfahrung ist: Man überlegt sich zu wenig genau, wo welche Betrugs- und Korruptionsrisiken
liegen. Man führt dann mehr allgemeine Kontrollen ein und streut die Verantwortung, bis sich
niemand mehr verantwortlich fühlt. Ein Beispiel: In einer Firma wurden für grössere
Überweisungen sieben Unterschriften verlangt. Jetzt stellen Sie sich vor: Wenn Sie der Sechste
oder Siebte sind, der unterschreiben muss - schauen Sie nochmals genau hin oder denken Sie,
vor mir waren ja schon fünf oder sechs, die werden das schon gut geprüft haben?
Das Gerechtigkeitsempfinden der normalen Angestellten wird wohl auch eine
Rolle dabei spielen, ob solche Unregelmässigkeiten überhaupt auffliegen.
Es ist eine Frage der Unternehmenskultur, dass diese Leute sich wirklich getrauen, die Hand zu
heben und den Mund aufzumachen. Wichtig ist: Wenn jemand einen Verdacht meldet, auch
anonym, soll er keine Vergeltung und keine Entlassung befürchten müssen. Daran müssen die
Firmen arbeiten.
«Bei kleineren Schäden sind es meist Einzeltäter. Sobald es um höhere Summen geht, braucht
ein Betrüger Hilfe.»
Mafia in der Schweiz
«Die Ndrangheta kann sich in der Schweiz nicht
mehr sicher fühlen»
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«Die Schweiz ist im Vergleich zu Italien widerstandsfähiger gegen die ’Ndrangheta», sagt Antonio De
Bernardo. Foto: Claudio Bader
Der italienische Staatsanwalt Antonio De Bernardo hat die Frauenfelder Zelle der Mafia
zerschlagen.
Mit Antonio De Bernardo sprachen Vincenzo Capodici und Mario Stäuble, Lugano, TA vom 6.
August 2016
Mit der italienisch-schweizerischen Operation «Helvetia» hat die Justiz eine Zelle
der Ndrangheta im Thurgau zerschlagen. Inwiefern hat dies die kalabrische Mafia
in der Schweiz geschwächt?
Wenn der Feind nicht sichtbar ist, ist er stärker. Wenn man ihn zu erkennen beginnt, ist er
weniger stark. Die Ndranghetisti in der Schweiz wissen mittlerweile, dass sie sich der
italienischen Justiz nicht entziehen können. Die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden
der Schweiz und Italiens hat deutliche Fortschritte gemacht. Die Ndrangheta kann sich in der
Schweiz nicht mehr sicher fühlen.
Wie viele Ndranghetisti gibt es heute in der Schweiz?
Gemäss unseren Kenntnissen gibt es mehrere Zellen. Wenn man davon ausgeht, dass eine Zelle
mindestens 40 Mitglieder hat, dürften es in der Schweiz mehrere Hundert Ndranghetisti sein.
Genaue Zahlen kann ich nicht nennen, das wäre nicht seriös.
Seit 2010 häufen sich die Anti-Ndrangheta-Operationen in der Schweiz. Ist die
Organisation hier mächtiger geworden?
Das ist eine mögliche Interpretation. Eine andere Interpretation ist, dass wir erst in den letzten
Jahren die bedeutende Präsenz der Ndrangheta in der Schweiz bemerkt haben. Ich tendiere zu
dieser Sichtweise. Entscheidend für den neuen Kenntnisstand war die im Jahr 2006
angelaufene Operation «Crimine» der Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria. Wie nie zuvor
gelang es, die Struktur und die Funktionsweise der Ndrangheta sowie ihre Verbindungen ins
Ausland sehr detailliert zu rekonstruieren.
75
Können Sie das erläutern?
Die Ndrangheta ist eine globale Organisation mit einheitlichen Strukturen und
Kommunikationsweisen. Hierarchien und Funktionen ihrer Ableger sind in allen Ländern
gleich. Beispielsweise konnten wir feststellen, dass die Zelle im Kanton Thurgau starke
Beziehungen zu einer höheren Ndrangheta-Einheit in Kalabrien unterhielt. Dank
Gesprächsaufzeichnungen lernten wir viel über die Redeweisen der Ndranghetisti, etwa über
typische Wörter und Formeln. Wir konnten nun Aussagen verstehen, die frühere Ermittler nicht
verstanden hätten. Zudem stellten wir fest, dass die Frauenfelder Zelle personelle und
organisatorische Verbindungen zur Ndrangheta-Zelle im süddeutschen Singen hatte. Unser
Fazit: Wer Teil einer Zelle ist, ist auch Teil des Ganzen - und damit Mitglied einer kriminellen
Organisation.
Die Ndrangheta im Kanton Thurgau war seit knapp 40 Jahren aktiv. Seit wann
gibt es die Organisationin der Schweiz?
Man kann davon ausgehen, dass die Ndrangheta schon viel früher kriminelle Aktivitäten in der
Schweiz verfolgt hat. Mit der Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht nur viele
ehrliche Arbeiter aus Kalabrien in die Schweiz gekommen, sondern auch Angehörige der
Ndrangheta. Dieses Phänomen gibt es auch in Norditalien und Einwanderungsländern wie
Deutschland oder Kanada mit grosser Präsenz von Kalabresen. So wie aus einem Samen eine
Pflanze entsteht, kann sich aus der Anwesenheit einzelner Ndranghetisti eine Zelle entwickeln.
Die Frauenfelder Zelle war schon ziemlich weit fortgeschritten in ihrer Entwicklung. In der
nächsten Stufe wäre sie in die Lage gekommen, andere Zellen zu steuern.
Die Ndrangheta gilt als mächtigste Mafiaorganisation der Welt. Sie ist in
Dutzenden Ländern auf allen Kontinenten aktiv. Gibt es einen Masterplan zur
Eroberung ausländischer Territorien?
Nein. Die internationale Ausbreitung der Ndrangheta ist vielmehr eine Begleiterscheinung der
Auswanderung von Kalabresen. Ndranghetista wird man, weil man einer Familie angehört, die
Teil der Ndrangheta ist. Wenn sich solche Leute im Ausland niedergelassen haben, beginnen sie
dann, kriminelle Geschäfte zu tätigen, wenn sich ihnen die Chance bietet. In ihrem Jargon
sprechen sie von «Arbeitsmöglichkeiten». Das kann Drogen- oder Waffenhandel sein,
Erpressung oder Geldwäscherei und einiges mehr. Sobald eine Zelle entsteht, tendiert sie dazu,
ihr Territorium zu kontrollieren. Dabei achten die Ndranghetisti sehr darauf, nicht aufzufallen.
Sie führen ein bescheidenes Leben, Reichtum zeigen sie nicht. Und sie verüben keine sichtbaren
Verbrechen, die die Gesellschaft alarmieren könnten.
Zu den Beschuldigten in der Schweiz gehören auch Leute, gegen die kaum Beweise
vorliegen. Ist man schon ein Mafioso, weil man bei einigen Treffen im
berüchtigten Boccia-Club in Wängi anwesend war?
Zu den laufenden Verfahren kann ich mich nicht äussern. Grundsätzlich kann ich sagen, dass
eine solche Vorhaltung allein nicht genügt - das ist völlig klar. Es handelt sich vielmehr um ein
Element, das wir mit anderen Elementen kombinieren, um ein Gesamtbild zu erhalten. Unsere
Anklagen sind sehr ausführlich, ebenso ausführlich sind die Anhänge mit Erklärungen, ohne die
die Anklagen nicht nachvollziehbar sind.
Wie viel Erfolg haben Sie mit Ihren Anklagen vor Gericht?
Unser Strafrecht ist leider nicht geschaffen für die Komplexität der Ndrangheta-Fälle. In
Kalabrien habe ich immer noch Mühe, die Gerichte über bestimmte Aspekte des NdranghetaPhänomens zu überzeugen. Man braucht Durchhaltevermögen. Manchmal hat man auch
Misserfolge. Aber das bedeutet nicht, dass die geleistete Arbeit vergebens war. Mit vertiefteren
Kenntnissen über die Mafia und zunehmender Erfahrung und nicht zuletzt dank definitiven
Schuldsprüchen kommen wir Schritt für Schritt weiter.
Im Tessin befürchten Polizeikreise, dass die Ndrangheta die Wirtschaft infiltriert.
Die Mafia soll vor allem bei öffentlichen Bauaufträgen sehr aktiv sein. Was wissen
Sie darüber?
76
Öffentliche Bauaufträge sind sehr weit oben auf der Agenda der Ndrangheta. Dabei geht es
nicht nur um viel Geld, sondern auch darum, die Kontrolle über Unternehmen in vitalen
Branchen sowie über den Arbeitsmarkt zu erlangen. Wer Arbeit vergeben kann, sichert sich
Akzeptanz in der Bevölkerung und wird zu einem Machtfaktor bei künftigen Bauvergaben.
Dieses Phänomen ist in Kalabrien sehr ausgeprägt. Die Ndrangheta strebt nach wirtschaftlicher
und politischer Macht. Letztlich geht es ihr um die totale Kontrolle eines Territoriums.
Ist das Geschäft der öffentlichen Bauaufträge ein Exportmodell für die Schweiz?
Wo die Ndrangheta ist, wird sie immer versuchen, die Wirtschaft zu infiltrieren - eben auch
über das öffentliche Beschaffungswesen. Aber: Die Einflussnahme gelingt der Mafia umso
weniger, je stärker und pluralistischer eine Wirtschaft aufgestellt ist und je besser die
staatlichen Institutionen funktionieren. Die Schweiz ist im Vergleich zu Italien
widerstandsfähiger gegen die Ndrangheta. Dennoch sollte sie wachsam sein.
Kriminelle Gelder werden oft in Immobilien und in die Gastronomie investiert.
Wie steht es um den Kampf gegen die Geldwäscherei?
Die finanzielle Seite ist die unsichtbarste dieser Kriminalität. In diesem Bereich wird das
entscheidende Spiel gespielt. Wir kennen die Mechanismen der Geldwäscherei. In der Realität
gibt es allerdings unzählige Varianten. Geldwäscherei im konkreten Fall nachzuweisen ist sehr
schwierig. Wir kennen Fälle von Unternehmen mit gutem Namen, die aber in Wahrheit mafiös
unterwandert sind. Die Geldwäscherei erfordert stärkere internationale Anstrengungen. Es
braucht endlich transnational geltende Strafnormen. Bei den Ermittlungen sind wir leider
immer im Rückstand.
Zu unserem Interview in Lugano sind Sie mit einer Polizeieskorte gekommen. Ist
für einen Anti-Mafia-Staatsanwalt ein Leben ohne Personenschutz gar nicht
möglich?
In Italien und insbesondere in Kalabrien gehört dies leider zum Alltag. Wenn ich ins Ausland
reise, hängt es von den Umständen ab. In der Schweiz ist es inzwischen auch üblich, dass ich
mit Personenschutz unterwegs bin. Die Tätigkeit als Anti-Mafia-Staatsanwalt - das ist eine Art,
schlecht zu leben (lacht). Aber man gewöhnt sich daran.
Hat die Ndrangheta schon Attentate auf Sie versucht?
Nein. Es gab aber Drohungen.
Haben Sie manchmal Angst?
Nein. Wenn ich Angst hätte, müsste ich einen anderen Beruf ausüben.
«Auch in der Schweiz bin ich inzwischen mit Personenschutz unterwegs. In Italien ist das leider
längst Alltag.»
Putschversuch,
Massenverhaftungen
Ausnahmezustand,
77
Putschversuch mit Folgen: Am 16. Juli war es die türkische Zivilgesellschaft, die das Militär stoppte. Foto:
Anadolu Agency, Getty Images
Die Türkei ist kaum wiederzuerkennen.
Eine Zwischenbilanz von Mike Szymanski, Istanbul, TA vom SA 6. August 2016
Der Ausnahmezustand
Morgens um 4 Uhr auf der Küstenstrasse. Es sind nur ein paar Taxis unterwegs, als die
schwarze Limousine zum Überholen ansetzt. Das Schiebedach geht auf, zwei Frauen schieben
sich mit ihren Oberkörpern durch die Öffnung und schwenken rote Türkei-Fahnen. Seit dem
Putschversuch feiert das Land den Kampf für die Demokratie, überall und zu jeder Zeit. Die
Türkei lebt nun seit zwei Wochen unter dem Ausnahmezustand. Erdogan kann per Dekret
regieren, dem Parlament muss er seine Entscheidungen lediglich im Nachhinein vorlegen. Er
nutzt die neuen Befugnisse, um das Militär und den Staat umzubauen. Im Alltag spürt man
noch vergleichsweise wenig von diesen grossen Umwälzungen. Das wird sich ändern, wenn die
Sommerferien im September zu Ende gehen und die Schüler sich an neue Schulen und Lehrer
gewöhnen müssen. Neu ist in dem Land ein Gefühl, das bisher nicht so stark ausgeprägt war:
Misstrauen. Noch weiss niemand, wie gross die Verschwörung tatsächlich war.
Die Suche nach Hintermännern
Für die Regierung, aber auch für grosse Teile der Opposition ist der Drahtzieher bereits
gefunden: Fethullah Gülen. Der islamische Prediger lebt in den USA. Gülen und sein Netzwerk
waren lange Erdogans Verbündete, bis es 2013 zum Bruch kam. Seither wirft Erdogan Gülen
vor, seine Regierung stürzen zu wollen. Die Regierung präsentiert derzeit vor allem Aussagen
und Geständnisse von Putschisten als Belege dafür, dass Gülen hinter dem Putschversuch
78
stecke. Levent Türkkan, Adjutant des Generalstabschefs, habe demnach eingeräumt, für Gülen
gearbeitet zu haben. General Hakan Evrim soll dem als Geisel genommenen Generalstabschef
Hulusi Akar ein Gespräch mit Gülen angeboten haben - behauptet Akar. Evrim weist die
Darstellung zurück. Auf der Basis solcher und anderer Aussagen verlangt Ankara von den
Vereinigten Staaten die Auslieferung. Den USA reichen die Belege offenbar nicht aus: Dem
«Wall Street Journal» zufolge ist die Regierung noch nicht von der Schuld Gülens überzeugt.
Das Militär
Auch wenn die Hintermänner nicht zweifelsfrei feststehen: Der Putschversuch ging vom Militär
aus. Fast die Hälfte aller Generäle steht unter Putsch-Verdacht, Tausende Offiziere und
Soldaten machten in der Nacht vom 15. Juli 2016 mit, steuerten Panzer aus den Kasernen und
flogen mit Kampfjets über Ankara und Istanbul. Den Putschisten war es gelungen,
Generalstabschef Hulusi Akar als Geisel zu nehmen. Bei den Streitkräften, der zweitgrössten
Armee der Nato, bleibt nun kein Stein mehr auf dem anderen, das Militär wird reformiert wie
noch nie in der Geschichte der Türkei. Das Heer, die Luftwaffe und die Marine kommen unter
Kontrolle des Verteidigungsministeriums. Präsident Erdogan und Premier Binali Yildirim
haben direkte Weisungsbefugnis. Bisher war lediglich der türkische Generalstab dem
Premierminister
unterstellt.
Die
Militärkrankenhäuser
werden
künftig
vom
Gesundheitsministerium kontrolliert. Eine neu zu gründende Nationale Universität für
Verteidigung soll die militärische Ausbildung verantworten. Im Hohen Militärrat YAS reden
künftig auch der Aussen-, Justiz- und Innenminister mit. So stark war der Einfluss der Politik
auf das Militär noch nie. Eine Militärreform war überfällig. Weil sich das Land aber seit mehr
als 30 Jahren im Kampf gegen die separatistische Kurdenorganisation PKK befindet, wurde sie
immer wieder verschoben.
Der Geheimdienst
Geheimdienstchef Hakan Fidan zählte bislang zu Erdogans engsten Vertrauten. Der Präsident
nannte Fidan einmal den «Hüter seiner Geheimnisse». Nun herrscht Misstrauen. Obwohl
Fidans Behörde etwa sechs Stunden vor Beginn des Putschversuchs erste Erkenntnisse über
sonderbare Aktivitäten im Militär hatte, versäumte er es, Erdogan und Premier Yildirim zu
informieren. Erdogan verbrachte den Freitag mit seiner Familie in einem Hotel in Marmaris. Es
war ein Bekannter, der die Familie zuerst über die Vorgänge im Land informierte. Warum nicht
Fidan? Der Premier sagte im Fernsehen: «Das konnte er mir nicht beantworten.» Damit scheint
Fidan ein Geheimdienstchef auf Abruf zu sein. Der Dienst soll reformiert werden. Es wird
Medienberichten zufolge überlegt, die Behörde in einen Inlands- und einen
Auslandsgeheimdienst aufzuspalten. Die Aufklärung im Inland könnte bei Polizei und
Gendarmerie angesiedelt werden, heisst es. Erdogan will den Geheimdienst ebenso wie das
Militär langfristig enger an den Präsidentenpalast binden.
Der öffentliche Dienst
Neben dem Militär hat die Regierung in kaum einem anderen Bereich des Staates so hart
durchgegriffen wie im Bildungswesen. Mehr als 15 000 Lehrer wurden suspendiert, 21 000
Pädagogen an Privatschulen hat das Ministerium die Lizenz entzogen. Die für den Putsch
verantwortlich gemachte Gülen-Bewegung ist vor allem als Bildungsbewegung in Erscheinung
getreten. Die Ausbildung der Anhänger erfolgt in eigenen Schulen, die in der Türkei und im
Ausland einen guten Ruf haben. Dekret 667 erlaubt es nun, gegen alle Beamten vorzugehen, die
mindestens Kontakt zur Gülen-Bewegung hatten. Die Suspendierung kann im Rahmen eines
Disziplinarverfahrens bis zu drei Monate dauern, im Strafverfahren länger. Lehrer- und
Beamtenverbände beklagen, dass das Dekret nicht vorsehe, dass sich die Beamten verteidigen
könnten. Damit das Schuljahr planmässig am 19. September starten kann, sollen Tausende
neue Lehrer eingestellt werden.
79
Die Menschenrechte
Stunden nach der Niederschlagung des Putschs tauchten erste Fotos und Videos von
mutmasslich misshandelten Soldaten auf. Sie zeigten Verletzungen am ganzen Körper. Die
Putschisten wurden mit Tritten in Busse getrieben und in Sammellager gepfercht. Die
mutmasslichen Anführer wurden mit ihren Verletzungen der Presse präsentiert. Seither steht
der Foltervorwurf im Raum. Amnesty International spricht von «glaubhaften Beweisen». Zwar
beteuert die Türkei, sich an die Gesetze zu halten. In den ersten Tagen nach dem Putschversuch
tat die Regierung aber wenig, Rachegelüsten in der Bevölkerung entgegenzutreten.
Massenentlassungen und Suspendierungen von Zehntausenden lassen zudem die Sorge
aufkommen, dass nicht alle Betroffenen ein faires Verfahren bekommen. Dutzende Journalisten
wurden festgenommen, zahlreiche Sender und Zeitungen, die Gülen nahestehen, geschlossen.
Nicht immer ist der Bezug zu Gülen erkennbar. Die Opposition warnt vor einer «Hexenjagd».
Thorbjrn Jagland, der Generalsekretär des Europarats, erklärte nach einem Besuch in Ankara:
«Das Netz darf nicht zu weit ausgeworfen werden.» Es gelte das «Prinzip, dass jeder so lange
unschuldig ist, solange seine Schuld nicht bewiesen wurde». Dass in der Türkei die
Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wird, alarmiert nicht nur ihn.
Das politische Klima
Sonntag ist Versöhnungstag, so wünscht sich das die alleinregierende AKP. Am 7.August sollen
mit einer grossen Kundgebung in Istanbul die «Demokratie-Wachen» im ganzen Land ihren
Abschluss finden. Allabendlich hatten sich seit dem Putschversuch Erdogan-Anhänger auf den
grossen Plätzen des Landes versammelt. Der versuchte Staatsstreich steckt den Türken tief in
den Knochen. Es sind nicht nur die Regierungsanhänger, die froh sind, den Angriff des Militärs
abgewendet zu haben. Auch in der Opposition wünscht sich niemand ein Militärregime. In
diesem Punkt schweisst die Putschnacht das bislang tief gespaltene Land zusammen. Bei der
Kundgebung am Sonntag dürfte es zu einem historischen Auftritt kommen. Der Vorsitzende der
grössten Oppositionspartei, CHP-Chef Kemal Kilidaroglu, hat nach langem Überlegen sein
Kommen zugesagt. Auch Devlet Baheli von der ultranationalistischen MHP will kommen. Einen
solchen überparteilichen Auftritt hat es schon sehr lange nicht mehr gegeben. Das Signal der
Versöhnung wäre perfekt, wenn auch die pro-kurdische Partei HDP dabei wäre. Aber sie bleibt
aussen vor; Erdogan hält die HDP für den verlängerten Arm der PKK. Festzuhalten bleibt: Die
innenpolitischen Spannungen scheinen nachzulassen. Die türkische Presse spekuliert bereits,
ob Erdogan nach dem Putschversuch einen neuen Weg beschreiten könnte, der weniger
polarisiert.
Die Aussenpolitik
Die Beziehungen zum Westen haben sich nach dem Putsch rapide verschlechtert. Den USA
werfen regierungsnahe Medien eine Beteiligung am Putsch vor. Dahinter verbirgt sich ein
ausgeprägter Hang zu Verschwörungstheorien. Dafür reicht schon, dass Gülen seit 1999 in
Pennsylvania lebt. Amerikas Zurückhaltung, was die Auslieferung angeht, stärkt das
Misstrauen. US-Aussenminister John Kerry wird am 24. August in der Türkei erwartet - ein
Besuch in heiklen Zeiten. Das Verhältnis zu Europa ist von gegenseitigen Drohungen geprägt.
Ankara ist enttäuscht, dass sich die Staatenlenker Europas nach der Putschnacht nicht deutlich
genug mit der Regierung solidarisiert haben, sondern Kritik am Umgang mit den Putschisten
übten. In Europa wird diskutiert, ob es überhaupt noch Sinn ergibt, mit der Türkei
Beitrittsgespräche zu führen, wenn das Land erwägt, die Todesstrafe wieder einzuführen.
Ankara droht damit, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen. Eine Entspannung der
Lage? Im Moment ist sie nicht in Sicht.
Die letzte Ration
80
Venezuela, dem Land mit den grössten Erdölreserven der Welt, geht die Nahrung aus. Der Hunger treibt die
Menschen zu einer verzweifelten Jagd nach etwas Reis und Mehl.
Eine Reportage von Jan Christoph Wiechmann
Das Magazin N°31/32 – 6. August 2016
Montagnacht um zwei. In Petare, Caracas’ grösstem Slum, macht sich Yunni Pérez, Mutter dreier
hungriger Kinder, auf die Jagd nach etwas Essen. Es ist ihre tägliche Suche nach Nahrung, nach
einem einzigen Kilo Reis, doch sie endet als Trip in den Surrealismus, in die Endzeit des tropischen
Sozialismus.
Es beginnt schon damit, dass es in Venezuela kaum noch Grundnahrungsmittel gibt, kaum Milch und
Zucker, wenig Speiseöl oder Reis, und wenn doch, kostet ein Kilo so viel wie 400 Liter Benzin, und
das ist nur ein Problem dieses abgebrannten Landes.
Da sind auch noch solche Probleme wie 700 Prozent Inflation, Rekordrezession, Kapitalflucht,
Bandenkriege, 25 000 Morde pro Jahr – und nimmt man alles zusammen, erhält man so was wie den
katastrophalsten Staat 2016.
Aber Daten sind abstrakt, wenn sich der abgemagerte Sohn vor Hunger krümmt und der andere
schwerkranke Sohn dringend Medikamente braucht und Yunni, 45, eine Mutter Courage der Tropen,
den Kühlschrank aufreisst und unter Tränen gesteht: «Es ist verdammt noch mal nichts da, nichts
ausser zwei unreifen Mangos.»
Wie zum Beweis zeigt sie das Attest des Kinderarztes, dessen Diagnose für ihre drei Söhne mit
einem Wort auskommt: «Unterernährt.» Es klingt wie eine Diagnose ganz Venezuelas. Korruption,
Misswirtschaft und kollabierende Ölpreise haben aus einem der reichsten Länder Lateinamerikas ein
Armenhaus gemacht.
Yunni muss zehn Familienmitglieder versorgen. Sie rührt die Illusion von etwas Babynahrung für
den einjährigen Enkel Adrian an – aufgefangenes Nudelwasser mit einigen Tropfen Melasse – und
reicht sie Schwiegertochter Alina, 21, die im achten Monat schwanger ist. Aus dem Bad dringt der
Gestank eines Lebens ohne Leitungswasser und Seife. In der Ferne hallen die Schüsse der Banden
wider, der Soundtrack der -venezolanischen Nacht. «Die Jahre der Knappheit waren schlimm», sagt
sie. «Aber jetzt haben wir richtig Hunger.»
Mehr Lebensmittel als auf dem Foto links sind nicht im Haus. Yunni Perez und fünf ihrer zehn
Familienmitglieder, die sie ernähren muss.
Je grösser die Not, desto böser der Feind
Yunni tritt hinaus in die Nacht vor ihre Hütte in Petare – eine mächtige rote Wand aus Tausenden
Ziegelsteinhütten. Unter ihr liegt dünn beleuchtet Caracas, einstmals die Ölhauptstadt des
Kontinents. Vor zehn Jahren brach sie Rekorde mit ihrem Wirtschafts- und Bauboom, doch heute nur
noch bei Entführungen und Absurditäten: Ein Hühnchen kostet doppelt so viel, wie das
Wochengehalt einer Sozialarbeiterin wie Yunni beträgt.
Draussen in den Gassen hat das Wettrennen um Nahrung schon begonnen – zu der Tageszeit, als
früher die Salsanächte endeten. Die ärmsten Bewohner, einst fanatische Anhänger der Regierung,
hetzen in Scharen den Hügel hinab durch die sternlose Nacht, vorbei an den allgegenwärtigen
Wandbildern des verstorbenen Revolutionsführers Hugo Chávez und seiner Proletarierpoesie: «Der
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Sozialismus lebt. Der Imperialismus geht.» Es ist das alte Rezept: Je grösser die Not, desto böser der
Feind im Norden.
Unten in der Ebene angekommen, folgt Yunni den hungrigen Massen zu den Supermärkten. Die
Schlange vor dem Einkaufscenter Makro ist, vier Stunden vor Öffnung, schon 500 Meter lang.
Ausgezehrte Gestalten hocken davor wie Plastiken von Käthe Kollwitz. Junge Mütter mit Babys an
der mageren Brust und gebrechliche Rentner mit lederner Haut. Und stets dabei die berüchtigten
colectivos, die Schlägertrupps der Regierung, die gern die Schlange nach Regimetreue neu ordnen.
Eigentlich ist heute Yunnis Tag – Montag, der einzige Tag, an dem sie berechtigt ist,
Grundnahrungsmittel einzukaufen. Montags ist das Einkaufen in Venezuela beschränkt auf Bürger
mit Personalausweisen der Endziffern 0 und 1. Als Yunni aber nach vier Stunden Warten endlich
dran ist, sind die Regale leer. Kein Reis mehr. Kein Speiseöl. Auch kein Maismehl, mit dem sie
arepas macht, das Nationalgericht. Um trotzdem noch den Eindruck der Üppigkeit zu bewahren,
stapeln sich auf 50 Meter Länge Flaschen mit Diet Coke, das Stück zum Preis eines halben
Wochenlohns.
Normale Cola wird in Venezuela nicht mehr hergestellt – es gibt keinen Zucker mehr. Auch Bier
wird nicht mehr produziert – der Hersteller Polar kommt nicht an Gerste. Es gibt kein Klopapier,
weil die Produktionsanlagen veraltet sind. Es mangelt an lebenswichtigen Medikamenten, weil
Devisen für den Import fehlen. Es gibt kein Shampoo, keine Windeln, keine Antibiotika. Man kann
auch sagen: Venezuela macht dicht.
Bodyguards für Brot
Noch vor zehn Jahren gab es alles im Überfluss im Land der grössten Erdölreserven der Welt. Es war
die Zeit, als der Ölpreis noch doppelt so hoch war wie heute und Hugo Chávez den Bürgern sein
«sozialistisches Paradies» schenkte: billige Wohnungen und subventioniertes Essen – und zum
Einschlafen die Nationalhymne, gesungen vom grossen Führer selbst: Comandante Hugo Chávez.
In jenen Jahren importierte Chávez alles gegen Erdöl, selbst Maismehl, Reis und Milch. Er
vernachlässigte die Landwirtschaft und die Staudämme. Er enteignete Unternehmen und
verstaatlichte die Bauwirtschaft. Als jedoch der Ölpreis fiel und der Staat seine Importe nicht mehr
bezahlen konnte, brach das System zusammen.
Die Krise schwelt schon seit zwei Jahren, aber in diesen Wochen ist alles anders. Erstmals sterben
Neugeborene, weil es an Brutkästen fehlt. Täglich kommt es zu Plünderungen von Supermärkten und
Lieferwagen, seit Jahresbeginn bereits mehr als 250. Hungrige Massen blockieren
Strassenkreuzungen; ein kurzes Auflodern von Rebellion, bevor die Nationalgarde die Proteste
niederschlägt. Neun von zehn Bürgern haben nicht genug zu essen.
Yunni macht sich per Bus auf die Suche nach weiteren Supermärkten, immer tiefer hinein in den
venezolanischen Surrealismus. In den Mangobäumen am Wegrand hängen Bauarbeiter und pflücken
sich ihr einziges Mittagessen. Soldaten stehen schwer bewaffnet vor Märkten und Bäckereien, als
Bodyguards für Brot.
Yunni fährt durch eine Geisterstadt, die sie Absurdistan nennt, vorbei an leeren Bürotürmen,
verlassen von internationalen Konzernen und den Airlines, die ihre Direktverbindungen nach
Venezuela eingestellt haben. Vorbei an leeren Einkaufszentren mit einem Rest unerreichbarer
Produkte: Ein Paar Turnschuhe kostet 120 000 Bolivar – das ist so viel wie vier Mindestgehälter. Ein
Cheeseburger ist so teuer wie 500 Fahrten mit der staatlich subventionierten U-Bahn.
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Das venezolanische Zentrum für Dokumentation und Sozialanalyse hat eine umfassende Berechnung
angestellt. Eine Familie in Venezuela müsste 16 Mindestlöhne verdienen, um sich ernähren zu
können, etwa 500 Dollar. Yunni bekommt als Sozialarbeiterin zehn Dollar pro Monat, also nur ein
Drittel des Mindestlohns.
Fünf Personen, drei Zwiebeln, zwei Bananen und ein paar magere Reste. Sie reichen nicht, um
Francisca Landaeta (rechts) und ihre Verwandten satt zu machen. Und für den nächsten Tag ist gar
nichts mehr da. Fleisch wäre bitter nötig, doch ein Poulet kostet ein halbes Monatsgehalt.
«Unser natürlicher Tod sind 25 Kugeln»
Sie steuert an diesem Tag sechs weitere Supermärkte der Zwei-Millionen-Metropole an, aber
nirgendwo findet sie Reis oder Mehl. Erst am Nachmittag kehrt sie erschöpft zurück nach Petare, in
der Tüte nur ein paar verschrumpelte Tomaten und Yucca. Ihre Hoffnung ruht auf ihrer Freundin
Yolanda, einer dürren Frau mit Baggy Jeans und Baseballkappe, die aussieht wie ein Rapper.
«Lass uns Hotdogs essen», sagt sie scherzhaft. – «Warum nicht Steaks?», pariert Yolanda. «Hast du
Reis?» – «Nein, nichts.» – «Keine Deals am Laufen? – «Nein, die Geschäfte gehen scheisse.» –
«Keine Aktionen?» – «Erst heute Nacht.»
Das Gespräch nimmt eine eigenartige Wendung. Erst nach einigen Wortwechseln stellt sich heraus,
dass Yolanda die Anführerin einer lokalen Drogengang ist. Sie übernahm das
«Familienunternehmen», als ihr Mann im vergangenen Jahr mit 15 Schüssen hingerichtet wurde. Die
beiden Frauen haben einen Deal geschlossen: Yolanda schützt Yunni vor den Schlägertrupps der
Regierung. Yunni, die für den Bezirk arbeitet, hilft Yolanda dabei, an Basketbälle für ihre Gang zu
kommen. Sie sind das, was man ein schräges Paar nennen könnte – Verbrecherin und
Sozialarbeiterin –, aber der Hunger macht in Venezuela keine Unterschiede.
Die Wirtschaftskrise hat schon längst auch die Halbwelt erreicht. Bei Drogen gebe es kaum mehr
etwas zu holen, erzählt Yolanda, den Leuten fehle die Kohle. Auch Banküberfälle sind sinnlos, weil
man für die wertlosen Banknoten zwanzig Koffer brauchte. Es laufen noch Express-Entführungen,
bei denen Ausländer gezwungen werden, Bargeld von Automaten abzuheben, aber der
Konkurrenzkampf dabei ist heftig. «Ich habe selbst nichts mehr für meine Kinder», sagt Yolanda und
deutet auf ihre dürren Arme und auf ihre Brüste, die nichts als «zwei Punkte» seien, «und das im
Land der schönsten Frauen».
Das sind Venezuelas derzeitige Superlative: die meisten Schönheitsköniginnen und die am stärksten
steigende Mordrate.
Stunden später bricht eine Schiesserei in Yunnis Strasse aus, das bizarre Ende einer schiefgelaufenen
Entführung wie aus einem Film der Coen Brothers. Bei einer Verfolgungsjagd versagen die
abgenutzten Bremsen des Entführungsautos; laut scheppernd landet es im Haus der
Alteisenhändlerin. Die Entführer fliehen, das Opfer, einen Regierungsbeamten, findet man
wimmernd auf dem Rücksitz.
Selbst bei Verbrechen ist Venezuela bizarr. «Unser natürlicher Tod sind 25 Kugeln», sagt Yunni.
Seit zwei Jahren wird das Ende von Präsident Nicolás Maduro vorausgesagt, aber es will nicht
kommen. Kurz vor der Pleite bezahlt das Regime regelmässig seine Raten zurück. China setzt wieder
eine letzte Devisenspritze.
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Zudem verfügt die Regierung weiter über einen schlagkräftigen Repressionsapparat und genug
Anhänger, die sich noch gut daran erinnern, wie die Oligarchen sie vorher ausgebeutet haben.
Es ist der alte, nie gelöste Konflikt Lateinamerikas: Solch scheinbare linksutopische Anachronismen
wie der Chavismo in Venezuela oder Kirchnerismo in Argentinien sind nur möglich, weil eine kleine
oligarchische Elite die breite Masse seit Kolonialzeiten ausbeutet. Bis heute zeigt sie kein Interesse
an sozialer Gerechtigkeit, an Bildungsreform oder Korruptionsbekämpfung.
Wegen Plünderung geschlossen
Am folgenden Tag spitzt sich die Lage plötzlich zu. Yunni und ihre Familie verschanzen sich im
Haus. In Petare kommt es zu Plünderungen von Lieferwagen und Kleinläden. Dutzende Bürger
stürmen eine Bäckerei und erbeuten drei Säcke Mehl. «Meine ganze Wochenration», erzählt uns der
Bäcker später. Der Apotheker gegenüber hat ein Schild vor die Tür gehängt: «Wegen ständiger
Plünderungen geschlossen.» Banditen, die bisher für Handys und Autos töteten, töten jetzt für eine
Tüte Lebensmittel.
Es sind Venezuelas dunkelste Tage, in denen Hunger auf Gewalt trifft, in denen das Rohe im
Menschen an die Oberfläche dringt.
Die Antwort der Regierung folgt am nächsten Tag, auf einer Demonstration vor dem
Präsidentenpalast. Die Stimmung ist merkwürdig ausgelassen, eine Band spielt Salsa, rote Fahnen
werden geschwenkt und Parolen verbreitet wie «Tod dem Kapitalismus». Wer im Jahr 2016 noch
mal den Kalten Krieg erleben will, reise nach Venezuela. Viele der Demonstranten sind colectivos,
fest angestellte Aktivisten der Regierung. Am Tag zuvor noch schlugen sie bei einer Demo der
Opposition auf Teilnehmer und Reporter ein. 1,5 Millionen dieser Milizen gibt es im Land, verteilt
auf 15 000 Stadtviertel.
An diesem Tag verkündet die Regierung ihre «Misión Alimentación», eine Neuverteilung der
Lebensmittel durch das Volk. Grundnahrungsmittel werden ab sofort nicht mehr an Läden
ausgeliefert, sondern an 9000 sogenannte CLAP, Lokalkomitees für die Erzeugung von Produkten
und ihrer Verteilung, die in Wirklichkeit aber eher einer Volksbrigade ähneln. Das Essen geht nicht
mehr an alle Bürger, sondern an parteitreue. Es ist nichts anderes als das Aushungern der Opposition.
Nudeln und l sind alles, womit Rosa Elaisa Landaez sich und ihre drei inder noch ernähren kann.
er als Regimegegner gilt, hat Schwierigkeiten, in den regierungstreuen omitees etwas zu kaufen.
Die pposition lässt man systematisch hungern.
Präsident Maduro selbst tritt nicht auf. Er traut sich aus Angst vor Pfeifkonzerten immer seltener
vors Volk. Erst spät in der Nacht zeigt sich der ehemalige Busfahrer im Staatsfernsehen, mit einem
Schnauzer wie aus B-Movies der Siebziger und einem Anzug wie aus dem Nachlass von Erich
Honecker.
In der jovialen Art eines Versicherungsvertreters verkündet Maduro den Ausnahmezustand. Seine
Militärmanöver begründet er mit angeblichen Invasionsplänen der USA. Auf der Rangliste der
absurdesten Autokraten liegt er irgendwo zwischen Robert Mugabe und Kim Jong-un.
Yunni war selbst mal Teil der maquinaria roja, der roten Maschinerie. Ihr dritter Sohn Luis kam
sterbenskrank auf die Welt und überlebte nur dank teurer Medikamente. Die Krankenschwester
sagte, die Rettung sei Chávez zu verdanken, und fortan glaubte Yunni an den charismatischen Führer
der «Bolivarischen Revolution» wie an einen Gott. «Ich habe Wahlstimmen für Chávez gefälscht,
habe meiner Mutter gedroht, ihr werde die Pension entzogen, wenn sie sich nicht bekehrt. Heute
kämpfe ich umso härter für den Wandel, aus Schuldgefühlen.»
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Yunni arbeitet für den Bezirksbürgermeister, der gehört der Opposition an. Sie sammelt
Unterschriften für das gerade angelaufene Abwahlverfahren gegen Maduro. Man kann es auch so
sehen: Yunni ist der Grund, warum das Regime stürzen wird. Wie so viele war sie eine treue
Chávista, aber beim Hunger endet jede Loyalität.
Auf der Suche nach Nahrung versucht es Yunni in ihrer Verzweiflung bei den CLAP, aber eine
Nachbarin verpfeift sie als Regimegegnerin. Sie bettelt bei ihrer Freundin Paula, die einen
Kleinladen besitzt, aber seit die Nationalgarde Lieferungen abfängt, kommt auch Paula nicht mehr an
Ware. Am Hinterausgang einer Schlachterei nimmt sie Hunden die Knochen weg und bittet mich
inständig darum, ihrem Mann nichts zu sagen. Sie schämt sich.
Wie die meisten Venezolaner landet Yunni nach einer Woche schliesslich bei einem bachaquero,
einem Schwarzmarkthändler, benannt nach den gefrässigen Ameisen des Amazonas. Mit dem
Verkauf von gehortetem Waschmittel, Mehl, Reis machen diese Leute Riesenprofite. Wenn es
tatsächlich mal Reis im staatlichen Supermarkt gibt, kostet er 100 Bolivar. Auf dem Schwarzmarkt
2500, umgerechnet sind das etwa 2.50 Dollar.
«1800», bietet Yunni. – «Nein, 2500», entgegnet der bachaquero. «Aber das ist mein
Wochengehalt.» – «So geht es uns allen», antwortet der Mann kühl.
Bachaqueros werden gehasst, aber gebraucht. Yunni bezahlt schliesslich 800 Bolivar für zwei
Hühnerflügel. Und 100 für die einmalige Benutzung eines Deos. Das ist eine weitere
Einnahmequelle: Schwarzmarkthändler sind auch Deoverleihstation.
Die Maduro-Diät
Wir kaufen ihr Reis und Mehl und die Medizin für ihren Sohn. Der muss ein Zyniker sein, wer
angesichts solcher Not nur den stillen Beobachter spielen will. Erschöpft steigt Yunni im Abendrot
den Hügel hinauf. Zu Hause warten zehn Menschen auf Nahrung. Ihr Sohn geht seit zwei Monaten
nicht zur Schule, weil sie kein Frühstück für ihn hat. Ihr Mann, ein Handwerker, sitzt zu Hause und
wartet auf Aufträge und das Ende seiner Depression.
Zum Abendessen, der einzigen Mahlzeit am Tag, macht Yunni einen Eintopf aus ausgekochten
Knochen, Hühnerhaut, Yucca und abgeschöpftem Reiswasser. Solche Gerichte nennen sie hier: die
Maduro-Diät.
Spätnachts erwacht ihr Sohn Luis. «Mama, ich habe Hunger», klagt er. Da gibt sie die schlimmste
Antwort einer Mutter, wie sie findet: «Ich habe nichts, mein Kind.»
Es ist zwei Uhr. Sie macht sich wieder auf den Weg.
Das Böse lauert überall
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Amerikas Vorstadtstrassen sind wie leer gefegt, weil Eltern ihre Kinder nicht mehr allein vor die Tür lassen,
aus Angst, verhaftet zu werden. Vertrauen ist das grösste Tabu, Paranoia oberste Pflicht. In den USA
grassiert die Furcht vor allem und jedem.
Von Sacha Batthyany
Das Magazin N°31/32 – 6. August 2016
In den ersten Wochen fällt es einem gar nicht auf. Wer neu aus Europa in eine durchschnittliche
amerikanische Vorstadt zieht, der ist zunächst von der geballten Ladung Idylle erschlagen, den netten
Holzveranden, den freundlichen Nachbarn, Jack und Cindy, die immerzu lächeln und Kuchen
vorbeibringen und am 4. Juli ihren Garten mit amerikanischen Fahnen schmücken. Es müssen erst
ein paar Monate vergehen, bis man merkt, dass hier etwas nicht stimmt. Noch aber kommt man nicht
drauf, blickt dafür immer öfter verstohlen aus dem Fenster, weil man etwas sucht, weil hier einfach
etwas fehlt. Nur: was denn? Bis einem endlich die Augen aufgehen.
Bei mir dauerte das ungefähr ein Jahr. Als ich an einem späten Nachmittag mit dem Auto durch
unser Quartier fuhr, vorbei an Vorgärten mit Rasensprinklern, vorbei an adretten Backsteinhäusern
mit Basketballkorb an der Garage, sah ich es plötzlich ganz deutlich. Es war, als hätte ich auf einmal
eines dieser Vexierbilder entschlüsselt und das andere Bild entdeckt im Bild. Nicht mehr den alten
Mann mit Glatze und Bart, sondern die nackte Frau. In diesem Moment brach die amerikanische
Vorstadtidylle zusammen, denn ich sah – Tschernobyl.
Alles war wie immer, Cindys Blumen strahlten um die Wette, in der Luft lag der Geruch von
gemähtem Gras dividiert durch gegrilltes Fleisch, doch endlich erkannte ich, was hier fehlt: Kinder.
Keine Mädchen mit Zöpfen. Keine Jungs mit aufgeschlagenen Knien. Keine Kreidezeichnungen am
Boden, lachende Sonnen und Marienkäfer auf zwei Beinen. Kein Geschrei zu hören, kein «18–19–
20, ich koommeeee». In der Vorstadt, in der wir wohnen, zwanzig Minuten vom Weissen Haus
entfernt, ist es so gespenstisch leer wie in einem dieser Roland-Emmerich-Filme über die
Postapokalypse.
Jeden Donnerstag kommt bei uns die Müllabfuhr vorbei, was bedeutet, dass sämtliche Anwohner am
Mittwochabend ihren Müll an die Strasse stellen. Und wenn man heimlich in ihre Säcke schaut, dann
sieht man durchaus Spuren von Kinderleben, blaue Legokartons, Cornflakes-Schachteln in XXLFamiliengrösse, Babynahrung mit Bananengeschmack – allein die Kinder sieht man nie.
Man kennt das Klischee, das die Anti-Amerikaner unter uns, und davon gibt es in der Schweiz ja
einige, immer wiederholen: Amerikaner würden ihre Kinder halt lieber vor den Fernseher setzen,
während wir unsere draussen im Dreck wühlen lassen. Doch es ist, wie bei allen Klischees,
komplexer.
Man kennt auch die Berichte über Helikoptereltern, die ihre Kinder überwachen und in Watte
packen, als würden sie unter der Glasknochenkrankheit leiden. Doch auch hier ist der elterliche
Überprotektionismus nur ein Symptom eines tiefer liegenden Phänomens, das nicht nur die
Kindererziehung, sondern das ganze Land bestimmt: Die Angst geht um in Amerika.
Und plötzlich ergibt vieles Sinn, was man anfänglich als anders oder seltsam empfand: Warum man
in der Schule täglich ein Formular unterschreiben muss, bevor man seine Kinder abholt. Warum auf
Kindergeburtstagen nur die aufs Trampolin dürfen, deren Eltern eine schriftliche Bewilligung
einreichen. Warum auf den Spielplätzen und in Parks, wo sich durchaus Kinder finden lassen, immer
so viele Erwachsene herumstehen, die bei Not eingreifen und bei Streitereien schlichten. Warum die
Liste mit möglichen Nebenwirkungen, auch wenn es sich nur um Kindermückenspray handelt, so
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endlos lang ist. Und warum man vor allem so selten Kinder sieht, die sich ohne Aufsicht irgendwo
aufhalten. Weder in Bussen noch im Wald oder vor dem Supermarkt. Im Schwimmbad sowieso
nicht.
Erotische Beziehung zur Angst
Keine Woche vergeht ohne neue Angst. Angst vor Terror, vor Muslimen und Mexikanern; vor zu
vielen Waffen oder davor, keine Waffen mehr tragen zu dürfen; vor heimischen Zecken,
südamerikanischen Zika-Viren und Atombomben aus Nordkorea; vor dem sozialen Abstieg,
schlechten Schulnoten, hohen Cholesterinwerten und vor Schneefällen, die sich zu
«Monsterstürmen» auftürmen könnten, wie es im vergangenen Winter im Fernsehen hiess. Worauf
die Anwohner in meiner Vorstadt sämtliche Supermärkte leer kauften und sich im Keller
Notunterkünfte einrichteten, als würden sie sich auch ein wenig drauf freuen. Als dann nach ein paar
Tagen doch nur harmlose Schneeflocken vom Himmel fielen, die sich puderzuckrig auf die
Vorgärten legten, da waren unsere Nachbarn Jack und Cindy nicht etwa empört, weil man sie in die
Irre geführt hatte und sie sich umsonst Sorgen machten. Sie waren erleichtert und froh, dass alles
noch einmal gut ausging. Kinder beim Schlitteln allerdings sah ich keine.
Dafür wurden in jenem Winter sämtliche Sitzbänke vor den Schulen in der Umgebung abgeschraubt,
weil man nicht will, dass die Kinder nach dem Unterricht auf dem Schulhof spielen und sich die
Eltern auf den Bänken ausruhen – wie man das bei Bahnhöfen macht, um die Penner zu vertreiben.
So will man aus Versicherungsgründen, dass sich Eltern wie Kinder ohne Umwege sofort nach
Hause begeben, es könnte ja sonst etwas passieren.
Es ist eine Unart dieser Tage, dass kein einziger Bericht über die USA ohne Verweis auf Donald
Trump auskommt. Doch hier muss der Immobilienspekulant, der sich durch die Vorwahlen pöbelte
und nun gegen Hillary Clinton antritt, erwähnt sein, denn natürlich ist der Aufstieg Trumps ohne
Amerikas erotische Beziehung zur Angst nicht zu verstehen. Die Angst ist ein Lustgewinn, deshalb
wird sie zelebriert und gepflegt, und sie ist der Kitt in der amerikanischen Gesellschaft.
Mehrmals schon liess Danielle Meitiv ihre Kinder Rafi, 11, und Dvora, 8, allein in den Park, was
hier ähnliche Reaktionen auslöst, als hätte sie ihnen zum Geburtstag Zigaretten geschenkt.
Während Barack Obama seit acht Jahren vorgibt, alles immer im Griff zu haben, schürt Trump
Ängste, wo er nur kann. «Wir sind ein Land der Verlierer geworden und werden verspottet», sagt er
dauernd, worauf seine Anhänger johlen, als hätte er ihnen eine Gehaltserhöhung versprochen. Die
Furcht vor dem eigenen Niedergang entfacht gleichzeitig Begeisterung, weil sie zusammenhält: Wir
gegen die. Und wo kräftig mit Angst gedüngt wird, da gedeiht Hass, das weiss man aus der
europäischen Geschichte.
Nüsse sind verboten, Schokolade ist erlaubt
Die Angst um die Kinder ist aber vielleicht die intimste, sie sagt viel aus über den Zustand dieses
Landes und verunsichert eine ganze Generation junger Eltern, die doch nur das Beste für ihre Kinder
wollen, aber bei all den Schauermärchen und ob all der Panikmache nicht mehr wissen, was das
Beste ist. Hinzu kommt, dass sie sich mit einer Fülle von Gesetzen herumschlagen müssen, die von
Staat zu Staat variieren: Wer Kinder ohne Aufsicht auch nur für wenige Minuten im Auto lässt, in
einem Park oder nur schon zu Hause, wer fremden Schulmädchen auf dem Spielplatz beim Klettern
hilft und sie zufällig auch noch berührt, läuft Gefahr, von Beamten der Child Protective Services
(CPS) ins Visier genommen zu werden, und das möchte niemand. C-P-S – diese drei Buchstaben
lassen amerikanischen Eltern das Blut in den Adern gefrieren.
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Dabei sind die USA doch das «land of the free», so dachte man jedenfalls, als man neu aus Europa
herzog. Dass Eltern alles andere als frei sind, merkt man, wenn man die Kinder zur Schule anmeldet
und sich durch die seitenlange Liste von Regeln kämpft: Die Badekappe muss weiss sein, das Kind
gegen Hepatitis geimpft und die Lunchbox natürlich aus Plastik, sonst könnten sich die Kinder damit
ja noch die Nasen blutig schlagen. An Nüssen könnten sie sich verschlucken, an Äpfeln die Zähne
ausbeissen, Schokolade ist erlaubt.
Die ganze Verunsicherung führt ja nicht nur zu dieser gespenstischen Leere in meinem Quartier und
dem Umstand, dass wir drei Tage lang alle Geschäfte nach weissen Badekappen absuchten. Die
Folgen sind weitreichender und über das ganze Land verteilt. Wobei das nicht ganz stimmt. Kinder
aus ärmeren Familien sind durchaus auf der Strasse, in Schwarzenvierteln von D.C., Chicago oder
Baltimore etwa klettern sie ohne Aufsicht auf Gerüste und Bäume, weil die Eltern keine Zeit haben,
sich um sie zu kümmern. Weil sie arbeiten und abends zu müde sind. Angst zu haben und
teilzunehmen an der nationalen Panik ist ein Privileg und gehört auf die Liste von Christian Landers
hervorragendem Blog: «Stuff White People Like».
Revolutionärin oder Rabenmutter
In Connecticut überhörte Maria Hasankolli eines Morgens im November ihren Wecker, worauf sich
ihr Sohn, 8 Jahre alt, allein auf den Weg machte. Zwei Polizisten hielten ihn an, begleiteten ihn zur
Schule, fuhren daraufhin zur verschlafenen Mutter zurück und legten ihr Handschellen an. Die
Anklage lautete, sie habe ihr Kind willentlich in Gefahr gebracht, es war von einer 10-jährigen
Gefängnisstrafe die Rede. Hasankolli kam gegen 2500 Dollar Kaution wieder frei. Sie geht jetzt
jeden Abend mit der Angst ins Bett, sie könnte den Wecker noch einmal überhören, schreibt sie:
«Dann nehmen sie mir meinen Sohn weg.»
In Arizona fuhr Brenda Mayers mit ihrem Mann und ihren vier Kindern vom Schwimmbad nach
Hause, es war später Nachmittag, und sie wollten noch etwas essen. Die Jüngeren schliefen, die
beiden Älteren folgten dem Vater in eine Filiale von Burger King. Mayers stieg aus dem Auto und
setzte sich an einen der Tische neben den Parkplätzen, der Wagen keine fünf Meter von ihr entfernt,
die Fenster offen. Nur einmal ging sie kurz hinein, um Servietten zu holen und sich die Hände zu
waschen, doch das reichte: Ein Gast am Nebentisch rief die Polizei.
Mayers erhielt eine Busse, weil es verboten ist, Kinder unter sieben Jahren mehr als fünf Minuten
allein im Auto zu lassen. «Dass es nicht mal eine Minute war, tat nichts zur Sache.» Ein paar
Wochen später führten Beamte der Kinderschutzbehörde CPS mit den Lehrern von Mayers’ Kindern
Gespräche. Auch die Kinder wurden vernommen, ohne dass Mayers dabei sein durfte. Sie hat nun
eine dicke Akte und musste einen mehrtägigen Elternkurs besuchen, obwohl sie vier Kinder hat. Und
als sie neulich in einem Park von einem Polizisten gerügt wurde, weil ihr Sohn zu nahe am Ufer lief,
wollte sie sich erst wehren, liess es dann aber bleiben und entschloss sich, von nun an zu Hause zu
bleiben. «Burger essen und im Park spazieren gehen, das ist in diesem Land zu gefährlich
geworden.»
Mittagessen mit Danielle Meitiv, Mutter von Rafi, 11, und Dvora, 8. Meitiv ist entweder
Revolutionärin oder Rabenmutter, je nachdem, wie man es betrachtet. Sie selbst will gegen «diese
Totalhysterie» ankämpfen, die in Amerika grassiere und die Städte «in tote Kulissen verwandelt», für
die sich keiner mehr zuständig fühle, «weil wir ja immer zu Hause sind».
Dank einer nationalen Kampagne gelten Kastenwagen, die langsam im Quartier herumschleichen, als
verdächtig.
Mehrmals schon liess Meitiv ihre Kinder allein in den Park, was hier ähnliche Reaktionen auslöst,
als hätte sie ihnen zum Geburtstag Zigaretten geschenkt. Meitiv hörte auch nicht damit auf, nachdem
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die Polizei bereits interveniert hatte und die Männer von der Jugendschutzbehörde CPS begannen,
sie auszuspionieren. Sie nahm sich einen Anwalt und hielt dagegen. Die Meldung der renitenten
Mutter, die sich nicht verbieten lassen will, ihre Kinder ohne Aufsicht in der Nachbarschaft
herumlaufen zu lassen, ging vor einem Jahr um die Welt, selbst das russische Fernsehen hat darüber
berichtet. «In anderen Ländern ist das doch ganz normal. Was also soll die Aufregung?»
Danielle Meitiv ist in den Siebzigerjahren in einem jüdischen Viertel in Queens aufgewachsen.
«Einen gefährlicheren Ort gab es damals nicht in den USA», Bandenkriege, Cracktote, «und dennoch
liessen mich meine Eltern draussen spielen. Und wenn ich die sechsspurige Strasse zur Synagoge
überqueren musste, da habe ich jemanden um Hilfe gefragt.» Das Bauchgefühl habe sich verändert,
so Meitiv, man gehe heute immer davon aus, dass etwas passiert; und wer das schlimmstmögliche
Szenario nicht einkalkuliert, der gelte als schlechte Mutter oder mieser Vater.
Die Angst mit Löffeln gegessen
Wann war der Tag, die Woche, das Jahr, als sich die Angst in den Köpfen der Amerikaner
ausbreitete und immer häufiger auch in jenen der Schweizer? Warum hat sich unser Blick derart
verändert? Wie ist es möglich, dass dieses Bauchgefühl allen Statistiken trotzt und sich so hartnäckig
hält? Mord, Raub, Vergewaltigung, Entführung, das Leben in den USA war nie sicherer als heute.
Selbst für Schwarze. Und dennoch wurden noch nie so viele Ortungsgeräte verkauft. Handy-Apps
und Zimmerkameras, mit denen man seinen Nachwuchs jederzeit überwachen kann, sind
mittlerweile Standard im Kinderzimmer. Mit der Angst der Eltern lässt sich Geld verdienen.
Als Meitiv in den Siebzigerjahren aufwuchs, wurden Bilder verschwundener Kinder auf
Milchflaschen gedruckt, die auf den Frühstückstischen standen: «Hast du mich gesehen?», war auf
den Flaschen zu lesen, mit denen Millionen von Amerikanern ihre Cornflakes-Schüsseln füllten – sie
assen die Angst mit dem Löffel. Damals begann man, den Kindern zu verbieten, mit Fremden
mitzugehen, «Stranger Danger» hiess die nationale Kampagne, und fortan galten Kastenwagen, die
langsam im Quartier herumschleichen, als verdächtig. Auch dafür gibt es, wie für so vieles, eine
Bezeichnung: «Man in a Van» – diese Warnung vor Fremden kennt hier jedes Kind. Obwohl 90
Prozent der Kindsmisshandlungen von Verwandten oder Freunden begangen werden, aber das nur
nebenbei.
Als dann das Fernsehen 24 Stunden pro Tag zu senden begann, explodierte die elterliche Paranoia,
sagt Danielle Meitiv. «Die emotionalen Einzelschicksale, die pausenlos auf uns niederprasseln,
haben unser Denken und unsere Risikowahrnehmung verändert und uns alle in einen permanenten
Schreckenszustand versetzt.» Denn die Botschaft, die alle diese Geschichten in die Wohnzimmer
transportieren, sei: Pass bloss auf, es könnte auch deinen Kindern passieren. Mit dem Resultat, dass
alle überall Gefahr wittern. «Wer ein Kind allein auf der Strasse sieht, der denkt sich: Was ist denn
mit dem passiert?, anstatt sich zu fragen: Und wo, bitte schön, sind all die anderen?»
Mit dem Aufstieg der Angst, so Meitiv, erhielt die Jugendschutzbehörde CPS, so etwas wie die
Schweizer Kesb, immer mehr Macht. Sie habe keine Angst vor Einbrechern, sagt Meitiv, sie habe
Angst davor, dass Nachbarn die CPS anrufen, weil sie ihre Kinder wieder mal allein spielen lässt.
«Die Leute von den CPS sind unantastbar. Sie können Familien entzweien, Kinder in Internate
stecken, Männer als potenzielle Vergewaltiger abstempeln. Ein Wort der CPS genügt, und dein
Leben stellt sich auf den Kopf.»
Weil keiner Ärger will, würden Amerikaner alles für ihre Kinder tun, daher der
Überprotektionismus. «Wir züchten eine Generation polierter Kids, für die wir alles tun und die wir
möglichst lang von der Welt abschotten. Mit 16 kiffen sie zwar heimlich und haben Oralsex, aber
vom Leben keine Ahnung.»
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Ruhe statt Panik – ein Tabu in Amerika
Die geistige Mutter des Widerstands gegen Meitivs «Totalhysterie» heisst Lenore Skenazy und lebt
in New York. Sie liess ihren 9-jährigen Sohn in Manhattan allein mit der U-Bahn fahren und schrieb
2008 eine olumne darüber, mit dem Titel: «Here’s Your Metrocard, id». Damit löste sie eine
landesweite Empörung aus. «Andauernd wurde ich gefragt, was ich getan hätte, wenn er nicht zu
Hause angekommen wäre. Aber das ist ja gar keine Frage. Es ist eine Verurteilung.» Sie habe
sich erlaubt, nicht mit dem Schlimmstmöglichen zu rechnen, sondern damit, dass alles gut kommt.
Ruhe statt Panik. Ein Tabu in Amerika.
Seitdem wird Skenazy jährlich zur schlechtesten Mutter des Landes gewählt, in den USA gibt es ja
für alles eine Liste. Sie führt einen Blog, hilft Eltern, die mit Behörden Schwierigkeiten haben, weil
sie etwa ihr Kind für eine Minute im Auto liessen, und sie hat die «Free Range Kids»-Bewegung
gegründet – so etwas wie die Freilandhaltung bei Hühnern. Skenazy nennt es «Streifradius». Kinder
sollen umherstreunen und ihr Viertel entdecken, statt die Jugend im elterlichen Käfig abzusitzen.
Zudem unterstützt sie Projekte in Schulen, die die Selbstständigkeit der Kinder fördern, und spricht
an Tagungen von «diesem total überhitzten Land» und den Auswirkungen auf die Kleinsten.
Dieser Überhitzung bin ich vor Kurzem wieder begegnet, als ich von einer freundlichen
Fahrkartenverkäuferin daran gehindert wurde, mit meinen drei Kindern in den Zug zu steigen: «So
sind nun mal die Regeln.» Und die Regel lautet, dass ein Erwachsener nur mit maximal zwei
Kindern reisen darf, weil man allein auf drei nicht aufpassen könne, was streng genommen ja auch
stimmt. Falls etwa ein Helikopter auf den fahrenden Zug stürzen würde und es zur Entgleisung käme,
hätte ich tatsächlich Mühe, mich um alle zu kümmern. «Dann nehme ich halt das Auto», sagte ich,
und sie nickte.
Jährlich kommt es zu 1,5 Millionen Unfällen auf den Strassen der USA, 35 000 Menschen sterben,
das Auto ist das gefährlichste Verkehrsmittel von allen. Aber hey, keine Panik.
Unser Föderalismus ist kein Labor»
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«Wir
sind doch stolz auf unsere vier Sprachen. Davon erzählen wir doch im Ausland jeweils als Erstes.»
sagt Alain Berset. Foto: Dominic Büttner
Bundesrat Alain Berset will im Sprachenstreit keine Abweichler dulden. Eine Volksabstimmung
fürchtet er nicht. Die Fremdsprachendiskussion müsse mit der ganzen Bevölkerung geführt
werden - bevor es zu spät sei.
Mit Alain Berset sprachen Anja Burri und Raphaela Birrer, Locarno, TA vom FR 5. August 2016
Sie essen oft auswärts in Bern. In welcher Sprache bestellen Sie?
Eine interessante Frage (überlegt). In Bern bestelle ich auf Deutsch.
Wo haben Sie Deutsch gelernt?
Ich habe im Kanton Freiburg in der vierten oder fünften Klasse damit begonnen. Im Studium
spielte Deutsch keine Rolle mehr. Erst als ich mit 30 Jahren für meine Doktorarbeit nach
Hamburg ging, musste ich wieder Deutsch sprechen.
Hand aufs Herz: Mochten Sie den Deutschunterricht?
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In der Schule war für mich das Lernen von Fremdsprachen nie so einfach. Später aber lernte ich
ganz bewusst Deutsch. Es war für mich einfach klar, dass ich als Schweizer mehr als eine
Landessprache beherrschen möchte.
In der Deutschschweiz ist Frühfranzösisch so umstritten, dass der Bundesrat mit
einem Eingriff in die Bildungshoheit der Kantone droht. Lässt sich die
Begeisterung für eine Sprache politisch verordnen?
Nein, dem Bundesrat geht es darum, eine Debatte zu lancieren. Vor den Sommerferien hat er
drei Vorschläge in die Vernehmlassung geschickt, um sicherzustellen, dass alle Primarschüler
eine zweite Landessprache lernen. Wir gehen dabei nicht über den Sprachenkompromiss
hinaus, auf den sich die Kantone vor zwölf Jahren einstimmig geeinigt haben. Letztlich
unterstützen wir sie darin, ihren eigenen Beschluss durchzusetzen.
Einige Kantone haben diese Sprachenstrategie nie umgesetzt. Warum haben Sie
sich ausgerechnet jetzt entschieden, einzugreifen?
Weil es in gewissen Kantonen die Tendenz gibt, die Bundesverfassung zu ritzen. Diese
verpflichtet dazu, den obligatorischen Schulunterricht zu harmonisieren. Der Bildungsartikel
wurde in einer Volksabstimmung mit über 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. In einer
zunehmend mobilen Gesellschaft ist das Bedürfnis nach einer gewissen Harmonisierung
verständlich. Familien wollen die Möglichkeit haben, ohne schulische Nachteile den
Wohnkanton zu wechseln. Die Kantone machen zwar viel für diese Harmonisierung, aber beim
Fremdsprachenunterricht sind sie noch nicht so weit, wie sie sein müssten.
Aber die Kantone wollen das Problem alleine lösen. Sie verstehen Ihr Vorgehen
als Eingriff.
Es wäre angenehm für einige Beteiligte, zu sagen: Es wird schon alles gut. Doch was ist, wenn
die Kantone keine Lösung finden? Um den Zusammenhalt unserer mehrsprachigen Schweiz zu
sichern, müssen wir uns gegenseitig verstehen. Wer wird die Verantwortung tragen, wenn diese
Voraussetzung wegfällt? Der Bundesrat ist nicht bereit dazu. Die Kantone haben die
Bildungshoheit und stehen in der Pflicht. Föderalismus heisst eben nicht nur
Selbstbestimmung. Jeder Kanton trägt mit seinen Entscheiden auch Verantwortung für das
ganze Land.
Einzelne Kantone wollen diese Verantwortung auf ihre Weise wahrnehmen. Der
Thurgau hat Ideen, wie er Französisch auf der Sekundarstufe verbessern will.
Warum lassen Sie das nicht zu?
Es gilt die Verfassung, als Bundesrat können Sie doch nicht einfach sagen: Betrachten wir
unseren Föderalismus als Labor. Behandeln wir unsere Landessprachen, unsere Schweiz als
Versuchskaninchen, an denen jeder seine Sprachenlösung austestet. Es gibt andere Länder, die
heute feststellen, dass sie zu lange zugewartet haben. Dann wird das Zusammenleben schwierig.
Sie meinen Belgien?
Zum Beispiel, genau.
Haben Sie konkrete Anhaltspunkte, dass der nationale Zusammenhalt aufgrund
des Sprachenunterrichts gefährdet ist?
Es ist falsch, die Sprache nur als Kommunikationsmittel zu sehen. Dann könnten wir in der
Schweiz einfach Esperanto miteinander sprechen. Die Sprache ist viel mehr. Sie transportiert
auch Kultur, Werte, Geschichte. Ich sehe das bei mir selber. Als ich in der Lage war, auf Deutsch
zu lesen und mich mit Deutschschweizern zu unterhalten, öffnete sich eine neue Welt. Ich lernte
die Schweiz von einer anderen Seite kennen. Wie würden wir uns jetzt unterhalten ohne
Kenntnisse der anderen Landessprache?
Zum Beispiel auf Englisch, wie es heute schon häufig zwischen den Landesteilen
gemacht wird.
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Ja, Shakespeares Sprache. Doch dahinter stehen andere Werte, eine andere Welt, eine andere
Weltanschauung. Dabei sind wir doch auch stolz auf unsere vier Landessprachen. Davon
erzählen wir doch im Ausland jeweils als Erstes. Wenn wir schon so stolz sind darauf, sollten
wir auch in unsere Sprachen investieren.
Die Schweiz hat 150 Jahre gut funktioniert ohne Frühfranzösisch. Warum soll nun
plötzlich unser Schicksal davon abhängen?
Die Welt wird immer internationaler. Vor 30 Jahren lernte man die Landessprachen im Beruf
oder in der Armee. Das hat sich verändert. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Dorf
gemacht, in dem in der Regel Englisch gesprochen wird. Da ist es umso wichtiger, zu wissen,
wer wir sind und woher wir kommen.
Spricht die Globalisierung nicht dafür, Englisch zu fördern?
Nein. Es ist viel einfacher, Englisch zu lernen als eine Landessprache. Es geht auch um die
Sensibilisierung: He, wir haben noch andere Landessprachen und Kulturen! Das ist toll! Nicht
alle welschen Schüler müssen Deutschschweizer Schriftsteller im Original lesen können. Aber
sie sollen die Grundlagen erhalten, dies später zu lernen.
Dieses Ziel wird heute mit zwei Fremdsprachen in der Primarschule verfehlt: Von
den Zentralschweizer Achtklässlern erreichen keine zehn Prozent die nötigen
mündlichen Französischkompetenzen.
Dieses Resultat muss zu denken geben. Stellen Sie sich vor, man würde ähnliche Defizite bei der
Mathematik feststellen: Würde man dann auch sagen, wir streichen den Mathematikunterricht
in der Primarschule? Nein, viel eher würde man ihn verbessern.
Greift der Bundesrat in die Hoheit der Kantone ein, droht ein Referendum. Haben
Sie keine Angst, dass dabei Englisch gegen Französisch ausgespielt wird?
Die richtige Frage lautet: Ist es in unserem Land möglich, solche Fragen zu diskutieren? Die
Gegner von Frühfranzösisch werden es schwer haben, zu erklären, weshalb wir bald nur noch
Englisch miteinander sprechen sollen. Die Fremdsprachendiskussion sollten wir mit der ganzen
Bevölkerung führen - bevor es zu spät ist.
Betroffene Kantone sagen klar: Wegen einer Vernehmlassung des Bundesrats
werden wir unseren erfolgreichen Sprachenunterricht nicht ändern.
Erfolgreich? Wer hat das gesagt?
Zum Beispiel Appenzell Innerrhoden fährt nach eigenen Angaben gut mit dem
Modell Französisch ab der 7. Klasse. Was ist, wenn Ihr Kalkül der Drohkulisse
nicht aufgeht und die Kantone stur bleiben?
Wenn man eine Diskussion beginnt, muss man auch bereit sein, diese zu Ende zu führen. Aber
ich bin überzeugt, dass wir noch eine Chance haben: Die Kantone können eine Lösung finden.
Das ist das Ziel.
Hätten Sie den Mut, einzugreifen?
Ich hätte keine Angst vor einem solchen Schritt. Der Bundesrat möchte die Diskussion so
unaufgeregt wie möglich führen. Um die Sprachendebatte kommen wir ohnehin nicht herum.
Auch im Parlament gab es in den letzten zwei Jahren rund ein Dutzend Vorstösse.
Sie sehen sich als Moderator der Sprachendebatte. Im Thurgau haben Sie mit
Ihrer Drohung das Gegenteil erreicht. Die Fronten haben sich verhärtet.
Was wäre die Alternative gewesen? Schweigen? Laisser-faire?
Das fragen wir Sie.
Es gibt schlicht keine Alternative.
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Als den Stewardessen die Herzen zuflogen
Hier posiert der Swissair-Hostessen-Kurs, Jahrgang 1972, vor einer Boeing 747. Gerne erinnert sich
Marianne Sommer, die damals schon Flugbegleiterin war, an jene goldenen Zeiten. Sie unterhält sich
mit Claudio Haas, Flight Attendant von 2008 bis 2015.
Beide träumten schon als Kind vom Fliegen, doch nur Marianne Sommer erlebte noch die
goldenen Zeiten. Claudio Haas hatte irgendwann genug von Jetlag und aggressiven Fluggästen.
Mit Marianne Sommer und Claudio Haas sprachen Samuel Reber und Judith Wittwer,
TA vom DO 4. August 2016
Sie kommt mit einer Tasche voller Erinnerungen auf die Zuschauerterrasse: Souvenirs von
Flugrotationen (darunter eine liebgewonnene Gandhi-Statue), ein Ordner mit verblichenen
Fotos, eine Uniform aus den 70er-Jahren: «Da passte ich mal rein», lacht Marianne Sommer,
und schon kommt sie mit Claudio Haas ins Gespräch. Flight Attendants, so viel wird schnell
klar, haben keine Startschwierigkeiten.
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Herr Haas, sind Sie normalgewichtig?
Claudio Haas: Als ich bei der Swiss einstieg, war das sicher so.
Sonst hätten Sie den Job auch nicht bekommen. Im Anforderungsprofil der Swiss
steht klar: Flugbegleiter müssen mindestens 158 cm gross und normalgewichtig
sein.
Haas: Die Ästhetik muss stimmen - das ist auch heute noch so. Man sollte quasi mühelos durch
den engen Flugzeuggang schweben können.
Sommer: Früher mussten wir beim Anstellungsgespräch sogar auf die Waage stehen. Mit einem
Gewicht von 56 Kilo bei einer Grösse von 172 cm war das damals für mich zum Glück keine
Hürde.
Haas: Heute achtet man auf das Erscheinungsbild als Ganzes. Die Swiss verlangt keinen
bestimmten Body-MassIndex. Für die Uniform muss man sich aber Mass nehmen lassen.
Gibt es bei der Swiss keine Uniformen in Übergrössen?
Haas: Doch, das gibt es. Für einzelne Angestellte, die schon 20, 30 Jahre dabei sind und gut
gelebt haben. Auf den Rotationen isst man gut, als erfahrener Flight Attendant weiss man, in
welche Restaurants man im Ausland gehen muss. Das habe auch ich gespürt.
Hostessen-Uniformen waren einst weit mehr als Arbeitsbekleidung. So pflegte
Modeschöpfer Emilio Pucci zu sagen: «Ein erschöpfter Geschäftsmann soll sich an
Bord am Anblick hübscher Mädchen stärken dürfen.» Die Flight Attendant als
Zeitvertreib auf einem langweiligen Flug?
Sommer: Ach, das sind Klischees. Klar, wurde man beobachtet. Unsere Röcke waren ziemlich
kurz, und wenn wir das Gepäck im Hutfach verstauten, rutschten sie zu unserem Ärger hoch.
Die Geschäftsmänner interessierten sich aber meist mehr für die Börsenkurse in der Zeitung.
Keine Liebeserklärungen über den Wolken?
Sommer: (lacht) Nein. Vielleicht mal ein Flirt, ein Kaffee mit Mäni Weber im Transit in Genf,
eine Visitenkarte. Teils erhielten wir von den Passagieren auch ein Trinkgeld, oder
Geschäftsmänner schenkten uns ein Hermès-Foulard aus dem Bordverkauf. Mehr war aber
nicht.
Also gab es dieses leichte Leben, wie es Leonardo DiCaprio mit sexy Stewardessen
in der Gaunerkomödie «Catch Me If You Can» zelebriert, überhaupt nicht?
Sommer: «Coffee, Tea or Me» - so heisst auch ein Buch der fiktiven Stewardessen Trudy Baker
und Rachel Jones. So simpel war es aber dann doch nicht. Die Hostessen waren nie Puppen;
sexistische Bemerkungen oder Witze bekam ich praktisch nie zu hören. Im Gegenteil: Als Flight
Attendant war man stolz, man wurde bewundert und beneidet.
War es Ihr Traumberuf?
Sommer: O ja! Ich erinnere mich, wie ich als Kind an einem sonnigen Nachmittag auf einem
Feld lag, im Himmel ein Flugzeug erblickte und mir schwor: «Dort oben will ich mal arbeiten.»
Fliegen war meine Chance, dem kleinbürgerlichen Dorfleben zu entfliehen.
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Haas: Die Fliegerei faszinierte mich auch von klein auf. Unser Vater, ein Tierarzt und
Aviatikfan, nahm uns schon früh an Fluganlässe mit. Im Kindergarten wollte ich Pilot werden,
bald merkte ich aber, dass mir die Arbeit in der Kabine und der Austausch mit der Crew und
den Passagieren besser entspricht.
Wie haben Sie auf dieses Berufsziel hingearbeitet?
Sommer: Flugbegleiter mussten damals bei der Swissair drei Sprachen sprechen können. So
arbeitete ich nach der kaufmännischen Lehre zuerst als Kindermädchen in England und dann in
der Welschland in einem Büro. Und später, als ich den Job als Flight Attendant bereits hatte,
lernte ich in Abendkursen der Swissair noch Italienisch und Spanisch.
Haas: Heute verlangt die Swiss neben Deutsch nur noch Englisch. Spricht man zusätzlich
Französisch, erhält man 100 Franken mehr Lohn pro Monat.
Mit dem Sprachenschatz im Gepäck, hoben Sie ab. Was war das für ein Gefühl?
Sommer: Ein riesiges Glücksgefühl. Mein erster Einsatz führte nach Tunis, Meer und
Olivenhaine bei der Landung. Eine neue Welt. Fliegen war damals ein Luxus. Niemand flog
nach New York zum Weihnachtsshopping. Man konnte es sich schlicht nicht leisten.
Wie erlebten Sie den Arbeitsalltag über den Wolken?
Sommer: Das waren angenehme Zeiten. In der DC-9 sassen hinten in der Economyclass 90
Passagiere. Zu dritt servierten wir in Porzellangeschirr das Essen.
Haas: Heute gilt die Faustregel: ein Flight Attendant für 50 Passagiere.
Sommer: Auf Kurzstrecken serviert man heute ja nur noch Getränke und Sandwichs.
Kaffee oder Tee, Schinken oder Käse: Wird die Arbeit nicht schnell monoton?
Haas: In der Economyclass sind die Abläufe in der Regel klar: Bordservice, Verkauf, je nach
Destination Einreiseformulare. In der Businessclass sind hingegen die Ansprüche höher, damit
wird die Arbeit abwechslungsreicher. In der First Class betreut man maximal acht Passagiere da kann man auf einem Langstreckenflug teilweise auch etwas aufbauen.
Sommer: Monoton ist nicht die Arbeit, frustrierend ist heute, dass einem die Passagiere immer
weniger zuhören. Rindfleisch, Kalbfleisch oder Poulet - immer mehr Fluggäste wollen gar nicht
mehr wissen, was ihnen serviert wird, welcher Wein im Angebot ist. Da geht eine Kultur des
Erklärens und der Gastfreundschaft an Bord verloren.
Haas: Die Passagiere erwarten zwar von dir, dass du zuvorkommend bist, machen sich aber
nicht die Mühe, die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. Das ist schade.
Statt Gastfreundschaft also lieber Musikkanäle und Filme an Bord?
Haas: Die Elektronik hat auch ihr Gutes. Wenn Eltern ihren Kindern auf langen Flügen ein iPad
in die Hand drücken, Geschäftsmänner in ihre Laptops schauen und andere Gäste Musik hören,
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beruhigt das den Flug. Aber wehe, wenn der Bildschirm einmal nicht funktioniert. Dann hat
man als Flugbegleiter ein Problem.
Sommer: In den 70er-Jahren verteilten wir auf den Nordatlantikflügen nach New York oder
Boston nach dem Essen Zeitschriften. Wir waren darin geschult, mit den Fluggästen eine
gepflegte Konversation zu führen. Wie unterhält man sich mit einem Bundesrat? Wie mit der
Queen?
Sie hatten die Queen mal an Bord?
Sommer: Nein, aber den Papst und einen Luxemburger Bischof. Bei dem ist mir ein
schrecklicher Fauxpas passiert: Als ich vor der Landung Schöggeli verteilte, fragte ich den
Bischof in der Routine: «Möchten Sie ein paar für Ihre Kinder mitnehmen?»
Haas: (lacht) Ich hatte mal Paris Hilton an Bord. Und entgegen ihrem Image als Partygirl war
sie hochanständig, grüsste, schlief, dankte und ging.
Andere Prominente wie das Model Kate Moss oder der Schauspieler Alec Baldwin
wurden wegen ihres Benehmens auch schon aus dem Flieger geworfen.
Haas: Pöbelnde Passagiere sind tatsächlich zunehmend ein Problem.
Sommer: Ja, das habe ich früher so nicht erlebt. Am Ende meiner Karriere hingegen schon.
Laut Bundesamt für Zivilluftfahrt in Bern haben die Schweizer Fluglinien letztes
Jahr 637 solche Zwischenfälle gemeldet, 2011 waren es noch 553. Weil nicht jedes
Ereignis gemeldet wird, sind die tatsächlichen Zahlen wohl noch höher.
Sommer: Einmal hat eine Passagierin bereits vor dem Start mit ihrem Ring dem Fluggast vor
ihr derart hart auf den Kopf geschlagen, dass dieser stark zu bluten anfing und wir ihn verarzten
mussten. Nur weil dieser - was man vor dem Start nicht darf - die Sitzlehne nach hinten gekippt
hat. Einen Rapport haben wir aber meines Wissens nicht geschrieben.
Haas: Mein Leben lang erinnern werde ich mich an einen Flug nach Mumbai. Wir hatten einen
Passagier an Bord, der - wie wir erst im Nachhinein erfuhren - an Schizophrenie litt und sich
während des Flugs in etwas hineinsteigerte. Nach drei Stunden mussten wir ihn fesseln und bis
zur Landung auf den Boden drücken. Fünf Crew-Mitglieder waren permanent mit dem
Passagier beschäftigt, der Rest versuchte, noch irgendwie den Service zu machen. Landen
wollten wir in Afghanistan nicht. Ein anderes Mal, auf meinem ersten Flug als Maître de Cabine
auf der Langstrecke, torkelte ein sturzbetrunkener Passagier beim Boarding auf mich zu. Als ich
ihm mitteilte, dass ich ihn in dem Zustand nicht mitnehmen möchte, wurde er aggressiv. Leute
können unter Alkoholeinfluss eine bedrohliche Kraft entwickeln.
Woran liegt diese Aggressivität?
Sommer: Stress, Flugangst, Alkohol, Schlafentzug, Enge . . .
Haas: Fliegen ist heute ein Massengeschäft. Mit dem Flugverkehr wachsen die Zahlen der
Übergriffe. Heute kann sich fast jeder einen Städtetrip leisten. Die guten Manieren bleiben auf
der Strecke.
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Kommen wir zurück zum Schönen: Wohin sind Sie am liebsten geflogen?
Sommer: Bei mir waren das Mumbai, Nairobi, Johannesburg.
Haas: Montreal. Die lauen Sommerabende in der Altstadt - einfach herrlich.
Sommer: Das waren richtige Reisen damals. Intern hiess es «Honeymoon-Flug», wenn man
drei Wochen lang mit einem männlichen Flight Attendant unterwegs war. Man hüpfte von einer
Destination zur nächsten. Von Zürich nach Athen, einen Tag frei, nach Bombay, zwei Tage frei,
nach Hongkong, wieder zwei Tage frei. Und zurück. In Nairobi hatte man bis zu fünf Tage frei.
Man hatte mehr Zeit.
Diese verbrachte man zusammen mit der Crew?
Sommer: Ja, die Kameradschaft war super. Da ging niemand aufs Zimmer, weil er Simsen
musste. In Mumbai nahmen wir den Zug und besuchten den Taj Mahal.
Wie sieht heute so eine Rotation aus?
Haas: Ganz anders. Die Maschinen können viel weiter fliegen, du machst keine Hüpfer mehr.
Bei den Ultralangstrecken nach Los Angeles oder Tokio hat man noch einen Tag frei. Meistens
geht es heute nach maximal 24 Stunden zurück.
Nimmt das dem Beruf nicht den Reiz?
Haas: Für mich war das immer normal so. Ich kenne die alten Zeiten nicht.
Wie viele Flüge macht man heute pro Tag?
Haas: Das sind die sogenannten Vier-leger. Zum Beispiel Zürich-Stockholm-Zürich-FrankfurtZürich. Da arbeitet man elf Stunden. Fünf bis sechs Tage am Stück.
Was bedeuten die unregelmässigen Arbeitszeiten für die Gesundheit?
Haas: Wenn du Langstrecken fliegst, kannst du dich mit der Zeit nicht mehr richtig
akklimatisieren. Das war auch mit ein Grund, warum ich im letzten Sommer aufgehört habe. Du
bist überall und nirgends richtig.
Sommer: Die Zeitverschiebung war das Schlimmste. Die Seele kam irgendwie nie mit. Ich habe
vor allem unter den Nachtflügen gelitten. In Tokio konnte ich nie schlafen. Ab 50 musste ich
reduzieren. Ich konnte nicht mehr voll arbeiten.
Haas: Heute reduzieren viele in deutlich jüngerem Alter.
Ein erfahrener Maître de Cabine sagte mal: «Geniesse es, solange du jung bist,
aber verschwinde rechtzeitig wieder.» Stimmt das?
Haas: Das trifft zu 100 Prozent auf mich zu. Ich wollte den Absprung schaffen, wenn ich noch
sagen kann: Hey, ich hatte eine megalässige Zeit. Und alles genossen. Es wäre schade, zu gehen,
wenn man es nur noch negativ sieht.
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Gab es auch familiäre Gründe, die Ihren Entscheid beeinflusst haben?
Haas: Sicher, Familie und Freunde waren stets von dir abhängig. Ich konnte auf eine
Hochzeitseinladung eines Freundes nie zu 100 Prozent zusagen. Das Soziale war zweitrangig,
und das hat mich enorm gestört. Der Beruf ist schön, aber nichts für mich, wenn ich mal
Familienvater bin.
Wie war das bei Ihnen, Frau Sommer, als Ihre Kinder kamen?
Sommer: Ich hörte mit der Arbeit auf, weil es keine Krippe oder Ähnliches gab.
Haas: Heute ist das sicher besser. Eine schwangere Frau kann temporär einen Bodenjob
übernehmen und selber sagen, wann sie aufhören will zu fliegen.
Sommer: Einfach ist es trotzdem nicht. Mir haben am Ende meiner Karriere jüngere
Kolleginnen gesagt, sie müssten ihren Verdienst in die Krippe investieren.
Verdient man als Flight Attendant genug für ein gutes Leben?
Sommer: Als alleinstehende Person nicht unbedingt. Man muss sehr sparsam sein. Man kann
sich doch heute mit 3340 Franken Anfangslohn allein keine Wohnung leisten. Das ging auch
früher nicht.
Haas: Wenn man alleine wohnen will, dann wird es schwierig.
Karrierechancen?
Haas: Hat man. Ich habe es in acht Jahren zum Kabinenchef auf den Langstrecken gebracht.
Ich hätte auch eine Kombination Boden/Luft wählen können oder ganz auf den Boden
wechseln.
Was hätte dagegen gesprochen?
Haas: Absolut nichts. Ich wollte einfach noch etwas anderes machen.
Zahlen Billigairlines besser?
Haas: Nur den Piloten. Ich glaube, das Kabinenpersonal verdient weniger.
Bei gewissen Billigairlines gibt es keinen festen Sitzplatz mehr . . .
Sommer: . . . für mich eine negative Entwicklung. Dies führt doch zu einem gewaltigen
Ellböglen. Schrecklich.
Haas: Easyjet hat das «free seating» wieder abgeschafft, da es wohl zu viele Konflikte gab. Der
Trend geht dahin, dass man etwas mehr zahlt, um seinen bevorzugten Sitz zu kaufen. Das finde
ich gut.
Wie ist das Verhältnis zwischen Piloten und Flight Attendants?
Sommer: Sehr gut, sehr kollegial.
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Haas: Aber als du angefangen hast, musste man sich noch siezen, oder?
Sommer: Genau. Geduzt hat man sich erst ab den 90er-Jahren.
Oder wenn es zu einer Affäre kam. Gab es das oft?
Sommer: (schmunzelt) Nicht mehr als in anderen Berufen.
Frau Sommer, Sie haben den Niedergang der Swissair erlebt und gingen
demonstrierend auf die Strasse. Was war das für eine Zeit?
Sommer: Ein Drama und ein Trauma, das sogar heute noch bei vielen ehemaligen Angestellten
anhält. All diese Wertschöpfung, die Swissair als Symbol für die guten Werte des Landes, das
Familiäre repräsentierte, wurde kaputt gemacht von gierigen Managern. Viele von uns gingen
auf die Strasse, weil wir einfach nicht glauben konnten, dass dies alles zerstört würde. Wir
wollten uns wehren: gegen den damaligen Bankenchef Marcel Ospel, gegen die UBS, die den
Kredit nicht rechtzeitig gegeben hatte. Das war eine Katastrophe für alle.
Viele hörten mit der Fliegerei auf. Sie nicht.
Sommer: Ich bekam die Chance, zum gleichen Lohn bei der Swiss weiterzuarbeiten. Aber viele
haben Geld verloren. Bei den Übergangsrenten zum Beispiel. Oder ich erinnere mich, wie die
Swissair-Angestellten vor dem Bankschalter im Operationcenter in langen Schlangen standen
und ihre Gelder wollten. Doch diese waren teilweise blockiert.
Sind Sie versöhnt mit der Swiss?
Sommer: Ich bin versöhnt, weil das Unternehmen mir die Möglichkeit gab, weiterzuarbeiten.
Ich bin versöhnt, weil sie es heute im Vergleich mit anderen Airlines immer noch ein Quäntchen
besser macht.
Was vermissen Sie am meisten, wenn Sie heute fliegen?
Sommer: Mir fehlt die persönliche Betreuung durch die einzelnen Flight Attendants. Aber mir
ist schon klar, dass sie einfach keine Zeit mehr haben, um mit den Passagieren zu reden.
Haas: Man könnte einiges besser machen. Aber es ist doch so: Viele Kunden wollen heute fast
nichts mehr für den Flug bezahlen, erwarten aber doch den vollen Service. Wir Jungen von der
Swiss, die die Swissair nicht mehr kannten, haben immer versucht, das Bestmögliche zu geben.
Gegenüber Passagieren, die noch die goldenen Zeiten erlebt haben, reichte das aber nie. Das
habe ich immer als schwierig empfunden.
«Ich war ja noch mehr geschockt»
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Von der viel gelobten Informantin zur unerwünschten Athletin: Julia Stepanowa. Foto: Getty Images
Dick Pound, Gründungspräsident der Welt-Anti-Doping-Agentur, zeigt sich empört über das
Startverbot von Whistleblowerin Julia Stepanowa und attackiert IOK-Präsident Thomas Bach.
Mit Dick Pound sprach Thomas Kistner, TA vom DO 4. August 2016
Der erste olympische Wettstreit ist schon ausgebrochen in Rio de Janeiro. In der einen
Ringecke: das Internationale Olympische Komitee (IOK), das weltweit massiv unter Druck steht
wegen seines sanftmütigen Umgangs mit dem staatlich gestützten Dopingsystem in Russland.
In der anderen Ecke: die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), die mit drei unabhängigen
Ermittlungsberichten dieses System hat hochgehen lassen, insbesondere durch den vor zwei
Wochen präsentierten Report des kanadischen Rechtsprofessors Richard McLaren.
In Rio startet das IOK unter dem deutschen Präsidenten Thomas Bach nun massive Angriffe
gegen die Wada: Sie habe zu spät auf schon vorliegende Informationen zu Russland reagiert. In
dieser Konfliktsituation meldet sich jetzt auch Wada-Gründungspräsident und IOK-Veteran
Dick Pound zu Wort.
Hat sich das IOK schon bei Ihnen erkundigt, ob Sie diesen Gesprächstermin
haben?
Nein. Warum?
101
Journalisten, die Eintritt ins IOK-Hotel begehren, müssen neuerdings Datum und
Zeitpunkt des gewünschten Interviews angeben - und die Person, die sie
interviewen wollen.
Seltsam.
Sie haben die ersten Ermittlungsberichte zum Doping in Russland für die WeltAnti-Doping-Agentur (Wada) erstellt und den zweiten im Januar präsentiert. Wie
weit reichten Ihre Erkenntnisse damals?
Wir haben ja damals nur in die Leichtathletik geschaut und dort ein organisiertes, staatlich
unterstütztes Systemdoping gefunden. Wir wussten auch, dass Geheimdienstmitarbeiter in den
Kontrolllaboren zugegen waren. Wir wussten aber natürlich zu der Zeit noch nicht, was die dort
genau gemacht haben, was das zu bedeuten hatte.
Brachte die Rolle des Geheimdiensts erst Grigori Rodschenko ans Tageslicht, der
Leiter des Moskauer Labors, der im Mai in die USA floh?
Ja. Zu dem Zeitpunkt, als wir mit Rodschenko in Lausanne sprachen, lebte er noch in Russland.
Er stand sehr unter Druck. Seine Aussagen waren für unsere Untersuchung damals gar nicht
hilfreich, im Gegenteil.
Wie schätzen Sie den Report ein, den Ihr vormaliger Kommissionskollege Richard
McLaren zum Staatsdoping in Russland vorgelegt hat?
Das ist eine grossartige Arbeit, besonders, wenn man sieht, dass sie in nur 57 Tagen geleistet
werden musste. Und in dieser Zeit musste ja jede Aussage von Rodschenko auch noch sehr
genau gegengecheckt werden. Am Ende gab der McLaren-Report keine Empfehlung, aber er
hält klar fest: Es war staatlich gestütztes Doping, jenseits jeden vernünftigen Zweifels.
Und was denken Sie?
Ich denke auch: Es ist staatliches Doping.
Das IOK scheint das irgendwie anders zu sehen. Es wollte bei seiner
Dringlichkeitssitzung am 24. Juli die russische Olympiamannschaft nicht
komplett ausschliessen.
Ich war sehr enttäuscht von dieser Sitzung des Exekutivkomitees. Ich hatte zwei Tage zuvor
noch einen Brief geschrieben und ihnen meinen Standpunkt klargemacht.
Sie waren enttäuscht, weil die Sache an sich so klar liegt?
In diesem staatlich gesteuerten Betrug war doch alles drin. Ein Vizesportminister, der
persönlich durch die Liste der positiv getesteten Sportler geht und entscheidet, der hier und der
da muss «gesichert» werden - und dann verschwinden diese Dopingfälle einfach. Das hat ganz
perfekt funktioniert, für viele nationale Athleten, bei Trainings- und bei Wettkampfkontrollen.
Es konnte bei den Winterspielen 2014 in Sotschi aber so nicht mehr gemacht werden, weil dort
zusätzliche Spezialisten aus aller Welt zugegen waren. Die hätten es bemerkt, wenn dieses
Prinzip des Verschwindenlassens von positiven Tests einfach so fortgesetzt worden wäre. Also
mussten sie etwas Neues erfinden. Und das war dann der komplette Austausch von Urin. Dass
Probenfläschchen geöffnet wurden.
Nicht so schlimm, dass man dafür gleich komplette Bannsprüche verhängen
müsste, findet das IOK.
Ich denke, diese Vorgänge in Russland waren so weit weg von jeder Integrität, dass alle Athleten
suspendiert gehören.
IOK-Präsident Thomas Bach findet, man müsse individuelles Verschulden
nachweisen, sonst gerieten etwaige Unschuldige in Sippenhaft.
Wir haben doch schon immer Ausschlüsse verhängt. Das IOK hat immer damit gearbeitet.
Denken Sie daran, wir haben ganz Südafrika wegen der Apartheid für viele Jahre ausgesperrt;
damals durften nicht einmal die schwarzen Athleten des Landes antreten. Und mit Kuwait ist es
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jetzt dasselbe. Dort geht es um politische Probleme mit dem Verband, und die Athleten, die
daran völlig unschuldig sind, dürfen nicht für ihr Land starten.
Hätte man die Russen mit sauberem Hintergrund unter neutraler Flagge starten
lassen können?
Auch das wäre eine bessere Lösung gewesen.
Was muss eigentlich noch passieren, wenn ein so klar belegtes Staatsdoping vom
IOK nicht entschieden bestraft wird?
Das ist ja mein Punkt. Es liegen aufgrund der Wada-Untersuchungen klare Beweise vor, dass
gedopt wurde. Es gibt klare Beweise, dass der Staat dabei war. Es gibt einen Entscheid des
Sportgerichtshofs CAS, dass der Komplettausschluss der russischen Leichtathleten juristisch
sauber ist. Ich glaube, ich wäre da an der IOK-Spitze doch auf die Knie gegangen und hätte
gesagt: «Danke, Wada, dass du diese Bürde von mir genommen hast!» Die ganze Situation war
so, als hätte man den Golfball auf dem Tee sitzen - man braucht ihn nur noch abzuschlagen.
Warum verhält sich ausgerechnet Bach so? Er ist bekannt dafür,dass er stets im
Ungefähren bleibt, jede offene Flanke zu vermeiden versucht. Warum wirkt er
jetzt plötzlich wie Putins langer Arm?
Ich habe keine Ahnung, und ich will nicht spekulieren. Aber das ist ja das Frustrierende. Bach
kam erst mit der Nulltoleranz. Nach dem McLaren-Report hat er gesagt, da brauche es ganz
extreme Sanktionen. Aber jetzt sieht es so aus, als sei alles schon vor der Exekutivsitzung
aufgestellt worden. Die fing Sonntagmorgen gegen 10 Uhr an und endete gegen 13 Uhr. Und
wenig später wurden bereits sehr präzise, juristisch saubere 13 Seiten dazu vorgelegt.
Wie kriegt man so ein Dossier in so einem Tempo hin? Indem es vorbereitet ist?
Vielleicht? Wäre eine Möglichkeit.
Das IOK pocht darauf, dieser Beschluss sei einstimmig gewesen.
Ich glaube, Claudia Bokel, die Athletenvertreterin in der Exekutive, hat sich enthalten. Und
Craig Reedie, der ja auch Präsident der Wada ist, galt wegen dieser Funktion als befangen und
nahm nicht teil. Dafür aber Ugur Erdener, der Chef der IOK-Medizinkommission. Der ist zwar
auch Wada-Vize, aber bei ihm sah man keinen Interessenkonflikt.
Ist Bach in Erklärungsnot?
Je mehr das IOK die Entscheidung zu erklären versucht, die es da getroffen hat, umso konfuser
wird alles. Ich finde, es geht nicht, eine moralische Frage wie diese nicht anzugehen.
Rechnen Sie damit, dass vor Beginn der Spiele noch viele Russen ausgeschlossen
werden?
Diese Entscheidungen liegen bei den Verbänden, ich weiss es nicht. Aber manche der
betroffenen Sportarten suchen Veranstaltungsorte
Wie sehen Sie den Umgang des IOK mit Julia Stepanowa: Ist es richtig, die
Whistleblowerin auszuschliessen, die so viel für die Aufklärung geleistet hat?
Ich finde das beunruhigend. Der Umgang mit Stepanowa verstärkt noch den Riesendruck. Nach
dem Wada-Code darf sie starten, und der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) hat sie ja an der
EM in Amsterdam bereits laufen lassen.
Wie kommt das IOK überhaupt dazu, den Fall Stepanowa durch das hauseigene
Ethikkomitee entscheiden zu lassen? Wenn sie doch von allen zuständigen
Organen freigepaukt wurde?
Es gibt keinen Grund dafür, ich sehe keinen. Ich war ja noch mehr geschockt, als ich das hörte.
Was glauben Sie, wird passieren, wenn in Rio die ersten russischen Olympiasieger
auf dem Treppchen stehen?
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Ich glaube, die Leute vergessen das, sobald die Olympiabilder da sind. Dann ist zwei Wochen
lang alles irrelevant.
Dick Pound (74) Der Kanadier ist früherer Olympiaschwimmer, Alterspräsident
des IOK und Gründungspräsident der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) 19992007.
Wer kennt Mateo Sanz Lanz?
Schnell im Wasser: 2013 entschloss sich Mateo Sanz Lanz, statt für Spanien für die Schweiz zu starten.
Foto: P. Martinez (Sailing Energy)
Auf der spanischen Mittelmeerinsel Formentera sind sie stolz auf ihren 22-jährigen WeltklasseWindsurfer. Medaillen jagt er in Rio aber für ein Land, in dem sein Name kaum einem etwas
sagt: die Schweiz.
Von Peter Herzog, Sant Francesc de Formentera, TA vom DO 4. August 2016
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Spaziert man mit Mateo Sanz Lanz auf Formentera in ein Café oder geht in den Supermercado,
dauert es nicht lange, und er wird angesprochen. Das kann sich zuweilen zu einer längeren
Plauderei ausweiten. Mateo Sanz Lanz kennt fast jeder der Einheimischen.
Er ist der erste Olympiateilnehmer Formenteras und wurde deswegen vom Bürgermeister der
kleinsten der vier Baleareninseln bei einem Empfang offiziell geehrt. Doch der 22-jährige
Windsurfer startet in der Klasse RS:X nicht für Spanien, sondern für die Schweiz. In unserem
Land ist Mateo Sanz Lanz der grosse Unbekannte der Olympiamannschaft und lediglich
Insidern des Segelsports ein Begriff. Auch er bekennt, dass er die Schweiz praktisch nicht kennt.
«Ich habe bisher vielleicht zehn Tage in der Schweiz verbracht, wenn ich von Swiss Sailing oder
Swiss Olympic zu Tests aufgeboten wurde.» Er betont aber: «Ich bin sehr glücklich und stolz,
für die Schweiz starten zu dürfen.»
Will man den Sohn eines Spaniers und einer Schweizerin besuchen, muss man nach Ibiza
fliegen. Und dort auf die Fähre umsteigen, die einen in einer halben Stunde nach Formentera
bringt. Die Insel hat knapp 8000 Einwohner und misst an der längsten Stelle 23 Kilometer. Der
höchste Punkt ist die Hochebene La Mola, gerade mal 192 Meter über Meer.
Im Winter sei es beschaulich hier, manchmal auch langweilig, erzählt Sanz Lanz und steuert
den kleinen Fiat seiner Mutter durch die engen Strassen. Jetzt im Hochsommer aber wuselt es
auf der Insel. Rund 40000 Besucher kommen im Juli und August nach Formentera, in der
grossen Mehrzahl Italiener. Das Katalanisch, das die Einheimischen sprechen, hört man im
Sommer kaum. In den Restaurants, an den Stränden, in den Hotels, überall wird Italienisch
parliert.
200 Tage im Jahr unterwegs
Sanz Lanz biegt rechts ab auf einen holperigen und staubigen Weg, der bis zu einem Pinienwald
führt. Dort steht das Häuschen, das Mateos Mutter Barbara mit ihrem Mann gebaut hat. Stein
um Stein, während mehrerer Jahre. In dieser Zeit wohnten sie in einem unfertigen Haus, in
einem Rohbau. «Wir konnten nur bauen, wenn wir wieder etwas Geld hatten», erzählt sie.
Während der Sommermonate haben die beiden gearbeitet, sie an der Hotelréception, ihr Mann
Rafael jobbte unter anderem als Kellner. Und im Winter arbeiteten sie am Häuschen, mit
Ausdauer, Sorgfalt und Liebe zum Detail, wie man schnell bemerkt. «Ich habe in dieser Zeit
gelernt, Pflaster anzurühren, Fliesen auf den Boden zu verlegen, Wände zu streichen. In jedem
Winkel des Hauses habe ich Hand angelegt», sagt Barbara Lanz.
Ein Wohnraum mit Küche, zwei kleine Schlafzimmer, hier ist Mateo Sanz Lanz aufgewachsen.
Anfangs gab es kein fliessendes Wasser, das Bad wurde erst nachträglich angebaut. Strom kam
lange Zeit nur vom Solarpanel, ehe die Gemeinde eine Stromleitung verlegte, da in der
Nachbarschaft Villen gebaut wurden.
In der Mittagshitze wird das Zirpen der Zikaden in den Pinien immer lauter. Sanz Lanz geht zu
einem kleinen Schuppen, öffnet die Tür. Dort hat er seine Windsurfutensilien, vor allem Segel
und Gabelbäume, verstaut. Und mitten im Schuppen steht ein Ruderergometer für das
Krafttraining.
Seine Mutter stammt aus Lotzwil bei Langenthal und wuchs in Melchnau in der Nähe des
Napfgebietes auf. Als sie 1983 als 23-jährige Frau nach Formentera zog, war die Insel ein
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Anziehungspunkt für Hippies. Die Liebe zu Rafael und das ungezwungene, einfache Inselleben
hätten sie hierher verschlagen, sagt sie. Damals gab es noch kaum Autos auf der Insel, auch kein
Spital. Um zehn Jahre später ihren Mateo auf die Welt zu bringen, musste sie mit der Fähre
nach Ibiza ins Krankenhaus fahren.
Mittlerweile ist sie geschieden, sie lebt mit Mateo im kleinen Häuschen und arbeitet immer
noch im selben Hotel. Seit der Sohn zur Spitze der Windsurfer zählt, ist er rund 200 Tage im
Jahr weg. In breitem Berndeutsch erklärt Barbara Lanz, sie habe sich immer bemüht, den
Kontakt mit den Familienangehörigen aufrechtzuerhalten. Und wenn sie in die Schweiz reise,
das saftige Grün der Landschaft sehe, die Vertrautheit der Sprache höre, empfinde sie
Heimatgefühle. Dennoch könne sie sich nicht vorstellen, einst wieder in die Schweiz
zurückzukehren.
Der Zwist mit den Spaniern
Als Mateo noch ein kleiner Bub war, nahm sie ihn jeweils mit ins Hotel, wo sie arbeitete. Mateo
aber war es langweilig. So meldete sie ihn in der unmittelbar neben dem Hotel gelegenen
Segelschule an. Nach einer Woche hatte er genug vom Segelboot. Er wollte windsurfen, weil er
gesehen hatte, dass die Surfer schneller waren als die Segler. Praktisch von der ersten Stunde an
wurde er von einem hervorragenden Coach betreut, der mittlerweile sein väterlicher Freund
geworden ist. Es ist der Spanier Asier Fernandez, Chef der Segel- und Surfschule und
Olympiasechster im Windsurfen in Barcelona 1992.
Fernandez erkannte schnell das Talent von Sanz Lanz, der als Junior den Kollegen davoneilte
und an den Weltmeisterschaften Podiumsplätze holte; er wurde Zweiter an der U-19-WM und
gewann die U-21-WM. Damals segelte er noch unter der Flagge des spanischen Verbandes. Es
gab indes Dissonanzen. Sanz Lanz hätte nach Santander übersiedeln sollen, in das
Leistungszentrum des spanischen Segelverbandes am Golf von Biskaya. «Aber mein Trainer
und ich sahen nicht ein, weshalb ich das tun sollte. Hier auf Formentera bin ich mit dem Velo
von zu Hause in 15 Minuten am Meer. Ich kann dreimal am Tag trainieren, im Winter wird es
nie kalt, die Bedingungen sind ideal.» Sanz Lanz ist nicht gut auf Spaniens Segelverband zu
sprechen, er erzählt von der ungleichen Behandlung gegenüber Ivan Pastor, der mittlerweile 36
Jahre alt ist und in Rio zum vierten Mal an Olympia startet.
Als Sanz Lanz den Nationenwechsel anstrebte, entstanden noch mehr Schwierigkeiten mit dem
spanischen Verband. Im Oktober 2013 erteilte dieser dann doch die Freigabe - rechtzeitig, um
für die Schweiz in Rio teilnehmen zu dürfen.
«Bei der Olympiaqualifikation hat Mateo seinen ehemaligen Teamkollegen Ivan Pastor
geschlagen. Der kann froh sein, dass Mateo nicht mehr für Spanien antritt», sagt Coach
Fernandez, der vor allem die Zuverlässigkeit, den Trainingsfleiss und die Ausgeglichenheit
seines Schützlings hervorhebt. Und Mutter Barbara sagt: «Ich habe versucht, ihm Tugenden wie
Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit zu vermitteln. Den Mut und die Kraft hat er von seinem
Vater.»
Die Menschen auf Formentera würden hinter ihm stehen, auch wenn er nun für die Schweiz
starte, sagt Sanz Lanz. «Wir auf der Insel sind eigenständig und lassen uns von Madrid nicht
gerne dreinreden. Die Formentenser verstehen meinen Entscheid.»
106
Am liebsten Leichtwind
Das Olympia-Regattarevier in der Guanabara-Bucht vor Rio gilt als Leichtwindrevier. Ideal für
die Stärken von Sanz Lanz. «Bei Leichtwind zwischen 8 und 11 Knoten ist Mateo der schnellste
der 36 Teilnehmer, zwischen 11 und 15 Knoten gehört er zum Kreis der Schnellsten», sagt Coach
Fernandez. Bei viel Wind fehlen ihm auf dem 2,86 m langen Brett mit einer Segelfläche von 9,5
Quadratmeter indes die Kilos. Mit seinen 1,71 m und 62 kg ist Sanz Lanz ein Leichtgewicht. Sein
Coach sagt: «Bei Starkwind wird es für ihn gegen die 90-kg-Athleten schwierig.»
Mateo Sanz Lanz schweigt zu dieser Aussage, zupft sich unter der brütenden Sonne sein
Leibchen zurecht. «Suia» steht in grossen Lettern auf dem Rücken. Der Insulaner trägt den
Schriftzug des Binnenlandes mit Stolz.
«Die Castros haben ihr eigenes Volk kastriert»
Ein Leben wie in Zeitlupe: Jugendliche in Havanna vergnügen sich am Malecón. Foto: Ramona Espinosa
(AP, Keystone)
Der Politologe Dimas Castellanos sagt, dass die Kubaner nach wie vor nicht für sich selber
sorgen können. Sie sind auf fremdes Geld angewiesen. Und das Castro-Regime will kein Ende
nehmen: Ral, 85-jährig, regiert seit zehn Jahren, Fidel wird 90.
Mit Dimas Castellanos sprach Oscar Alba, TA vom DO 4. August 2016
Wie geht es Kuba nach zehn Jahren mit Castro II?
Wieder mal mehr schlecht als recht. Die Wirtschaft schrumpft seit Monaten. Sie ist nach wie vor
zu 70 Prozent in staatlicher Hand und ein Desaster. Wir leiden unter der Krise Venezuelas,
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unserem engsten Verbündeten. Weil das Land massiv weniger Erdöl liefert, stehen Autos,
Lastwagen und Busse still, es gibt Kurzarbeit und Stromunterbrüche.
Bei Touristen und Prominenten aber ist Kuba gross in Mode. Die letzte
Nostalgiewelle vor dem Tod der Castros?
Ach ja, das alte, aus der Zeit gefallene Kuba - diese nostalgische Verklärung im Ausland hat
nochmals einen gewaltigen Schub erlebt. Kuba ist das letzte Relikt, die Kulisse eines alten
Traums. Der Traum, dass eine andere Welt vielleicht doch hätte möglich sein können. Im
Ausland denkt man seit Jahren: Auf nach Kuba, bevor es zu spät ist! Doch die Touristen müssen
sich nicht beeilen, bei uns läuft die Zeit nach wie vor in Zeitlupe. Wer noch das alte Kuba sehen
möchte, kommt eigentlich immer zu früh.
Aber es tut sich doch was: Das Land verändert sich.
Das stimmt. Im Kuba unter Ral sind zwei bedeutende Dinge geschehen: Im Gegensatz zu Fidel
ist Ral bereit, Dinge zu verändern. Allein diese Bereitschaft ist für unser Land ungeheuer
wichtig. Das Zweite ist der Friedensschluss mit den USA. Diese beiden völlig neuen Situationen
erschüttern Kuba im Innersten. Äusserlich zeigt sich das noch kaum, aber Kuba bewegt sich,
auch wenn man nicht sagen kann, wohin. Es ist ein Zickzack, ein Vor und Zurück, einige Dinge
werden besser, andere schlechter.
Wie sieht die Bilanz aus?
Negativ. Die vereinfachte Zusammenfassung von Rals Amtszeit lautet: Für Touristen und
Einheimische mit Geld bietet das Kuba von heute zwar mehr als noch vor zehn Jahren, für die
Mehrheit der Kubaner aber sind die Lebensumstände gleich geblieben oder haben sich gar
verschlechtert. Der Staat streicht Leistungen und Subventionen, gleichzeitig ist das Leben
teurer geworden. Kurz: Reist man heute durch Kuba, sieht man mehr Wohlstand und mehr
Armut als früher. Für uns ist das in diesem Ausmass neu.
Kuba auf dem Weg zur grossen sozialen Ungleichheit?
Noch haben wir nicht die gewaltigen Gefälle zwischen Arm und Reich wie in anderen Ländern.
Aber Kuba steht am Scheideweg. Man darf sich nicht täuschen lassen von den neuen
Restaurants, den renovierten Wohnungen für Touristen und den polierten Oldtimern. Fast
alles, was neu ist und glänzt, ist mit Geld aus dem Ausland finanziert, vor allem von
Familienangehörigen im Exil. Nicht selten stecken auch Söhne, Enkel, Neffen und andere
Verwandte der hiesigen Machtelite dahinter. Die Menschen wissen: Ohne fremdes Geld und
gute Beziehungen sind die neuen Privatgeschäfte nicht möglich. Dieses Gefühl ist Gift für eine
Gesellschaft.
Es fällt auf, dass sowohl die Besitzer wie auch die Besucher dieses neuen,
trendigen Kuba überwiegend Weisse sind.
Das ist so, und darin zeigt sich, dass die Revolution entgegen aller Propaganda ein altes, tief
verwurzeltes Problem bis heute nicht gelöst hat: den Graben zwischen Schwarz und Weiss. Die
Weissen sind nicht nur in der politischen und wirtschaftlichen Elite der Castros vorherrschend,
sondern auch im Exil. Viel mehr Weisse als Schwarze haben Kuba seit der Revolution 1959
verlassen. Die Milliarden, die aus dem Exil zu uns fliessen, das ist grösstenteils Geld von
Weissen für ihre weissen Angehörigen. Auf der Insel und wirtschaftlich zurück bleiben die
Armen und Alten, und die sind mehrheitlich schwarzer Hautfarbe.
Eine andere Altlast hingegen hat Ral beseitigt: Er hat mit den USA Frieden
geschlossen.
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Das ist ein grosses Verdienst von Ral und Obama. Vor zehn Jahren wäre das noch nicht möglich
gewesen. Ral ging geschickt vor. Ihm hat es nie gefallen, dass Kuba so stark von Venezuela
abhängig war wie einst von der Sowjetunion. Er war sich stets bewusst, dass diese
Überlebenshilfe irgendwann enden würde. Diese totale Verbrüderung mit Chávez Venezuela ist
auf Fidels Mist gewachsen. Chávez starb 2013, Ende 2014 schlossen Ral und Obama Frieden.
Und Fidel? Er lebt immer noch.
Für Ral ist das politisch ein Problem. Die zehn Jahre haben gezeigt: Solange Fidel lebt, ist Ral
nicht frei in seinem Tun und Handeln, und wir wissen nicht, wer und wie er wirklich ist. In
Kuba herrscht eine Art Dualität der Macht: Es gibt die reale Macht von Ral und seinen
Getreuen, die das Land regieren, und es gibt die symbolische Macht von Fidel, die man nicht
unterschätzen darf. Immer wenn Ral einen grösseren Schritt wagt und es der Revolution ans
Eingemachte geht, taucht Fidel wie der Heilige Geist auf und erhebt seinen gefürchteten
mahnenden Zeigefinger. Ich bin überzeugt, ohne Fidel im Nacken hätte Ral das Land stärker
verändert.
Wäre eine rasche Wende besser?
Nein, eine solche würde Kuba nicht verkraften. Unsere Geschichte zeigt, dass es, wenn es
schnell ging, immer blutig wurde. Unser Volk, das seit fast 60 Jahren keine Freiheiten mehr hat,
quasi über Nacht in die Freiheit zu entlassen, nein, das würde nicht gut gehen. Die Freiheit
würde in Zügellosigkeit ausarten und sehr schnell ein paar wenige Gewinner und sehr viele
Verlierer hervorbringen. Ein Kuba ausser Kontrolle, davor habe ich Angst.
Viele Menschen wünschen sich aber, es ginge schneller vor- und aufwärts.
Ich wünsche mir das auch, aber die alten Männer an der Macht können und wollen nicht
schneller und sind auch geistig und ideologisch unfähig, neu zu beginnen. Und: Sie fürchten
nichts so sehr wie Kontroll- und Machtverlust. Ral weckt zwar immer wieder Hoffnungen und
Erwartungen, die dann aber enttäuscht werden. Das geht nun schon zehn Jahre so und
ermüdet. Irgendwann magst du nicht mehr warten. Das hat zu diesem neuen massiven Exodus
geführt. Jeden Monat verlassen Tausende die Insel, vor allem Junge. Sie sehen hier für sich
keine Zukunft, zeugen deshalb immer weniger Kinder, wandern aus. Die Alten dagegen bleiben.
Kuba wird immer mehr zu einem Altersheim.
Was sehen Sie, wenn Sie auf die Ära Castro zurückblicken?
Das Schlimmste, was die Castros Kuba angetan haben: Sie haben ihr eigenes Volk wirtschaftlich
und politisch kastriert. Wir haben nichts zu sagen und können nicht für uns selbst sorgen. Das
sozialistische Kuba ist abhängig vom fremden Geld aus der kapitalistischen Welt, vom
Tourismus, den Überweisungen von Familienangehörigen im Exil. Weil unsere Regierung den
Menschen nicht erlaubt, selbst für ihr Leben aufzukommen, hat sie uns zu Bittstellern, Bettlern
und Tricksern gemacht. Viel zu viele Kubaner denken Tag für Tag nur: Wie kann ich von einem
Touristen oder sonst mit einem schnellen Geschäft ein paar Dollars ergattern? Wann kommt die
nächste Überweisung aus Miami? Wir bestehlen und betrügen den Staat, weil wir uns von ihm
betrogen und bestohlen fühlen. Das ist der grösste Schaden, den die Castros angerichtet haben.
Sie haben so viel Mangel und Bedürfnisse geschaffen, dass wir für ein paar Dollars heute zu fast
allem bereit sind. Unter einer souveränen und selbstbewussten Nation stelle ich mir etwas
anderes vor.
Immer mehr Menschen trauen sich, Regierung und Zustände im Land zu
kritisieren. Alles wird gefilmt und ins Internet gestellt. Weshalb hat sich aus
diesem Unmut keine breite Oppositionsbewegung entwickelt?
109
Weil es bei uns kein Recht auf Versammlungsfreiheit gibt und die Regierung sofort mit harter
Hand gegen Protestierende vorgeht. Nach wie vor fürchten sich die Menschen mehr vor der
Repression des Staates als vor der lebensgefährlichen Flucht übers Meer. Mit den Reformen
und neuen Medien wird es für die Machthaber jedoch schwieriger, Kritik zu unterdrücken.
Immer öfter kommt es zu kleinen, spontanen Protesten und wüsten Auseinandersetzungen mit
der Polizei. Es gibt immer mehr mutige Menschen, die sich nicht mehr alles gefallen lassen,
mitreden und mitbestimmen wollen. Bei vielen kommt erstmals das Gefühl auf, dass es auch
von ihnen abhängt, wie unsere Zukunft aussieht. Das ist ein Hoffnungsschimmer.
Kick auf Kopfdruck
Alles bereit fürs «Tipp-Kick»-Spiel. Foto: PD
Fussballsimulationen gibt es schon seit den 20er-Jahren. Gespielt werden sie aber mit den
Fingern.
Von Anna Baumgartner, TA vom FR 29. Juli 2016
Der Platz zuunterst im Regal lässt vor allem einen Blickwinkel zu: den auf Füsse. Aus dem
untersten Regal im Sportmuseum sieht man viele davon - grosse Füsse, kleine Füsse, stinkende
Füsse. Nun mag einer denken, das sei ja kein Problem, in der Schachtel, die da unten liegt,
befindet sich ja ein Fussballbrettspiel. Doch da beginnt der Irrtum. Denn das Fussballbrettspiel
wurde entwickelt, um mit den Fingern gespielt zu werden.
Zu Beginn der 20er-Jahre hatte sich der Fussball in Deutschland langsam etabliert. Es wurden
viele Mannschaften gegründet und Meisterschaften ausgetragen. Das brachte einen
Möbelfabrikanten aus Stuttgart auf eine Idee: Dieser Fussball würde sich doch auch gut als
Brettspiel machen. Sein Patent wurde drei Jahre später vom Exportkaufmann Edwin Mieg
erworben und umgesetzt.
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Es bestand aus Bleifigürchen, die einen Knopf auf dem Kopf hatten. Wurde dieser gedrückt,
schnellte das rechte Bein hervor. Der Ball war eigentlich gar keiner, denn er hatte 12 Ecken.
Doch so kullerte er nicht ständig vom Tisch. Mieg nannte das Spiel «Tipp-Kick».
Verkauf vom Treppenabsatz
Seine ersten Artikel verkaufte er 1926 auf der Leipziger Spielmesse. Da er aber kein Geld für
einen Stand hatte, bot er sein Produkt auf dem Treppenabsatz vor der Halle an. Zwar wurde er
bald von Wachleuten vertrieben, doch er hatte schnell gemerkt, wie gut sein Spiel ankam. Mieg
begann es zu vertreiben, und 1938 kaufte er von den Einnahmen ein Firmengebäude in
Schwenningen, um die Figürchen aus Zink selbst zu giessen.
Die WM 1954 brachte den grossen Durchbruch: 180000 «Tipp-Kick»-Spiele wurden verkauft.
Und die Entwicklung ging weiter: Bald kam der fallende Torhüter (per Knopfdruck konnte er
nach rechts oder links hechten), mit Einführung der Bundesliga gab es Spieler in den
Vereinsfarben, die Tore erhielten Netze, und 1974 kam der «Star-Keeper» auf den Markt: ein
Torhüter, der auch nach vorne hechten konnte.
«Tipp-Kick» blieb ein Familienunternehmen. Viele Jahre wurden die Figürchen in den Stuben
im Schwarzwald in Heimarbeit angemalt. Auch heute wird noch in der Schwenninger Fabrik
gearbeitet, angemalt werden die Spieler aber zu 80 Prozent in Tunesien. Und auch der
Absatzmarkt kam über die deutsche Sprachgrenze hinaus: Mittlerweile gibt es eine «TippKick»-Vertretung in Australien und Südafrika.
Der Vorreiter
So archaisch es heute wirkt: «Tipp-Kick» kann für sich beanspruchen, die erste
Fussballsimulation gewesen zu sein. Es ist der Vorreiter der heutigen Fussball-Videospiele wie
«Fifa» oder «Pro Evolution Soccer». Fingerspitzengefühl braucht es auch heute noch, um
seinen Spieler richtig auf dem Feld zu positionieren und Tore zu erzielen. Statt auf Köpfe drückt
man nun halt auf Knöpfe.
Das Cover der «Fifa»-Version 2017 wird Marco Reus zieren. Der Stürmer von Dortmund ist
aber auch immer noch als «Tipp-Kick»-Figürchen erhältlich. Es gibt ihn in drei verschiedenen
Varianten: mit Klumpfuss, Rundfuss oder Spitzfuss.
«Das sind fehlgeleitete Wahnsinnige»
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Afghanen schaufeln Gräber nach dem verheerenden Anschlag in Kabul mit mehr als 80 Toten. Foto:
Massoud Hossaini (Keystone, AP)
Mit Shauki Allam sprach Paul-Anton Krüger, Kairo, TA vom FR 29. Juli 2016
Sind Attentäter, die sich auf Terrororganisationen wie den IS berufen, Teil des
Islam? Wie sehen Sie das als islamischer Theologe und Rechtsgelehrter?
Diese Angreifer, egal wo sie ihre abscheulichen Verbrechen verüben, haben keine Beziehung
zum Islam. Solche Verbrechen sind nicht Teil des Islam.
Aber die Täter berufen sich auf den Islam. Können Sie diesen Zusammenhang
einfach leugnen?
Es ist ein bekannter Fakt, dass solche Attacken nichts mit dem Islam zu tun haben. Wir müssen
uns die richtigen Fragen stellen: Wie gehen wir mit solchen Angriffen um? Wie können wir der
Radikalisierung von Menschen und dem Terrorismus entgegentreten? Ich habe auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos eine Reihe von korrigierenden und präventiven Massnahmen
vorgeschlagen. Und ich habe diese abscheulichen Verbrechen mit Krebszellen verglichen, die
wir herausoperieren müssen, damit sie sich nicht weiter ausbreiten.
Der IS positioniert sich als religiöse Autorität. Er gibt Fatwas heraus, um seine
Taten zu rechtfertigen.
Sie stellen sich als religiöse Institution dar, und wir haben all ihre fehlgeleiteten Fatwas
gesammelt und widerlegt. Sie haben keinerlei religiöse Glaubwürdigkeit oder anerkannte
theologische Ausbildung. Alle diese selbst erklärten Aussagen halten keiner wissenschaftlichen
Prüfung durch anerkannte Instanzen des Islam stand. Wenn wir religiöse Texte verstehen
wollen, müssen wir uns an die Experten halten, die sich die Grundlagen angeeignet haben, um
Aussagen über die Bedeutung dieser Texte treffen zu können.
Sind IS-Anhänger fehlgeleitete Muslime?
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Diese Leute sind fehlgeleitete Wahnsinnige, die mit allen Mitteln bekämpft werden müssen,
militärisch und ideologisch. Muslime sind dabei mehr als alle anderen Opfer.
Wie muss dieser Kampf aussehen?
Das ist ein vielfältiger, komplizierter Prozess, der nicht nur religiöse Führer angeht. Aber wir
stehen zuvorderst bei der Bekämpfung der Ideologie dieses angeblichen Islamischen Staates.
Wir haben eine eigene Beobachtungsstelle, haben die Aussagen dieses angeblichen Islamischen
Staates und andere radikale Fatwas analysiert und widerlegt.
Wirken die Gegenmassnahmen?
Wir haben den Zerfall des IS vorausgesagt. Wir können aber nicht auf isolierten Inseln leben.
Wir müssen zusammenarbeiten, um die Welt von dieser Bedrohung zu befreien.
Sie sprechen vom Zerfall des IS. Er ist militärisch unter Druck. Reicht das, um
seine Ideologie zu besiegen?
Wir können relativ einfach einen militärischen Sieg gegen den IS erzielen, aber es ist wichtiger,
auf dem ideologischen Schlachtfeld zu gewinnen. Wir müssen uns die historische Erfahrung in
Erinnerung rufen, die uns lehrt, dass radikale und korrupte Ideen nur von kurzer Lebensdauer
sind. Im Koran heisst es sinngemäss: Was der gesamten Menschheit dient, wird von Dauer sein.
Aber die Verantwortung liegt auf unseren Schultern, diese ideologische Auseinandersetzung zu
suchen und die Jugend gegen radikale Ideen zu immunisieren.
Wie machen Sie das?
Wir müssen nicht nur den Irrglauben der radikalen Gruppen widerlegen, sondern auch
Alternativen bieten, ein richtiges Verständnis unserer Glaubenstraditionen für junge Menschen.
Aus diesem Grund haben wir eine Reihe von Initiativen aufgelegt, die sich an Jugendliche
richten. Wir wollen ihnen eine Wegweisung an die Hand geben für ein korrektes, moderates
Verständnis des Glaubens und unserer Traditionen.
Die Jugend, von der Sie reden, kommuniziert aber über ihre Handys und über das
Internet.
Wir haben eine Facebook-Seite auf Englisch und Arabisch gestartet, auf der wir die
Argumentationen des IS widerlegen. Dieser setzt stark auf die sozialen Medien, kommuniziert
in vielen Sprachen. Also müssen auch wir dort präsent sein. Der IS gibt auf Englisch sein
Magazin «Dabiq» heraus. Wir haben ein Onlinemagazin namens «Insight» gegründet, das sich
mit den Inhalten von «Dabiq» auseinandersetzt und sie widerlegt. Und das findet gerade bei
jungen Leuten grosse Beachtung. Wir haben als Kleriker zwei Aufgaben: präventiv, indem wir
verhindern, dass die Jugend auf radikale Ideen hereinfällt; und korrigierend, indem wir die
Aussagen radikaler Kräfte widerlegen, die vorgeben, sich auf den Islam zu berufen.
Worauf basiert der moderate Islam, den Sie propagieren? Offenheit gegenüber
anderen Religionen,ob in Ägypten oder dem Westen?
Offenheit ist ein wichtiges Kennzeichen des moderaten Islam, Offenheit gegenüber Partnern,
mit denen wir zusammenarbeiten müssen. Die brüderlichen Beziehungen, die wir zu den
Menschen christlichen Glaubens in Ägypten pflegen, die wir als gleichwertige Bürger unseres
einen Landes betrachten und nicht als Minderheit. Das reine und ursprüngliche Verständnis
des Glaubens, das allumfassend ist und alle Bedürfnisse von Muslimen unabhängig von Zeit
und Ort erfüllen kann. Glauben, in diesem Sinn verstanden, beinhaltet eine moderate
Sichtweise aller wichtigen Fragen, mit denen wir in unserer internationalen Gemeinschaft zu
tun haben.
Shauki Allam
Shauki Allam (54) ist Grossmufti von Ägypten. Der Rechts- und Islamgelehrte leitet das
ägyptische Fatwa-Amt. Es ist eine der anerkanntesten Institutionen des sunnitischen Islam.
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Ringe für Reiche
Rio de Janeiro ist die Stadt der 1000 Elendsquartiere. Aber die Spiele erschliessen ein Viertel
für die Oberklasse. Nach dem Ende des olympischen Karnevals droht ein jahrelanger
Katzenjammer.
Eine Reportage von Andreas Fink, Rio de Janeiro, TA vom DO 28. Juli 2016
Das gigantische olympische Dorf in Rio de Janeiro
Mit steinerner Miene blickt er über dieses Spektakel von Stadt. Seit bald 85 Jahren wacht der
Cristo Redentor über Rio de Janeiro, diese 12-Millionen-Metropole zwischen Bergen, Bucht und
Ozean, die sie «cidade maravilhosa» nennen, die «wunderbare Stadt».
Vom Gipfel des Corcovado in 710 Meter Höhe war Christus Zeuge, wie Wolkenkratzer aus
tropischen Gärten emporschossen, wie sich Elendsquartiere über die Hänge ausbreiteten, wie
Ipanema und Leblon von Strandkolonien zu Luxusquartieren mutierten. Wie Millionen Arme
aus Brasiliens Nordosten zuzogen. Und wie Drogengangs und Polizeischwadrone weite Teile der
Stadt unterwarfen. Zu Füssen des Cristo regierte Gétulio Vargas, der populistische Präsident, es
zechte Ronald Biggs, der legendäre Räuber des britischen Postzugs, und es stolzierte - tall and
tanned and young and lovely - Helosa Eneida Menezes Paes Pinto, das auf ewig besungene Girl
from Ipanema. Millionen Touristen hat der Gottessohn aus Stahlbeton unter seinem Monument
ausgestanden, ebenso wie zwei (verlorene) Weltmeisterschaften, sechsmal Rock in Rio und 84
Karnevals. Er wird auch die Olympischen Spiele überstehen.
Aber schafft Rio das auch?
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Rio hat sich schön gemacht
«Welcome to Hell» begrüsste Anfang Juli ein in Englisch getextetes Transparent Ankömmlinge
am Flughafen Antônio Carlos Jobim. «Polizisten und Feuerwehrleute werden nicht bezahlt.
Wer nach Rio kommt, ist nicht sicher.» Sieben Wochen vor den Spielen hatte die Regierung des
Bundesstaates Rio de Janeiro die «calamidade pblica» erklärt, den öffentlichen Notstand, der
eigentlich nur ausgerufen wird nach Naturkatastrophen. Doch Rio verheerte kein Sturm, kein
Erdbeben und keine Monsterwelle. Die Stadt der 1000 Elendsviertel schickt sich lediglich an,
Olympische Spiele auszurichten, obwohl Lehrer, Ärzte und Sicherheitskräfte nicht bezahlt
werden können.
Rio, das ist unübersehbar, hat sich schön gemacht für den olympischen Karneval, mit Asphalt
und Anstrich, Tunnels und Trams, permanenten und temporären Sportstätten und einem
Olympiadorf aus 31 neu errichteten Wohntürmen. Knapp 18 000 Sportler und Betreuer aus 206
Teilnehmerländern sollen kommen, eine halbe Million Besucher und 85 000 Polizisten und
Soldaten, abgestellt von Stadt, Bundesstaat und Zentralregierung. «Olympia ist wie mehrere
Grossereignisse gleichzeitig», erklärte Bürgermeister Eduardo Paes kürzlich seinen Bürgern. Als
gäbe es wirklich noch jemanden, der das nicht mitbekommen hätte.
«Ist die Avenida Rio Branco offen?», fragt im Zentrum ein Lieferwagenchauffeur den Fahrer
des neben ihm haltenden Busses. «Ja, aber für LKWs erst ab Samstag 14 Uhr!» Solche Dialoge
sind Alltag in der Stadt, in der seit Jahren Viadukte abgetragen, Einbahnstrassen umgedreht,
Buslinien umgeleitet, Radwege ausgeschildert und Strassenbahnschienen neu verlegt werden.
Rios geschäftiges Zentrum wurde vom Verkehrsknoten zur Verknotung.
Nun, in der olympischen Sonderperiode, dürfen Lastwagen Innenstadt und Südzone nur noch
nachts befahren, so bleibt mehr Platz für die Tausende Kleinbusse mit dem Olympialogo, die
Sportler, Betreuer und Funktionäre zwischen dem Flughafen und den vier Veranstaltungszonen
verfrachten sollen. Auf den wichtigsten Avenidas werden eigene Spuren reserviert, die blauen
Markierungen sind schon aufgesprüht. Und wenn alles gut geht, soll am 1. August die U-BahnLinie4 endlich ihren Vollbetrieb aufnehmen - genau vier Tage vor der Eröffnung der Spiele.
Immerhin: Das sportlich Wichtige steht. Und es steht grossteils weit weg vom Sandstrand von
Copacabana, den Kopfsteinpflaster-Trottoirs des alten Rio und der Guanabara-Bucht, deren
stinkende Fluten nie wie zugesagt geklärt werden konnten.
Ein Investor als Olympiasieger
Aus der Vila Olmpica können die Sportler den 35 Kilometer entfernten Cristo nicht sehen,
stattdessen bietet die Aussicht vierspurige Schnellstrassen, Spiegelglasfassaden und die
protzigsten Shoppingmalls Brasiliens. Mit seinen Apartmentblocks zwischen Strand und
Lagunen wirkt das Viertel Barra da Tijuca, als hätte ein überirdischer Riese einen Stadtteil von
Miami zwischen die Küstenberge fallen lassen. Lange lebten hier vor allem Mücken, Möwen und
Kaimane, in den 1950ern wurde der mit 18Kilometern längste Strand auf dem Gemeindegebiet
Rio zum Ausflugsziel. 1980 wohnten in Barra, so die gebräuchliche Kurzform, gerade mal
25 000 Menschen. Heute ist es Heimstatt für 300 000, die in umzäunten, voll klimatisierten
und allzeit bewachten Apartmentkomplexen siedeln, ihre Wege motorisiert erledigen, und das
gern in allradgetriebenen Autos mit stark abgedunkelten Scheiben.
Auch die neuen Türme der Vila Olmpica sollen für die gehobene Kundschaft aufgemöbelt
werden, sobald die letzten Teilnehmer der Paraolympischen Spiele nach dem 18. September
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abziehen. Dann werden die nun aufgestellten 19 000 Betten, 10 650 Schränke und 3604 Sofas
ebenso rausfliegen wie die Trennwände. Die spartanischen 3604 Kleinapartments sollen zu
Wohnsuiten mutieren. Ein 160Quadratmeter-Apartment werde etwa 360 000 Euro kosten,
verrät die Internetpräsentation der «Reinen Insel», so der künftige Name der dann um
Swimmingpools und Tennisplätze angereicherten Siedlung.
London verwandelte nach 2012 sein Olympiadorf im armen East End in Wohnraum für sozial
Schwache. Aber Rio, die Stadt der Wunder, nutzt die Olympischen Spiele, um Reichenviertel zu
bauen, mit allen Anbindungen auszustatten und nebenbei auch noch die Armen zu vertreiben.
Am Rande der Fläche des Parque Olmpico, vormals ein Autodrom, klebte seit Jahrzehnten eine
kleine Favela, bewohnt von Bauarbeitern und Fischern. Nach und nach wurden sie abgesiedelt
in den Norden. «Sie sollen ihrem Standard entsprechend wohnen», befand der Investor Carlos
Carvalho, dem 6Millionen Quadratmeter in Barra da Tijuca gehören, auch der Boden, auf dem
jetzt das olympische Dorf steht. Er hat schon mehr gewonnen als alle Olympiasieger zusammen.
Die Sause soll ihn um 1 Milliarde Dollar reicher machen, berichten die Medien.
Golf im Naturschutzgebiet
In jedem Interview bekräftigt Bürgermeister Paes, dass Olympia in Rio überwiegend privat
finanziert sei, lediglich 42Prozent der Kosten von 39,1Milliarden Reais (aktuell 11,8Milliarden
Franken) trage die öffentliche Hand. Aber dass er vor ein paar Jahren die Bauordnung ändern
liess, und den Baufirmen damit acht Geschosse mehr pro Wohnturm gewährte, erwähnt er
ebenso ungern wie die Wahlkampfspenden der Konzerne oder den Gemeindebeschluss, das
Naturschutzgebiet Marapendi zum olympischen Golfplatz auszubauen, obwohl Barra bereits
über zwei grosse Courts verfügte.
Von der Avenida das Américas aus sind die Gestänge der mobilen Tribünen für das erste
olympische Golfturnier seit 1904 bereits zu sehen. Vor einem Wohnblockviertel namens Riserva
Uno biegt eine Strasse ab, die bis zum Eingang des Golfgeländes führt. Polizisten kontrollieren
die Papiere aller, die auf das Green, so gross wie 100 Fussballfelder, gelangen wollen. Jetzt
haben die Sicherheitskräfte volle Kontrolle über die Gegend, lange hatten Umweltschützer der
Gruppe «Ocupa Golfe» protestiert und sich mehrfach zusammenknüppeln lassen. Nun sind die
18 Löcher aufnahmebereit. Ebenso die Fläche nördlich des Courts. Dort werden nach der letzten
Siegerehrung weitere Apartmentblocks hochgezogen. Nun ist das ja kein Naturschutzgebiet
mehr.
Vorigen Sonntag zogen die ersten Teams ins olympische Dorf, das offenbar noch nicht ganz
wettkampftauglich war. Australiens Equipe wechselte vorübergehend ins Hotel, weil in ihrem
Gebäude Gasinstallationen leckten und Abflussrohre verstopft waren, zudem hingen Kabel frei
herum. Andere Teams, etwa die USA und Italien, heuerten auf eigene Rechnung Handwerker
und Putztrupps an, um die Unterkünfte bewohnbar zu bekommen. Hunderte von Bauarbeitern
sollen in dieser Woche in Tag-und-Nacht-Schichten alle Mängel beheben.
Schon Anfang Juli bezog die Nationalgarde Posten hinter dem hohen grünen Zaun, der das
Areal umgibt. Wer sich dem Gelände, das zudem noch von einem Bauzaun umschlossen war,
näherte, wurde per Fernglas observiert. Brasilien muss fürchten, durch das Grossereignis
Olympia zum Terrorziel zu werden, deutliche Drohungen kamen vom Islamischen Staat via
Twitter. Darum stellte die Regierung doppelt so viele Polizisten und Soldaten ab wie London vor
vier Jahren.
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77 000 Menschen umgesiedelt?
Bürgermeister Eduardo Paes ärgert sich über viele, vornehmlich ausländische Medienberichte.
«Das ist doch verrückt, zu behaupten, es sei nicht in arme Gegenden investiert worden.» Drei
Viertel des öffentlichen Budgets für die Spiele seien in weniger betuchte Gegenden geflossen.
Meint Paes damit die neue Lärmschutzwand, die nun den Favela-Komplex Maré neben der
Flughafenautobahn blicksicher verdeckt? Eher wohl das Militärgelände Deodoro, wo Reiter,
Fechter, Schützen, BMX- und Mountainbiker, Moderne Fünfkämpfer und Wildwasserkanuten
ihre Wettkämpfe austragen. Das Terrain werde später zum grössten öffentlichen Park der
Nordzone. Der Bürgermeister versichert ebenfalls, dass wegen der Neubauten von Sportstätten
und Busstrassen nicht mehr als 1000 Menschen umgesiedelt wurden. Seine Kritiker
widersprechen deutlich.
Im Zentrum Rios residiert in einem etwas angejahrten Wohngebäude das Institut «Polticas
Alternativas para o Cone Sul», das Rios Häutungen seit 2005 dokumentiert. «Olympia Rio 2016
- die Spiele der Ausgrenzung» heisst ein 194Seiten starkes Dossier, dessen Autoren auf Basis
öffentlicher Meldedaten darlegen, dass zwischen 2009 und 2015 mindestens 77 206 Menschen
umgesiedelt worden seien. «Und dazu kommen noch viel mehr Bürger, die ihr Stadtviertel
verlassen mussten, weil die Mieten explodierten», sagt die Ökonomin Sandra Quintela. In den
sieben Jahren seit dem Olympiazuschlag sind die Immobilienpreise in Rio um 260 Prozent
gestiegen. «Diese Spiele sind vor allem ein Fest für Spekulanten», sagt Quintela, die sich
besonders ärgert über die Zauberformel der öffentlich-privaten Partnerschaften, die den
Bürgermeister fasziniert. «Reine Augenwischerei», so Quintela. Im neuen Loft-Gelände Porto
maravilha, dessen Rückbau die öffentliche Hand bezahlte, betrieben nun Privatfirmen
sämtliche Geschäfte. Auch die neuen Trams und Busse, die bis zum Ende der Spiele gratis
verkehren, würden später Konzessionären übergeben. «Solche Mega-Events nutzen allein dazu,
die Bevölkerung noch weiter zu spalten und sie für die Zwecke der Privatwirtschaft
einzuspannen. Am Ende werden viele Bewohner aus der eigenen Stadt ausgeschlossen.»
14 Prozent mehr Morde
Gut möglich, dass die Spiele ein sportlicher Erfolg werden, sagt die Ökonomin, Rio habe ja
reichlich Erfahrung mit Mega-Events. Und die Zentralregierung hat Anfang Juli - nach dem
Höllentransparent der Polizisten - umgerechnet etwa 877Millionen Franken an den klammen
Bundesstaat überwiesen. Die Mordrate ist in der Stadt in diesem Jahr um fast 14Prozent
angestiegen, zwischen Januar und Mai wurden 2083 Menschen umgebracht, 40-mal mehr als
in der Schweiz im ganzen letzten Jahr. Diebstähle und Raubüberfälle nahmen um 43Prozent zu.
Und in den etwa 40Favelas, die in den letzten Jahren vor allem in der Südzone von einer
«Befriedungspolizei» halbwegs ruhiggestellt wurden, haben die Drogenbanden wieder die
Waffen ergriffen. Die Sonderzahlung aus Brasilia dürfte bestenfalls bis zum Ende der Spiele
reichen.
Und was kommt dann?
Brasiliens Wirtschaft steckt weiter tief in der Rezession. Erst nach den Spielen wird sich
herausstellen, ob Dilma Rousseff endgültig ihres Amtes enthoben wird. Sollte das geschehen,
wird der Präsident Michel Temer die schweren Brocken seiner Reformagenda angehen mit
tiefen Einschnitten im Renten- und Sozialsystem. Und der Bundesstaat Rio de Janeiro ist
ruiniert. Lange hatten die Gouverneure auf die Verheissungen der Ölfunde vor der Küste
gewettet und Schulden gemacht. Um Unternehmen anzusiedeln, vergaben sie generöse
Steuerbefreiungen. Nun, nach dem Ende des Ölbooms, dem Absturz der brasilianischen
Wirtschaft und der Dauerkrise in Brasilia, dürfte der Cristo Redentor viele Jahre brauchen, um
Rio von Olympia zu erlösen.
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«Eine Performance mit tödlichem Ausgang»
André Grzeszyk hat mediale Bilder von Amokläufen und Terroranschlägen untersucht. Er
erklärt, wie sich Attentäter auch mithilfe von Vorbildern aus Film und Fernsehen auf ihr finales
Duell mit der Gesellschaft vorbereiten.
Mit André Grzeszyk sprach Christoph Fellmann, TA vom MI 27. Juli 2016
Littleton, Columbine Highschool, April 1999; die Mutter aller Amokläufe.
Von allen Anschlägen der letzten Tage gibt es Handyfilme, die uns nahe ans
Geschehen heranholen. Warum schauen wir uns das an?
Das ist die gleiche Reaktion wie bei einem Autounfall. Man will nicht hinschauen, aber natürlich
schaut man hin. Es geht um Neugier: Wer ist dieser Verrückte da? Und die Taten wollen ja auch
genau das sein - ein Spektakel, frei für den Blick der Öffentlichkeit.
Was erzählen uns diese Bilder?
Letztlich von der Banalität dieser Taten. Das kurze Video aus München erzählt mehr über die
Stadt als über ein titelblattreifes Verbrechen. Der Schütze schreit: «Ich bin Deutscher!» und ein
Passant: «Ein Wichser bist du!» Das wäre eine Komödie, wenn die Umstände nicht so
erschreckend wären. Dass diese Bilder in einem erzählerischen Sinne zu nichts zu gebrauchen
sind, zeigt sich meist in ihrer Zweitverwertung: Sie werden untertitelt, weil man nichts versteht,
mit Musik unterlegt, um Emotionen zu wecken, und die Schützen werden mit einem Spot
aufgehellt, um den Bildern das zu geben, was sie selten zu sehen geben: Bedeutung. Die
Botschaft muss hinzugefügt werden: Hier sterben tatsächlich Menschen.
Der Täter von München konnte davon ausgehen, dass er gefilmt wird. Inwiefern
ist ein Amoklauf auch eine Performance?
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Das Wort trifft es ausgezeichnet. Diese Täter wissen genau, wie ein Schütze auszusehen hat, und
das schreibt sich in ihre Gesten und ihren körperlichen Ausdruck ein. Man darf nie vergessen,
dass solche Verhaltensweisen erlernt werden müssen - eine Waffe zu halten, zu schiessen, ein
Amokschütze zu sein. Auf Menschen zu schiessen, gehört nicht zur anthropologischen
Grundausstattung, dazu muss die eigene Persönlichkeit massiv umprogrammiert werden. Dafür
braucht es Vorbilder. Wie Gewalt zum Ausdruck kommen kann, lernt man in einem Land wie
Deutschland im Fernsehen, im Kino, im Internet und anhand von Fiktionen. Das Resultat ist
eine Performance mit tödlichem Ausgang.
Wie wird die Fiktion zu dieser tödlichen Realität?
Über szenische Spiele, die oft jahrelang andauern und in denen sich zum Beispiel ein Schüler
langsam in einen «school shooter» transformiert. Wir haben gelernt oder uns dazu
entschlossen, Ernst und Fiktion als Gegensätze zu definieren, dabei ist das eine nicht vom
anderen zu trennen. Die «Performance» wird von den Vorbildern sehr bewusst und oft
reflektiert übernommen - so war etwa der lange schwarze Ledermantel eine Zeit lang ein Muss
für die «school shooters». In den Bekennervideos und -fotos findet man dann die Spuren der
fiktionalen Vorbilder - von «Taxi Driver» bis «Fight Club» lässt sich das bis in die kleinsten
Gesten hinein verfolgen.
Während sich Amokläufer auf Figuren aus der Populärkultur bezogen, wie auf
Brad Pitts Rolle in «Fight Club» oder auf Batman, setzte sich David S., der Täter
von München, vor allem mit anderen Amokläufern auseinander. Waren das für
ihn also popkulturelle Vorbilder?
Es gab Attentäter wie John Hinckley, der auf Ronald Reagan schoss und dabei den Film «Taxi
Driver» relativ nahe nachspielte - inklusive Liebesbriefe an Jodie Foster. Normalerweise aber
sehen wir hybride Formen, Kombinationen aus verschiedenen Figuren und Erzählungen. So
oder so glaube ich nicht, dass die Fiktionen unmittelbar eine Reaktion auslösen. Es geht den
Tätern eher darum, eine Form für die eigene Gewalt zu finden. Der Pool an Vorbildern ist
relativ klein, es tauchen meist dieselben Filme, Spiele, Liedtexte und so weiter auf, die dann in
eine gewisse «Originalität» gebracht werden. Was München betrifft, ist die Wahrscheinlichkeit
gross, dass frühere Amokläufer für David S. zu «Helden» geworden waren. Die Traditionslinie
früherer Täter wird oft zur Peergroup, an der man sich orientiert und in deren Nachfolge man
sich stellt. Das Narrativ vom einsamen Rächer der Unterdrückten ist sehr anschlussfähig. Das
relativiert das Bild vom Einzeltäter: Schul-Amokläufer lebten meist in imaginären
Gemeinschaften mit ihren Vorbildern: Bastian Bosse, der Täter von Emsdetten, sprach von Eric
Harris als «Freund» oder «Gott».
Eric Harris und Dylan Klebold, die 1999 das Massaker an der Columbine
Highschool in Littleton verübten, sind jene Amokläufer mit der grössten
«Community» - weil es von ihrem Attentat erstmals laufende Bilder zu sehen gab?
Columbine markiert die Zeitenwende in Sachen Selbstinszenierung. Seither sind die Worte und
Bilder, die die Täter über sich anfertigen oder - wie im Fall von David S. - provozieren, ein
integraler Bestandteil der Taten. Harris und Klebold tauschten ihren sterblichen Körper sehr
bewusst gegen die Unsterblichkeit ihres Bildes ein. Seung-Hui Cho unterbrach 2007 nach den
ersten Morden seinen Amoklauf, um seine Selbstzeugnisse an einen Nachrichtensender zu
schicken.
Harris und Klebold fragten sich, ob Tarantino oder Spielberg ihre Geschichte
verfilmen würde. Sie irrten sich nur insoweit, als es dann Gus Van Sant war, der
den Film machte.
So funktioniert der Medienmarkt. Wir sind nun mal fasziniert von diesen Vorfällen. Und wir
leben in einer Gesellschaft, in der Berühmtheit Selbstzweck ist. Harris und Klebold mussten
also keine Genies sein, um das Potenzial ihrer «Geschichte» zu erkennen. Unsere «Kultur» hat
sich um ein Bild formiert, in dem ein Mensch ans Kreuz geschlagen wird. Das ist unsere beste
Geschichte.
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Ist das eine Erklärung dafür, dass Amok vor allem in Kleinstädten vorkommt?
Weil der Gewaltausbruch in der netten Umgebung eine besonders gute Geschichte
ist?
Das ist eines der Rätsel, auf die es keine befriedigende Antwort gibt. Die Nachahmungstheorie
sagt, dass sich hauptsächlich Jugendliche in den gleichen Lebensumständen von diesen Taten
angesprochen fühlen. Diese Bilder des Krieges in scheinbar befriedeten Gebieten machen das
Grauenhafte des Amoks ja auch aus. Die Bilder sind grotesk, Tat und Kontext finden nicht
zueinander. Der plötzliche Krieg in einer Kleinstadt hat natürlich einen ungeheuren
Nachrichtenwert.
Wie breitet sich Amok auf der Basis solcher Bilder aus?
Sie können inspirierend wirken, indem sie einen möglichen Ausdruck für die Aggressionen und
die Gewalt bieten. Der Mensch ist ein imitierendes Wesen, das ist kein Merkmal von Amok. Das
Burn-out ist ein jüngeres Beispiel: Reichlich unspezifische Symptome werden in ein Bild
gefasst, das dann ansteckend wirken und in dem sich eine gewisse Zahl von Menschen finden
kann. Oder die Liebe: Niklas Luhmann hat ein sehr schönes Buch darüber geschrieben, dass
unsere Vorstellungen und unser Fühlen der romantischen Liebe unmittelbare Produkte des
Romans sind.
Sie betonen den Stellenwertdes Amoklaufs an der Columbine Highschool für die
Ausbreitung von Amok. War es richtig, sämtliche Tagebücher, Chats und Videos
der Täter öffentlich zu machen?
Das ist eine schwierige Frage. Columbine hat die meisten späteren «school shootings»
inspiriert, auch durch all diese Dokumente: Spätere Schützen konnten sehr genau in der Welt
von Harris und Klebold leben. Auch darum verzichtete man bei Tim Kretschmer, dem Täter von
Winnenden, auf die Veröffentlichung. Trotzdem wurde er für David S. nun zum Vorbild. Anders
Breivik hat seine Aura als Massenmörder komplett verloren durch die Gerichtsverhandlungen,
in denen sein Denken und sein Manifest sehr genau seziert wurden. Man muss aber auch sagen:
Viele Täter haben ihre Dokumente selbst veröffentlicht.
Die Handyfilme der Augenzeugen bilden eine neue Dimension der «Performance»
eines Attentats. Wie wirkt dieser Strom aus Livezuschaltungen auf die
konsumierende Öffentlichkeit ein?
Man darf nicht vergessen, dass sich über die Gewalt und das Spektakel auch immer Gesellschaft
herstellt. Diese Livezuschaltungen sorgen in hohem Mass dafür, dass sich die Gemeinschaft als
solche empfindet und sich versammelt vor den Bildschirmen.
Wie erklären Sie sich die seltsame Disziplin der Reaktionsvideos, in denen sich
Menschen dabei filmen, wie sie etwa ein Enthauptungsvideo des IS gucken?
Das würde ich als Teil der Facebook-Landschaft bewerten. Zuerst sah ich solche Videos am
Ende der ersten Staffel von «Game of Thrones», also im Bereich der Fiktion. Da wird
ausgestellt, dass man sich als fühlendes, emotional noch reaktionsfähiges Ich sieht - das hat nur
entfernt mit der Tat selbst zu tun.
In den Attentaten von Nizza oder Ansbach scheinen sich Motive und Bilder aus
Amok und Terror zu überlagern.
Das stimmt, aber diese Narrative waren nie so getrennt, wie das immer wieder behauptet wird.
In der Columbine-Nachfolge politisierten sich die «school shooters» extrem, sprachen von
«Revolution» und «Märtyrertum». Wenn nun irgendeine Person behauptet, als IS-Kämpfer zu
agieren, heisst das in erster Linie, dass sie sich an ein bestehendes, virulentes Narrativ hält. Ob
die Tat tatsächlich in irgendeiner Form mit den Strategien und der Agenda des IS zu tun hat, ist
damit noch lange nicht bewiesen.
Ist Terror also genauso ansteckend wie Amok?
Diese Sphären sind nicht zu trennen, weil die Radikalisierungen oft gleich verlaufen und die
Wahl des spezifischen Narrativs immer wieder beliebig erscheint. Terror ist im Moment
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virulenter als Amok, bekommt die grössere mediale Aufmerksamkeit und ist also
verführerischer für Menschen, die nach Berühmtheit streben. Doch ist der Sprung zum
Islamismus bestimmt grösser als zum Amok. Die Vorstellungen des IS zu Islam und Jihad sind
erst mal schwerer zu erlernen, weil sie kein dominanter Teil unserer Gesellschaft sind.
Könnte man sagen, dass der IS potenziellen Attentätern genauso wie ein
Shootergame oder ein Film eine «popkulturelle Kulisse» anbietet, aus der heraus
sie sich die Bühne für einen Anschlag nehmen?
Ja, das benennt das Problem ziemlich genau, auch wenn es nicht direkt um Popkultur geht.
Aber es geht um eine bedeutsame Welt, um eine Welt, die mit Bedeutung aufgeladen ist. Die
westlichen Gesellschaften sind nach der Säkularisierung profan geworden und können das
kaum mehr bieten - was man Entfremdung genannt hat. Die Sehnsucht nach einer solchen Welt
ist aber geblieben. Videospiele bieten eine perfekte Kulisse, um sich dieser Nostalgie
hinzugeben - alles ist erfüllt mit Bedeutung und Sinn. Der IS weiss das und baut «Grand Theft
Auto» in seine Propagandavideos ein. Das sind globale Narrative, die vom IS genutzt, aber
hauptsächlich in Hollywood ausdefiniert wurden.
Sehen Sie Parallelen zwischen der PR- und Bildersprache des IS und derjenigen
von Amokläufern?
Die Videos des IS haben eine ganz andere Qualität als die Bekennervideos etwa von «school
shooters», in denen diese meist einsam durch einen Wald ziehen, um auf Bäume oder Obst zu
schiessen. Diese Bilder erhielten ihre Bedeutung erst durch die Tat. Der IS schafft grauenhafte
Bilder, die in ihrer Blutrünstigkeit unsere Schutzmechanismen - «das ist nur ein Bild» durchbrechen und so die «Realität» wieder ins Spiel bringen. Und das in HD. Das ist allerdings
auch eine Antwort auf die westliche Bildpolitik der letzten 50 Jahre. Hollywood oder
Seriensender wie HBO erzählen Morde nicht mehr im Off, sondern zeigen sie drastisch.
Dasselbe in den Nachrichten. Oliver Stone sagte einmal: «Der Vietnamkrieg hat das Virus in
unsere Wohnzimmer gebracht.»
«Frühere Täter werden zur Peergroup, an der sich ein Amokläufer orientiert und in deren
Nachfolge er sich stellt.»
Massenausbruch aus dem Mädchenasyl
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Harter Alltag im Heim: Ausschnitte aus dem Linolschnitt-Zyklus «Fürsorgeerziehung» von 1929. Bilder:
Clément Moreau
Es ist ein wenig bekanntes Kapitel der Sozialgeschichte: 1953 kam es in der Erziehungsanstalt
Heimgartenzu einer Flucht und einem Streik. Die damaligen Zustände in Heimen beschäftigen
die Politik bis heute.
Von Martin Huber, TA vom 27. Juli 2016
Es müssen turbulente Tage gewesen sein, damals im Oktober 1953 im Mädchenasyl Heimgarten
bei Bülach, einer «Besserungsanstalt für verwahrloste Mädchen», welche die Stadt Zürich 1912
gegründet hatte. Am 11. Oktober kommt es zu einem Massenausbruch, vier Tage später zu
einem Streik der Schülerinnen. Dies geht aus Akten hervor, die im Archiv des heutigen
Schulinternats Heimgarten lagern, das zur Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime gehört.
«Neun Mädchen waren im Streik und nur mit grossen Schwierigkeiten zu einer Aussprache zu
bewegen», notiert der spürbar besorgte Erste Sekretär des Stadtzürcher Fürsorgeamtes in
seinem Lagebericht. Zusammen mit seinem Chef hat er am 15. Oktober, mitten in der Krise, den
Heimgarten aufgesucht. Dort trifft er auf eine «äusserst angespannte Lage». Die Mädchen
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hätten sich «abschätzig über uns ausgelassen» und gedroht, sich weiter zu widersetzen, «bis das
Heim geschlossen werden müsse».
«Wie Strafgefangene gehalten»
Am selben Tag erscheint auch die Zürcher Stadtärztin, Frau Dr. Cornier, vor Ort. Sie bittet die
Mädchen einzeln zu einem Gespräch, an dem jedes seinen «Kropf» leeren konnte, wie aus
ihrem Rapport an den Vorsteher des Wohlfahrtsamtes hervorgeht. Darin spricht die Ärztin
Klartext. Die Klagen der Mädchen drehten sich in erster Linie darum, «dass sie hier wie
Strafgefangene gehalten seien und dass man sie auf Schritt und Tritt belausche». Die
Schülerinnen berichten, «dass man sich in ihre intimsten Privataffären einmische, ihre
Nachttischschubladen und sogar ihre Kleiderkasten inspiziere, Briefe und Pakete öffne, selbst
wenn sie von zu Hause kommen». Weiter zeigten sie sich erbost, dass man ihnen telefonische
Nachrichten nicht ausrichte und ihnen als Strafmassnahme die Post zurückbehalte.
Die jungen Frauen erklärten weiter, dass es für sie «kein Vergnügen sei», wenn sie am Sonntag,
nachdem sie bereits die ganze Woche über gearbeitet und am Morgen schon die Kirche besucht
hätten, am Nachmittag einen mehrstündigen gemeinsamen Spaziergang machen müssten. Und
es habe für sie etwas Erniedrigendes, «dass sie in Reih und Glied aufmarschieren müssten,
besonders auch zum Kirchgang, sodass das ganze Dorf wisse: Aha, jetzt kommen die
Heimgarten-Mädchen.»
Zudem erklärten sie der Stadtärztin, sie möchten gerne hie und da zusammensitzen, ohne dass
immer jemand dabei sei und sie ausspioniere. «Singen sei doch gewiss keine Sünde, und dass
sie Freude hätten an Radiomusik und an gelegentlichem Tanzen, könne ihnen niemand
verargen.» Viele Klagen richteten sich gegen die Gärtnerin J., die ihnen verächtliche Namen
anhänge «und ihnen immer wieder zu bemerken gebe, dass sie eben nichts anderes seien als
Huren».
Initiative für Wiedergutmachung
Die Vorkommnisse im Mädchenheim werfen ein Licht auf die damaligen Zustände in Schweizer
Erziehungsanstalten. Ähnlich wie die jungen Frauen im Heimgarten wurden bis in die 80erJahre junge Frauen wegen «lasterhaften Lebenswandels», Verwahrlosung oder Arbeitsscheu in
Anstalten zur «Nacherziehung» untergebracht. Die Rehabilitierung von Opfern fürsorgerischer
Zwangsmassnahmen und ihre finanzielle Entschädigung beschäftigt die Schweizer Politik im
Zusammenhang mit der Wiedergutmachungsinitiative bis heute. Ende April hat sich der
Nationalrat für ein Gesetz ausgesprochen, das die Zahlungen ermöglicht. Voraussichtlich im
September wird der Ständerat entscheiden.
Die Revolte im Heimgarten zeigt auch: Die damaligen Erziehungsmethoden wurden nicht nur
stumm erduldet, es gab Widerstand, und dies schon vor der sogenannten Heimkampagne
Anfang der 70er-Jahre, als sich erstmals auch politische Opposition formierte.
«Widerstand von Betroffenen gab es auf ganz verschiedene Art und Weise», sagt die
Historikerin Sabine Jenzer, die in ihrem 2014 erschienenen Buch über Erziehungsheime für
junge Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Revolte im Heimgarten hingewiesen hat.
Der Historiker Thomas Huonker, der sich intensiv mit der Geschichte der Schweizer
Erziehungsheime beschäftigt (www.kinderheime-schweiz.ch), sagt: «Kollektive Aktionen waren
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selten, häufig waren hingegen Kollektivstrafen bei Widerstand von Einzelnen.» Er verweist auf
einen Bericht über ein Internat in der Romandie, wo auf eine ebenfalls kollektive Intervention
der Insassinnen hin eine Internatslehrerin entlassen wurde, die sexuelle Übergriffe begangen
hatte.
Huonker hält es für wichtig, Versuche des Widerstands von Heimbewohnern zu dokumentieren.
«Aufgrund des grossen Machtgefälles zwischen Einweisenden, Heimleitenden und Zöglingen
empfanden viele der Letzteren Widerstand als zwecklos und gingen den Weg der Anpassung,
zumindest äusserlich.»
Die Revolte der jungen Frauen im Bülacher Heimgarten zeigt Wirkung. Es seien «einige
Revisionen dringend notwendig», schreibt Stadtärztin Cornier in ihrem couragierten Bericht an
den Stadtrat. «Die Mädchen dürfen sich nicht als Verfemte fühlen. Sie sind nicht da, um eine
Strafe abzusitzen . . . Dies verlangt von der Heimleitung eine gewisse Umstellung. Ein Mensch,
der sich beständig beobachtet, bespitzelt und als Mensch zweiter Klasse behandelt fühlt, wird
sich als solcher benehmen.»
Das Zürcher Wohlfahrtsamt reagiert, im Heim kommt es zu personellen Änderungen. Die
umstrittene Gärtnerin wird in einer andern städtischen Gärtnerei beschäftigt, der Heimleiterin
«soll Gelegenheit gegeben werden, sich lange und gründlich genug auszuruhen». Änderungen
gibt es offenbar auch beim Erziehungskonzept. «Den Mädchen soll mehr Vertrauen
entgegengebracht werden als bisher», schreibt die Stadtärztin. «Jedes soll sein eigenes kleines
Privatreich haben, wo sich niemand hineinmischt. Briefe und Pakete der Eltern oder anderer
bekannter Personen sollen den Mädchen uneröffnet übergeben werden. Die Strafen sollen den
Vergehen richtig angemessen sein. Zurückhalten der Post oder Entzug des wöchentlichen
Reinigungsbades gehören nicht unter die Strafmassnahmen. Sonntagsspaziergänge sollen eine
Freude und nicht ein Müssen sein, sie sollten, wenn möglich, in kleinen Gruppen vorgenommen
werden.» Und nicht zuletzt sollen «Radiomusik und hie und da eine kleine Tanzerei als
Selbstverständlichkeit gestattet sein».
Frage der Entschädigung offen
Offen bleibt, ob die Revolte für die beteiligten jungen Frauen allenfalls Strafen oder
Zwangsversetzungen zur Folge hatten. Huonker: «Die Strafen für Auflehnung in Heimen
konnten recht drakonisch ausfallen.» Nicht bekannt ist zudem, ob ehemalige Schülerinnen des
Heimgartens im Rahmen des vom Bundesrat 2013 initiierten runden Tischs für Opfer von
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Entschädigungsforderungen gestellt haben. Huonker
schliesst dies nicht aus: «Der Heimgarten galt als strenges Heim mit harter körperlicher Arbeit,
zudem gab es sehr häufig Zwangseinweisungen.»
Kurt Huwiler von der Geschäftsleitung der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime betont,
dass sich die Verhältnisse in den Heimen in der Zwischenzeit grundlegend geändert hätten.
Diese verfügten heute über gut qualifiziertes Personal, was sie den Behörden regelmässig
belegen müssten. Die pädagogischen Konzepte bilden die Grundlage für die Erteilung der
Betriebsbewilligung. «Die systematische Erniedrigung, die Auferlegung schikanöser Strafen und
weitere Missstände, wie sie im Heimgarten offenbar geherrscht haben, kommen in unseren
Heimen mit Sicherheit nicht mehr vor», so Huwiler.
Der Fussball im Korsett des Staats
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Ein Kick fürs Image: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eröffnet im April das neue BesiktasStadion. Foto: Doruk (Getty)
Die Turbulenzen in der Türkei beeinflussen auch den Transfermarkt und sorgen für einen
Schulterschluss unter verfeindeten Fans.
Von Christian Zürcher, TA vom MI 27. Juli 2016
Eine proaktive Zukunftsplanung ist neuerdings auch über Facebook möglich. Mario Gomez
zeigte dies mit seinem jüngsten Eintrag: «Einzig und allein die schrecklichen Geschehnisse der
letzten Tage», schrieb der deutsche Stürmer, hätten dazu geführt, dass er nicht mehr in die
Türkei zu Besiktas Istanbul zurückkehren will. Als Grund nennt er «die politische Situation».
Der Putschversuch, der IS-Terror, der Kurdenkonflikt, all das verunsichert. Andere Fussballer
fühlen ähnlich: Blerim Dzemaili wechselte von Galatasaray zu Bologna, Robin van Persie will
ebenfalls weg, und Max Kruse überlegt sich seinen praktisch fixen Transfer zu Galatasaray
nochmals.
Gomez Entscheid ist ein unüblich politisches Signal in einer Welt, in der man Dinge wie Sport
und Politik gerne trennt. In der Türkei aber gehören sie untrennbar zusammen. Die Politik hat
den Fussball infiltriert. Über den Verband, über die Clubs, über die Fans.
Das Kalkül dabei ist offensichtlich: Wer in der Türkei den Weg in die Herzen der Menschen
sucht, der macht das gerne über das Spiel mit dem Ball. Fussball wird in der Türkei mit einem
Fanatismus begleitet, der selbst im fussballbegeisterten Westeuropa unerreicht ist.
Erdogan mit fremdem Schal
Als etwa im April das neue Stadion von Besiktas eingeweiht wurde, jonglierte Präsident Recep
Tayyip Erdogan auf dem Rasen, gemeinsam mit hochrangigen Politikern und Clubfunktionären.
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Er stand im Fokus, er liess sich mit Besiktas-Fanschal ablichten. Nur hatte das zwei Makel.
Erstens: Erdogan ist Mitglied des Stadtrivalen Fenerbahce. Zweitens: Die Fans waren von der
Zeremonie ausgeschlossen, «aus Sicherheitsgründen», wie es hiess. Die Anhänger munkelten,
Erdogan habe der Häme ausweichen wollen, die er bei der Eröffnung der Arena von Galatasaray
fünf Jahre zuvor hatte erleben müssen: Er wurde gnadenlos ausgepfiffen.
«Die Zeremonie widerspiegelt den Drang von Erdogan, den Sport für die eigene Glorie zu
manipulieren», sagt James Dorsey, Co-Direktor der Universität Würzburg für Fankultur. «Er
will den Fussball kontrollieren, wie er dies auch mit anderen Bereichen der Gesellschaft wie
Kultur oder Bildung macht.»
Tatsächlich ging Erdogan mit der Fussballwelt auf Konfrontationskurs: Er verbot etwa
politische Parolen im Stadion (was nicht eingehalten wird), er führte einen Fanpass ein (was
Datenschützer beunruhigt), er liess 35 Fans verhaften (was aus rechtlicher Sicht sehr
fragwürdig war).
Doch der Reihe nach: Als 2013 im Istanbuler Gezi-Park die Protestbewegung gegen die
Regierung erwachte, solidarisierten sich Fussballfans mit den Demonstranten. Ja es geschah so
etwas wie ein Wunder. Die Ultras der verfeindeten Clubs Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas
vereinten sich und führten die Proteste an. Mit dabei: die Carsi, eine Ultragruppe von Besiktas.
Gewohnt im Umgang mit Staatsgewalt, schirmten sie die Demonstranten vor Polizisten ab. An
strategischen Punkten platzierten sie Wassercontainer, um darin Tränengas-Granaten zu
neutralisieren. Sie behändigten gar einen Bagger und wollten einen Wasserwerfer abdrängen.
Doch die politisch links stehende Carsi ist mehr als eine Fangruppierung. Sie engagiert sich in
ihrem Stadtteil und unterstützt sozial Bedürftige. Sie tritt ein im Kampf gegen Rassismus und
Faschismus. Ihr Emblem ist das umrundete A, das für Anarchie steht.
Die Fans werden überwacht
Der «New Yorker» schrieb einmal: «Die Fankurve von Besiktas ist der einzige Ort, wo das
Armenien-Problem gelöst ist.» Obwohl die Gezi-Proteste scheiterten, bemerkten die Fans ihre
gesellschaftspolitische Relevanz - nur merkte dies auch Erdogan. Er nannte die Ultras
«Capulcu», das Pack, und drängte auf den Gesetzesartikel 6222. Er erlaubt dem Staat, die Fans
zu kriminalisieren und zu überwachen. 35 Carsi-Ultras wurden verhaftet und wegen
Terrorismus angeklagt - mangels Beweisen aber freigesprochen.
Weiter führte der Staat den Fanpass «Passolig» ein. Es handelt sich um eine Kombination aus
elektronischem Ticket und Kreditkarte. Bei der Registrierung wird der Fan gezwungen, eine
Unzahl von Daten anzugeben und einen zehnjährigen Vertrag mit der Bank Aktifbank
abzuschliessen. Der Zufall will es, dass Erdogans Schwiegersohn der Besitzerholding der Bank
vorsteht, selbstverständlich ist er Politiker der Regierungspartei AKP.
Die AKP politisiert Clubs
Die AKP hat den Fussball in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt unterwandert. «Sie
merkte, dass sie bei grossen Clubs kaum Einfluss ausüben kann, also gründet und unterstützt
sie kleinere Vereine», sagt Harald Aumeier, ein Fussballblogger in der Türkei.
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Die Partei politisiert die Clubs. Sechs Erstligaclubs werden enge Verstrickungen zur
Regierungspartei nachgesagt. Kasimpasa Istanbul spielt in einem Quartier, in dem 80 Prozent
der Leute AKP wählen. Beobachter sagen, der Verein sei in den letzten Jahren massiv mit
begehrten Grundstücken mitten in Istanbul unterstützt worden. Das neue Stadion trägt einen
bekannten Namen: das Recep-Tayyip-Erdogan-Stadion.
Es ist in der Türkei gang und gäbe, dass Stadtverwaltungen Fussballclubs betreiben - etwas, das
sie zwar schon vor Erdogan gemacht haben, doch sie machen es noch fokussierter.
Wer von der AKP-Linie abweicht, spürt das. Der kurdische Drittligist Amed SK schaffte es in
dieser Saison in die Viertelfinals des türkischen Cups. Sein bester Spieler Deniz Naki widmete
den Erfolg auf Facebook den Todesopfern der Kurdenkrise. Der türkische Fussballverband
empfand dies als ideologische Propaganda und sperrte Naki für 12 Spiele - Rekordstrafe. Dem
Viertelfinal gegen Fenerbahce durften die Fans von Amed nicht bewohnen. Wegen politischer
Parolen. Nun, Verbandspräsident Demirören gilt als Weggefährte der AKP.
Bei den Fans scheint der Putschversuch aber zu einem Schulterschluss geführt zu haben. Letzte
Woche plädierten Besiktas-Anhänger für eine Aufhebung des Gästefanverbots in den Stadien.
Im Stile von: Wir sind alles Brüder.
Krank oder fanatisch?
Polizisten beim Münchner Olympia-Einkaufszent rum: Der 18-jährige Täter interessierte sich für die
Amokläufe in Winnenden und Norwegen. Foto: AFP
Die Welle von Amokläufen und Attentaten in Deutschland zeigt: Eine Tat motiviert Nachahmer.
Dabei liessen sich Amokläufer und Terroristen voneinander nicht mehr klar abgrenzen, sagt ein
Experte.
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Von Anja Burri, TA vom DI 26. Juli 2016
Vier Tage nach dem Attentat von Nizza greift im deutschen Würzburg ein Minderjähriger
andere Zugpassagiere mit einer Axt an. Noch einmal vier Tage später erschiesst ein Teenager in
München neun Menschen. Zwei Tage danach tötet ein Mann mit einem Dönermesser in
Reutlingen, gleichentags sprengt sich ein Selbstmordattentäter in Ansbach in die Luft. Für
Gewaltforscher, Statistiker und Psychologen ist dieses Stakkato der Gewalt kein Zufall. Ihre
Forschung zeigt, dass Amokläufe und Anschläge oft in engen Abständen aufeinanderfolgen.
Jens Hoffmann, Leiter des Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement Darmstadt, hat
Amoktaten untersucht. «Fast alle jugendlichen Amokläufer interessieren sich vor der Tat für
andere Attentate oder für Islamismus und Satanismus», sagt er. Die erwachsenen Täter fielen
dagegen oft mit Gewalt oder Drohungen in ihrem Umfeld auf. Hoffmann spricht von einem
Nachahmungseffekt: «Leute, die auf der Kippe stehen, die vor ihrem inneren Auge bereits
durchgespielt haben, wie es wäre, mit einer Waffe andere zu töten, erhalten durch andere Taten
einen finalen Kick.» Sie sähen, dass eine solche Tat möglich sei und ihnen riesige
Aufmerksamkeit bringe, sagt Hoffmann.
Wie können solche Personen gestoppt werden, bevor es zu spät ist? Wer mögliche Täter
erkennen wolle, müsse verstehen, wie es so weit kommen könne, sagen Psychologen und
Kriminologen. Dafür, so Wissenschaftler Hoffmann, seien aber die geläufigen Kategorien
«Islamischer Terrorist» und «Amokläufer» nicht mehr brauchbar. «Die Grenzen zwischen
einem Amoklauf und einem Terrorakt verwischen», sagt er.
Das zeigen auch die Täter der jüngsten Anschläge. Der Täter von Nizza hatte nicht das Leben
eines strenggläubigen Muslims geführt. Er trank und fiel als prügelnder Ehemann oder mit
Drogen- und Diebstahldelikten auf. Allerdings habe er sich jüngst für die jihadistische
Bewegung interessiert, meldeten die Behörden. Und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
reklamierte die Tat für sich.
Dunkle «Sozialarbeit»
Mit ihrer Propaganda im Internet nimmt sie häufig schon vor einem Anschlag Einfluss.
Mögliche Täter, die ihr scheinbar perspektivloses Leben mit einem Fanal beenden wollen,
können sich aus dem kulturellen Angebot islamistischer Organisationen bedienen. Für
Hoffmann ist dies «eine dunkle Art von Sozialarbeitertum»: Der IS helfe dabei, die eigene Wut
zu etwas Höherem zu machen. Im Internet steht Turbo-Radikalisierungswilligen ein grosses
Angebot an islamistischen Seiten zur Verfügung. Dieses scheint auch der Selbstmordattentäter
von Ansbach, der sich vorgestern an einem Musikfestival in die Luft sprengte, genutzt zu haben.
Nach Angaben der Behörden hatte er auf seinem Handy ein Video gespeichert, in dem er seine
Tat ankündigte: Er handle im Namen Allahs und räche sich an den Deutschen, weil diese
Muslime umbrächten. Der Mann litt aber offenbar auch an einer psychischen Krankheit. Er soll
zweimal versucht haben, sich das Leben zu nehmen.
Der Täter von München hingegen tötete ohne islamistischen Bezug. Er hatte sich für den
Amoklauf von Winnenden und für das Massaker auf der norwegischen Insel Utya interessiert.
Es dürfte kaum Zufall sein, dass er am fünften Jahrestag der Massaker von Norwegen zuschlug.
Hoffmann schliesst dennoch nicht aus, dass auch dieser Amokläufer von aktuellen, zum Teil
islamistisch motivierten Taten beeinflusst wurde. «Der Nachahmungseffekt funktioniert über
verschiedene Motivationen hinweg», sagt er. Dafür spricht auch ein Fund, den die Polizei im
Zimmer des Täters von München machte. Dieser hinterliess auf seinem Computer eine Schrift
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über seine Tat - etwas, das auch der Attentäter von Utya getan und wodurch er grosse
Aufmerksamkeit erfahren hatte.
Wie wichtig Aufmerksamkeit für den Terrorismus ist, begriff bereits die britische ExMinisterpräsidentin Margaret Thatcher, die in den 1980er-Jahren mit Anschlägen der
nordirischen Terrororganisation IRA konfrontiert war. Noch lange vor dem Zeitalter der
sozialen Medien sah sie die Medien als Lieferanten des «Sauerstoffs der Publizität, von dem sie
(die Terroristen) abhängen».
Eine These, die heute wissenschaftlich belegt werden kann. Je umfangreicher die Medien über
einen Amoklauf oder einen Terroranschlag berichten, desto eher werden geneigte Täter im
Publikum angesprochen. Zu diesem Schluss kommt die amerikanische Statistikerin Sherry
Towers. Sie hat Daten zu Amokläufen an Schulen, vor Supermärkten oder auf öffentlichen
Plätzen in den USA untersucht. Nach einer Amoktat gebe es durchschnittlich 13Tage lang ein
erhöhtes Risiko von weiteren Taten im Land, schreiben sie und vier weitere Co-Autoren in
einem 2015 veröffentlichten Artikel. Auch bei Suiziden zeigen die Erfahrungen: Indem die
Medien auf Berichte über diese verzichten, können Nachahmungstaten verhindert werden.
Sollten die Medien Amoktaten und Terroranschläge also verschweigen? Nein, sagt Jens
Hoffmann. «Gleichzeitig kann man einen Nachahmungseffekt nicht ganz vermeiden.» Um
diesen möglichst gering zu halten, sollte der Täter nicht im Fokus der Berichterstattung stehen,
sind sich Wissenschaftler einig: Gesichter müssten verpixelt, Nachnamen verschwiegen und
Motive möglichst wenig beachtet werden. Anstatt Bilder aus dem Kinderzimmer des Täters zu
zeigen oder diesen als bösen Helden hochzustilisieren, sollten Medien auf die Opfer fokussieren,
sagt Hoffmann. Die Amokläufer brauchten nicht nach, sondern vor ihrer Tat mehr
Aufmerksamkeit. Hoffmanns Rezept heisst Bedrohungsmanagement. Ein Netzwerk aus
Fachleuten von Polizei, Sozialarbeit, Schulen und anderen Anlaufstellen registriert und begleitet
Personen, die durch Gewalt oder Drohungen auffallen. Im Kanton Solothurn hat Hoffmann der
Kantonspolizei vor gut drei Jahren geholfen, ein solches System einzurichten - das erste in
Europa. Inzwischen ziehen weitere Kantone nach. In Deutschland interessieren sich vor allem
Schulen, Unternehmen und Gerichte für diese Art von Prävention. In Solothurn kann die Polizei
mittlerweile Personen, denen sie eine Tat zutraut, zu einem Gespräch vorladen. 2015 tat sie dies
in 30Fällen. Bei insgesamt 127Personen rechnen die Behörden mit einer «erhöhten
Gewaltbereitschaft». 4 Personen attestieren sie eine «hohe Gefahr gegenüber Dritten».
Je mehr die Medien über den Täter berichten, desto schlimmer.
Nur mit ihren Gebühren sind Hedgefonds noch
einsame Spitze
Den Hedgefonds gelingt es nicht mehr, besser als die Märkte zu sein: Zwei Händler an der New Yorker
Börse. Foto: Eric Thayer (Bloomberg)
Unter Investoren ist ein Umdenkprozess im Gang: Sie beginnen, ihre Gelder bei Hedgefonds
abzuziehen.
Von Robert Mayer, TA vom MO 25. Juli 2016
129
Warren Buffet, der geniale Investor
Vor acht Jahren sorgte Warren Buffett mit einer 1-Million-Dollar-Wette für Aufsehen. Der USInvestor will den Betrag einem wohltätigen Zweck spenden, wenn ein einfacher Anlagefonds,
der den US-Aktienindex S & P 500 abbildet, nach zehn Jahren eine tiefere Rendite ausweist als
die Portfolios von fünf ausgewählten Hedgefonds. Knapp zwei Jahre vor Ablauf der Frist macht
es den Anschein, als ob Buffett haushoch gewinnt: Der S&P-500-Fonds erzielt derzeit mit rund
70 Prozent eine ungefähr dreimal so hohe Rendite wie die Hedgefonds. Deren Manager
müssten in der verbleibenden Zeit auf eine sehr zündende Anlageidee stossen, um diesen
Rückstand noch wettzumachen.
Doch genau daran scheint es zu fehlen - und das bereits seit einiger Zeit, genauer: seit 2009. In
all den Jahren nach der Finanzkrise hat der S & P 500 - der wichtigste Aktienindex in den USA eine mehr oder minder höhere Performance verzeichnet als die meisten Hedgefonds. Man kann
dem entgegenhalten, dass Aktien nach dem im März 2009 erreichten Tiefpunkt von einer
markanten Kurssteigerungen profitierten. Sodann müssen sich Hedgefonds nicht primär daran
messen, die in guten Zeiten mit herkömmlichen Anlagen erzielbaren Renditen noch
auszustechen.
Unerfüllte Ansprüche
Vielmehr nehmen die Fonds für sich in Anspruch, die Vermögen ihrer Klientel auch in
schwierigen Zeiten zu mehren und mindestens besser abzuschneiden als die gängigen
Börsenindizes. Sie versprechen Renditen, die längerfristig nur mit Aktien erzielbar sind - aber
dies mit geringeren Schwankungen, weil sie auch Anlagen tätigen, die vom Auf und Ab an der
Börse nicht tangiert sind. Doch diesem Anspruch konnten die Fonds nicht gerecht werden, als
die Aktienmärkte ab dem Sommer 2015 in unruhigeres Fahrwasser gerieten. Die seither
regelmässig auftretenden, unvermittelten Kursausschläge hätten eigentlich genau das Umfeld
geboten, in dem die «Hedgies» ihre Vorzüge ausspielen sollten.
130
Stattdessen erwiesen sich die ersten drei Monate 2016 als «eine der katastrophalsten Perioden,
was die Hedgefonds-Performance anbelangt», wie die «Financial Times» eine der
Leuchtfiguren in der Branche, Daniel Loeb, zitierte. Dank einem guten Juni - vor allem für
Fonds, die auf gesamtwirtschaftliche Entwicklungen wetten - fällt die Halbjahresbilanz nicht
ganz so düster aus: Einem Plus von 5,8 Prozent des S & P 500 steht eine mittlere HedgefondsPerformance von 1,6 Prozent gegenüber (gemessen am Hedge-Fund-Research-CompositeIndex).
Beginnender Ausleseprozess
Diese seit Jahren bescheidenen Leistungsausweise stehen in scharfem Kontrast zu den hohen
Gebühren, die Investoren an die Fondsmanager zahlen müssen. Wie zu den Glanzzeiten der
«Hedgies» in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts gilt noch das Prinzip «2 und 20»: 2
Prozent auf den verwalteten Vermögen, ungeachtet der erwirtschafteten Rendite, und 20
Prozent des Anlagegewinns kassieren die Fonds.
Mittlerweile sind sie in Sachen Gebühren verhandlungsbereit, vor allem, wenn die Investoren
ihr Kapital für mehrere Jahre an die Fonds binden. Dennoch liegt der heutige
Gebührendurchschnitt - 1,7 Prozent auf den Vermögen und 18 Prozent auf den Gewinnen - nach
wie vor weit über dem, was für (aktiv und passiv gemanagte) Anlagefonds an Kosten anfällt.
Was Wunder, dass sich mehr und mehr Investoren von den Hedgefonds ausgenommen fühlen
und mit der Geduld am Ende sind. Den Frust fasste die oberste Justiziarin von New York City,
Letitia James, unlängst in die Worte: «Sollen sie ihre Sommerhäuser und Flugzeuge verkaufen
und die Gebühren an ihre Investoren zurückerstatten.» Der Pensionsfonds der New Yorker
Bediensteten hat beschlossen, seine Anlagen bei Hedgefonds von rund 1,5 Milliarden Dollar
zurückzuziehen.
Bereits im September 2014 hatte der grösste US-Pensionsfonds, Calpers in Kalifornien, seine
Absicht angekündigt, die bei Hedgefonds angelegten 4 Milliarden zu liquidieren, unter
anderem, weil die Kosten zu hoch seien. In jüngerer Zeit mehren sich die Rückzüge, die auch
Gelder grosser US-Versicherer wie AIG und Metlife mit einschliessen. Schrumpften die
Hedgefonds-Vermögen gemäss «New York Times» im vierten Quartal 2015 um fast 27
Milliarden Dollar, so sind im ersten Jahresviertel 2016 weitere gut 15 Milliarden abgeflossen.
«Es gibt keinen Zweifel», schrieb Daniel Loeb an seine Investoren, «dass wir in den ersten
Runden einer Auslese unter den Hedgefonds stehen.» Doch die Kapitalabflüsse sind noch
immer ein Klacks für eine Branche mit rund 8500 Fonds, die Vermögen von knapp 2900
Milliarden Dollar unter ihren Fittichen hat. Zum Vergleich: Zu Beginn der Jahrtausendwende
verwalteten 3100 Fonds lediglich gut 450 Milliarden. In diesem phänomenalen Wachstum
sehen viele Beobachter die Hauptursache für das schwache Abschneiden der «Hedgies» in den
letzten Jahren.
Gefährliches Herdenverhalten
Der Konzernchef von Metlife, Steven J. Goulart, umriss das Problem so: Zu viele Anlagegelder
der Fonds jagten hinter einer begrenzten Zahl attraktiver Anlagemöglichkeiten her. Dieser
Engpass führt zu einem Herdenverhalten der Fondsmanager, das im besseren Fall kaum mehr
als mittelmässige Renditen zulässt. Wenn jedoch der Wind im Markt dreht und alle gleichzeitig
aussteigen wollen - wie in diesem Jahr öfter geschehen -, drohen empfindliche Kursverluste,
welche die Gesamtperformance zunichtemachen.
131
Warren Buffet würde jedenfalls seine Millionenwette gegen die Hedgefonds jederzeit
wiederholen, wie er unlängst betonte. Als problematisch könne sich hingegen die zehnjährige
Laufzeit erweisen, meinte der bald 86-jährige Investor mit einem Augenzwinkern.
Analyse
Zürich kann 200 Millionen für ein Stadion sparen - doch kaum jemand freut sich.
Von Jürg Rohrer, TA vom 23. Juli 2016
Neues Projekt, alte Bedenken
132
Die Büro- und Wohntürme finanzieren das Fussballstadion. Visualisierung: PD
Der Hardturm-Handel, den die Stadt vor gut zwei Wochen bekannt gegeben hat, ist
überraschend und eindrücklich in allen Dimensionen: Die Credit Suisse und die HRS
Investment AG bauen auf eigene Kosten ein Fussballstadion und eine Genossenschaftssiedlung
mit 173 Wohnungen, wenn sie dafür ein städtisches Grundstück mit zwei Türmen für
Wohnungen und Büros überbauen dürfen. 216 Millionen Franken hätte ein Stadion die Stadt
vor drei Jahren gekostet, doch das Volk wollte nicht zahlen. Jetzt kostet es direkt nichts. Doch
die Reaktionen bisher waren grösstenteils verhalten bis negativ.
Zwei Stereotypen prägen die Kritik: Das eine Muster ist uralt, das andere linke Mode. Mit 137
Metern sind die beiden Türme die höchsten Häuser der Stadt, 11 Meter höher als der
Prime Tower. Die Höhe ist in erster Linie wirtschaftlich bestimmt, nicht architektonisch. Doch
ob 137, 118, 40 oder 25 Meter - den Quartierbewohnern ist jeder Neubau zu hoch: SwissmillSilo, Hochschulquartier, städtische Siedlung Rautistrasse oder Kunsthaus-Erweiterung.
Neubauten müssten für die Nachbarn immer unsichtbar sein, doch diese Bestimmung fehlt im
Baugesetz.
In Altstetten und im Industriequartier steht die Klage über hohe Hochhäuser ohnehin neben
der Zeit. Zürich wächst und der Talboden entlang der Limmat und der SBB-Gleise ist im
städtischen Hochhaus-Leitbild für ganz hohe Häuser vorgesehen. Was am Escher-Wyss-Platz
und am Bahnhof Altstetten begonnen hat, wird sich dazwischen fortsetzen - so viel ist aus dem
Siedlungsrichtplan schon bekannt, den die Stadt derzeit erarbeitet. Er legt im Detail fest, wo
Zürich wachsen soll. Der Hardturm steht in dieser Wachstumszone zentral. Im Übrigen
sprachen sich die Stimmberechtigten 2009 klar gegen ein Hochhausverbot aus.
Das andere Stereotyp gegen das Hardturm-Projekt ist der soziale Wohnungsbau. Seit das Volk
vor fünf Jahren in der Gemeindeordnung festgeschrieben hat, dass der Anteil gemeinnütziger
Wohnungen von einem Viertel auf ein Drittel steigen muss, verlangt die Linke bei jeder
möglichen und unmöglichen Gelegenheit günstige Wohnungen. Alternative und Grüne wollten
gar den sanft regulierenden Gestaltungsplan für die Einhausung Schwamendingen ablehnen,
nur weil ihre - rechtlich unmöglichen - Vorschriften für subventioniertes Wohnen im
Gemeinderat keine Mehrheit fanden.
Günstiges Wohnen inbegriffen
Im Fall Hardturm bedeutet dieser Eifer, dass ein städtisches Grundstück partout keinem
privaten Investor zur Verfügung gestellt werden darf, sondern zwingend für günstiges Wohnen
samt Krippen und Horten genutzt werden muss. Dabei wird unter den Tisch gekehrt, dass zum
Hardturmprojekt über 170 Genossenschaftswohnungen gehören. Ebenso, dass die Frist zur
Erfüllung dieses Volksauftrags bis 2050 reicht. Es gibt in den nächsten Jahrzehnten noch viele
Gelegenheiten für die Mehrung von günstigem Wohnraum, aber es gibt nur dieses eine Projekt
für ein subventioniertes Stadion.
Die Stadtzürcher Stimmberechtigten haben aber nicht nur Ja gesagt zu günstigen Wohnungen,
sondern auch Ja zu einem «privat finanzierten Fussballstadion auf dem Hardturmareal». Am 5.
Juni 2005 stimmten 75 Prozent für den 110-Millionen-Kredit für den Neubau des Stadions
Letzigrund. In der Abstimmungszeitung stand klipp und klar, dass der Letzigrund ein Stadion
für Leichtathletik, Konzerte und fürs Training des FCZ sein wird und dass ein reines
Fussballstadion später dazukommt. Wer damals zum Letzigrund Ja sagte, ging von einem
neuen Hardturm aus.
133
FCZ und GC wollen das neue Stadion unbedingt und beteuern, sie könnten sonst kaum
überleben. Unabhängig davon, ob man die aktuellen Clubpräsidenten mag oder nicht, Zürich
hat grösstes Interesse am Wohlergehen seiner Traditionsvereine. Einerseits weil sie in der
Sportwelt die Stadt repräsentieren, anderseits weil sie mit ihrer Jugendarbeit Integration
leisten. Jede Lehrerin weiss, dass diejenigen Schüler eine grössere Chance auf eine Lehrstelle
haben, die regelmässig in einem Fussballclub trainieren. Das erfordert Disziplin - und das
wissen auch die Lehrmeister.
Wie aus dem Parteiprogramm
Die Sozialdemokraten, die stets Integrationsmassnahmen fordern, haben deshalb allen Grund,
sich für GC, FCZ und das neue Stadion einzusetzen und ihren Missmut gegenüber Banken und
Renditewohnungen für einmal beiseitezustellen. Auch die anderen Parteien müssten von ihrem
Programm her den Hardturm-Handel begrüssen.
Die SVP hält den Sport für die beste Drogenprophylaxe und will die Stadt stets zum Sparen
zwingen. Die FDP liebt die Privatinitiative. Und die Alternativen vertreten Minderheiten wie die
Fussballfans und kritisieren jeden Polizeieinsatz gegen Hooligans und Mitläufer. Mit dem Ja
zum Hardturm-Deal verschaffen sie ihren Schützlingen endlich ein richtiges Stadion.
Kurz: Jede Seite hat etwas am Hardturm zu kritisieren, jede Seite hat aber auch einen Gewinn.
So funktioniert der klassische Kompromiss, und ohne den wird es in Zürich nie ein
Fussballstadion geben - und wird das endlose Klagen darüber nie aufhören.
«Bald können die Jungen die Lastder Rentner nicht
mehr schultern»
Für Kleinsparer und Kleinunternehmen sind keine Negativzinsen vorgesehen: ZKB-Konzernchef Martin
Scholl. Foto: Reto Oeschger
134
Martin Scholl, Chef der Zürcher Kantonalbank, über die Altersvorsorge, den Immobilienmarkt
und den FCZ.
Mit Martin Schollsprach Jorgos Brouzos, TA vom SA 23. Juli 2016
Sie sind im Vorstand der Stiftung des FCZ-Museums. Wann ist die ChallengeLeague-Zeit des FC Zürich nur mehr ein Fall für die Vitrine?
Das wird ein Jahr dauern. Es darf nicht länger gehen, sonst wird es schwierig.
Es gibt in Zürich Pläne für einHockey- und für ein Fussballstadion. Glauben Sie an
die Arenen?
Ganz grosse Projekte haben es in Zürich nicht einfach. Das Projekt für das Hockeystadion ist
sehr ausgereift. Ich bin zuversichtlich, dass der Zeitplan bis 2021 eingehalten wird. Die Pläne
für das Fussballstadion finde ich gut.
Die Schweizerische Nationalbank erkennt auf dem Immobilienmarkt Gefahren.
Bei einem Zinsanstieg könnten Hypothekarschuldneran ihre Belastungsgrenze
geraten. Machen Sie sich Sorgen?
Ein Zinsanstieg macht uns keine Sorgen. Aktuell gibt es auch keine Anzeichen dafür. Sollte er
doch kommen, sind wir vorbereitet. Wir sind schon früh auf die Bremse getreten und bei den
Hypotheken drei, vier Jahre schwächer gewachsen als der Markt. Doch der Cocktail aus
Anlagenotstand, tiefen Leitzinsen und einem wachsenden Bedürfnis nach Wohnraum ist
gefährlich.
Dadurch steigen die Preise.
2008 hat ein durchschnittliches Eigenheim im Kanton Zürich 980000Franken gekostet.
17Prozent der Mieter hätten sich das leisten können. Heute kostet es 1,3Millionen Franken. Nur
noch 10Prozent der Mieter haben das Geld dafür. Die Nachfrage geht zurück.
Es ist kein Ende der Negativzinsen in Sicht. Werden Sie diesean die Sparer
weitergeben?
Die ZKB gibt die Negativzinsen differenziert zuerst im Interbankenmarkt und auf Guthaben
bestimmter Grosskunden weiter. Für Kleinsparer und Kleinunternehmen sind keine
Negativzinsen vorgesehen, solange die SNB ihre Politik nicht verschärft. Kleinsparer werden
mit einem Null-Prozent-Zins subventioniert. Das hört sich eigenartig an, doch es ist so. Der
Marktzins liegt bei -0,75Prozent.
Wie wahrscheinlich ist eine weitere Senkung der Leitzinsen?
Darauf haben wir keinen Einfluss. Das hängt vor allem vom europäischen Umfeld ab. Nur so
viel: Wir haben grossen Respekt vor diesem Szenario.
Weshalb?
Wir haben es schon bei der Einführung der Negativzinsen gemerkt, dass selbst Anlageprofis
völlig irrationale Anlageentscheide treffen. Wenn plötzlich alle ihr Geld von der Bank abziehen,
dann birgt das Risiken für das Bankensystem.
Ist das ein irrationaler Entscheid? Sie bekommen ja bei der Bank keinen Zins.
Bargeld kostet auch, wenn es zu Hause unter der Matratze liegt.
Wollen Sie überhaupt noch neue Kundengelder?
Ja. Wir freuen uns über Kundengelder, die langfristig und nachhaltig bei der Bank bleiben und
investiert werden.
135
Die Aktienkurse bei CS und UBS sind sehr tief. Fliehen Grossbankkunden schon
zu ihnen?
Im Moment sehen wir keine Fluchtbewegung zu unserer Bank. Die Aktienkursentwicklung kann
nicht mit der Bonität einer Firma gleichgesetzt werden. So sind die Grossbanken heute sicherer
als vor der Finanzkrise. Die ZKB gehört zu den sichersten und bestkapitalisierten Banken
weltweit.
Wie läuft das Geschäft bei der ZKB?
Unsere Bank ist gut unterwegs. Das 1.Halbjahr hat die Erwartungen erfüllt.
Das Umfeld ist schwierig.Italienische Banken stehen schlecht da, der Brexit
verunsichert. Spüren Sie schon Auswirkungen?
Wir sehen die ersten Kreditrückstellungen. Es handelt sich oft um kleine, lokale Zulieferer, die
wenig Spielraum haben. Die Entwicklung ist nicht dramatisch.
Der Franken ist stark,die Zinsen tief.
Genau. Das ist für die Wirtschaft schwierig. Zudem schlägt dies voll auf unsere Vorsorgewerke
durch. Der Generationenvertrag muss jetzt auf den Tisch. Die Jungen können die Last der
Rentner bald nicht mehr schultern.
Was meinen Sie?
Einerseits wird gefordert, dass die Menschen länger arbeiten. Andererseits benötigen die
Arbeitgeber künftig eher weniger Leute. Wenn die alten Mitarbeiter also länger bei uns bleiben
sollen, heisst das, dass wir weniger Junge anstellen können.
Wie sieht Ihr Vorschlag aus?
Es können nicht mehr alle Leistungen für die Rentner finanziert werden. Das bedeutet, die aktiv
Versicherten müssen künftig mehr Geld auf die Seite legen. Dafür braucht es vom Staat neue
Anreize - etwa bei der 3.Säule.
Das ist ein attraktives Geschäftfür die Banken.
Es ist nebensächlich, wo das Geld angelegt wird. Wichtig ist, dass das Thema endlich auf den
Tisch kommt. Nur ist es politisch heikel und für die Arbeitnehmer schmerzhaft. Daher wird es
hinausgezögert.
Die ZKB wartet immer noch auf den Entscheid der US-Steuerbehörde. Wann
werden Sie die Busse ausden USA erhalten?
Das Thema beschäftigt uns jetzt schon seit Jahren, und wir hoffen, möglichst bald eine Einigung
mit den US-Behörden zu erreichen. Den Zeitpunkt bestimmen aber nicht wir.
Das Filialnetz der ZKB wurdeausgedünnt. Das ärgert die Kunden.
Wir haben weiterhin das dichteste Filial- und Automatennetz im Kanton. Ich verstehe, dass es
ein emotionales Thema ist, und habe das auch persönlich gespürt. Als wir die Filiale im
Wohnort meiner Eltern schlossen, mussten sie sich im Dorf einiges anhören.
Ist ein dichtes Netz nicht ein Luxus?
Das kann man so sehen. Aber es ist für unsere Bank wichtig, präsent zu sein. Die Nähe zu den
Kunden ist Teil unserer Marke. Dies, bei aller Euphorie um die digitalen Kanäle.
Wird der Hype um die Digitalisierung der Bankgeschäfte nicht übertrieben?
Bezahl-Apps wie Paymit, mit ZKB-Beteiligung, oder Twint kommen kaum vom
Fleck.
Den hiesigen Banken ist es zusammen mit Postfinance gelungen mit Twint/Paymit ein
gemeinsames Produkt auf die Beine zu stellen. Mit ihm wird man nicht nur bezahlen können, es
wird auch noch weitere Anwendungen geben. Da sich das Bezahlverhalten der Bevölkerung aber
nur langsam verändert, braucht es noch etwas Geduld.
136
Sind automatisierte Anlageprozesse bei Ihnen ein Thema?
Das Anlagegeschäft wäre prinzipiell dafür geeignet, da die Daten in standardisierter Form
vorliegen. Im entscheidenden Moment wollen uns die Kunden jedoch in die Augen schauen. Am
Tag des Brexit haben wir zahlreiche Kundengespräche geführt.
Sie haben kürzlich gesagt, dassSie nie Aktivitäten ins Ausland verlagern. Gilt das
noch?
Auf jeden Fall. Es gibt nur wenige Bereiche, bei denen sich für uns eine Auslagerung rechnen
würde. Ein Informatiker in Polen ist auf dem Papier deutlich günstiger, es werden aber viele
andere Kosten nicht beachtet. Wir haben hingegen kurze Wege. Das bringt uns viele Vorteile.
Der Zahlungsverkehr wurde an die Swisscom ausgelagert. Ist das eine
Kostensenkungsmassnahme?
Nein. Wir mussten unsere alten Systeme für den Zahlungsverkehr erneuern. Aus
Effizienzgründen haben wir uns entschieden, die Entwicklung und den Betrieb des
Zahlungsverkehrs auszulagern. Swisscom und die IT-Firma Finnova haben das schon für
andere Banken gemacht. Die Einführung ist gegen Ende dieses Jahres geplant.
Gibt es ein Programm,um die Kosten zu senken?
Nein. Auf die Kosten zu achten, ist Teil unserer Kultur.
Grossbanken bauen oft Abteilungen auf und stampfen sie wieder ein.
Unsere Kultur beruht auf Kontinuität. Wenn Sie diese dauernd mit Sparprogrammen
durchbrechen, sorgen Sie für Verunsicherung. Die Leute haben Angst um ihre Arbeitsplätze und
denken zu wenig an die Kunden.
Analyse
Zwischen Trump und dem Weissen Haus steht nur noch Hillary Clinton. Was macht ihn so
erfolgreich?
Von Sacha Batthyany, TA vom SA 23. Juli 2016
Ein Präsident der Angst
137
Das Land geht vor die Hunde, die Kriminalität höhlt die Innenstädte aus, die Immigranten
überschwemmen das Land, der Terror regiert die Welt. Donald Trump hat in seiner
Nominierungsrede in Cleveland ein düsteres Bild unserer Zeit gezeichnet. Am 20. Januar 2017
soll damit Schluss sein, so Trump, dann will der 70-Jährige ins Weisse Haus einziehen und die
Sicherheit wieder herstellen. Die Lösung aller Probleme lautet für ihn: America first. Das
bedeutet so viel wie: Mauern bauen, Wirtschaftsabkommen neu aushandeln, Militär und Polizei
aufstocken. «Ich bin eure Stimme», wiederholte er. «Ich bin kein Politiker, sondern der
Präsident des Volkes.»
Es war der vielleicht wichtigste Auftritt in seinem bisherigen Wahlkampf, so behaupteten viele.
Es ging für ihn darum, diesen Parteitag versöhnlich zu beenden, den innerparteilichen Knatsch
vergessen zu machen und Schwung mitzunehmen für die Wahl im November. Den Delegierten
und Parteigrössen im Saal, vor allem aber den Millionen von Menschen in den Wohnzimmern
Amerikas, präsentierte er sich als Kandidat, der für echten Wandel steht. Hillary Clinton sei
nichts anderes als eine Marionette, so Trump, der präsidialer wirkte, als zuletzt, der auf die
üblichen xenophoben Äusserungen weitgehend verzichtete und stellenweise versöhnlich wirkte:
Er werde Minderheiten schützen, sich für Schwule und Lesben einsetzen und für
Afroamerikaner. Jeder im Land habe unter ihm als Präsident die gleichen Chancen, den
amerikanischen Traum zu leben.
Als Trump vor etwas mehr als einem Jahr seine Kandidatur verkündete, wurde er als Clown
abgetan. Nachdem er nun 16 republikanische Mitbewerber aus dem Rennen geworfen hat, steht
zwischen ihm und dem Weissen Haus nur noch Hillary Clinton. Ob er Chancen hat, gegen sie zu
gewinnen, hängt auch davon ab, was in den nächsten Monaten in den USA und der Welt
passiert. Die Rassenunruhen und toten Polizisten im eigenen Land, die Terroranschläge von
Paris und Nizza und der Bürgerkrieg in Syrien, all das hilft dem «Law and Order»-Kandidaten,
wie er sich in seiner Rede nannte.
Trump muss seine Staaten behalten, westlich des Mississippi gut abschneiden und es schaffen,
einige der Swing States wie Pennsylvania, Florida oder Ohio umzudrehen. Dafür benötigt er die
Stimmen vom anderen Lager: Weisse Amerikaner aus der Apalachenregion zum Beispiel, deren
Eltern und Grosseltern noch zu den Demokraten hielten, die sich aber in den vergangenen
Jahren zu Recht übergangen fühlten. In Städten wie Youngstown, Ohio, gibt es viele solche
138
Männer und Frauen, die von den Politikern in Washington nichts mehr halten und es nun mit
Trump versuchen wollen. Aus den Kaminen der Stahlwerke von Youngstown steigt schon lang
kein Rauch mehr, der Strukturwandel in vielen solchen Orten im Nordosten wurde verschlafen.
Die Einwohner sehen in Trump ihre letzte Chance. Wenn er sie an die Urne locken kann, könnte
es im Herbst knapp werden.
Clinton und Trump sind ein ungleiches Paar. Sie ist die erfahrene Politikerin, eine Vertreterin
des Establishments - Trump hingegen der unkonventionellste Kandidat der jüngeren USGeschichte. Clinton ist die Realistin, die in ihrer langen Karriere schon für oder gegen so vieles
war, dass man den Überblick verloren hat - Trump der Provokateur, der sich durch den
Vorwahlkampf pöbelte und gern die Seiten wechselt: Er war mal Abtreibungsbefürworter und
Waffengegner. Im Wahlkampf aber hat er sich als Waffenfreund und Abtreibungsgegner
geoutet. Vielen Sozialkonservativen ist er nicht konservativ genug, viele Wirtschaftsliberale
haben Panik vor seinem Protektionismus und seinem Antiglobalisierungskurs. Trump aber ist
vor allem eines: unvorhersehbar.
Ein Bauchmensch
Clinton und Trump vereint, dass sie beide höchst unbeliebt sind. Sollte Trump gewinnen,
werden sich die Parteispitzen der Demokraten die Haare raufen, nicht auf ein frischeres,
unverbrauchtes Gesicht gesetzt zu haben. Bernie Sanders Aufstieg hat gezeigt, wie unpopulär
Hillary Clinton ist, doch die Partei hielt an ihr fest.
Es gibt kein Rezept für einen guten amerikanischen Präsidenten, soll Abraham Lincoln gesagt
haben. Es gab Generäle und Gouverneure, Senatoren und Aussenminister. Trump aber wäre der
erste ohne jegliche politische und militärische Erfahrung. Das allein ist bemerkenswert. Er hat
eine tiefe Abneigung gegen intellektuelle und gesellschaftliche Eliten, zu denen er sein Leben
lang vielleicht gehören wollte, die ihn aber nie akzeptierten.
Und er macht aus seiner Abneigung keinen Hehl. «Warum soll ich Bücher über die Nato lesen,
wenn ich über die Nato spreche?», sagte er dem «Time-Magazine». Als er jüngst in Schottland
war, um seinen Golfplatz zu vermarkten, wurde er gefragt, ob er sich mit Brexit-Experten
besprechen wolle, worauf er antwortete: «Wozu?»
Trump hat Talent und Bauchgefühl immer Erfahrung und guten Zeugnissen vorgezogen, sagte
sein Sohn in Cleveland. Er ist ein Bauchmensch, der erst um sich schlägt, um danach zu sehen,
was er angerichtet hat. Darin könnte er sich von Barack Obama nicht deutlicher unterscheiden,
der wartet und austariert und dem vor allem in aussenpolitischen Fragen eine Zögerlichkeit
vorgeworfen wird, die Trump für seine Zwecke nutzt.
«Was ist das nur für eine verrückte Reise?», fragte Trump am Ende seiner Rede in Cleveland,
kurz bevor die Ballone von der Decke fielen. Die Amerikaner haben nun vier Monate zu
überlegen, ob diese Reise weitergeht.
Ein Traum, der niemals enden wollte
139
«Ich habe kein Benzin im Blut»: Peter Sauber 2008 in Malaysia. Foto: Keystone
Patron Peter Sauber verkauft seinen Rennstall zum zweiten Mal und hofft, sich endlich aus der
Formel 1 zurückziehen zu können.
Ein Porträt von René Hauri, TA vom DO 21. Juli 2016
Es war in Montmel, im letzten Jahr. Peter Sauber sass in der Gäste-Lounge des SauberRennstalls. Und nahm sich Zeit für eines der seltenen Gespräche, die er noch mit Journalisten
führte. Zwei Monate waren vergangen, seit sich der ehemalige Ersatzfahrer Giedo van der Garde
vor dem ersten Rennen der Saison vor Gericht einen Platz im Cockpit erstritten hatte. Der
Teambesitzer war nach Australien gereist, stand Monisha Kaltenborn, der Chefin, in diesen
heiklen Stunden bei. Es nützte nichts, Sauber verlor den Rechtsstreit, nach wie vor nicht
nachvollziehbar - nicht nur für die Verantwortlichen des Rennstalls. Mit einer Zahlung von 15
Millionen Franken konnte der Holländer wenigstens ruhiggestellt werden.
Doch Sauber regte sich auf. Über den Fall, aber auch über die Medienberichte in der Heimat.
Der Schweizer des Jahres 2005 hatte immer viel Respekt und Sympathien genossen - das
vermisste er nun gegenüber der 2012 zu seiner Nachfolgerin erkorenen Österreicherin. Es gab
Angriffe unter der Gürtellinie. Der Patron schüttelte den Kopf und sagte: «Ohne sie gäbe es
Sauber längst nicht mehr.»
Sie genoss nach wie vor sein vollstes Vertrauen, die 45-jährige gebürtige Inderin, die als Juristin
seit 1998 mit dem Rennstall zu tun hat, 2000 in das Unternehmen wechselte und der er Anfang
140
2012 ein Drittel der Anteile übertragen hatte. Kaltenborn ist eloquent, intelligent und
beherrscht Englisch. Deshalb passte sie aus Saubers Sicht viel besser in diesen Glamour-Zirkus
als er selber. Er, der zurückhaltende, manchmal etwas biedere Mann aus Zürich, dessen
Englisch vergleichsweise bescheiden ist. Der eigentlich 2005 schon mit der Formel1
abgeschlossen hatte, als er sein Team an BMW verkaufte, und ganz in den Hintergrund trat, als
er nach dem Rückkauf Kaltenborn die Chefrolle übertragen hatte. Er hatte diese Welt ja auch
nie gesucht.
Für C1 eine Wand eingerissen
Es schien 1967 alles seinen geordneten Weg zu gehen bei den Saubers. Der Vater Besitzer eines
Unternehmens für elektrotechnische Anlagen, der Sohn Elektromonteur. Bereit, in die
Fussstapfen des Seniors zu treten. Sein Auto? Nicht mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es
aufmotzen? Wieso nur? Das dürfte sich Sauber gefragt haben, als ihn ein Freund ermutigen
wollte, seinen VW Käfer zu tunen. Er liess sich dann doch überreden, bastelte, schraubte,
lochte, nietete, bis tief in die Nacht und bis sein Auto die Strassenzulassung verloren hatte.
Dann eben damit ein paar Clubrennen fahren.
Doch Sauber wollte mehr, Sportwagen sollten es sein, er entwarf Pläne, machte sich im Keller
des Elternhauses in Zürich an die Arbeit; Schrauben, Lochen, Nieten, längst seine Passion. Als
das Werk vollendet war, stellte er fest: Der Raum war zu klein. Eine Wand musste eingerissen
werden, um das Ungetüm in die Freiheit zu entlassen. Er gewann damit den Schweizer
Meistertitel, später überliess er das Fahren anderen. Die Liebe zu Rennautos aber war entfacht.
Es hatte dazu seine Zeit gebraucht.
Privat war das ganz anders, da hatte er die Frau an seiner Seite als 16-jähriger Teenager
gefunden - im letzten Jahr wurde die Goldene Hochzeit, der 50.Jahrestag, gefeiert. Und diese
Frau konnte mit dem neuen Hobby ihres Gatten nichts anfangen. Um sie zu besänftigen, gab er
dem ersten Boliden den Namen C1. C für Christiane. Seither sind 46Jahre vergangen. An
diesem Wochenende dreht der Sauber C35 seine Runden auf dem Hungaroring in Budapest, es
ist das 24.Formel-1-Auto des Schweizers.
«Keineswegs» habe er je die Absicht gehabt, «in diese Branche einzusteigen», sagte er einst.
«Ich habe weder Benzin im Blut, noch verfüge ich über einen Autobazillus.» Mittlerweile ist
Sauber die viertälteste Marke in der zum milliardenschweren Business gewachsenen Serie,
hinter Ferrari, McLaren, Williams.
Wieder finanziell am Abgrund
Sauber hätte sich das nie erträumen lassen, als die Idee 1990 wuchs, mit Mercedes als
Antreiber, weil die Sportwagen-WM dem Ende zufuhr. Erst recht nicht, als sich dann der
Konzern aus Stuttgart, mit dem man 1989 die WM und die 24 Stunden von Le Mans sowie 1990
erneut Fahrer- und Konstrukteurswertung bei den Sportwagen gewonnen hatte, zurückzog. Der
Patron hatte da auf dem einstigen Firmengelände seines Vaters in Hinwil längst eine neue
Fabrik gebaut. Und entschied sich zum Einstieg, «ein vernünftiger Schritt in die Unvernunft»,
so nannte er das.
Das kleine Team aus der Schweiz nahm es mit den Traditionsrennställen aus dem
motorsportverrückten England auf. «Was immer mich angetrieben hat», sagte Sauber, «war der
Wille, vor einer schier unlösbaren Aufgabe nicht zu kapitulieren.» Es gab diesen Kampf auf der
141
Strecke, seit je aber auch den daneben. Die jüngsten finanziellen Probleme des Rennstalls
dürften zwar diesbezüglich der tiefste Punkt gewesen sein, bei weitem aber nicht der erste.
Oft stand das Team am Abgrund, lehnte sich gar etwas darüber hinaus. Immer kam die Rettung
- wie jetzt. So engagierte sich Mercedes in der Saison nach dem Premierenjahr doch noch bei
Sauber. Konnte Ford angeheuert werden, als die Stuttgarter wieder verschwunden waren,
später Ferrari. Stiegen 1995 Red Bull und Petronas als grosse Geldgeber ein, folgte die Credit
Suisse, als sich der Getränkegigant zurückzog. Kam 2006 die Lösung mit BMW, als es nicht
mehr allzu gut stand um Sauber. Und nun also ist die Longbow Finance SA die Heilsbringerin.
Der 72-jährige Sauber, der immer wieder betonte, er wolle mit 70 nicht mehr an der
Boxenmauer stehen, dürfte nur eines hoffen: dass er sich nun für immer aus der Formel 1
verabschieden darf.
Die Lenker des russischen Betrugs
Schlusszeremonie der Winterspiele in Sotschi – und Schlussakt russischer Olympia-Auftritte für einige
Zeit? Foto: Getty Images
Ein kleiner Kreis orchestrierte den systematischen Dopingeinsatz. Bereits ist eine zentrale Figur
suspendiert.
Von Christian Brüngger, TA vom MI 20. Juli 2016
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Russlands Ministerpräsident Dmitri Medwedew hatte den desaströsen Bericht der
internationalen Dopingbekämpfer erst wenige Stunden auf seinem Tisch, als er noch gestern
Abend den stellvertretenden Sportminister Juri Nagornich suspendierte. Denn die von der
Welt-Anti-Doping-Agentur eingesetzte Taskforce entblösste Nagornich als eine der
Schlüsselpersonen, welche das systematische Betrügen im russischen Sport zu verantworten
haben. Zusammen bilden sie einen Kreis des sportlichen Grauens.
Juri Nagornich
Die Nummer 2
Noch vor zwei Monaten sagte Juri Nagornich: «Es gibt kein Dopingprogramm in Russland.»
Dank der 97 Seiten der Taskforce ist der Politiker seit vorgestern als (plumper) Lügner
überführt. Nagornich wusste nicht nur von diesem Programm, er legte gar dessen Strategie fest.
Nachdem Russland die Sotschi-Spiele für 2014 erhalten, 2010 in Vancouver aber bescheiden im
Medaillenranking abgeschnitten hatte, lancierte Nagornich mit den weiteren Schlüsselfiguren
dieses angeblich inexistente Dopingprogramm.
Er stand ihm als operative politische Instanz vor. Alle positiven Dopingproben russischer
Athleten, welche das Kontrolllabor in Moskau entdeckt hatte, mussten ihm gemeldet werden.
Nagornich entschied dann, ob das Labor diese Tests in negative umwandeln oder ob es die
Sportler auffliegen lassen sollte. Seine Faustregel: Je wichtiger der Athlet für den russischen
Sport war, desto weniger Interesse hatte er an seiner Überführung.
Als eine erste Expertengruppe der Welt-Anti-Doping-Agentur im vergangenen Jahr den
Dopinganschuldigungen in der russischen Leichtathletik nachging, wollte Nagornich das
Programm einstellen. Er wurde allerdings von Irina Rodionowa überredet, die Manipulationen
laufen zu lassen.
Irina Rodionowa
Die Cocktailherzogin
In der russischen Sportszene trug Irina Rodionowa einen klangvollen Namen. Die
stellvertretende
Direktorin
des
Trainingszentrums
der
Nationalteams
wurde
«Cocktailherzogin» genannt. Der Grund: Sie verteilte den besten Athleten des Landes die
Rezeptur eines Dopingmixes, den der Leiter des Kontrolllabors von Moskau erstellt hatte. Der
Mix war mindestens von 2012 bis 2015 eingesetzt worden. Nachtests in diesem Sommer
konnten einige Russen auf die entsprechenden Substanzen überführen. Rodionowa, die
phasenweise für das Nationale Olympische Komitee arbeitete, kam während der
Manipulationen von Sotschi eine zentrale Aufgabe zu. Weil die eigenen korrupten
Dopingbekämpfer an den Spielen von ausländischen kontrolliert wurden, konnte man die
Proben nicht einfach wie sonst verschwinden lassen.
Also musste man den dopingbelasteten Urin der Athleten anders in sauberen drehen. Der Plan
bestand darin, diese kontaminierten Abgaben durch zuvor gesammelten unverdächtigen Urin
der betroffenen Athleten zu ersetzen. Rodionowa, die eine Liste mit 37 Medaillenhoffnungen für
Sotschi führte, sammelte deren sauberen Urin ein, lagerte ihn und arbeitete in Sotschi mit den
eigenen «Dopingbekämpfern» sowie dem Geheimdienst zusammen.
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Jewgeni Blochin
Der Geheimagent
Kopf der Geheimdienstmitarbeiter war Jewgeni Blochin. Seine primäre Mission: Die als nicht
manipulierbar geltenden Urinfläschchen für Dopingproben aufzukriegen. Seit 2013 arbeitete er
mit einem Team an diesem Projekt. Während Sotschi waren Blochin und Mitarbeiter dafür
besorgt, die kontaminierten Proben russischer Athleten zu knacken, damit sie die eigenen AntiDoping-Kämpfer durch saubere ersetzen konnten. Es war auch Blochin, der beim Bau des
Dopingkontrolllabors von Sotschi den Zugang legen liess, damit man ihm die entsprechenden
Proben aus dem Labor herausgeben konnte (bzw. er sie wieder den Anti-Doping-Kämpfern
aushändigen konnte).
Grigori Rodschenkow
Der Laborleiter
Den Urinaustausch erledigten Grigori Rodschenkow und sein Team. Rodschenkow war der
führende Anti-Doping-Kämpfer des Landes, leitete das Kontrolllabor in Moskau und während
Sotschi auch dasjenige an den Heimspielen. Zugleich sorgte er dafür, dass die erwähnten
positiven Proben russischer Athleten nicht an die Öffentlichkeit gelangten - nach Anweisung
von Nagornich. Ihm musste er regelmässig berichten.
Auch Sportminister Witali Mutko habe er mehrfach zur Causa informieren müssen. Es ist für
ihn darum unzweifelhaft, dass Mutko im Minimum wusste, was ablief. Rodschenkow war der
Schlüsselzeuge der Taskforce. Nachdem er Ende 2014 entlassen worden war, flüchtete er aus
Angst um sein Leben in die USA - samt einer immensen Menge an kompromittierendem
Material. Im Mai machte die «New York Times» einen Teil davon öffentlich. Nach der
Recherche der Taskforce stellt sich also heraus: Seine Aussagen stimmten alle.
Witali Mutko
Der Sportminister
Bis heute bestreitet Mutko, von diesem flächendeckenden Dopingprogramm gewusst zu haben.
Im Bericht aber wird er schwer belastet - nicht als Lenker des Systems, dafür als Patron im
Hintergrund, der stets im Bild war, was seine Untergebenen trieben. Die Taskforce kann gar
einen Fall dokumentieren, in den Mutko direkt involviert war. Mutko, Präsident des russischen
Fussballverbandes und Fifa-Exekutivmitglied, wies an, eine positive Dopingprobe eines
ausländischen Fussballers zu vertuschen.
Wegen dieser Erkenntnisse verlangte die Fifa von der Welt-Anti-Doping-Agentur alle
vorhandenen Informationen zum Thema. Unter den mindestens 643 verschwundenen positiven
Dopingfällen, welche die Taskforce aufspüren konnte, stammen 11 aus dem russischen Fussball.
Noch aber scheint Mutko, OK-Präsident der Fussball-WM von 2018 im Land, unbestritten.
Zumindest sagte Kremlsprecher Dimitri Peskow gestern: Präsident Wladimir Putin sehe auch
nach dem Bericht keinen Grund für eine Entlassung von Mutko
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Eine zerrissene Stadt
Nach dem Massaker in Nizza zeigt sich, dass der Terror noch mehr zerstört als Menschenleben.
Die Trauernden stehen nicht länger zusammen, sie stehen sich gegenüber - in tiefem
Misstrauen.
Eine Reportage von Nadia Pantel, Nizza, TA vom MO 18. Juli 2016
Die Fahnen an der Promenade von Nizza auf Halbmast. Die 84 Toten stellen infrage, ob das
Zusammenleben in Frankreich noch funktioniert.
Von der Endhaltestelle der Tramlinie1 sind es nur noch ein paar Hundert Meter den Berg hoch,
dann sieht man das Haus, in dem Mohamed Lahouaiej-Bouhlel lebte. Weisse Fassade, kleine
Balkone. Er wohnte im 12. Stock, nach hinten raus. Gleich hinter der Wohnanlage beginnt eine
Art Park, Palmen und Eukalyptus. Von hier oben, von den Hügeln am Rand von Nizza aus, hat
man den gesamten Himmel über der Bucht im Blick. Bouhlel hätte einfach zu Hause bleiben
können am 14.Juli und hätte freie Sicht aufs Feuerwerk zum Nationalfeiertag gehabt.
Stattdessen ist er ins Tal geradelt, zu dem 19-Tonnen-Laster, den er gemietet hatte, und ist zur
Promenade am Meer gefahren. Und dann in die feiernden Menschen hinein. 45Sekunden
dauerte seine Zickzackfahrt, sagt die Polizei. 45Sekunden, die 84Menschen das Leben kosteten.
Bouhlel war kein netter Junge von nebenan. Seine ehemaligen Nachbarn erzählen, dass sie den
31-Jährigen unsympathisch fanden, dass er nie grüsste. Bouhlels Vater sagt der BBC, dass sein
Sohn 2004 wegen Depressionen zum Psychologen ging. Seine Ex-Frau nennt ihn brutal. Lokale
Medien berichten, er habe als Lieferfahrer gearbeitet, sei geschieden, habe drei Kinder. Seine
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Eltern kommen aus Tunesien und sind Muslime. Bouhlel hat nicht gebetet und ging nicht in die
Moschee. Seine Hobbys: Salsa tanzen und Bodybuilding. Die Polizei kannte ihn als
Kleinkriminellen.
Keine Biografie liest sich so, dass man denkt: Ja, dieser Mensch wird später einmal mit einem
Lastwagen auf ein Kettenkarussell voller Kinder zusteuern. Und dennoch durchleuchten Justiz,
Polizei und Medien nun die Spuren seines Lebens, um seiner Tat einen Kontext zu geben. Um
zu verstehen, woher sein Hass kam. Die Terroristen der Miliz Islamischer Staat haben die
Morde von Nizza als ihre Tat reklamiert. Bouhlel sei ihr «Soldat». Die Ermittler wollen das
weder bestätigen noch dementieren.
Gift für alle
So unklar die Hintergründe der Tat sind, so klar zeigen sich in Nizza ihre Folgen.
Samstagvormittag 10Uhr: eine Palme am Anfang der Promenade. Die Menschen beginnen,
Blumen, Kuscheltiere und Kerzen für die Getöteten auf den Boden zu legen. Wer spricht,
flüstert, die meisten schweigen. Um die Trauernden hat sich ein Kreis von Kamerateams
gebildet. Ein Pärchen stellt sich zu den Trauernden. Er im weissen Leinenanzug, sie mit rosa
Kopftuch. Sie halten Händchen. Sie wohnen an der Grenze zu Italien, erzählt er, sie machen
Ferien.
Es dauert nicht lange, bis ein Passant auf sie zukommt. «Die Leute müssten sich integrieren»,
sagt er. Er wiederholt diesen Satz dreimal. Das Pärchen sagt jedes Mal: Ja, das stimmt. Mit
jeder Zustimmung wird der Passant wütender. «Sie sind ein Musterbeispiel für Integration oder
was?», schreit er. «Und ich bin wahrscheinlich ein Faschist, ja?» Eine Frau mit Kinderwagen
bleibt stehen: «Könnt ihr nicht mal aufhören mit eurem Scheissrassismus? Hier sind Menschen
gestorben!» Eine Reporterin der Lokalzeitung beginnt, Notizen zu machen, eine Frau neben ihr
zischt: «Blöde Idiotenpresse.» Vielleicht ist es die Hitze, vielleicht die Übermüdung, nun schreit
auch die Journalistin: «Ich hab so was von die Schnauze voll! Lesen Sie unsere Zeitung
überhaupt, Madame? Vielleicht sollten Sie sich mal informieren, bevor Sie mich hier
beschimpfen!»
In diesem Moment ist es egal, warum Mohamed Lahouaiej Bouhlel seine Amokfahrt begann.
Entscheidend ist nur das Gift, das er in die Stadt und zwischen die Menschen gebracht hat. Das
Gift, das aus den Morden vom Bataclan und von «Charlie Hebdo» destilliert wurde. Kein ISStratege könnte sich diese Szene schöner ausmalen. Der Terror verwandelt die Menschen in
Paranoide, in Rassisten, in Feinde. Er schafft die Angst und das Chaos, die die Terroristen zum
übergrossen Bösen anwachsen lassen, zu einer finsteren Macht, der man alles zutraut.
Der stellvertretende Bürgermeister von Nizza geht in geflochtenen Mokassins die Promenade
von Nizza entlang und grüsst Bekannte. Er schüttelt Hände, klopft auf Schultern, sagt, dass alles
schrecklich sei, aber man «den Kopf erhoben» halten müsse. Rudy Salles, Mitglied der liberalen
Partei Nouveau Centre, ist nicht nur Adjutant im Rathaus, er ist auch zuständig für den
Tourismus. Ob sich Nizza nun verändern werde? «Was sie hier sehen, ist eine der schönsten
Strassen der Welt. Das wird auch so bleiben.» Nizza sei ja nicht die erste Stadt, die dem Terror
trotze. Salles zählt auf: «New York, Madrid, Tel Aviv, Paris.» Bagdad, Istanbul oder Beirut
fehlen auf seiner Liste.
Eine Stunde später, am Mittag, steht Salles gemeinsam mit den anderen Spitzen der
Stadtverwaltung im Prunksaal des Rathauses. An der Decke Kronleuchter, an den Wänden die
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Mächtigen vergangener Jahrhunderte und in der Mitte des Raums ein paar verlegene Männer in
neongelben Hosen. Die Stadtreinigung. Sie waren nach der Polizei die Ersten am Tatort. Sie
haben im Morgengrauen begonnen, das Blut auf der Promenade aufzuwischen und die vielen
Schuhe einzusammeln, die die Flüchtenden verloren hatten. Während sie arbeiteten, klingelten
in den Taschen der Toten die Handys. Für diese Grauensarbeit will sich die Stadt bei ihnen
bedanken.
Christian Estrosi, Ex-Bürgermeister von Nizza, jetzt Präsident des Département AlpesMaritimes und immer noch mächtigster Mann der Stadt, hält eine zehnminütige Ansprache. Er
lobt die «Effizienz und Professionalität» der Polizei und der Reinigungskräfte in immer neuen
Formulierungen. Schliesslich wagt er den ganz grossen Wurf: «Lassen Sie es mich mit Napoleon
sagen: Hier sehen Sie die Tapferen!» Die Worte, mit denen sich Frankreichs umtriebigster
Kriegsführer an die Soldaten nach der Schlacht von Austerlitz wandte. Bouhlels Lastwagen als
feindliche Streitmacht, die von Müllmännern in Warnkleidung bezwungen wurde. Und Estrosi
als einer von sehr vielen, sehr hilflosen Politikern, die nicht mehr wissen, was sie ihren Bürgern
noch sagen sollen, damit die und er wieder schlafen können.
Am Samstagnachmittag wird die Promenade des Anglais wieder geöffnet. Eigentlich fahren hier
Autos, doch dieses Wochenende über gehört die Strasse den Fussgängern. Das Blut der
Donnerstagnacht ist zu schwarzen Flecken auf dem Asphalt eingetrocknet. Nach ein paar
Stunden sind die Flecken unter Blumen und Kerzen verschwunden. In der Altstadt von Nizza
könnte man denken, dass in dieser Stadt nichts passiert sei. Eis essen, einkaufen, lachen,
fotografierende Touristen.
Auf der Suche nach Schuldigen
Viele Menschen, die nun am Meer entlang von Blumenteppich zu Blumenteppich laufen, waren
dabei, als Bouhlel zum Mörder wurde. Man sieht sie von weitem mit grossen Gesten erzählen,
wie er das Steuer herumgerissen haben muss. Man hört sie fragen, ob sie schon vom Schicksal
der Nachbarin erfahren hätten, man sieht sie die Hand vor den Mund pressen, als sie die
Antwort hören. Ein Mann scheitert mit zitternden Fingern beinahe daran, sich eine Zigarette
anzuzünden. Eine Frau bricht laut schluchzend zusammen, ihr zehnjähriger Sohn versucht, sie
festzuhalten. Und immer wieder beginnt in all dem jemand damit, jemand anderen
anzuschreien. Auf der Suche nach Schuldigen für den Horror.
Am unkompliziertesten sind die Gruppen, die sich bilden, in denen auf den Staat geschimpft
wird. Die Europameisterschaft wurde gesichert, aber die normalen Bürger von Nizza wurden
allein gelassen! Ein Junge zeigt ein Handyvideo herum. Auf dem Bildschirm verschwommene
Gestalten, die aus einem Lastwagen aussteigen und so aussehen, als trügen sie Gewehre.
Heimliche Komplizen von Bouhlel, die der Staat verschweigt? Andere erzählen, dass Bouhlel
lebend gefasst wurde und mit einem Sack über dem Kopf abgeführt wurde. Wieder andere
meinen, die Zahl der Toten sei viel höher als offiziell angegeben. Je unsicherer sich die Welt
anfühlt, desto unsicherer ist auch, wem man überhaupt noch trauen soll. Wenn Autos auf
einmal Waffen sind und Feiernde zu Terrorzielen werden, dann sind auch vielleicht andere
Dinge nicht mehr so, wie sie scheinen. Dann lügt vielleicht auch das Spital, wenn es sagt, wie
viele Verletzte es behandelt.
Doch häufig bleibt der Feind nicht abstrakt. Dann geht es nicht gegen «die Politik» oder gegen
«die Polizei» oder gegen «die Medien», sondern gegen den Menschen, der neben einem steht.
Eine Frau mit Sonnenhut schüttelt vor einem kleinen Plüschtiger den Kopf. «Wir vermissen
dich, Prinzessin», steht auf einem Zettel neben dem Tiger. «Hoffentlich räumt hier bald mal
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jemand auf», sagt die Frau. Nicht die Kuscheltiere sollen weg, sondern die Araber. «Wie können
Sie das sagen?», die Frau neben ihr beginnt zu weinen. Vor 20 Jahren kam sie aus Algerien
nach Frankreich. «Es gibt keine Fremden, Madame, es gibt nur Menschen!»
Beinah alle hier auf der Promenade hoffen, dass sich das Massaker, das Mohamed LahouaiejBouhlel angerichtet hat, als Tat eines einsamen Irren herausstellen wird. Weil sie wissen, dass
das Zusammenhalten immer schwieriger wird, wenn sich herausstellt, dass es erneut der IS war,
der das Morden inszenierte und anordnete. «Muslime sind keine Islamlisten», fällt früher oder
später in jeder aufgewühlten Runde am Strand. Den Satz sagen Muslime ebenso wie Christen
und Atheisten.
Das Mantra der Toleranz
Alle stemmen sich gemeinsam gegen die Logik des IS, der behauptet, ein Muslim könne kein
Franzose sein. Aber das Mantra der Toleranz allein entwirrt nicht die Konflikte. Im Kern geht es
in den Streits immer wieder um Anerkennung. Warum hat Frankreich seine Verbrechen
während des Algerienkriegs so lange ignoriert? Warum kriegen junge Marokkaner keine Jobs?
Statt Antworten gibt es Gegenfragen: Warum tragen Sie bei 30Grad im Schatten Kopftuch und
Mantel? Warum gehen Sie nicht, wenn es Ihnen hier nicht gefällt? Die 84 Toten von Nizza sind
dann nicht mehr einfach die Opfer eines Gestörten. Sie stellen infrage, ob das Zusammenleben
in Frankreich funktioniert.
Es ist dann egal, dass das Zusammensterben sehr wohl funktioniert, und dass die Opfer
französische, ebenso wie arabische, englische und russische Namen hatten. Dass die
Gesellschaft viel verwobener ist, als es rechtsnationale oder islamistische Populisten glauben
machen wollen. Es geht dann einfach nur um die Hoffnung, dass es doch einen klaren
Verantwortlichen für das nicht endende Morden geben könnte.
Je unsicherer die Welt, desto unsicherer, wem man trauen soll.
Auf die Angst folgt die Wut
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Polizisten entwaffnen Soldaten auf dem Taksim-Platz (Foto EPA/Keystone)
Dem türkischen Präsidenten Erdogan kann kein Rivale etwas anhaben - nicht politisch und
offensichtlich auch nicht militärisch. Der Putsch hat ihn unbesiegbar gemacht.
Eine Reportage von Mike Szymanski, Istanbul, TA vom MO 18. Juli 2016
Kaum zu glauben, aber da drinnen wird geputzt, der Mann ist die Ruhe selbst. Es ist
Samstagnacht in Istanbul, kurz nach drei Uhr. Im Foyer des Marmara-Hotels am Taksim-Platz
schiebt ein Putzmann seinen Lappen hin und her. Die Gäste haben sich in ihre Zimmer
verkrochen. Die Bar? Längst geschlossen. Draussen vor dem Hotel, auf dem Platz, fangen die
Leute wieder an zu rennen. Es hat geknallt, sehr laut hat es geknallt.
Drei junge Kerle haben sich hinter einer mannshohen Skulptur verkrochen. Sie drücken sich so
eng aneinander, wie es nur geht. Verschwitzte Körper, die Köpfe eingezogen, wie Igel eingerollt,
so kleben sie Mensch an Mensch. Einer hält sich die Hand vor den Mund und atmet schwer. Der
Knall? Eine Bombe? Nein. Ein Kampfjet hat die Schallmauer durchbrochen. Das Flugzeug jagt
so tief über Istanbul hinweg, dass reihenweise Fensterscheiben zu Bruch gehen. Alarmanlagen
kreischen.
Schüsse und wieder Schüsse. Die Köpfe gehen runter. Wer sich noch nicht in Sicherheit
gebracht hat, flüchtet nun vom Taksim. Ein Militärlaster steht einsam da. Ist das ein Zeichen
dafür, wer hier als Verlierer vom Platz geht? Am Republik-Denkmal auf dem Taksim hatten
zuvor einige Hundert Istanbuler, Zivilisten wie Polizisten, Soldaten eingekesselt und wüst
beschimpft: «Verräter!»
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Der 15.Juli 2016 wird in die Geschichte der Türkei eingehen. Als ein Tag, an dem sich das
Militär wohl zum letzten Mal mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamischkonservativen AKP angelegt hat. Als ein Tag, an dem mit viel Blutvergiessen die Entscheidung
gesucht wurde, wem das Land gehört. Am Ende des Putschversuchs sind knapp 300Menschen
tot und weit mehr als 1000Menschen verletzt. 6000 Personen werden verhaftet, einfache
Soldaten, Offiziere und Generäle. Niemand weiss genau, was sie erwartet, denn die Regierung,
offenbar überrumpelt und schwer getroffen von diesem Aufstand, sinnt auf Rache.
«Wir sind unter Beschuss», tippt der Abgeordnete Mustafa Yeneroglu um 2.48Uhr in Ankara in
sein Handy. Er sitzt im Parlament fest, die Putschisten greifen die Grosse Nationalversammlung
an. CNN Türk berichtet live von den Explosionen. Der Sender zeigt verwackelte Handyvideos
von Politikern, die vor den herumfliegenden Trümmern fliehen. Es ist erst ein paar Tage her, da
ist man mit Yeneroglu durch dieses Parlament gelaufen, durch all die grosszügigen Flure, zum
Garten der Abgeordneten, mit den Sonnenschirmen, Gartenbänken und Tischen. Der Politiker
entschuldigte sich auch noch für die Taschen- und Ausweiskontrollen am Eingang des
Parlaments, falls sie den Gast genervt haben sollten.
In der Nacht zum Samstag sind es aber keine Terroristen, die sich Zugang zum Parlament
verschaffen wollen. Es sind Soldaten, die den Staat doch beschützen sollen mit ihrem
Kriegsgerät. Wo in der vergangenen Woche die Abgeordneten noch in ihren rotbraunen,
schweren Lederstühlen sassen, ist jetzt die Decke heruntergekommen. Flure und Zimmer sind
verwüstet, man sieht das im Fernsehen. Und noch einmal meldet sich Yeneroglu. «Haben
überlebt. Zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls.»
Kasernen besetzt
In Ankara ist der Putsch da immer noch im Gange. Der Sitz des Generalstabs liegt nur ein paar
Hundert Meter vom Parlament entfernt. Das Gebäude bleibt auch am Samstag noch lange Zeit
der am heftigsten umkämpfte Ort. «Wir können hier nicht weg», sagt Yeneroglu am Telefon.
Erst am Samstagnachmittag verkündet Regierungschef Binali Yildirim, die Lage sei weitgehend
unter Kontrolle und der Putschversuch abgewehrt. Aber auch danach ist das Ringen um die
Macht offenbar noch nicht beendet, weil Soldaten Widerstand leisten und Kasernen besetzt
halten. Der Luftwaffenstützpunkt Incirlik wird abgeriegelt und ist zeitweise ohne Strom.
Nach und nach wird das Ausmass des versuchten Staatsstreichs sichtbar, doch da hat der grosse
Gegenschlag schon begonnen. Erdogan spricht von einer «Säuberung aller staatlichen
Institutionen». Der Staat macht Jagd auf diejenigen, die er für Verräter hält. Die Regierung hat
ihnen schon einen Namen gegeben: Gülenisten. Das sind die Anhänger des Predigers Fethullah
Gülen und seiner islamischen Bewegung. Einst waren Erdogan und Gülen Weggefährten, zwei
fromme Männer, die ganz nach oben wollten. Doch da ist nur Platz für einen. Heute ist Gülen
Erdogans Erzfeind.
Der Präsident fürchtet das Netzwerk der Unterstützer, die Gülen bis heute in der Türkei hat.
Seine Leute sassen früher an vielen Stellen der Verwaltung, in der Polizei, im Militär, und viele
dachten, Erdogan hätte sie längst alle von ihren Posten entfernt. Gülen ist für ihn nicht mehr
greifbar, denn der Prediger lebt im Exil in den USA, in Pennsylvania. Aber wen sich der
Präsident in der Türkei noch greifen kann, den wird er sich nun wohl holen.
Nur, steckt Gülen wirklich hinter allem, hat er wirklich die Fäden gezogen? Erdogans Regierung
sucht sofort im ganzen Land nach «Verrätern», stellt den Putschoffizieren mit Booten nach,
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verfolgt ihre Helikopter. Jetzt wird aufgeräumt, nicht nur in den Reihen der Streitkräfte. Auch
rund 3000Richter sind festgenommen oder von ihren Posten abberufen worden. Feinde findet
Erdogan fast überall. Und auf den Strassen schreien seine Anhänger schon in der Putschnacht
nach Rache. Sie verlangen die Todesstrafe. Manche wollen selbst bestrafen: hier und jetzt.
Aufnahmen davon, wie sich Wut und Hass entladen, gibt es im Internet zuhauf.
«Eure Botschaft ist bei uns angekommen», sagt Premier Yildirim. Und Erdogan sagt, es sei
Sache des Parlaments, über eine Änderung der Gesetze zu entscheiden. «Es ist nicht nötig, sich
dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen.» Das zielt wohl auf die EU, die mit Sicherheit
protestieren würde, sollte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen. Das Fernsehen zeigt
auch Bilder von Soldaten, die wie Gepäckstücke nebeneinander auf dem Asphalt liegen, die
Hände hinter dem Kopf gefaltet. Wer Glück hat, wird nicht geschlagen.
Wenn nicht Gülens Leute die Drahtzieher waren, war es dann der alte Kampf zwischen
Erdogans frommen Anhängern und dem säkularen Militär, der jetzt noch einmal aufgeflammt
ist? Die Armee wollte Erdogan nie an der Macht haben. Die Streitkräfte fühlen sich dem Erbe
Atatürks verpflichtet. Der Republikgründer hatte in der Verfassung die Trennung von Staat und
Religion verankert. Das Fromme? Es sollte allenfalls Privatsache sein.
Aber seitdem Erdogan mit seiner AKP im Jahr 2002 erstmals eine Wahl mit absoluter Mehrheit
gewonnen hat, blüht der Islam im öffentlichen Leben auf. Mehr Moscheen, mehr Kopftücher
sieht man im Strassenbild. Zum Ende des Ramadan trat erstmals seit der historischen
Säkularisierung ein Muezzin unter die Kuppel der Hagia Sophia, um den muslimischen
Gebetsruf anzustimmen. Im Parlament träumen AKP-Abgeordnete von einer islamischen
Verfassung. Wer im Ramadan das neue Album der Band Radiohead hörte und die Songs mit
Bier feierte, musste fürchten, von Eiferern verprügelt zu werden.
«Hier stimmt etwas nicht!»
Der Freitag war ein heisser Sommertag. Die zwei Bosporus-Brücken, die im Zentrum Istanbuls
den asiatischen Teil der Stadt mit dem europäischen verbinden, leuchteten in den französischen
Nationalfarben. In Nizza hatte an diesem Tag ein Attentäter mehr als 80Menschen auf der
Strandpromenade getötet. Natürlich trauerten die Türken mit.
Gegen 22Uhr brummt plötzlich das Handy. «Bosporus-Brücke gesperrt.» Wieder Terror? Nein,
dieses Mal ist es etwas anderes. Es sind nicht Polizisten, die die Brücken in Istanbul für Autos
sperren, sondern schwer bewaffnete Soldaten. Militärlaster stehen quer auf den Fahrbahnen.
Dann klingelt das Telefon, Freunde melden sich. «Hier stimmt etwas nicht!», sagen sie. In
Ankara habe das Militär Truppen zusammengezogen und Panzer in Bewegung gesetzt, heisst es.
Da donnern auch schon F-16-Kampfjets im Tiefflug über die Hauptstadt. Ein Reporter sagt im
Fernsehen, dass er keine Ahnung habe, was da vor sich gehe. Dann geht es Schlag auf Schlag.
Premier Yildirim erklärt dem Sender NTV, was kaum einer für möglich gehalten hatte: Teile des
Militärs hätten den Aufstand gegen die Regierung gewagt. Es muss so schnell gehen, dass für
einen richtigen TV-Auftritt keine Zeit ist. Der Premier meldet sich per Telefon. Yildirim sagt, es
wäre falsch, von einem «Putsch» zu reden. Soldaten rücken zu diesem Zeitpunkt in Istanbul
schon auf den Flughafen Atatürk vor, und Truppen besetzen den Taksim. Andere Einheiten
greifen nach dem Gouverneursamt.
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Auch den Staatssender TRT bringen die Streitkräfte unter ihre Kontrolle. Soldaten treiben
Anzugträger vor sich die Treppe hoch. Die Moderatorin Tijen Kara ist an diesem Abend auf
Sendung. Aber so verkrampft, wie die 41-Jährige später die Hände vor sich faltet, so starr wie
sie dann in ihrem blauen Blazer dasitzt, wird schnell klar: Das sind nicht ihre Worte, die sie da
vorträgt. Das Militär habe die Macht übernommen, sagt sie, es herrsche jetzt der
Ausnahmezustand und bis auf weiteres eine Ausgangssperre. Nun regiere ein «Friedensrat».
Die Putschisten berufen sich auf Kemal Atatürk. Erdogan und seine Regierung hätten das Land
von seinen laizistischen Grundfesten weggeführt.
Etwa zehn Minuten dauert das gruselige Schauspiel. Tijen Karas hält sich wacker. Dass sie mit
Waffengewalt zu diesem Auftritt gezwungen wurde, während ihre Kollegen als Geiseln gehalten
wurden, erzählt sie erst Stunden später, als Polizisten das Studio zurückerobert haben und sie
wieder auf Sendung ist.
Erdogan hatte derweil eine Zwangspause im Fernsehen. Sein erster TV-Auftritt in dieser Nacht
erfolgt via iPhone, das in die Kamera gehalten wird. Der grosse Mann der Türkei spricht jetzt
aus diesem kleinen Gerät zu seinem Volk. «Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am
Flughafen zu versammeln», sagt er. «Sollen die Putschisten mit ihren Panzern und ihren
Kanonen machen, was sie wollen.»
Vom Flughafen Atatürk überträgt das Fernsehen in dieser Nacht minutenlang eine Szene, die
die Verzweiflung der Putschisten kaum besser einfangen könnte. Umringt von wütenden
Erdogan-Anhängern fummeln die aufständischen Soldaten an der kaputten Tür ihres
Transporters herum, die schief herunterhängt. So sehr sich die Soldaten auch bemühen, sie
bekommen sie nicht gerichtet. Für die Putschisten muss der Frust gross sein, es funktioniert
vieles in dieser Nacht nicht. Stümperhaft ist ihr Umsturz vorbereitet, denn grosse Teile des
Militärs unterstützen den Aufstand nicht. Im Fernsehen melden sich Offiziere zu Wort, die
sagen, dass sie nicht mitmachten. Auch das TRT-Studio fällt bald zurück an die ErdoganAnhänger, die jetzt vor laufender Kamera feiern. Das sieht aus wie der Moment, wenn nach
grossen Fernsehshows das Publikum auf die Bühne darf und Luftballons von der Decke fallen.
Erdogans Hotel bombardiert
Und dann tritt Erdogan auf. Nein, er ist nicht ins Ausland geflohen, wie gemutmasst wurde.
Gegen vier Uhr landet er auf dem Atatürk-Airport in Istanbul. Die Soldaten sind da längst
abgerückt oder festgenommen worden. Für einen, der gerade einen Putschversuch erlebt, wirkt
Erdogan ziemlich aufgeräumt. Die Verräter würden «schwer bezahlen», das Militär nun
«gesäubert». Eine Viertelstunde dauert der Auftritt am Flughafen. Dann flüstert sein
Schwiegersohn ihm vor laufenden Kameras etwas ins Ohr. Das Militär hat auch das Hotel in
Marmaris an der Ägäisküste bombardiert, in dem Erdogan gerade ein paar Tage ausspannen
wollte. Der Blick des Präsidenten verfinstert sich.
Samstagabend. Vor Erdogans Haus in Kisikli in Istanbul haben sich seine Anhänger
versammelt. Auch einen Bühnenwagen haben sie herangefahren. Der Präsident klopft aufs
Mikro, aber es dauert eine Weile, bis er sprechen kann, doch da ruft die Menge schon: «Iste
ordu, iste Komutan!» Sinngemäss übersetzt heisst das: «Wir sind deine Armee, du bist unser
Kommandant!» Die Verhältnisse sind geklärt. Es sieht so aus, als habe der Putsch Erdogan
noch stärker gemacht, unbesiegbar. Politisch konnte ihm bislang keiner etwas anhaben, und mit
Waffen offensichtlich auch nicht.
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Der letzte Romantiker der Wissenschaft
Der Mensch ist ein zähes Biest. Darum hat James Lovelock, Jahrgang 1919, keine Angst um seine und unsere
Zukunft. Mathias Plüss hat den Öko-Pionier und ketzerischen Denker an der englischen Südküste besucht.
Ein Gespräch von Mathias Pluess
Das Magazin N°28 – 16. Juli 2016
Zugegeben, der Mann wirkt ziemlich fit. Trotzdem wird dem Journalisten mulmig zumute, als sich
der 96-Jährige ans Steuer setzt. Doch James Lovelock zeigt bei der Fahrt keinerlei
Ermüdungserscheinungen – ebenso wenig im dreistündigen Gespräch im Wohnzimmer seines
Hauses. Die Lovelocks wohnen abgelegen an der englischen Südküste, aber keineswegs hinter dem
Mond. Sie sind technisch auf dem neusten Stand und überlegen sich, eine Antenne auf dem
Hausdach zu installieren, um den Handyempfang zu verbessern.
Dennoch wirkt James Lovelock in manchem wie ein Fossil aus dem 19. Jahrhundert. Während sich
heutige Wissenschaftler vornehmlich mit Universitätsverwaltungen, Fördergeld-anträgen und
Prüfungsreglementen herumschlagen, hat er den grössten Teil seines Forscherlebens zu Hause
verbracht: Als einer, der sich von niemandem etwas vorschreiben lässt, tüftelte Lovelock in seinem
Privatlabor an Erfindungen und brütete Ideen aus. Der studierte Chemiker hat in der
Umweltforschung Pionierarbeit geleistet. Er schrieb ein Dutzend Bücher und meldete mehr als
vierzig Patente an. Bekannt wurde er mit einem Gerät, das Umweltgifte wie DDT oder FCKW
aufspüren kann, sowie mit seiner Gaia-Theorie, wonach die Erde ein einziger, lebendiger
Organismus sei. Noch immer hat Lovelock in der Ökoszene einen guten Ruf, auch wenn er
zunehmend Positionen vertritt, die dem grünen Mainstream zuwiderlaufen.
Nach dem Gespräch begleitet der alte Herr den Besuch, der zu Fuss zurückgehen will, ein Stück. Die
Szenerie am langen Chesil Beach ist einmalig. Auf die Frage, warum er keine Wanderstöcke
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benutze, antwortet Lovelock schelmisch: «Ach, dafür bin ich zu jung. Das ist etwas für richtig alte
Leute!»
Das Magazin — Mr. Lovelock, ist es immer noch so, dass in England jedes gute Gespräch mit dem
Wetter beginnt?
James Lovelock — Bis vor wenigen Jahrzehnten war das so. Der andel begann in den 1960erJahren, als die Beatles aufkamen, die Leute sich anders zu kleiden begannen und versuchten, ihren
regionalen Akzent loszuwerden. Ein Opfer dieses Wandels war auch das Gespräch übers Wetter.
Es existiert nicht mehr?
Oh doch. Alte Leute wie ich interessieren sich sehr fürs Wetter, aber nicht die jüngere Generation.
Darum sind auch die Wetterprognosen immer seichter geworden. Die Website unseres nationalen
Wetterdienstes ist schrecklich, da gibts nicht einmal mehr Wetterkarten.
Der Winter vor zwei Jahren soll hier sehr harsch gewesen sein.
Wir hatten fünf Stürme in Orkanstärke innerhalb eines Monats – das war schon sehr ungewöhnlich.
Die Wellen haben zwei oder drei Meter Kiesel abgetragen und die halbe Strasse weggeschwemmt.
Hatten Sie keine Angst?
Nein, es war entzückend! Meine Frau und ich lieben abenteuerliche Dinge, die andere vielleicht als
gefährlich empfinden. Das war schon mit meiner ersten Frau so: Während des Krieges waren wir mit
unserer Familie in London. Es geschahen die ganze Zeit gefährliche Dinge, doch wir nahmen sie
kaum wahr, und wenn doch, dann als Abenteuer.
Es gibt eine Anekdote aus den 1960er-Jahren: Sie hatten von der Nasa erfahren, dass ein
zerstörerischer Komet auf der Erde einschlagen würde. Sie reagierten darauf nicht mit Verzweiflung,
sondern mit Begeisterung.
Ich ging in jener Nacht mit meiner Tochter auf einen Hügel. Ich sagte mir, wenn er knapp
vorbeigeht, würden wir vielleicht ein schönes Feuerwerk sehen. Aber da oben war dicker Nebel, wir
sahen nichts.
Woher kommt Ihre Furchtlosigkeit?
Ach, ich bin einfach so. Vor über dreissig Jahren hatte ich eine Operation am offenen Herzen – das
war damals noch ziemlich gefährlich. Mich aber hat es fasziniert, ich wollte ganz genau wissen, was
der Chirurg alles tun würde. Am Abend vor der Operation kam er zu mir und fragte mich, ob ich eine
Schlaftablette wolle. Ich antwortete: «Nein, keine Sorge, ich werde gut schlafen.»
Wie steht es eigentlich um den Raumflug mit dem Unternehmen Virgin Galactic, für den Sie
angemeldet sind?
Richard Branson [siehe Magazin Nr. 28/2015] hat mir den Flug offeriert, als ich 88 Jahre alt war.
Man hat mich damals medizinisch durchgecheckt, und ich war fit dafür. Aber die Raketen sind
immer noch nicht gestartet, und inzwischen hat man mir einen Herzschrittmacher installiert, darum
ist der Traum wohl vorbei. Die sechsfache Erdbeschleunigung würde mir die Batterie aus der Brust
reissen. Schade, zu gern hätte ich die Erde von aussen gesehen.
154
Zurück zu den Stürmen: Sind sie eine Folge des Klimawandels?
Das kann niemand sagen.
«Extreme Wetterereignisse sind heute häufiger.» Ein Zitat aus Ihrem neuesten Buch.
Global gesehen stimmt das. Aber lokal sind solche Ereignisse zu selten, als dass man sie statistisch
analysieren könnte. Beispielsweise gab es 1840 einen Orkan hier in der Bucht, der furchtbar viele
Leute getötet hat.
Sie gehörten zu den lautesten Warnern vor dem Klimawandel. In den letzten Jahren sind Sie leiser
geworden. Warum?
Heute versuche ich, ausgewogen zu sein. Ich habe früher übertrieben mit den Warnungen. Aber ich
war in guter Gesellschaft: Al Gore und andere haben sich ähnlich geäussert.
Was hat Sie zu Ihrem Sinneswandel bewogen?
Ich bin zum Schluss gekommen, dass wir noch viel zu wenig wissen. Wir hatten diese wunderbaren
Eisbohrkerne, wo man sah, dass früher die Temperatur- und die Kohlendioxidkurve parallel liefen.
Wir Wissenschaftler haben das in die Zukunft extrapoliert und gerufen: Mein Gott, wenn die
Kohlendioxid-Emissionen weiter so steigen, wird die Temperatur bis 2050 um et-liche Grade
steigen.
Richtig.
Es ist aber nicht so einfach. Die Atmosphäre ist heute nicht mehr dieselbe wie früher. Schauen Sie
mal aus dem Fenster – sehen Sie diesen Dunst am Horizont?
Statt Angst zu haben, sollten wir lieber das Leben geniessen, solange wir können.
Ja. Worum handelt es sich?
Um Schwefelsäuretröpfchen. Die bringt der Wind aus Europa zu uns. Die Hauptverursacher sind
Verkehr und Industrie. Zeitweise hatten wir hier einen Smog wie in Los Angeles – heute ist es etwas
besser geworden. Diese Tröpfchen reflektieren das Sonnenlicht und bremsen damit die Erwärmung.
Das ist aber nicht alles: Es gibt noch mehr Faktoren, die wir vernachlässigt haben.
Meinen Sie den Einfluss der Ozeane? Den begann man ja erst vor einigen Jahren so richtig zu
untersuchen.
Ja, das hatten alle übersehen. Das ist, als wäre man eine Ameise und ignorierte den Elefanten in der
Nachbarschaft. Die Ozeane können tausendmal so viel Wärme aufnehmen wie die Atmosphäre. Wer
sie ausblendet, weiss nichts übers Klima.
Es gibt doch auch das Vorsorgeprinzip: Obwohl wir noch nicht alles über das Klima wissen, sollten
wir zu handeln beginnen, weil es nachher zu spät sein könnte.
Als junger Mensch hätte ich das sicher auch gesagt. Da wäre ich dafür gewesen, sofort zu handeln.
Aber jetzt, mit der Erfahrung eines Lebens, weiss ich, dass nicht immer alles funktioniert, was man
zu tun versucht. Wir sind als Spezies noch nicht schlau genug, dieses Problem anzugehen.
155
Machen Sie sich denn keine Sorgen wegen des Klimawandels?
Nein. Statt Angst zu haben, sollten wir lieber das Leben geniessen, solange wir können. Schauen Sie,
in Singapur ist es schon heute deutlich heisser, als es selbst nach den schlimmsten Szenarien in der
gemässigten Zone im Jahr 2100 sein wird. Und Singapur ist wunderbar, Leute ziehen dorthin.
Singapur wird versinken, wenn der Meeresspiegel steigt.
Gewiss. Ebenso wie New York und London und die meisten Küstenstädte Europas. Aber das ist
nicht der Weltuntergang. Der Anstieg geschieht ziemlich langsam – wir werden genug Zeit haben,
um wegzuziehen. Oder um Dämme zu bauen.
Dämme?
Der Meeresspiegelanstieg ist das unbestrittenste Element des Klimawandels: Er geschieht bereits die
ganze Zeit. Grossbritannien wird eine gewaltige Menge Land verlieren. Wenn wir wie die Holländer
wären, würden wir versuchen, das zu verhindern. Aber die britische Regierung ist töricht. Statt nach
dem eigenen Land zu schauen, stellen sie Windturbinen auf, um «den Planeten zu retten», wie es
jeweils so schön heisst.
Was haben Sie gegen die Windenergie?
Gar nichts. In Mauretanien etwa weht der Passat konstant und mit der richtigen Geschwindigkeit.
Das ergäbe ziemlich viel Energie für Europa. Man kann es sich auch einfacher machen und
altmodische solarthermische Kraftwerke aufstellen. Ein Stück Sahara von 160 mal 160 Kilometern
würde genügen, um ganz Europa mit Strom zu versorgen. Aber solche Projekte scheitern immer an
politischen Problemen.
An der englischen Südküste bläst der Wind auch ganz schön.
Diese Küste ist Teil einer Welterbestätte. Möchten Sie die mit hässlichen Windturbinen vollstellen?
Es kommt noch was hinzu: England ist im Zweiten Weltkrieg fast verhungert. Wir haben zu wenig
Fläche, um Nahrung zu produzieren. Darum bin ich gegen jede Energieform, die Agrarland
verbraucht.
Sie gelten als Pionier der Umweltbewegung. Heute befürworten Sie selbst Atomkraft und Fracking.
Sind Sie überhaupt noch ein Grüner?
Oh ja! Allerdings ein altmodischer.
Was bedeutet das?
Seit ich denken kann, habe ich eine bedingungslose Liebe für die Natur. Bis zum Zweiten Weltkrieg
war die englische Landschaft unglaublich schön. Als Schüler fuhr ich mal mit dem Velo von uns zu
Hause in East London bis nach Land’s End ganz im esten von Cornwall und wieder zurück. Diese
himmlische Reise regte mich zu einem Aufsatz an, in dem ich schrieb, England sollte stolz sein, weil
es das schönste Land der Welt ist. Und nicht weil es das mächtigste ist, wie es damals immer noch
hiess. So ein Grüner bin ich. Einer, der das bewahren will. Die modernen Grünen wissen ja fast
nichts über die Natur.
Bekommen Sie von denen böse Post?
156
Kaum. Ich will jetzt nicht eingebildet wirken, aber ich denke, meine Stellung als Begründer der
Gaia-Theorie macht mich ein Stück weit unantastbar.
Von der englischen Landschaft, für die Sie so schwärmen, ist kaum mehr etwas zu sehen.
Leider. Ein paar Ecken sind übrig geblieben, hier in der Umgebung zum Beispiel.
Kann man etwas gegen die Verschandelung unternehmen?
Die Lösung für viele Probleme ist, dass wir in die Stadt ziehen. Dies geschieht ja bereits. In Europa
leben schon drei Viertel der Leute in Städten. Diesen Prozess darf man nicht aufhalten.
In der Schweiz beobachte ich eher das Gegenteil: Die Zersiedelung schreitet voran.
So ist es natürlich nicht gemeint. Wir sollten in dichte Städte ziehen. Das ist auch die richtige
Antwort auf den Klimawandel. Dichte Städte lassen sich einfacher kühlen. Das ist viel leichter als
die grössenwahnsinnige Idee, das Klima des Planeten zu kontrollieren. Gegen die Kälte in der Arktis
zieht man ja auch warme Kleider an, keiner würde versuchen, die Luft mit Lagerfeuern zu erwärmen.
Die Zukunft liegt also in der Stadt?
Unbedingt. Ich glaube, dahinter steckt sogar ein evolutionärer Wandel. Lustigerweise machen es uns
die Ameisen und Termiten vor: Die haben längst herausgefunden, dass es sich in stadtartigen Nestern
am effizientesten leben lässt. Dazu gehört eine Menge Politik. Ich finde es hochinteressant, dass die
erfolgreichsten Insektenkolonien fast alle Monarchien sind, und zwar solche, die von einer Königin
regiert werden.
Mit Verlaub: Die Ameisenkönigin ist doch keine richtige Königin. Die legt den ganzen Tag Eier und
hat nichts zu sagen.
Oh, unsere Königin hat ja auch nichts zu sagen. Als Schweizer verstehen Sie das wahrscheinlich
nicht ganz richtig. Eine konstitutionelle Monarchie gibt der Königin oder dem König viel Prestige,
aber keine Macht. Das ist ein sehr gutes System. In Demokratien steht stattdessen ein Politiker an der
Spitze, und das ist fast immer ein Demagoge.
Sie haben vorhin die Gaia-Theorie erwähnt, Ihr Lebenswerk. Was besagt sie?
Dass die Erde ein selbstregulierendes System ist. Seit das Leben vor dreieinhalb Milliarden Jahren
begann, hält es unseren Planeten permanent derart stabil, dass er bewohnbar bleibt.
Passiert das nicht automatisch?
Nein. Sie brauchen bloss den Mars oder die Venus zu betrachten, um zu sehen, welch schreckliches
Schicksal normalerweise jedem Planeten widerfährt. Ohne Selbstregulation bestünde auch die
Erdoberfläche nur aus Wüste, und es wäre viel heisser. Gaia verfügt über Mechanismen, die dafür
sorgen, dass das Klima nicht aus dem Ruder läuft.
Warum stoppt sie die menschengemachte Erwärmung nicht?
Das tut sie schon. Wenn wir kein Kohlendioxid mehr ausstossen, wird das Klima zum früheren
Zustand zurückkehren. Nur wird dieser Prozess ein paar Tausend Jahre dauern.
157
Verstehe ich Sie richtig: Das Leben selbst wirkt stabilisierend auf die Erde?
Ja. Nehmen Sie etwa die Atmosphäre: Wir haben jetzt Beweise dafür, dass die chemische
Zusammensetzung der Erdatmosphäre seit einer Million Jahren immer gleich ist. Das ist
phänomenal! Denn da stecken reaktionsfreudige Gase wie Sauerstoff oder Methan drin, die
eigentlich mit der Zeit verschwinden müssten. Aber die Zusammensetzung bleibt immer gleich. Das
lässt sich nur mit Selbstregulation erklären.
Das heisst, die Lebewesen produzieren diese Stoffe just in jener Menge, die es braucht, damit sich
die Zusammensetzung der Atmosphäre nicht ändert?
Genau.
Ich habe Mühe, mir vorzustellen, wie die Lebewesen das bewerkstelligen.
Ich denke, wir sind die zweitwichtigste Art, die je auf Erden gelebt hat.
Viele Menschen haben Schwierigkeiten damit. Aber das ist rationales Denken. So funktioniert Gaia
nicht.
Jedes Lebewesen denkt doch bloss an sich selber. Und in Ihrer Theorie muss es plötzlich ans Ganze
denken.
Muss es nicht. Es ist letztlich sehr darwinisch: Wenn eine Art auftaucht, die die Umwelt ungünstig
verändert, wird sie früher oder später keine Nachkommen mehr produzieren und aussterben. Das
nennt man natürliche Selektion. So funktioniert auch die Selbstregulation. Ich habe mit führenden
Biologen darüber gestritten, mit William Hamilton und mit John Maynard Smith. Beide waren
zunächst sehr gegen Gaia eingestellt, und beide haben ihre Meinung schliesslich geändert.
Gaia ist die griechische Göttin der Erde. Dank dieses Namens ist Ihre Theorie bei Esoterikern sofort
gut angekommen.
Das stört mich nicht. Von mir aus können die Leute glauben, was sie wollen, solange sie damit
niemandem wehtun.
Eine volkstümliche Interpretation Ihrer Theorie lautet: Die Erde ist ein Lebewesen. Sind Sie damit
einverstanden?
Die meisten Wissenschaftler mögen diese Formulierung nicht. Weil sie romantisch ist. Ich finde:
Warum nicht? Es schadet nichts, einer grossen Idee einen emotionalen Inhalt zu geben. Eine sehr
wichtige Eigenschaft von Lebewesen ist Selbstregulation, und so gesehen ist unser Planet sicher
lebendig. Die Biologen haben meiner Ansicht nach eine viel zu enge Definition von Leben. Für mich
sind auch die Ozeane, die Atmosphäre und die ersten paar Meilen der Erdoberfläche lebendig.
Wenn man von der Erde als Lebewesen redet, dann denken viele Leute gleich, sie habe eine Art
Bewusstsein.
Oh, die Erde hat doch tatsächlich ein Bewusstsein: durch uns.
Wie meinen Sie das?
158
Ich habe ja gesagt, dass es mich wütend macht, wenn Leute den Planeten retten wollen – weil wir
dafür noch nicht entwickelt genug sind. Aber wir haben das Potenzial dazu. Stellen Sie sich vor, ein
Asteroid rast auf die Erde zu. Wenn wir früh genug davon erführen, hätten wir womöglich die
Chance, ihn abzulenken, sodass er an uns vorbeiflöge. Das ist nur ein Beispiel. Je schlauer wir
werden, desto mehr Möglichkeiten werden wir haben, um einzugreifen.
Dann wäre die Menschheit so etwas wie das Steuerungsorgan, das Gehirn der Erde?
In einer gewissen Weise, ja. Dass unser Planet einen Organismus wie den Menschen hervorgebracht
hat, ist wirklich etwas Besonderes. Ich denke, wir sind die zweitwichtigste Art, die je auf Erden
gelebt hat.
Aha. Und welches ist die wichtigste?
Das sind die Photosynthetisierer. Also Bakterien, Algen und Pflanzen, die Sonnenenergie in Nahrung
und Sauerstoff für uns alle umwandeln. Aber gleich danach kommt der Mensch. Wir sind die Ersten,
die gelernt haben, Informationen zu sammeln. Das ist ungeheuer wichtig.
Ihre Kollegin Lynn Margulis, eine Biologin, hat einmal gesagt: «Gaia ist ein zähes Luder.» Das
Leben auf Erden hat mehr als drei Milliarden Jahre ohne den Informationssammler Mensch
überlebt. Warum sollen wir jetzt plötzlich so wichtig sein?
Weil die Sonne langsam, aber kontinuierlich wärmer wird. Sie strahlt heute etwa dreissig Prozent
mehr Energie ab als zu Beginn des Lebens auf Erden. Durch verschiedene Mechanismen hat es Gaia
geschafft, die Temperatur trotzdem im wohnlichen Bereich zu halten. Aber irgendwann, vielleicht
schon in hundert Millionen, vielleicht auch erst in fünfhundert Millionen Jahren, werden ihre Mittel
ausgeschöpft sein. Dann wird es wirklich heiss.
Und in jenem Moment kommt der Mensch ins Spiel?
Ja. Wir sind die einzige Art, die etwas unternehmen kann, um das Leben auf Erden zu erhalten. Wir
wissen noch nicht, wie, aber wir haben das Potenzial dazu.
Ich bin da eher skeptisch.
Wahrscheinlich denken Sie: Menschen, das sind diese schrecklichen Wesen, die bloss herummüllen
und ständig betrunken sind – wie könnte diese Art so wichtig sein!
Nein, ich denke: Die menschliche Intelligenz ist ein zartes Pflänzchen, das erst seit Kurzem existiert.
Und Sie sprechen hier von Zeiträumen von mehreren Hundert Millionen Jahren!
Dass es die Zivilisationen erst seit Kurzem gibt, hat nicht zwingend etwas zu bedeuten. Als die ersten
Photosynthetisierer auftauchten – das ist wahnsinnig lange her –, haben sie die Erde in maximal
hundert Jahren erobert. Manchmal kann es sehr rasch gehen. Das Anthropozän, also das Zeitalter, in
dem der Mensch dominierenden Einfluss auf die Erde hat, begann erst vor dreihundert Jahren, aber
seither läuft die Entwicklung in rasendem Tempo, eine Million Mal schneller als die natürliche
Evolution.
Wie kommen Sie auf diese Zahl?
159
Nehmen Sie das Fliegen: Die Entwicklung des modernen Flugzeugs aus den ersten Konstruktionen
der Gebrüder Wright verlief etwa eine Million mal schneller als die Evolution der Schwalbe aus
ihren echsenähnlichen Vorfahren.
Trotzdem: Was schnell gekommen ist, kann auch schnell wieder verschwinden.
Sehr unwahrscheinlich. Nicht nur Gaia ist ein zähes Luder, auch der Mensch ist ein unglaublich
zähes Biest. Kein anderes Tier hat den ganzen Planeten besiedelt, von der Arktis bis zu den
deftigsten Wüsten. Wenn wir eine Dummheit machen und neunzig Prozent der Menschheit
auslöschen, müssen wir halt wieder von vorn beginnen. Aber ich bin sicher, wir werden es tun. Und
unsere beide Völker haben gute Überlebenschancen, denke ich.
Wieso?
Die Schweiz und Grossbritannien gehören zu den wenigen Ländern, die über einen langen Zeitraum
nicht mehr von Eroberern überrannt und zerstört wurden. Dies hat uns Zeit gegeben, Systeme des
Zusammenlebens zu entwickeln, die langfristig stabiler sind. Das ist etwas, was wir gemeinsam
haben.
In Ihrem neusten Buch haben Sie über eine künftige elektronische Form von Leben spekuliert, die
besser angepasst ist an die sich erwärmende Erde. Gehen Sie davon aus, dass wir von Robotern
abgelöst werden?
Das ist eine Möglichkeit. Der typisch amerikanische Approach wäre, dass es eines Tages Kriege
zwischen Menschen und Robotern gibt und am Ende die Computer die Weltherrschaft übernehmen.
Aber es gibt einen viel besseren Weg in die Zukunft: dass wir verschmelzen.
Mit den Robotern?
Ja. Wir sollten uns mit ihnen zu einer neuen, mächtigeren Art von Tier kombinieren.
Tönt ziemlich nach Science-Fiction.
Ist es nicht. Wir sind nicht weit davon entfernt, einen Chip in die Netzhaut einpflanzen zu können,
mit dessen Hilfe Blinde wieder sehen. Es bedeutet doch, dass ein Chip für unser System kein
Fremdkörper sein muss. Oder nehmen Sie meinen Schrittmacher. Es ist erstaunlich, wie er sich
anpasst – etwa wenn ich Berge hochgehe. Im Moment braucht es noch eine Batterie, aber bald wird
es Schrittmacher geben, die vom Körper gespeist werden. So werden die Dinge langsam ein Teil von
uns. Es wird keine zwei Welten geben, sondern wir werden zu Roboter-Mensch-Mischwesen. Ich
finde, das ist eine erfreuliche Per-spektive.
Sie haben im Laufe Ihres Lebens immer wieder neue Ideen lanciert und auch alte Ideen verworfen.
Die Gabe, eigene Fehler einzugestehen, ist allgemein nicht sehr weit verbreitet.
In der Wissenschaft gibt es keine Gewissheit. Wer Wissenschaft betreiben will, muss bereit sein,
Fehler zu machen. Es gibt ein schönes Zitat des italienischen Philosophen Vilfredo Pareto: Gib mir
jeden Tag einen fruchtbaren Fehler, der mit den Samen seiner eigenen Korrektur zerplatzt.
Fehler sind also sogar erwünscht?
Nein, aber man muss auf sie gefasst sein. Sie eingestehen. Und zu korrigieren versuchen. Doch die
meisten Wissenschaftler heute sind von staatlicher Förderung abhängig. Dürfen einen Fehler nicht
160
zugeben. Sonst hiesse es: Ihre Leistungsbilanz ist ungenügend, Sie bekommen keine Stipendien
mehr.
Es gibt auch diese rein menschliche Seite: Manchmal halten wir sogar wider besseres Wissen an
unserer Meinung fest, bloss um nicht zugeben zu müssen, falschgelegen zu haben.
Bei mir ist das etwas anders – vielleicht, weil ich teilweise von Quäkern erzogen wurde. Die haben
uns sogar Kosmologie gelehrt, erstaunlich. Ich mochte diese Erziehung sehr. Die Quäker trichterten
uns ein: Es gibt keinen Gott da draussen – hört auf diese leise Stimme in eurem Kopf! Das gab mir
die Haltung, die ich nun gegenüber der Wissenschaft und allem anderen habe.
Sie sind einer der wenigen wirklich unabhängigen Wissenschaftler. Bis vor Kurzem hatten Sie stets
ein Privatlabor bei sich zu Hause. Wie ist es dazu gekommen?
Ich bin nun seit siebzig Jahren praktizierender Wissenschaftler, und mehr als fünfzig Jahre davon
war ich ein Einzelgänger. Zu Beginn der Sechzigerjahre hatte ich eine wunderbare Stelle beim
Nationalen Institut für Medizinische Forschung in London. Die Stelle war sicher und gut bezahlt.
Wir kauften ein Haus in einem guten Quartier in Nordlondon, mit fünf Schlafzimmern und einem
Garten, der aussah wie ein Park. Und es kostete bloss etwa ein Jahresgehalt. Das gibt Ihnen eine
Vorstellung davon, wie das Leben damals war.
Traumhaft.
Ja, aber irgendwie konnte ich eine gesicherte Route sehen, die geradewegs zur Pensionierung und
zum Grab führte, und das schien mir wenig verheissungsvoll. Da kam, wie aus dem Nichts, ein Brief
von der Nasa: Ob ich als Experimentator bei den ersten Mondmissionen mit Raumsonden
mitarbeiten wolle. Für mich als Science-Fiction-Fan ein Traumangebot. So gab ich alles auf.
Sie gingen in die USA?
Ich ging zur Nasa, aber nur als Berater. Ich wollte ja nicht eine Anstellung gegen eine andere
eintauschen. Der Beginn meiner Unabhängigkeit. Nach ein paar Jahren kamen wir zurück nach
England, und von da an hatte ich stets mehrere Beraterjobs, etwa bei Shell und Hewlett Packard. Das
war nicht aufwendig und sehr gut bezahlt, sodass ich daneben mein eigenes Labor haben konnte. Ja,
es war ein gutes Leben. Ich möchte kein anderes. Wenn ich mir die jungen Leute anschaue, sehe ich,
dass sie es unendlich viel schwerer haben als ich damals.
Weshalb?
Weil es viel zu viele Wissenschaftler gibt. Heute bekommt niemand mehr einen Brief von der Nasa
mit einer Einladung zur Mitarbeit.
Warum gibt es so viele Wissenschaftler?
Wegen dieser idiotischen Politiker, vor allem in Grossbritannien. Die glauben, sie könnten immer
mehr Wissenschaftler produzieren. Das ist verrückt, denn es funktioniert nicht. Wissenschaftler sind
wie Künstler: Sie werden so geboren. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist immer gleich, man kann sie
nicht künstlich erzeugen.
In Ihrem neuesten Buch haben Sie geschrieben, die Wissenschaft habe vor dreissig Jahren ihren
Glamour verloren. Was meinen Sie damit?
161
Es ist für junge Wissenschaftler heute sehr schwierig, eine wirklich fundamentale Entdeckung zu
machen. Wie viel leichter war das zu Zeiten, als wir noch kaum etwas wussten! Aber dasselbe gilt
auch in der Kunst, ja für alle menschlichen Aktivitäten. Die menschliche Welt durchläuft aufregende
Entwicklungen, aber das kann nicht auf unbestimmte Zeit so weitergehen. Darum finde ich es umso
wichtiger, dass wir die natürliche Welt mit all ihrem Reichtum bewahren.
Warum wollen die Politiker, dass es immer mehr Universitäten und Wissenschaftler gibt?
Ich habe mal eine Fabrikhalle von Honda besichtigt. Da gibt es keine Arbeiter mehr! Das grosse
Problem der Politiker ist, für genügend Beschäftigung zu sorgen. Die Universitäten sind da ein
Geschenk des Himmels: Wer studiert, kommt erst später auf den Arbeitsmarkt.
Das tönt ein wenig nach Verschwörungstheorie.
Nein, so ist es doch überall. Nehmen Sie die Flughäfen mit all Ihren Sicherheitsangestellten. In
Heathrow brauche ich manchmal zwei Stunden, um durchzukommen. Das ist doch sinnlos – es geht
nur darum, Stellen zu schaffen. Ich bin schon in den Fünfzigerjahren geflogen. Damals war das
wirklich noch ein gewagtes Unterfangen. Die Flugzeuge fielen vom Himmel, ohne dass es Bomben
oder Terroristen gab.
Eben, heute gibt es Terroristen.
Schon, aber damals war das Flugrisiko viel grösser, und niemand hat sich Sorgen gemacht. Wir sind
viel zu ängstlich heutzutage.
Sie selber sind das Gegenteil: Sie wirken sehr optimistisch.
Ja.
Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Ich weiss es nicht. Ich bin so geboren. Die Welt ist ein derart interessanter Ort – überall gibt es etwas
Neues zu sehen, etwas Wunderbares zu bestaunen. Für mich ist das die Essenz des
Wissenschaftlerdaseins: dieses kindliche Staunen zu haben und es sein Leben lang zu bewahren.
Ein Journalist hat über Sie geschrieben, Sie seien der jüngste 96-Jährige, den er je getroffen hat.
Mir geht es genauso.
Da sehen Sie, was der Optimismus mit einem macht! Ich freue mich schon auf meinen hundertsten
Geburtstag. Als ich neunzig wurde, hat meine Frau eine unglaubliche Party organisiert. Das hat uns
wahnsinnig viel Geld gekostet, aber das war es wert. Da an der Wand sehen Sie ein Foto davon.
Und das Bild daneben?
Das war 2002, als ich einen königlichen Ehrenorden erhielt. Das ist nett, weil man eine zehnminütige
Audienz bei der Queen bekommt.
Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?
Das darf ich nicht sagen. Aber sie war sehr menschlich.
162
Wie kommt es, dass Sie noch so fit sind? Sie hatten zahlreiche Operationen, haben dreissig Jahre
lang geraucht.
Statistisch gesehen, hat mich das Rauchen acht Lebensjahre gekostet. Ich glaube, das Wichtigste ist,
dass man etwas hat, auf das man sich freut. Das hält den Körper am Leben. Ich denke nie an den
Tod, sondern nur daran, was als Nächstes zu tun ist. Darum gehört eine Pensionierung zu den
tödlichsten Dingen überhaupt. Viele Pensionierte fühlen sich verloren und wissen nichts mit sich
anzufangen. Wir beide als Freelancer habens da besser. Wir werden nie pensioniert, das wirkt
lebensverlängernd.
Auch Bewegung ist wichtig, oder?
Oh ja. Sandy und ich versuchen, jeden Tag wenigstens drei Meilen zu gehen. Dazu gehört immer ein
Anstieg von wenigstens hundert Höhenmetern.
Und das schaffen Sie gut?
Recht gut. Wichtig ist, dass man sich nach der Anstrengung belebt fühlt. Ist man erschöpft, ist das
ein schlechtes Zeichen.
Gibt es Altersweisheit?
Ich weiss es nicht. Mit der Zeit sammelt sich viel Lebenserfahrung an. Gleichzeitig werden im Alter
das Gedächtnis und das Denkvermögen schlechter. Das gleicht sich aus. Ich glaube, es ist ziemlich
individuell. Manche Leute werden im Alter weiser, andere dümmer.
Zu welcher Kategorie zählen Sie sich selber?
Dieses Urteil möchte ich Ihren Lesern überlassen.
Nutzen Sie soziale Medien?
Sicher nicht. Ich würde nie Twitter oder Facebook beitreten. Das ist doch alles bloss Geschwätz.
Lieber rede ich mit meiner Frau darüber, was auf der Welt vor sich geht. Wir führen eine sehr
glückliche Beziehung.
Alte Menschen haben oft Mühe mit Computern. Sie nicht?
Im Gegenteil. Als ich in den Sechzigerjahren bei der Nasa zu programmieren begann, war noch alles
binär. Seither ist alles immer leichter und bequemer geworden.
«Dieser Spuk ist noch lang nicht zu Ende»
Der französisch-deutsche Politiker Daniel Cohn-Bendit erwartet, dass Frankreich noch lang
unter dem Terror leiden wird. Der Hass auf Muslime werde wachsen.
Mit Daniel Cohn-Bendit sprach Dominique Eigenmann, TA vom SA 16. Juli 2016
163
Sie sind gerade aus Frankreich zurückgekommen, wo Sie die Fussball-EM
kommentiert hatten. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Nachrichten
aus Nizza hören?
Man zweifelt an der Menschheit, überlegt sich: Da gibt es einen Kleinkriminellen, der sich
akribisch vorbereitet, einen Lastwagen mietet, die Promenade des Anglais als ideales Ziel
auswählt, und dann fährt er los mit seinem Lastwagen, jagt Menschen, Kinder, Frauen wie
Hasen. Was ist das für ein Mensch? Und dass man mir nicht sagt: Das ist der Islam! Es gibt
Dimensionen des Grauens, die einen fassungslos zurücklassen. Ich denke immer an Woody
Allens Witz: «Wenn es Gott gibt, dann muss er eine gute Entschuldigung haben.»
Was stellt dieses neuerliche Massaker mit Frankreich an?
Es setzt fort, was mit den Anschlägen von «Charlie Hebdo» und dem Bataclan begonnen hatte.
Es gibt in diesem Land offenkundig Terroristen, die so viele Menschen wie möglich töten
wollen. Diese Realität existiert weiter. Selbst während der ansonsten ruhigen EM wurden zwei
Polizisten mit Messern bei sich zu Hause getötet. Nizza zeigt, dass der Spuk noch lang nicht zu
Ende ist.
Vor der EM war man in Sorge, dass es ein grosses Attentat geben könnte. Danach
war man erleichtert, dass nichts passiert ist. Stösst der neuerliche Anschlag
Frankreich nun umso tiefer in die Depression?
Wie nach den Anschlägen in Paris werden auch die Bewohner von Nizza nach einer Zeit des
Erschreckens, der Niedergeschlagenheit und der Trauer wieder zu ihrem Alltag zurückkehren.
Es geht ja gar nicht anders. Das Leben wird weitergehen, und das ist gut so. Es zeigt den
Terroristen, dass die Menschen auf Dauer vor dem Terror nicht weichen.
Wie lang muss Frankreich, Europa, noch mit dieser Gefahr leben?
Solange der Islamische Staat ein geografisch klar umrissenes Gebiet mit einer Hauptstadt hat,
Raqqa, und von dort seine faschistische Propaganda verbreiten kann, so lang wird er an
Strahlkraft nicht verlieren. So lang werden Menschen, aus welchen individuellen Gründen auch
immer, in seinem Namen Attentate verüben im Glauben, dies seien gerechtfertigte Taten.
Solange der IS nicht zerschlagen ist, wird die Gefahr bestehen bleiben. Ist er zerschlagen und
Raqqa eingenommen, wird die Drohung nicht plötzlich verschwinden. Aber sie wird langsam
abnehmen.
Muss Europa entschiedener gegen den IS im Irak und in Syrien vorgehen?
Ja, diesen Krieg muss man führen und gewinnen. Es kann also nicht nur darum gehen, dass
man in Europa die Sicherheitsbemühungen nochmals verstärkt und sich auch Gedanken macht,
wo die sozialen Fehler gemacht wurden, die einzelne junge Menschen gegen ihre Gesellschaft
aufwiegeln. Das ist zwar notwendig und richtig. Aber Europa muss sich auch im Krieg gegen
den IS stärker engagieren. Es braucht eine Resolution der UNO, die den militärischen Kampf
gegen den IS mit allen möglichen Mitteln autorisiert: durch Unterstützung der Gegner des IS
auf dem Boden und aus der Luft. Die Koalition sollte nochmals verbreitert werden. Der
europäische Beitrag muss grösser werden, auch Russland sollte besser eingebunden werden.
Heute kämpft die westliche Koalition hauptsächlich aus der Luft gegen den
Islamischen Staat. Braucht es nun Truppen am Boden?
Wir brauchen uns ja nicht in die Tasche zu lügen: Westliche Spezialeinheiten sind längst am
Boden tätig und unterstützen die Feinde des IS bei ihren Operationen, zuletzt etwa bei der
Rückeroberung von Falluja. Ich glaube aber, dass die bisher verfolgte Strategie zur Eroberung
Raqqas nicht ausreicht. Ich bin kein Militärspezialist, aber meine politische Einsicht ist: Diese
164
Stadt darf nicht mehr das Böse so ungehindert ausstrahlen - dieses Böse, das einige junge
Menschen bei uns so fasziniert.
Was das Vorgehen gegen den Islamischen Staat angeht, sind sich nicht einmal
Frankreich und Deutschland einig: In Paris sagt man klar, dass man im Krieg
steht, während in Berlin vor allem diplomatische Initiativen ausgedacht werden,
um den syrischen Bürgerkrieg einzudämmen.
Den Islamofaschisten des IS kann man nicht diplomatisch begegnen. Der Gordische Knoten des
Syrienkrieges wiederum lässt sich nicht militärisch durchschlagen. Die Konflikte sind nicht
identisch, deswegen müssen sie verschieden angegangen werden. Diplomatie hier, Krieg da.
Selbst wenn Syrien ansonsten befriedet wäre, müsste man immer noch den Krieg gegen den IS
gewinnen.
Welche politischen Auswirkungen hat das Attentat von Nizza?
Die antiislamischen Bewegungen könnten sich weiter radikalisieren.
Stärkt es den Front National?
Vielleicht. Schaden dürfte es ihm jedenfalls nicht.
Inwiefern nützt es ihm?
Die Affekte gegen Migranten und den Islam werden weiter zunehmen. Dabei verändert sich in
Frankreich gerade etwas, auch wenn es in der Öffentlichkeit noch wenig gewürdigt wird: Nach
dem Mord an dem Polizistenpaar, von dem ich sprach, waren es Muslime, die die grösste
Protestkundgebung organisierten. Das wurde nicht als politischer Wendepunkt verstanden,
obwohl es einer ist: Die islamischen Verbände haben verstanden, dass es nun auch um sie geht,
in doppeltem Sinne. Die grosse Mehrheit der Opfer des islamistischen Terrors weltweit sind ja
Muslime. Und die Muslime sind die Leidtragenden der grassierenden antiislamischen Affekte.
Die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland hat ihre Abscheu vor
dem Terror in Nizza mit dem Slogan versehen: Grenzen statt Terror. Was sagen
Sie dazu?
Ich halte das für Unsinn. Flüchtlinge und Terror lassen sich nicht so leicht in einen kausalen
Zusammenhang bringen. Nehmen Sie den Täter von Nizza: Er lebte in Nizza, ist tunesischer
Herkunft. Was hat er mit Flüchtlingen zu tun? Wollen Sie alle Muslime, die in den letzten
Jahrzehnten nach Frankreich eingewandert sind, deportieren? Gleichzeitig wehre ich mich
gegen Blauäugigkeit: Natürlich können vereinzelt auch Flüchtlinge zu Terroristen werden oder
Terroristen sich unter Flüchtlinge mischen. Aber in ihrer Gesamtheit haben sie nichts
miteinander zu tun. Im Gegenteil: Viele Flüchtlinge sind ja selber vor dem IS geflohen. Der
Terror, mit dem wir es in Europa zu tun haben, ist hauptsächlich ein hausgemachtes Problem,
keines der Flüchtlinge. Wer anderes behauptet, verbreitet Dummheiten mit dem Ziel,
Aggressionen gegen Minderheiten zu schüren.
Würden Sie auch sagen, dass Terror nichts mit dem Islam zu tun hat?
Nein, das würde ich nicht. Natürlich hat er mit dem Islam zu tun, insofern er den Islam auf eine
radikale Art und Weise interpretiert. Das hat es in der Geschichte immer wieder gegeben: Der
Terror des Stalinismus bediente sich des Kommunismus. Der Terror der RAF bediente sich der
antiimperialistischen Ideologie der Studentenbewegung.
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Es geht um Instrumentalisierungen?
Ja. Wenn Sie an den innerislamischen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten denken,
können Sie das durchaus mit dem mittelalterlichen Glaubenskrieg zwischen Katholiken und
Protestanten vergleichen. Was hatte das damals mit dem inneren Gehalt des Christentums zu
tun? Sehr viel - und gar nichts.
Raqqa, die inoffizielle Hauptstadt im vom IS besetzten Teil von Syrien.
«Ich kanns mir bis ans Ende meiner Tage leisten»
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«In unserem Radteam lautet mein offizieller Titel nun ‹Chief Sommelier›»: Andy Rihs besitzt auch Humor
und ein Weingut. Foto: Imago
Andy Rihs erklärt, wie er die Tour de France im Privatjet nach Bern gelotst hat. Der Mitbesitzer
des Teams BMC und der Young Boys sagt, warum er mit seinen Radstars telefoniert, nicht aber
aber mit seinen Fussballern. Und was ihn das alles kostet.
Mit Andy Rihs sprachen Emil Bischofberger und Christian Zürcher Lessay, TA vom FR 16.7.2016
Es gibt Orte, die warten 10 Jahre auf eine Tour-de-France-Etappe. Sie brauchen
dafür zwei. Wie lief das?
Du musst die richtigen Leute kennen.
Eine Frage der Beziehung also?
Genau. Sehr vieles passiert da sehr informell. Die Fifa und die Uefa machen Ausschreibungen.
Die gibt es bei der Tour nicht. Da heisst es: «Schreib mal einen Brief.» Dann schreibst du einen
und sagst, was du willst. Danach hörst du meist nichts mehr.
Wie ging es weiter?
Ich sagte dem Alexander Tschäppät, dem Berner Stadtpräsidenten: «Schau, wir bereiten denen
einen staatsmännischen Empfang. Wir holen sie ab in Paris, fahren sie in den Erlacherhof.»
Sie holten die Tour-Chefsmit dem Auto in Paris ab?
Mit meinem Flieger, rasch-rasch. Der Empfang musste den Respekt für die Veranstaltung
ausdrücken und den Willen, diese zu empfangen. Dann organisierte Alex das im Erlacherhof
. . . dem Stadtpalais mitten in Bern . . .
. . . genau. So schöne Palais haben nur die Sozialisten in Bern. Wunderschön, schöner kann man
es gar nicht haben mit der Terrasse auf die Aare hinunter. Dann kam noch Andreas
Rickenbacher dazu, der damalige Volkswirschaftsdirektor des Kantons, und mit Ueli hatten wir
im Von-Wattenwyl-Haus einen Lunch. Alles auch wieder offiziell.
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Und Bundesrat Maurer erzählteden Franzosen, dass er einst ein RadfahrerBataillon kommandierte.
Genau, das ist ein Sportsmann. Der geht heute noch an den Wasalauf, 90 Kilometer! Auf jeden
Fall lief es nicht wie bei Fifa und Uefa - und es ging auch nicht um Geld. Im Ernst: Am Ende
ging es um lächerlich wenig Geld. Die Tour zu kriegen, ist ein Privileg.
Von wie viel Geld sprechen wir?
Für die drei Tage zahlten Bern und das Wallis etwa 600 000 Euro an die ASO, die TourOrganisation.
Wie viel zahlten Sie?
Nichts. Keinen Rappen. Ich habe ihnen gesagt: Sobald der Rihs Geld geben muss, hört es gleich
auf. Ich stelle die Verbindung her, den Rest macht ihr. Mit Tschäppät ging das gut, sie mussten
lediglich das Budget aufbringen, einen lächerlichen Betrag.
Was heisst lächerlich?
Lächerlich ist, wenn man für so einen Anlass, inklusive aller Sicherheitskosten, ein
Bruttobudget von etwas über drei Millionen organisieren muss. Rein medial ist es der
drittgrösste Sportanlass der Welt. Die produzieren über 6000 Stunden Fernsehen, in über
90 Länder.
Präsenz Schweiz undSchweiz Tourismus haben Sie aber kaum unterstützt.
Ich möchte dazu nicht mehr viel sagen. Ich habe mit Schneider-Ammann gesprochen. Es ist
einfach mühsam, sehr mühsam. Das muss man sich einmal vorstellen: Wir können 700 bis 800
Fernsehstunden lang Werbung für die Schweiz machen, und da kommt von denen einfach
nichts.
Sie sprechen immer von «wir».
Das ist ein fantastisches OK-Team um Alexander Tschäppät. Wenn du dann hörst, wie
schwierig es ist, etwa von Präsenz Schweiz Geld fürs Budget zu erhalten, dann ist das fast
lachhaft.
Das hört sich an, als ob Sie primär Bern und der Schweiz etwas zuliebe getan
haben. Dabei war die Tour-Ankunft auch Ihr persönliches Ziel.
Klar. Aber ich will das nicht gross gewichten. Ich bin seit 16, 17 Jahren in der Radszene, habe
zweimal die Tour de France gewonnen - einmal richtig (Anm.: 2006 wurde Floyd Landis
nachträglich des Dopings überführt). Man kennt sich einfach gut. Die Tour schätzt uns. Auch,
weil wir viel für sie gemacht haben. Zum Beispiel konnten sie nach dem Triumph von Cadel
Evans 2011 sagen: Nach vielen Jahren haben wir keinen Doper als Sieger.
Sie sind im Kanton Zürichaufgewachsen. Weshalbdie Affinität zu Bern?
Es ist eine extrem sportinteressierte Stadt, keine zieht - zusammengerechnet - mehr Zuschauer
an bei Fussball und Eishockey. Und die Berner sind bereit, dafür etwas zu tun, das merkt man
auch jetzt. In Zürich könntest du die Tour niemals machen.
War das einmal ein Gedanke?
Nein. Das ist auch von der Mentalität her kaum denkbar.
Sie sind auch Besitzer von YB. Wie unterscheiden sich die Emotionen im Fussball
und im Radsport?
Es ist völlig anders, die Emotionen entstehen ganz unterschiedlich. Beim Fussball sind die
Gefühle viel spontaner, viel mehr zägg-bumm. Out of the blue fällt ein Tor, und du jubelst. Im
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Radsport ist das anders, da bibberst du über Stunden, oft eine ganze Etappe lang. Geht es?
Kommt der Fahrer durch? Wird er nicht eingeholt? Es begleiten dich viel mehr Ängste, die du
durchstehen musst.
Und der Frust?
Der ist auch beim Fussball spontaner. Es kann dich furchtbar aufregen, wenn die da ein
bisschen herumbömbelen und du denkst, die bringen es fertig, 27-mal am Tor
vorbeizuschiessen. Das macht mich richtig ranzig, da kann ich ausrufen: «Gaats no, spinned
die! Der verdient so viel Geld und leistet nichts!» Beim Radsport passiert das kaum.
Dann fühlen Sie sich einem wie BMC-Leader Van Garderen näher als einem wie
YB-Stürmer Hoarau?
Schon. Es ist intimer. Ich verbringe mit den Fahrern an Rundfahrten drei Wochen am Stück.
Aber: Mich freut es, wenn ein Hoarau souverän spielt. Bei YB habe ich vor allem Kontakt mit
Sportchef Bickel, nicht aber mit Trainer Hütter. Ich halte Distanz und mische mich nicht ein,
sonst gibt es «Kompetenzlämpen».
Und im Radsport?
Hier ist es ein bisschen anders. Hier sind wir wie eine «Family».
Und Sie sind der Vater?
Kann man so sagen. Wissen Sie, wie mein offizieller Titel hier lautet? Bei jeder Ankunft im
Hotel liegt eine Zimmerliste auf mit den Bezeichnungen Fahrer, Masseur, Mechaniker und so
weiter. Am Schluss bin ich aufgeführt, mein Bruder, mein Pilot und dessen Freundin. Bei uns
stand das Funktionsfeld immer leer. Da sagte ich, «Himmel, alle habe einen Titel, nur wir nicht.
Das müssen wir ändern.»
Und?
Ich bin nun der «Chief Sommelier». Mein Pilot ist der «Chief Pilot» und seine Freundin «Chief
Flight Attendant». Bleibt noch mein Bruder. Bei Jöggi habe ich gesagt: «Du bist der Chief
Enthusiast.»
Apropos Familie: Telefonieren Sie mit Ihren Athleten?
Mit einem Fussballer habe ich das noch nie gemacht. Bei BMC kommt das vor, gerade mit den
Teamleadern. Das liegt in der Natur der Sache. Im Radsport entscheiden sie mit, wen sie auf
eine Rundfahrt mitnehmen wollen. Im Fussball hingegen sagt der Trainer, wer spielt.
Paradox ist: Bei YB sind Sie Mitbesitzer und agieren im Hintergrund - bei BMC
nur Sponsor, aber voll dabei.
Nicht ganz, auch das BMC-Team gehört mir zur Hälfte. Aber wie gesagt, hier sind wir wie eine
Familie. Du weisst, was geht. Du weisst, wer ein Kind bekommt, wer verletzt, wer gestürzt ist.
Was fühlen Sie in jenem Moment?
Das tut mir eben sehr leid, wie kürzlich beim Küng (Anm.: gestürzt bei den Schweizer
Meisterschaften). Wenn im Fussball einer ein Bein bricht, tut das auch weh, doch es ist ein
anderes Gefühl.
Im Radsport bewundert man die Fahrer wegen ihrer Leidenskraft, die Fussballer
nennt man Weichspüler.
Ein Velofahrer muss sicher für seinen Sport viel mehr machen. Er muss trainieren, trainieren,
trainieren - er verschiebt Limiten. Ein Fussballer braucht technische Skills und eine gute
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Fitness. Er muss aber bestimmt weniger trainieren und leiden, wenn er ein bisschen «seckeln»
muss. Ein Velofahrer fährt Pässe, immer nahe am anaeroben Bereich.
Haben Sie darum mehr Respektvor den Velofahrern?
Ja. Es ist aussergewöhnlich, was die leisten. Ich leide extrem, wenn ich Pässe fahre. Ich bin
schier gestorben, als ich kürzlich den Mont Ventoux hoch bin. Und ich weiss, die machen das in
einem wahnsinnigen Tempo, das ist verrückt. Wenn du das kannst, und das können nicht viele,
dann bist du wer. Und, ganz wichtig: Fussball ist ein Spiel. Radfahren ist ein Kampf.
Wo ist es einfacher, Erfolg zu kaufen?
Ich sage es einmal so: Wenn du ein Veloteam entsprechend organisierst, kommst du einfacher
zum Erfolg - auch weil die Leistungskomponenten besser messbar sind. Im Fussball kannst du
die besten Leute zusammenkaufen, und die Mannschaft funktioniert trotzdem nicht. Um die
Tour de France zu gewinnen, braucht es eine gute Vorbereitung, du planst sehr viel - das kostet.
Wir schreiben ganze Roadbooks für die Etappen, im Fussball kannst du kein Spiel planen.
Wie lange können Sie sich diese Engagements leisten?
Bis ans Ende meiner Tage sicher. Aber: Das Ganze muss Sinn machen.
Wie viele Millionen schiessen Sie denn pro Jahr in den Sport?
Bei YB liegt der Break-even bei 48 Millionen Franken. Und wenn wir nur 40 umsetzen, dann
fehlen 8 Millionen. Darum fahren wir aktuell die Payroll herunter.
Und beim Radsport?
Ich liefere den Cash, rund 20 Millionen Franken. BMC bringt die Sachleistungen, die Velos und
das Material.
Das heisst, Sie investieren von ihrem Vermögen im Radsport20 Millionen pro
Jahr undim Fussball 8 Millionen . . .
Wissen Sie, ich habe nicht nur Vermögen, ich habe auch Einkünfte. Ich verdiene auch noch
Geld.
Einverstanden, doch wer ist teurer - der Fussballer oder der Radfahrer?
Im Schnitt der Fussballer.
Tatsächlich?
Im Fussball hat einer schnell einmal ein hohes Salär. Im Radsport verdient ein junger Fahrer
150 000 oder 200 000 Franken. Aber klar, wir haben auch ein paar Stars.
Die verdienen wie viel?
Das ist allgemein bekannt, da spielt ein Markt, die verdienen rund zwei Kisten (Anm.:
Millionen). Doch wir haben uns gesagt, wir wollen künftig lieber junge Talente wie die
Schweizer Dillier, Bohli, Küng fördern.
Und was erhalten die Bestverdienenden bei YB?
Wohl etwas über eine Million.
Sie kommen im Radsport jovial herüber, sind aber als Geschäftsmann zu
Millionen gekommen. Wann sind Sie hart?
Ich bin im Radsport, weil es mein Sport ist, weil ich mich da erholen kann. Doch was heisst hart
sein? Wenn ich sehe, dass der Einsatz fehlt, musst du halt auch einmal Rock the boat machen.
Zig andere Leute hängen an den Resultaten eines Sportlers, und wenn der zu wenig macht,
dann werde ich grantig, dann musst du hart sein - aber das ist der Sache wegen.
Auch im Radsport?
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Eher im Fussball, wenn sie blötterlen, die Cheibe, dann sage ich: «Nehmt einmal den Finger
raus.» Gut, das sage ich ihnen nicht persönlich. Beim Radsport kommen die harten Entscheide
von den Trainern - und ich stütze die.
Dreizehn Ihrer Fahrer wurden wegen Dopings überführt. Wie haben Sie damals
reagiert, als Landis und Hamilton aufflogen?
Ich war enttäuscht. Richtig enttäuscht. Ösi (Camenzind) war der einzige, der mir das gestanden
hatte. Der rief mich von zu Hause an und sagte: «Du, die haben mich erwischt.» Ich sagte: «Das
brauchtest du doch nicht. Du hast deine ganze Karriere zerstört.»
Hamilton schreibt in seiner Biografie, er gehe davon aus, dass Sie vom Doping im
Team gewusst hätten.
Das ist falsch. Er ist der Mann mit den blauen Augen, der einen angeschaut hat und sagte (Rhis
wechselt ins Hochdeutsche): «Bei der Ehre meiner Mutter und Schwester habe ich nie
irgendwas gemacht.» Ich habe ihm geglaubt.
Sie haben von einer grossen Familie gesprochen. Aber in dieser wurde
offensichtlich gedopt . . .
. . . das war eine Riesenenttäuschung. Du willst nicht eine Tour gewinnen mit einer grossen
Party, und drei Tage später ist alles anders.
Wie sicher sind Sie, dass das nicht mehr passiert?
Der Verband hat mit dem Blutpass vorwärtsgemacht. Es gibt Morgenkontrollen, Präsenzlisten.
Heute ist es viel schwieriger zu schummeln.
Haben Sie eine schwarze Liste von Fahrern, die Sie nicht engagieren? IAM stellte
etwa keine Spanier ein.
Die Liste habe ich, doch die verrate ich Ihnen nicht.
Wenn Sie einen Fahrer verpflichten, gibt es den Passus Schadensersatzforderung
bei einem Dopingfall?
Nein, das machen wir nicht, doch wir prüfen ihn natürlich auf Herz und Nieren. Und: Jeder hat
eine Geschichte, du weisst, wer gefährlich ist, und die nimmst du nicht.
Machen Sie heute Zimmerkontrollen nach den Rennen?
Das ist nicht meine Aufgabe, wir haben Ärzte.
Aber es ist Ihre Marke, die bei einem positiven Fall blutet.
Wissen Sie, das Dopingthema ist eigentlich nur noch aus der alten Zeit des Radsports, nicht
mehr aus der neuen. Die heutigen Fahrer trainieren total anders. Wenn einer EPO genommen
hatte, musste der doch gar nie richtig trainieren, der hat keine Entwicklung mehr
durchgemacht. Aber auch die Doper kamen ursprünglich ohne EPO in den Radsport.
Anscheinend wurden die Fahrer in den 90er-Jahren von Anfang an von den Teams zum Dopen
aufgefordert, später haben dann die Fahrer einzeln gedopt. Ausserdem, schauen Sie einmal im
Fussball, im Eishockey. Wenn ich dort frage, was ist euer Dopinggesetz . . .
. . . noch einmal: Legen Sie für Ihre Fahrer die Hand ins Feuer?
Nein. Für keinen einzigen. Doch ich denke, das System ist mittlerweile so engmaschig . . .
. . . es gibt Mikrodosen,synthetisiertes EPO.
Du wirst erwischt, glauben Sie mir.
Angenommen, es erwischt noch einmal einen Fahrer aus Ihrem Team, hören Sie
dann auf?
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Nein. Wenn tatsächlich so etwas noch einmal passiert, dann ist das ein ganz trauriger Typ.
Einer, der bereit ist, alles in Kauf zu nehmen. Ich bin der Überzeugung, dass heute jeder Doper
in kurzer Zeit auffliegt.
«Wenn Fussballer herumbömbelen, macht mich das richtig ranzig.»
«Für keinen meiner Fahrer lege ich die Hand ins Feuer wegen Doping.»
«Schon als Kind wollte ich als Märtyrer sterben»
Im April 2015 am Flughafen Zürich verhaftet, gestern in Bellinzona vor Gericht: A.J. aus Winterthur.
Zeichnung: Robert Honegger
Der mutmassliche Jihad-Reisende A. J., der gestern vor dem Bundesstrafgericht stand, zeigte
Sympathien für den Märtyrertod. Er versteht darunter, Menschen zu helfen und später
natürlich aus dem Leben zu scheiden.
Von Simone Rau, Bellinzona, TA vom FR 15. Juli 2016
Der Bart ist ab. Genau wie im April vor einem Jahr, als A. J. am Flughafen Zürich verhaftet
wurde. Er wollte nach Istanbul reisen, mit dem Ziel, sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
anzuschliessen und als Märtyrer zu sterben. So sieht es die Bundesanwaltschaft, die den
schweizerisch-libanesischen Doppelbürger gestern vor das Bundesstrafgericht in Bellinzona
gebracht hat. Sie klagt ihn zudem der mehrfachen Gewaltdarstellung an. Auf seinem Handy
wurden ein Video sowie Bilder von Gruppenexekutionen, Steinigungen und Kreuzigungen
sichergestellt. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hat sich der Angeklagte laut der
Bundesanwaltschaft sogar den Bart rasiert. Sie sieht im Fall des 26-jährigen Winterthurers
einen Leitfall für den strafrechtlichen Umgang der Schweiz mit Jihad-Reisenden.
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Frisch rasiert, mit einem weissen Hemd und dunklen Jeans betritt der arbeitslose Autolackierer
den Gerichtssaal. Der Angeklagte ist eher klein und von kräftiger Statur. Er trägt seine dunklen
Haare kurz. Vor acht Monaten ist er Vater geworden; zusammen mit seiner Freundin, die nach
islamischem Recht seine Frau ist, wohnt er derzeit bei seiner Mutter in Winterthur. Genau wie
vier seiner fünf jüngeren Geschwister. Er lebt derzeit von der Sozialhilfe und besucht ein
Arbeitsintegrationsprogramm.
Aufgewachsen sei er in Winterthur, erzählt A. J. dem Einzelrichter Walter Wüthrich. Er
absolvierte nach dem Schulabschluss eine zweijährige Anlehre und arbeitete danach
vorübergehend im Gartenbau und als Heizungssanitär. Seine einzigen Freunde, sagt er, seien zu
dem Zeitpunkt seine «Brüder von der Moschee» gewesen. Früher sei er jeden Tag dort gewesen
und habe kaum Zeit für etwas anderes gehabt. Heute verbringe er hauptsächlich Zeit mit seiner
Familie. Er bezeichnet sich nach wie vor als gläubigen Muslim. Er besuche das Freitagsgebet
regelmässig - jedoch nicht mehr in der AnNur-Moschee. «Es gäbe nur Probleme», sagt er.
«Freunde besuchen»
Seine «guten Freunde» waren es auch, die ihn auf die Idee brachten, im April 2015 nach Syrien
zu reisen. Er habe sie dort besuchen wollen, betont er mehrmals. Dem IS habe er sich nicht
anschliessen wollen. Er habe im Sinn gehabt, Kranken und Verletzten zu helfen, umbringen
habe er niemanden wollen. Wo genau wollte er hinreisen? Wen konkret treffen? Das kann oder
will A. J. nicht sagen.
Schon als Kind habe er als Märtyrer sterben wollen - «ohne jemandem Gewalt anzutun». Auf
Nachfrage des Richters erklärt er, dass er auch zum Märtyrer werden könne, indem er anderen
Menschen helfe und dann irgendwann eines natürlichen Todes sterbe. «Allah alleine
entscheidet, ob ich ein Märtyrer werde oder nicht.»
Den IS «psychisch unterstützt»
Die Staatsanwältin des Bundes hält ihm vor, dass er seinen Eltern und seiner damals
schwangeren Freundin verschwiegen hat, nach Syrien zu gehen. Überhaupt habe er in der
Einvernahme immer angegeben, nur für Ferien in die Türkei zu reisen, so Juliette Noto. Eine
Auswertung seines Suchprofils im Internet habe ergeben, dass er sich intensiv mit dem IS
auseinandersetzte. Einträge zu «humanitären Aktionen» habe man hingegen keine gefunden.
Auch seine Definition eines Märtyrers sei «eine auswendig gelernte Schutzbehauptung».
Der Angeklagte, ist sich Noto sicher, hat eine «Gehirnwäsche durchlaufen». Er sei von seinen
Rekrutierern «zuerst isoliert und dann mental und psychisch malträtiert worden». Der
entscheidende strafrechtliche Baustein ist für die Staatsanwältin die Kontaktaufnahme mit
einem Mittelsmann an der türkisch-syrischen Grenze gewesen. Damit habe er den IS
«psychisch unterstützt» und die «Gruppenmoral vor Ort gestärkt».
Strafmildernd wirkt sich ihres Erachtens aus, dass er an der Ausreise gehindert wurde und nicht
an Kampfhandlungen teilnahm. Allerdings habe er geplant, seine schwangere Freundin
zurückzulassen - «das zeugt von einer erhöhten kriminellen Energie». Noto fordert für A. J.
eine bedingte Haftstrafe von zwei Jahren bei einer Probezeit von drei Jahren.
Ein gänzlich anderes Bild vom Angeklagten zeichnet sein Verteidiger Daniel Weber. Er sei nett,
zuvorkommend, zudem ein fürsorglicher Vater und in keiner Weise gewalttätig. Er habe die
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besten Voraussetzungen, «ein ganz normales Mitglied unserer Gesellschaft» zu werden. Er
brauche Hilfe - keine Haft.
Der Verteidiger weist die Anklage vollumfänglich zurück. Eine Reise nach Syrien bedeute nicht
zwangsläufig, dass sein Mandant sich dem IS habe anschliessen wollen. Er habe einzig seine
Freunde besuchen wollen. Laut Weber gibt es keine Beweise, dass sich die Kontaktleute von
A. J. tatsächlich im Kriegsgebiet befunden haben. Und keine Beweise, dass er sich mit der
Ideologie des IS identifiziert oder «vom westlichen Wertekanon losgesagt» hat. Der Verteidiger
fordert einen vollumfänglichen Freispruch.
Ein gutes Zeugnis stellt dem 26-Jährigen auch ein Vertreter der Kantonspolizei Zürich aus. Als
Beauftragter in der Präventionsabteilung Gewaltschutz hat er seit November 2015 ein enges
Verhältnis zu A. J. Mit der richtigen Führung könne sich der Mann, der im Leben «viele
Misserfolge habe erdulden müssen», der Schweizer Rechtsordnung unterordnen. Besondere
«Risikofaktoren» wie psychische Auffälligkeiten oder Drogenmissbrauch weise er nicht auf. Der
Polizist sagt allerdings: «Der Angeklagte hat gewisse kognitive Einschränkungen.» Und: «Er
ordnet sich starken Führungspersonen schnell unter.»
Das Urteil wird heute eröffnet.
Ein Berg wie kein anderer
Ein riesiger mythischer Kalkhaufen – der Mont Ventoux ist kein Pass, sondern ein Berg, den es zu
überwinden gilt. Foto: Wolfgang Heidasch (Shotshop)
Der Mont Ventoux ist der legendärste Anstieg der Tour de France. Aber auch der launischste.
Wegen Sturmböen muss die Etappe heute unter dem Gipfel enden.
174
Von Emil Bischofberger, Mont Ventoux, TA vom DO 14. Juli 2016
Es gibt Anstiege, die länger, steiler, kurz: die härter sind. Und doch ist der Mont Ventoux die
Ikone von allen. Wie eine launische Diva springt er mit seinen Verehrern um, den Velofahrern.
Bei guter Laune schenkt er ihnen eine fast schon genussvolle Fahrt zum Gipfel. Andernfalls:
Wehe den Schwärmern!
Mal lässt er sie in der Sonne schmoren. Wenn im Tal die Luft bei 40 Grad flirrt, ist weder unten
im Wald noch oben zum kahlen Gipfel hin, oft auch als «Mondlandschaft» apostrophiert, mit
Milde zu rechnen. Zwischen den duftenden Kiefern zirkuliert kein Lüftchen, entsprechend
drückend ist die Luft. Und oben brennt die Sonne, Schatten kennt der Ventoux da nicht.
Oder er lässt es so richtig blasen, und das tut er mit Wonne, an zwei von drei Tagen im Jahr mit
90 km/h. Sein Namen hat er aber nicht vom Wind, venteux heisst windig, auch wenn die
Herleitung logisch wäre. Sondern vom gallischen «Vintur», dem Gott der Berggipfel.
Bereits in der Ebene fegt der Wind über die Felder, bläst den Radfahrern ins Gesicht, als wolle
der Ventoux sagen: Bleibt mir fern! Natürlich tun sie das nicht. Sie kämpfen sich trotzdem hoch.
Im Wald sind sie noch etwas geschützt. Danach aber gibt es kein Entrinnen. Hinter jeder Kuppe
bläst es. So muss es sich in einem Windkanal anfühlen. Nur dass man dort nicht vorwärts
kommen muss.
An diesem 13. Juli ist der Ventoux wieder einmal übel gelaunt. Die Laune kommt vielleicht
daher, dass dieser enorme Kalkhaufen, der geologisch ein Ausläufer der Alpen ist, wieder
einmal besonders verehrt wird. Die Tour de France besucht ihn, und mit ihr einige Tausend
Velofahrer mehr als üblich. Die Verrückten unter ihnen wollen sich beweisen, indem sie sich
offiziell als solche bezeichnen lassen. Wer an einem Tag die drei Strassen zum Gipfel bezwingt,
wird Mitglied im «Club des Cinglés du Mont Ventoux». Über 9000 ist das in 30 Jahren
gelungen, darunter auch 100 Schweizern.
Sie kommen, weil dieser Berg eine einmalige Anziehungskraft hat. Seine Übernamen zeugen
davon. «Riese der Provence» wird der Ventoux genannt, oder auch «der kahle Berg». Seine
Kraft erschliesst sich selbst den Touristen, die über die Autoroute du Soleil zum Mittelmeer
fahren, die das Rhonetal herunterführt. Irgendwann nach Valence zeichnet sich linker Hand am
Horizont eine weit auslaufende Pyramide ab: der Mont Ventoux. Mit 1912 Metern ist er nicht
riesig, aber weil es bis zum Fuss 1150 Meter hinunter geht, ist er auf dieser weiten Ebene eben
doch ein Riese.
Kopf links hoch: Darum geht es
Auch Literaten beeindruckte er, etwa den Philosophen Roland Barthes, der in «Mythologies» in
den 1950er-Jahren den Vergleich zwischen der Tour und der griechischen Mythologie zog. Über
den Mont Ventoux schrieb er: «Der Ventoux, in seiner ganzen Fülle, ist der Gott des Bösen, ihm
muss man sich opfern. Ein veritabler Moloch, Tyrann der Radfahrer, der den Schwachen
niemals verzeiht.»
Kein Wunder, nähert sich selbst die Tour de France dem «Tyrannen» mit Ehrfurcht. Der
Mythos ist auch so gross, weil das Rennen heute erst zum 16. Mal auf oder über den Mont
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Ventoux führt. Zum Vergleich: Die Tour kam beispielsweise schon 29-mal nach Alpe dHuez und
fuhr gar 81-mal über den Col du Tourmalet.
Für das Radrennen mag der Mont Ventoux ein Anstieg sein, alleine Länge und Steigung zählen.
Aber er ist eben ein Berg und kein Pass, nicht der niedrigste Übergang zwischen zwei Tälern. In
den Alpen, wenn die Strasse unten im Tal zu steigen beginnt, ist der Pass selber meist noch
ausser Sichtweite. Anders am Ventoux. Am Dorfrand von Bédoin kann der Velofahrer gar nicht
anders, als den Kopf kurz nach links zu heben, wo der weisse Turm auf dem Gipfel gut sichtbar
ist. Da geht es hoch, damit beschäftigt er sich in den nächsten Stunden.
Die Alpe dHuez mag noch berühmter sein mit ihren 21 Kehren. Aber dort ist es mehr das
Volksfest, das der Steigung zu Weltruhm verholfen hat. Anders beim Ventoux, wo die ganze
Anziehungskraft vom Berg selber ausgeht. Die drei Strassen, die hoch zum Gipfel führen, sind
bei weitem nicht so spektakulär wie jene in den Alpen. Weil der Kalkkegel so weit auslaufend
ist, fehlen die Spitzkehren. Besonders auf der Südseite, wo die klassische Anfahrt in Bédoin
beginnt und auf den ganzen 21Kilometern genau eine einzige Spitzkehre aufweist. Ansonsten
verläuft die Strasse einfach dem Hang entlang. Platz war an diesem Riesenhügel genug
vorhanden, als sie angelegt wurde.
Küblers Abgang
Die eine Kehre folgt nach sechs sehr moderaten Kilometern beim Weiler Saint-Estèphe und hält
aus Schweizer Sicht eine Episode bereit. 1955 kletterte hier Ferdy Kübler mit den Besten hoch.
Als er in dieser Kurve angriff, rief ihm sein Konkurrent Raphaël Géminiani hinterher: «Achtung
Ferdy, der Ventoux ist kein Pass wie die anderen!» Der Legende nach antwortete Kübler dem
Franzosen radebrechend auf Französisch: «Ferdy auch nicht, kein Fahrer wie die anderen!»
Kübler dementierte die Geschichte zwar im Rahmen eines Interviews zu seinem 90. Geburtstag.
Vielleicht hätte er trotzdem besser auf Géminiani gehört. Vor dem Gipfel fuhr er plötzlich
zickzack. In der Abfahrt auf der Nordseite, die Etappe endete erst im Tal, stürzte er mehrfach,
kam wie von Sinnen ins Ziel. In seinem Zimmer wurden dann Dopingmittel gefunden, Kübler
bestritt den Gebrauch. Am selben Abend gab er das Rennen auf, soll gesagt haben: «Ferdy hat
sich umgebracht. Ferdy hat sich am Ventoux umgebracht.» Kurz darauf beendete er auch seine
Karriere.
Natürlich ist Doping an diesem Berg ein Thema, in der Neuzeit nie deutlicher als 2000, als
Lance Armstrong und Marco Pantani gemeinsam der Konkurrenz davonfuhren. Im Ziel
überliess der Amerikaner seinem Herausforderer den Etappensieg - überführt wurden später
beide.
Das passierte auch bei Tom Simpson, aber unter tragischeren Umständen. 1967 brauchte der
britische Ex-Weltmeister Topresultate, er hatte noch keinen Vertrag für die folgende Saison. Er
versuchte den Coup mit Amphetaminen zu erzwingen - obwohl diese seit der Vorsaison
verboten waren. Und obwohl ein äusserst heisser Tag angekündigt und der Einsatz solcher
Aufputschmittel besonders gefährlich war. Simpson griff schon weit vor der Steigung an. In
Bédoin trank er einen Brandy, auf dass sich die Wirkung der Amphetamine verstärkte. Bald
fuhr er Schlangenlinien, fiel hin, wurde von den Teamhelfern wieder aufs Rad gesetzt, weil er
das so wollte. Knapp einen Kilometer unter dem Gipfel, die Wetterstation mit ihrer enormen
Antenne war schon zum Greifen nah, kollabierte er und starb auf der Stelle.
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Man fröstelt am Gedenkstein
Simpsons Tod fiel auf einen 13. Juli, dieser ist 49 Jahre später der Tag vor der 12.Etappe. Wer
zum Gedenkstein gelangen will, muss über die Abschrankungen klettern, welche bei jeder TourEtappe den letzten Kilometer Strasse abriegeln. Viele tun es. Oder halten zumindest kurz inne.
Es ist ein unwirtlicher Ort, fröstelt einen nicht nur wegen der kühlen Temperatur.
Darum fährt man bald weiter, das komische Gefühl bleibt. Auf dem Gipfel ringen die
Hobbyfahrer nach Luft, der Sauerstoff scheint in dieser Mondlandschaft knapper, als wenn man
in den Alpen auf knapp 2000 Metern ankommt.
Merckx brauchte Sauerstoff
Die Bilder von nach Luft ringenden Fahrern sind auch die stärksten, die geblieben sind vom
letzten Tour-Besuch. Bei Bergankünften kommen die Fahrer stets ausgepumpt ins Ziel. Erholen
sich dann aber jeweils rasch. Bilder wie 2013 auf dem Ventoux, wo sich viele nach der Ziellinie
auf den Boden gleiten liessen und einige Minuten nach Luft schnappten, sind
aussergewöhnlich. Aber nicht einzigartig: Eddy Merckx musste 1970 im Ziel nach seinem
Solosieg sogar mit Sauerstoff versorgt werden.
2013 fand der Sieger im Ziel dagegen Luft und Stimme bald wieder. Chris Froome besiegelte
damals mit einer enormen Tempoverschärfung beim Chalet Reynard seinen ersten Tour-Sieg.
Das Chalet ist ein Bergrestaurant, in einer grossen Linkskurve gelegen, und ist der Ort, wo der
Berg vom Wald zur Mondlandschaft übergeht. Niemand konnte ihm folgen, auch Nairo
Quintana musste abreissen lassen, als Froome insistierte.
Ob das auch sein Plan für heute gewesen wäre, für die Bergankunft am Quatorze Juillet? In dem
Fall musste er gestern Abend noch einmal zur Taktiksitzung: Angesichts von angekündigten
Windböen bis 100 km/h entschieden die Organisatoren, das Ziel zum Chalet Reynard herunter
zu versetzen, womit die Steigung um 500 Höhenmeter und sechs Kilometer kürzer wird. Die
steilsten Stellen der Steigung bleiben, sie befinden sich weiter unten im Wald.
Der Berg hat seinen Verehrern wieder einmal gezeigt, wer der Stärkere ist. Er ist keiner wie die
anderen.
Die Sieger auf dem Ventoux
1994 1. Eros Poli (ITA ) *
1974 1. Gonzalo Aja (ESP)
1967 1. Julio Jimenez (ESP)
1955 1. Louison Bobet (FRA) *
1952 1. Jean Robic (FRA) *
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1951 1. Lucien Lazarides (FRA)
* am Ende auch Etappensieger
Streckenrekord: Iban Mayo (ESP) 55:51 Minuten (Bergzeitfahren Critérium du Dauphiné)
2013 Chris Froome (GB )
2009 Juan Manuel Garate (ESP)
2002 Richard Virenque (FRA)
2000 Marco Pantani (ITA)
1987* Jean-Franois Bernard (FRA)
1972 Bernard Thévenet (FRA)
1970 Eddy Merckx (BEL)
1965 Raymond Poulidor (FRA)
1958* Charly Gaul (LUX)
* Bergzeitfahren
«Die Revolution ist längst tot»
178
Am Strand von Latakia wird das Leben gefeiert, als gäbe es keinen Krieg, keine Sittenwächter, keine
Scharia. Foto: Sergei Bobylev (Itar-Tass, Imago)
Alle Syrer hassen Assad? Überhaupt nicht. Ein schwuler Student aus der Hafenstadt Latakia
verteidigt den Diktator. Und fürchtet sich vor einer Machtübernahme sunnitischer Kräfte.
Von Jan Strobel, TA vom 14. Juli 2016
Für die Recherche zu diesem Artikel loggte sich der Autor in eine Dating-App für Schwule ein.
Sie ist auch bei jungen, homosexuellen Syrern beliebt, die hier eine Plattform für ein Treffen
oder anonymen Sex finden. Das Profilbild eines jungen Mannes aus der Küstenstadt Latakia fiel
dabei sofort auf. Es zeigte nicht - wie üblich in arabischen Ländern - einen anonymen Torso
oder ein Symbolbild; der junge Mann lächelte selbstbewusst in die Kamera, als ob er der
Apokalypse um ihn herum mit diesem Lächeln trotzen könnte. Es entwickelte sich eine
schriftliche Unterhaltung, die bald von nächtlichen Gesprächen auf Skype abgelöst wurden. Der
Mann erklärte sich bereit, unter Pseudonym über sein Leben im Krieg zu berichten.
Der überwiegende Teil dieser Männer lebt in den vom Assad-Regime gehaltenen Gebieten.
Homosexuelle Handlungen gelten dort offiziell als «widernatürlich» und sind unter Haftstrafe
verboten; allerdings wird das Gesetz kaum angewandt. In Städten wie Aleppo, Damaskus und
Latakia konnte sich diskret und im privaten Rahmen eine Schwulenszene mehr oder weniger
ungestört entwickeln, solange sie sich nicht politisch äusserte und nicht öffentlich in
Erscheinung trat. Zudem sind diese jungen Männer heute unerlässlich für die Rekrutierung in
die Kriegsarmee. Ihre sexuelle Orientierung wird dabei zur Nebensache.
Assef (25) ist Student an der Tishreen-Universität in Latakia, der syrischen Hafenmetropole am
Mittelmeer. Strom gibt es in diesen Tagen nur im 3-Stunden-Rhythmus. Und so sitzt er
während des Skype-Gesprächs im Dunkeln. Eine Kerze und der Bildschirm spenden etwas
Licht. Die kleine Wohnung, die er sich mit seinem Bruder teilt, hat er seit Tagen nicht mehr
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verlassen. Es ist, als ob seine Welt immer kleiner würde, die Panzerschicht um seine Seele
immer dicker.
Ich wünschte, ich könnte aus diesem Albtraum erwachen und alle wären noch da, meine
Freunde, mein Cousin, mein altes Leben. Aber ich darf die Angst nicht zu mächtig werden
lassen, wenn ich nicht innerlich absterben soll. Dieser verdammte Krieg, der nichts bringt
ausser Zerstörung, hat mir so vieles genommen. Meine beste Freundin verliess Syrien, sie lebt
heute in Beirut. Mein bester Freund wurde von Islamisten erschossen, mein Cousin starb
letzten September, als eine Autobombe im Stadtzentrum explodierte. Andere flohen nach
Europa. Es ist einsam geworden um mich herum. Was dieser Krieg mir nicht nehmen kann,
sind meine Würde und meine Wurzeln. So geht es allen hier in Latakia. Wir wollen leben, und
niemand kann uns daran hindern. Die Cafés und Restaurants sind voll, der Verkehr verstopft
die Strassen, am Strand treffen sich Familien, Frauen sonnen sich in Bikinis, Männer trinken
Wodka oder rauchen Wasserpfeifen. Wir versuchen, die Normalität aufrechtzuerhalten, das
Grauen auszublenden.
Der Onlinedienst Instagram, auf dem User aus Latakia Fotos und Videos teilen, verdeutlicht das
Bild. Man sieht junge Schülerinnen, die sich an der Corniche, dem Hausstrand Latakias, zum
gemeinsamen Yoga treffen. Ein Barkeeper präsentiert seine Künste im Mixen in der hippen
Express Lounge an der American Street. Im Lokal findet jeden Montag die Ladies Night statt,
mit «free drinks for girls». Unter dem Hashtag «GaySyria» teilen homosexuelle Männer aus
Latakia ihre Selfies, versehen mit der syrischen Flagge - derjenigen von Assads Arabischer
Republik Syrien.
Syrien ist nicht nur das Land, das ihr im Westen wahrnehmt. Nicht überall werden Schwule von
den Dächern gestossen oder gesteinigt, wie das in den vom IS kontrollierten Gebieten geschieht.
Am Leben der Homosexuellen in Latakia hat dieser Krieg nicht viel geändert. Die meisten
Männer leben ihre Homosexualität versteckt aus, sie führen ein Doppelleben und identifizieren
sich selbst nicht als schwul, auch wenn sie Sex mit Männern haben. Alles funktioniert über den
Augenkontakt in einer Bar, in einem Park, am Strand. Dann gibt es die anderen, die ostentativ
als Dragqueens durch die Strassen stolzieren, mit einer dicken Schicht Make-up. Häufig
prostituieren sich diese Männer. Es gibt auch schwule Partys, im privaten Rahmen. Vor einigen
Jahren, es war noch vor dem Krieg, besuchte ich eine solche Party auf irgendeinem Anwesen. Es
traf sich dort die urbane syrische Schwulenszene. Aber auch Männer aus dem Libanon oder
dem Irak waren dabei, die hier ein Stück Freiheit für eine Nacht suchten. Ich selbst hatte
damals einen amerikanischen Freund, den ich regelmässig in Istanbul traf. Damals stand mir
die Welt noch offen. Mittlerweile habe ich Latakia seit fünf Jahren nicht mehr verlassen.
Weder sunnitisch noch schiitisch
Assefs Heimatstadt mit ihren rund 440 000 lebenslustigen Einwohnern erscheint inmitten der
syrischen Kriegshölle wie eine surreale Welt für sich. Sie bietet aber auch Zuflucht für Tausende
Flüchtlinge, die im Camp in der Latakia Sports City gestrandet sind. Viele unter ihnen sind
Christen, die vor der Verfolgung durch sunnitische Rebellen oder den IS ins relativ sichere
Gebiet um Latakia fliehen. Im arabischen Nahen Osten ist die Stadt ein Unikum, eine
islamische Metropole, weder sunnitisch noch schiitisch geprägt.
Latakia gilt als Hauptstadt der syrischen Alawiten in ihrem Kernland zwischen Mittelmeer und
den Gebirgszügen des Jabal al-Sahilyiah. Aus dieser Region stammt auch der alawitische Clan
von Machthaber Assad. Die Sunniten, die im Grossteil von Syrien die Mehrheit bilden, sind hier
in der Minderheit. Die alawitische Prägung macht das säkulare Wesen Latakias erst möglich.
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Frauen tragen mehrheitlich kein Kopftuch, das Fasten oder der Moscheebesuch sind für
Alawiten nicht zwingend, man zelebriert einen westlichen, säkularen Lebensstil.
Ich stamme aus einer alawitisch-christlichen Familie. Vor dem Krieg gab ich ausländischen
Studenten aus Italien oder Deutschland Arabischkurse. Zusätzlich war ich Schwimmer in der
syrischen Nachwuchsmannschaft. Dieses Leben ist längst vorbei. Aber stell dir vor, die
Rebellen, die vom Westen unterstützt werden und in deren Reihen Islamisten kämpfen, würden
die Kontrolle übernehmen. Es wäre vorbei mit unserem Lebensstil. Sogar Mädchen und
Teenager müssten sich verschleiern, wir Schwulen wären dann auch hier unseres Lebens nicht
mehr sicher. Meine religiösen Wurzeln waren mir nie wichtig, ich bin stolz darauf, Syrer zu sein,
und mache keinen Unterschied zwischen den Religionen oder Volksgruppen. Nur sieht die
Realität draussen anders aus. Würde ich die Provinz verlassen, könnte ich wegen meines
alawitischen Namens umgebracht werden. Ist es das, was diese Revolution wollte? Hat
irgendeiner dieser Aufständischen, ich nenne sie Terroristen, damals an unsere Zukunft
gedacht? Die Revolution ist längst tot. Sie hat alles mit sich gerissen, was die syrische
Gesellschaft einst ausmachte. Es spielte vor dem Krieg keine Rolle, zu welcher Gruppe oder
Religionsgemeinschaft du gehörtest. Der syrische Dichter Nizar Kabbani schrieb einmal: Es ist
das Schicksal der Araber, von Arabern ermordet, von Arabern verschlungen, von Arabern
erschlagen, von Arabern exhumiert zu werden. Wie können wir einem solchen Schicksal
entfliehen?
In Assefs Worten schwingt die Angst vieler Alawiten mit vor dem, was auf sie zukommen
könnte, sollte das Assad-Regime stürzen oder Latakia und sein Umland in die Hände
sunnitischer Rebellengruppen fallen. Die Alawiten besetzen seit der Machtübernahme von
Hafez al-Assad 1970 Schlüsselpositionen in der regierenden Baath-Partei, in der Armee und im
öffentlichen Sektor. Zuvor erlebte die Bevölkerungsgruppe eine jahrhundertelange
Unterdrückung durch die Mamelucken und Osmanen. In den Bergregionen, in die sie sich
zurückgezogen hatten, konnte sich allerdings auch ein starker Gemeinsinn entwickeln.
«Diese dreckige kleine Sekte»
Als der alawitische Assad-Clan die Macht übernahm, bildete diese Gruppenidentität einen
entscheidenden Stabilitätsfaktor für das Regime. Gleichzeitig bleiben die Alawiten dadurch an
das Assad-Regime gebunden. Viele sehen in ihm den einzigen Garanten für ihre Sicherheit.
Assefs Bewunderung und Unterstützung für Präsident Bashar al-Assad speist sich auch daraus.
Viele radikale Sunniten wiederum sehen Alawiten als Repräsentanten der verhassten Macht, als
Ungläubige, die nicht zur islamischen Gemeinschaft gehören.
Der ägyptische Sheikh Mohammad al-Zoghbi rief unlängst in einer TV-Predigt zur Vernichtung
der Alawiten auf: «Allah! Tötet diese dreckige kleine Sekte. Allah! Zerstört sie. Allah! Sie sind
die Agenten der Juden. Tötet sie alle. Das ist ein heiliger Krieg.» Im kollektiven Gedächtnis
vieler Sunniten bleibt auch das Massaker von Hama 1982 gegen die aufständischen
Muslimbrüder, bei dem Hafez al-Assad vor allem auf alawitische und kurdische ArmeeEinheiten zurückgriff.
Ihr im Westen denkt, alle Syrer hassen Assad. Aber das ist nicht so. Wenn es so wäre, hätte
unser Präsident längst aufgeben müssen. Auch ein grosser Teil der Sunniten stand hinter ihm.
Die Rebellen wollen kein freies, säkulares Land, sie wollen ein rein muslimisches Land, ein
zweites Saudiarabien. Es sind nicht mal Syrer, die unter ihnen kämpfen, sondern islamistische
Gangs aus aller Welt. Was haben all diese Europäer, Türken, Tunesier, Tschetschenen oder
Saudis in meiner Heimat zu suchen? Diese bezahlten Terroristen zerstören unsere Kultur.
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Syrien hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Ich liebe mein Land. Deshalb wollte ich es nicht
verlassen, solange es geht. Da draussen wäre ich wie ein Vogel,der aus einem Käfig entkommen
ist, doch mit gebrochenen Flügeln. Aber dann: Welche Chancen gibt es für mich hier noch, ein
würdevolles Leben zu führen?
Ein Freund Assefs hat sich neulich nach Kanada abgesetzt, ein anderer nach Brasilien. Europa
war keine Option mehr für sie. Auch Assef hat jetzt Kanada ins Auge gefasst. Doch für einen
neuen Pass müsste er bis zu 400 US-Dollar hinblättern, für junge Syrer ein unerschwinglicher
Betrag. Auf dem Schwarzmarkt kostet ein gefälschter syrischer Pass gar bis zu 2000 US-Dollar.
Und der Krieg rollt unaufhaltsam auf Assef zu. Sobald er sein Studium im März 2017 beendet
hat, soll er in die Armee eingezogen werden. Er erzählt es mit zittriger Stimme, in der
Dunkelheit seines Zimmers.
Der Vize solls richten
US-Präsident Franklin D. Roosevelt (rechts) bei einem Essen mit seinem Vize Harry S. Truman im August
1944 im Weissen Haus. Foto: George Skadding («Life», Getty)
Wer in Amerika Präsident werden will, braucht einen Stellvertreter, der gut ist, aber nicht zu
gut. Eine Einführung in die hohe Diplomatie des zweiten Platzes.
Von Hubert Wetzel, Washington, TA vom DO 14. Juli 2016
Alle vier Jahre geben sich die Amerikaner einem Ritual hin: Sobald einigermassen feststeht, wer
die Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl im November sein werden, beginnen die
Spekulationen über den möglichen Vizepräsidenten. Im Frühjahr werden erste Namen in die
Debatte geworfen, zu Beginn des Sommers kann die Liste leicht ein paar Dutzend Männer und
Frauen umfassen, die irgendein Kommentator als den am besten geeigneten Vize identifiziert
182
hat. Im Hochsommer, wenn die Wahlparteitage näherrücken, schrumpfen die Listen dann - das
Feld werde wieder enger, raunen die Experten -, dafür wird nun jeder Halbsatz der noch
Verbliebenen unter dem Aspekt der Vizetauglichkeit bewertet. Am Ende präsentieren die
Kandidaten dann ihren Vize - nicht selten einen Mann oder eine Frau, deren Name zuvor auf
keiner der vielen Listen stand. Es gehört durchaus zu dem Ritual, dass es mit einer
Überraschung endet.
Altgediente Politiker
Im diesjährigen Wahlkampf sind die Vizespekulationen in ihrer letzten Phase, zumindest was
Donald Trump betrifft. Er soll kommende Woche bei einem Parteitag in Cleveland offiziell zum
republikanischen Präsidentschaftsbewerber ernannt werden, bis dahin braucht er einen
Vizepräsidenten. Ein General a. D. wurde von den Auguren gerade von der Liste gestrichen - er
hatte das Recht auf Abtreibung verteidigt. Nach allgemeiner Expertenansicht sind noch drei,
vier Männer in der engeren Auswahl, allesamt altgediente Politiker mit Regierungserfahrung.
Sie, so die Logik, könnten Trumps mangelhafte Kenntnisse des Regierungsbetriebs etwas
ausbalancieren.
Für die Kandidaten ist die Vizewahl eine heikle Sache. Denn eigentlich bräuchten sie drei: einen
für den Sommer, der nach dem langen, harten Vorwahlkampf hilft, die Partei wieder zu
vereinen; einen für den Herbst, der im November bei der Präsidentenwahl möglichst viele
Wählerstimmen einbringt; und einen für den Januar des nächsten Jahres. Dann tritt der neue
Präsident sein Amt an. Sollte er danach aus irgendeinem Grund amtsunfähig werden, rückt der
Vize auf. Dann wäre es schon gut, wenn der kein kompletter Hallodri ist.
Der «Sommer-Vize» lässt sich verhältnismässig leicht finden. Klassisch: Der Kandidat adelt
einen seiner Rivalen aus dem Vorwahlkampf. So machte der Demokrat John Kerry 2004 John
Edwards zum Vizekandidaten; Barack Obama wählte 2008 Joe Biden. Diese Versöhnungslogik
steht derzeit hinter den Spekulationen, die Demokratin Hillary Clinton könnte die liberale
Senatorin Elizabeth Warren zur Vize machen, um den linken Flügel der Partei zu beruhigen,
dem Clinton zu konservativ ist.
Sehr viel schwieriger ist es, einen guten «Herbst-Vize» auszuwählen, der bei der Wahl Stimmen
bringt. In den Wahlkampfteams sind ganze Armeen von Leuten damit beschäftigt, das Leben
der möglichen Vizes zu überprüfen. Eine schwarz beschäftigte Kinderfrau? Untauglich! Eine
Scheidungsakte, in der Reporter Peinliches finden könnten? Aussortieren! Das oberste Gebot
ist: Der Vizekandidat darf dem Präsidentschaftskandidaten nicht schaden.
Er soll ihn aber auch nicht durch Eloquenz oder Charisma überstrahlen. Er soll, wenn möglich,
eine Schwäche des Kandidaten ausgleichen, ohne freilich den Kandidaten als schwach zu
entlarven. Aus diesem Grund ernannte George W. Bush, politisch eher ein Leichtgewicht, im
Jahr 2000 den mit allen Kniffen vertrauten Dick Cheney zu seinem Vize. Sollte Trump sich für
jemanden wie Mike Pence, den Gouverneur von Indiana, Chris Christie, den Gouverneur von
New Jersey, oder Newt Gingrich, den ehemaligen Sprecher des US-Abgeordnetenhauses
entscheiden, dann würde er damit wohl dieser Logik folgen. So ein Vize könnte dem unsteten,
unerfahrenen Kandidaten Trump ein bisschen Vertrauenswürdigkeit und Schwere verleihen.
Die geografische Herkunft
Dass ein derartiges Ausbalancieren auch schiefgehen kann, musste John McCain 2008
erfahren. Der an Erfahrung und Gravität reiche, aber recht alte Republikaner entschied sich für
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die junge Gouverneurin Sarah Palin als Vize. Nach ein paar Interviews und Reden Palins ging es
bergab. Fachleute sagen allerdings, gegen Obama hätte McCain ohnehin keine Chance gehabt,
Palin hin oder her.
Ein weiteres Kriterium, das ein «Herbst-Vize» erfüllen sollte, ist die richtige geografische
Herkunft. Dahinter steckt der Gedanke, dass ein Vize, der zum Beispiel aus einem Südstaat
stammt, die Wähler dort magisch anziehe und so dem Kandidaten, der vielleicht aus dem
Nordosten kommt, hilft, Bundesstaaten im Süden zu gewinnen. Bei den Vizespekulationen wird
kaum eine Theorie so ernst genommen wie die vom Vize, der für seinen Kandidaten einen
ungewinnbaren Staat gewinnt. Vor allem seinen Heimatstaat soll der Vize «abliefern».
Die Realität hat diese Theorie freilich in Zweifel gezogen. Wissenschaftlern fällt es schwer, einen
klaren Zusammenhang zwischen dem Herkunftsstaat des Vize und dem Wahlergebnis dort zu
finden. Kerry setzte auf Edwards - die Menschen in dessen Heimat North Carolina wählten
Bush. Die meisten US-Bundesstaaten wählen verlässlich demokratisch oder republikanisch;
wenn sie die Lager wechseln, dann weniger wegen eines Kandidaten, sondern weil sich dort mit
der Zeit die Gesellschaft geändert hat. Andererseits: Bei einer engen Wahl können ein, zwei
Prozentpunkte mehr, die ein Kandidat wegen seiner Herkunft als Bonus bekommt, wichtig sein.
Wenn ein Kandidat eine Rolle spielt, dann ist es aber eher der Präsidentschaftskandidat als der
Vize. So war es wohl bei Bill Clintons Wahlsieg 1992, als der Demokrat viele republikanische
Südstaaten gewann. Ronald Reagan gelang 1980 der Einbruch in demokratische Bastionen nicht seinem Vize George H. W. Bush.
«Ein Eimer voll warmer Pisse»
Fast schon existenzielle Bedeutung hat die Auswahl des «Januar-Vize». Die Verfassung gibt
dem Vizepräsidenten kaum Einfluss. Macht hat er nur, wenn der Präsident ihm welche
überträgt. Ein Vizepräsident ätzte daher in den 30er-Jahren einmal, sein Amt sei «so viel wert
wie ein Eimer voll warmer Pisse». Das ändert sich dramatisch, wenn der Präsident ausfällt, sei
es durch eine tödliche Krankheit wie bei Franklin D. Roosevelt, Mord wie bei John F. Kennedy
oder Rücktritt wie bei Richard Nixon. Dann werden die Vizes zu Präsidenten. Harry S. Truman
zog 1945 nach Roosevelts Tod ins Weisse Haus ein, er musste den Beginn des Kalten Kriegs
meistern. Lyndon B. Johnson - ursprünglich geholt, um für den Ostküsten-Aristokraten
Kennedy den Süden zu gewinnen - beerbte seinen ermordeten Präsidenten 1963, als Amerika
von Rassenunruhen erschüttert wurde. Beide erwiesen sich als ihrer Aufgabe gewachsen.
Nixons Vize und Nachfolger Gerald Ford blieb den Amerikanern zumindest als freundlicher
Golfspieler im Gedächtnis.
Die Wärter brachten den Stoff
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Zurück in Zürich, zurück in Sicherheit: Der ehemalige Kokainschmuggler an der Sihl. Foto: Esther Michel
Ein 32-jähriger Zürcher wurde in Peru mit 4 Kilogramm Kokain im Gepäck erwischt - und
musste für sechs Jahre ins Gefängnis. Der Schweizer Botschaft macht er Vorwürfe. Schuld an
seiner Misere sei aber allein er.
Von Simone Rau TA vom MI 13. Juli 2016
Es ist nicht das erste Mal. Aber das letzte. Als Patrick Moser* im April 2010 am Flughafen von
Lima steht in der Schlange vor dem Flugzeug, das ihn nach Madrid bringen soll, ist sein grosser
Rucksack mit den vier Kilogramm Kokain längst aufgegeben. Die ersten Passagiere sind
eingestiegen, bald ist der Zürcher dran, alles läuft nach Plan. Vor ihm hat die Polizei soeben
einen Polen verhaftet, Drogenschmuggel. Das macht Moser ein bisschen nervös, doch
bekanntlich passiert das am Flughafen Lima jeden Tag ein paarmal. Immer Ausländer, fast
immer Süchtige.
Auch der 32-jährige Moser ist süchtig. Er braucht Geld, immer wieder, immer mehr. Zu Hause
in Zürich hat er Schulden, gut 150 000 Franken, bei der Familie, bei Freunden und
Geschäftspartnern, er will sie für ein paar Wochen ruhig stellen. Offenbar hat man die Drogen
bei ihm nicht entdeckt. Pech für den Polen, Glück für ihn, Moser atmet auf.
185
Er denkt aber auch: «Geht das jetzt schon wieder gut? Im Ernst?» Patrick Moser will
konsumieren, als er sich für das Geschäft entscheidet, jeden Tag. Gleichzeitig will er vom
Kokain loskommen. Doch er schafft es nicht. Also schmuggelt er erneut. Drei Kilo muss er
seinen Männern abgeben, das vierte darf er behalten. Mindestens 40 000 Franken sei dieses
Kilo wert gewesen, sagt Moser heute, gut sechs Jahre später, zurück in der Schweiz. Vielleicht
sogar 50 000 Franken. Viel Geld für einen Süchtigen wie ihn, der in jenem Frühling seit
15Jahren konsumiert. Viel Stoff. Auch wenn er vom Betrag noch seine Ausgaben hätte abziehen
müssen - pro Kilo rund 1500 Dollars für die Drogen und weitere 3000 Dollar, damit die Männer
am Flughafen ihn passieren lassen.
Jetzt ist genug, denkt er
Dann ruft die Dame am Boardingschalter seinen Namen aus. Er realisiert, dass es nur ein
Vorwand ist. Die sechs Polizisten, die sich beim Schalter positioniert haben, finden ihn unter
den Reisenden nicht. Statt sich zu melden, setzt sich Moser ein paar Meter entfernt auf einen
Sessel. Alle anderen Passagiere steigen ein. Erneut hört er seinen Namen. An Flucht denkt er
nicht. Denn plötzlich ist für Patrick Moser klar: Jetzt ist es genug. Die Zeit da. Und damit seine
Chance. Auf ein neues Leben ohne Schmuggeln. Ohne Drogen. Er meldet sich - und gibt alles
zu. Im Rucksack, der doch in der Kontrolle hängen geblieben ist, finden die Polizisten auf
Mosers Anweisung sofort das Kokain. Er hatte es in einem Laptop-Etui versteckt.
Der Zürcher kommt für zehn Tage in Untersuchungshaft. Dann wird ihm, weil geständig, rasch
der Prozess gemacht. Sechs Jahre, drei Monate Gefängnis - und doch: Moser ist erleichtert.
Oder wie er selber sagt: «Ich war weder wütend noch enttäuscht. Sondern froh, dass es vorbei
ist. Das war kein Leben mehr gewesen.»
Er kommt für ein knappes Jahr in ein grosses Gefängnis im Zentrum Limas, weit weg von zu
Hause, weit weg von allem - genau wie 176 andere Schweizerinnen und Schweizer, die aktuell
irgendwo auf der Welt inhaftiert sind. Im Innenhof des Gefängnisses gibt es Essen und
Getränke zu kaufen, aber auch Drogen, Alkohol, Prostituierte, Glücksspiele, Telefone - «wie auf
einem Markt», sagt Moser. Nach elf Monaten in Haft eröffnet ein neues Gefängnis rund 20
Kilometer ausserhalb Limas mit 4000 Plätzen. Rund 2000 davon werden mit Ausländern
besetzt, die meisten sind wegen Drogenschmuggels inhaftiert, ein paar wenige wegen
Kreditkartenfälschung oder Handel mit Falschgeld. Im Penal Piedras Gordas gibt es keinen
Markt - doch immer noch Alkohol, Prostituierte und, besonders wichtig, Drogen.
Es ist ein kaputtes, korruptes Spiel, das Patrick Moser beschreibt: Die meisten der
ausländischen Häftlinge sind süchtig. Also wollen sie Stoff - und kriegen ihn von den Wärtern.
Wer nicht süchtig ist, wird von den Wärtern süchtig gemacht, denn sie verdienen an den
Drogen. Insgesamt drei von sechs Jahren im Gefängnis konsumiert Moser weiter Kokain. Als er
endlich nicht mehr will, wird er wochenlang massiv unter Druck gesetzt. Frühmorgens seien die
Wärter schon mit Kokain in seiner Zelle gestanden, sagt er. Zudem habe man ihn mit Worten
und Schlägen bedroht, ja sogar in sein Essen uriniert.
Erschwerend kommt hinzu, dass Patrick Mosers Zellgenossen ebenfalls süchtig sind. In der
Achterzelle, rund 16 Quadratmeter gross, habe es «ausgesehen wie auf dem Platzspitz», sagt der
Zürcher. Die Leute hätten gestunken, zum Teil hätten ihnen die Zähne gefehlt oder die Kleider.
Crack ist laut Moser die am häufigsten konsumierte Droge, gefolgt von Heroin. Er schätzt, dass
90 Prozent der inhaftierten Ausländer drogensüchtig sind. «Die Wärter wollen dich kaputt
machen. Damit du ihnen nützt.»
186
Als die Männer merken, dass der mittlerweile 35-Jährige standhaft bleibt, versuchen sie, ihm
die zweite Rolle aufzuzwingen, die ausländische Häftlinge im Gefängnis spielen müssen: die des
Verkäufers. Von Drogen, Telefonen, Prostituierten. Er trotzt auch diesen Drohversuchen, nicht
zuletzt dank seiner guten Spanischkenntnisse. Und sagt heute darüber: «Die Wärter haben mir
das Leben zur Hölle gemacht, als ich nicht mehr konsumierte. Mir viel Geld abgenommen. Mich
behandelt wie einen Hund.»
Doch viel schlimmer als all das sei der Gedanke gewesen, seiner Familie so viel Sorgen zu
bereiten. Seinen Eltern und seiner Schwester, die während der gesamten Zeit zu ihm hielten
und ihn auch finanziell unterstützten. «Ich wusste: Wenn ich draussen bin, sehen sie, dass sich
das Warten gelohnt hat. Für sie wollte ich mich anstrengen.» Moser, dessen Leben der Drogen
wegen «völlig aus der Kontrolle geraten war», wie er sagt, wirkt geläutert. Darauf angesprochen,
sagt er, und er weiss, es klingt banal: «Gegen die Sucht kann niemand etwas machen - ausser du
selber. Ich wollte allen beweisen, dass ich die Kraft dazu habe.» Auch deshalb trägt er den
Männern, die ihn an jenem Apriltag verraten haben, nichts nach. Auch deshalb hat er jahrelang
auf die Entlassung gewartet, ohne sich tagtäglich selber Vorwürfe zu machen.
3 Schweizer - 300 Spanier
Das Warten ging lang. Und wie Mosers Mutter erzählt, die bei einem Gespräch dabei ist, sei
nicht nur nicht klar gewesen, wann genau Patrick entlassen werde. Sondern ob überhaupt. Sie
habe «sehr gelitten», sagt sie. Dazu beigetragen hat, dass sich viele Freunde von ihr
abwendeten. Oder sie sich gezwungenermassen von ihnen. «Einige haben nicht verstanden,
dass ich zu meinem Sohn stehe. Dass ich jedes Telefon von ihm abnehme. Dass ich ihm Geld
schicke.» Sie tat es immer wieder - obwohl sie wusste, dass er es für Drogen ausgibt. «Ich bin
seine Mutter», sagt sie. «Wer, wenn nicht ich, soll ihn unterstützen? Wer an ihn glauben?»
Moser selber ging es ähnlich. Nur ein kleiner Teil seiner Zürcher Freunde stand ihm bei oder
kam ihn gar besuchen. Viele wandten sich von ihm ab. Wohl auch aus schlechtem Gewissen, wie
er vermutet. Ihn hatte es erwischt, sie nicht. Im Gefängnis konnte er ebenso wenig auf Freunde
zählen. Als Ex-Süchtiger wurde er immer mehr zum Einzelgänger - auch weil neben ihm nur
gerade zwei Schweizer inhaftiert waren. Ganz im Gegensatz zu den rund 300Spaniern, die
zusammen eine grosse, starke Gruppe bildeten. «Spanien ist froh, dass es seine Schmuggler los
ist. Die spanische Botschaft zahlt jedem Inhaftierten umgerechnet 75 Dollar pro Monat - das ist
viel, aber immer noch weniger, als wenn sie sich zu Hause um die Drogensüchtigen kümmern
müssten.»
Er selber erhielt von der Schweizer Botschaft nie Geld - weil er aus gutem Haus kommt und
dieses, wie er mehrfach versichert, auch nicht wollte. Trotzdem hätte er sich Unterstützung
gewünscht, wenn nicht finanzieller, dann doch juristischer Art. «Hätte die Botschaft besser mit
der Gefängnisleitung zusammengearbeitet», glaubt er, «wäre mir vieles erspart gelieben.»
Eigentlich wäre der Direktor von Piedras Gordas verpflichtet, die Akten sämtlicher Häftlinge
halbjährlich auf den neuesten Stand zu bringen und - falls von diesen gewünscht - an die
zuständigen Haftrichter zu übermitteln. Für Haftlockerungen. Für frühzeitige Entlassungen.
Doch dieser habe «absolut kein Interesse» daran - weil das Gefängnis an den Häftlingen
verdiene.
«In der Schweiz wäre ich wegen guter Führung frühzeitig entlassen worden», ist sich Moser
sicher. Doch weil der Gefängnisdirektor genauso korrupt sei wie die Wächter, verfälsche er die
Papiere - und lasse es aussehen, als benehme man sich daneben. «Ich habe gehofft, dass sich die
Botschaft für mich einsetzt - doch passiert ist nichts», sagt Moser. «Sie hätte Einsicht in unsere
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Papiere verlangen und mehr Druck aufsetzen müssen. Umso mehr, als sie nur wenige Fälle zu
betreuen hat.»
Zwei Besuche pro Jahr müssen reichen
Der Strafvollzug sowie die bedingte Entlassung aus der Haft lägen ausschliesslich in der
Kompetenz der peruanischen Behörden, entgegnet Pierre-Alain Eltschinger, Sprecher des
Aussendepartementes (EDA). «Die Häftlinge können die ihnen zustehenden Rechtsmittel
ausschöpfen, wenn sie mit einer Massnahme eines Staates nicht einverstanden sind.»
Ausländische Gefängnisse kommentiert das EDA nicht. Zum Einzelfall macht es aus Gründen
des Daten- und Persönlichkeitsschutzes keine Angaben. Eltschinger sagt nur: «Der von Ihnen
erwähnte Schweizer Bürger wurde im Rahmes des konsularischen Schutzes betreut. So wurde er
zum Beispiel zweimal jährlich durch Botschaftspersonal besucht.»
Versucht Moser, der Botschaft die Schuld zu geben? Er tut es nicht. «Schuld bin allein ich», sagt
er. «Das war mir immer klar.» Doch das ändere nichts daran, dass er sich juristisch zu wenig
unterstützt gefühlt habe. Am Tag seiner Entlassung habe es die Botschaft nicht einmal für nötig
gehalten, ihn abzuholen - und das, obwohl ihm die Wärter die letzten 600 Dollar abgenommen
hätten. Nicht einmal Geld für ein Busbillett habe er mehr gehabt. Laut EDA ist das Abholen von
Häftlingen nicht Teil der im Auslandschweizergesetz vorgesehenen Hilfsleistungen.
Patrick Moser wirkt gefasst, als er die Vorwürfe formuliert und von den Erlebnissen im Piedras
Gordas erzählt. Nur ab und zu brechen die Erinnerungen durch. Wenn er in einem Nebensatz
erwähnt, er habe eine Zeit lang nur noch 53 Kilogramm gewogen. In einem anderen, er sei
regelmässig von den Wärtern verprügelt worden. Die Hygienestandards seien miserabel
gewesen, die Mahlzeiten karg. Und dann die ständige Angst, dass seine Haft unter irgendeinem
Vorwand über die sechs Jahre hinaus verlängert werde. Doch er beklagt sich nicht - er berichtet.
Nur einmal sagt er: «Ich habe gelitten.» Und: «Es war kein Erlebnis, das du erleben willst.»
Überhaupt spricht er auffällig oft in der Duform - gerade so, als erzähle er nicht von sich selbst.
Halt gegeben hat ihm seine Familie in der Schweiz - und die Möglichkeit, im Gefängnis zu
arbeiten. Seine Strafe beinhaltete sogenannte Benefits. Für fünf Tage Arbeit bekam er einen Tag
Haft geschenkt. Als gelernter Koch baute er mit einem Mitgefangenen ein kleines Restaurant im
Gefängnis auf, andere Häftlinge arbeiteten in der Holzwerkstatt oder in der Lederabteilung.
Diese Arbeit, sagt er, sei zwar eine Farce gewesen. Doch immerhin eine Ablenkung, deretwegen
er nicht durchgedreht sei.
Seit ein paar Wochen ist Patrick Moser, bald 39, zurück in der Schweiz. Er hat bereits 10
Kilogramm zugenommen. Und er freut sich über seinen neuen Job auf einem Golfplatz zwei
Tage die Woche. Nächsten Monat beginnt er eine Handelsschule, denn kochen will er nicht
mehr. Den Kontakt zu seinen alten Drogenfreunden hat er abgebrochen: «Ich würde wohl bald
wieder mit dem Konsumieren anfangen.» Damit hat er auf einen Schlag 90Prozent seines
früheren Umfeldes verloren, schätzt er. Doch er sagt, es mache ihm nichts aus. «Ich habe zu
sehr gelitten, um die gewonnene Freiheit fahrlässig aufs Spiel zu setzen. Und sie wissen nicht,
was ich durchgemacht habe.» Zudem hat er kurz nach seiner Entlassung im April in Lima eine
Frau kennen gelernt und sie mittlerweile in die Schweiz geholt. Sie kam mit Koffern an. Und
ohne Kokain.
* Name geändert
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Die Unerwünschten
Palästinensische Schulmädchen unterwegs im Westjordanland; vorbei an der israelischen Siedlung Maale
Adumim. Foto: Reuters
Israels Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das Menschenrechtsorganisationen strenge
Vorschriften auferlegt. Es zielt vor allem auf Gegner der Besatzungspolitik.
Von Susanne Knaul und Julian Hans, Jerusalem und Moskau, TA vom MI 13. Juli 2016
Ungeachtet der Kritik im In- und Ausland will Israel regierungskritische Organisationen fortan
schärfer unter die Lupe nehmen. Mit 57 zu 48Stimmen entschieden sich die Abgeordneten der
Knesset
in
der
Nacht
auf
Dienstag
für
das
«Transparenz-Gesetz».
Nichtregierungsorganisationen werden damit ab kommendem Januar in die Pflicht genommen,
auf ihren Briefbögen und Rechnungen sowie bei offiziellen Anlässen offenzulegen, wenn sie
mehr als die Hälfte ihres Budgets aus Spenden ausländischer Regierungsinstitutionen decken.
In der Praxis betrifft diese Regelung nahezu ausschliesslich linke Organisationen. 25 von
insgesamt 27NGOs, die über 50Prozent ihrer Gelder von ausländischen Regierungen beziehen,
setzen sich die Wahrung der Menschenrechte zum Ziel. Rechte NGOs, allen voran die
Siedlergruppen, werden eher von privaten Spendern gefördert.
Das umstrittene Gesetz reiht sich ein in eine Serie von Rechtsreformen und öffentlichen
Kampagnen gegen Organisationen, die sich für das Ende der israelischen Besatzung in den
Palästinensergebieten engagieren. Die Reform sei «mehr als alles andere ein Anzeichen für den
aufkommenden Faschismus, der sich in die israelische Gesellschaft einschleicht»,
kommentierte Oppositionsführer Yitzhak Herzog vom Zionistischen Lager.
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«Erosion der Demokratie»
Der öffentliche Diskurs bewegt sich zunehmend nach rechts. Besatzungsgegner werden fast
automatisch dem linksextremen Lager zugerechnet. Mosche Shalon und Ehud Barak, beide
frühere Generalstabschefs und Verteidigungsminister in Regierungen von Benjamin Netanjahu,
sprachen jüngst auf einer Konferenz zur Lage der Nation über den zunehmenden Einfluss
«extrem ideologisierter» Strömungen und warnten vor einer «Erosion der Demokratie».
Die Liste der betroffenen NGOs umfasst das Öffentliche Komitee gegen Folter, die Koalition der
Frauen für den Frieden, das Informationszentrum für Menschenrechte Betselem und die ExSoldaten von Das Schweigen brechen. Umgerechnet knapp 7000Euro Bussgeld droht den
Organisationen, sollten sie die neuen Regeln missachten, was allerdings unwahrscheinlich ist,
da die NGOs ihre Bücher ohnehin längst für jeden einsehbar im Internet veröffentlichen.
Federführend bei der Rechtsreform war Justizministerin Ayelet Shaked von der Siedlerpartei
Das jüdische Haus. Während der Debatte in der Knesset sprach sie vom «Nationalstolz», der
das ausländische Diktat nicht erlaube. «Bis heute haben wir unseren Kopf gesenkt, aber das tun
wir nicht länger. Ich bin eine Ministerin mit Ideologie», meinte Shaked. Der
sozialdemokratische Abgeordnete Nachman Shai kommentierte die Abstimmung
desillusioniert. «Dafür werden noch viele Generationen einen Preis zahlen müssen.»
Die Friedensbewegung Peace Now (Shalom Achschaw), die selbst nicht von der Reform
betroffen ist, will versuchen, die Gesetzreform per Rechtsspruch wieder rückgängig zu machen,
und kündigte an, vor den obersten Gerichtshof zu ziehen. Peace Now verurteilte die «eklatante
Verletzung der freien Meinungsäusserung», mit der es die Regierung darauf absehe, «den
öffentlichen Diskurs von der Besatzung abzulenken und Kritiker zum Schweigen zu bringen».
Auch in Europa wurde Unmut über die Parlamentsentscheidung laut. «Israel geniesst eine
lebhafte Demokratie, freie Meinungsäusserung und eine mannigfaltige Zivilgesellschaft», hiess
es in einer Stellungnahme der EU. Die Gesetzreform untergrabe diese Werte.
Putins Angelegenheit
Mehrere israelische Parlamentarier sehen Parallelen zu der autoritären Politik in Russland. Das
russische Agenten-Gesetz wird in der nächsten Woche vier Jahre alt. Wladimir Putin hatte es
am 20.Juli 2012 unterschrieben, erst im Mai war er als Präsident in den Kreml zurückgekehrt.
Es war offenbar eine dringliche Angelegenheit nach den Massenprotesten in Moskau und vielen
anderen Städten, die den Ämtertausch zwischen Putin und Dmitri Medwedew zuvor begleitet
hatten. Nun müssen die NGOs jedes Quartal einen Rechenschaftsbericht vorlegen. Die
entscheidende Neuerung aber ist der stigmatisierende Titel «Agent des Auslands», den die
russischen NGOs bei jeder Publikation und jedem öffentlichen Auftritt im Namen führen
müssen. Er weckt im russischen Bewusstsein die Assoziation an die 30er-Jahre unter Stalin, als
Jagd auf angebliche ausländische Agenten gemacht wurde, die als Saboteure und «Schädlinge»
für Misserfolge bei der Industrialisierung der Sowjetunion verantwortlich gemacht wurden.
In den vier Jahren seit seiner Verabschiedung hat das Agentengesetz breite Wirkung entfaltet.
135Organisationen hat das Justizministerium inzwischen gelistet, darunter das renommierte
Sacharow-Zentrum und das Menschenrechtszentrum der Organisation Memorial, aber auch die
Freunde der Wälder Sibiriens.
Schiffe versenken
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Immer wieder: Ein sinkendes Fischerboot vor den Paracel-Inseln. Foto: Reuters
Staaten am Südchinesischen Meer erheben schwere Vorwürfe: Peking breite sich immer weiter
aus und greife Fischerboote an. Nun soll ein Schiedsgericht den Streit schlichten.
Von Arne Perras, Ly Son, TA vom DI 12. Juli 2016
Noch eine Stunde bis Mitternacht. Und Kapitän Pham Phu Thanh ahnt nichts. Sein Fischerboot
dümpelt an jenem Abend auf hoher See, der Vietnamese sitzt in der Kajüte und wartet auf die
Rückkehr der Mannschaft. Zwei seiner Leute sind mit ihm an Bord geblieben, alle anderen hat
er hinausgeschickt in kreisrunden Korbbooten, die wie geflochtene Reisschüsseln aussehen.
Seine Männer paddeln rund um das grosse Schiff, sie leuchten mit Lampen ins Wasser, um
Tintenfische anzulocken. Alles läuft gut in jener Nacht vor den Paracel-Inseln im
Südchinesischen Meer. Bis zum grossen Schlag.
Wenn Kapitän Thanh vom 3. Mai 2016 erzählt, wächst in ihm der Zorn, er spricht sehr laut ins
Telefon, als müsste er alles hinausschreien, was nicht mehr zu ändern ist. Gerne würde man ihn
aufsuchen im vietnamesischen Hinterland, doch der Moment ist nicht günstig. Er muss sich
vom Schock seines Lebens erholen.
Die Wucht des Aufpralls wirft den Kapitän in jener Nacht zur Seite, er schlägt sich den Kopf an,
taumelt, dann klettert er nach draussen. Auch die beiden anderen schaffen es aufs Deck, sie
retten sich mit einem Sprung ins Wasser. Ein paar Minuten später hat das Meer ihr Schiff samt
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30 Tonnen getrocknetem Tintenfisch verschluckt. An der Oberfläche treiben nur noch
Aufbauten, an denen sich die Schiffbrüchigen festklammern.
Ein geheimnisvoller Angreifer hat das Boot der Vietnamesen gerammt, er kam mit rasender
Geschwindigkeit aus der Finsternis und rauschte genauso schnell wieder davon. So erzählt es
der Kapitän, der damals noch einen Notruf absetzen kann. Zufällig ist ein anderes Fischerboot
in der Nähe und rettet sie, bevor sie in der brütenden Sonne verdursten. Der Kapitän hat keinen
Zweifel daran, wer hinter der Attacke steckt: «Es ging alles sehr schnell, aber ich habe eine
graue Bordwand aus Stahl gesehen. Und die trug chinesische Schriftzeichen», sagt er. Es klingt
nach einem zynischen Spiel: Schiffe versenken im Südchinesischen Meer. Ist das die neue
Abschreckungstaktik Pekings, um sich Raum auf dem Meer zu verschaffen? Vorwürfe dieser Art
tauchen nun immer häufiger auf.
Im jüngsten Fall will ein Oberst der vietnamesischen Streitkräfte einen Schuldigen noch nicht
benennen. «Wir untersuchen die Kollision noch», sagt er. Offiziell herrschen ja gute
Beziehungen zwischen den sozialistischen Bruderstaaten China und Vietnam. Offiziell.
Ein bizarres Seegefecht
Die Spannungen haben viel mit der konfliktreichen Geschichte beider Länder zu tun, aber auch
mit dem forschen Vorgehen Chinas auf dem Meer. Die Grossmacht streitet mit mehreren
Nachbarstaaten darum, wem hier welche Gebiete gehören. Und Peking ist alles andere als
zimperlich. Es reklamiert etwa 80 Prozent des Meeres für sich und begründet den Anspruch mit
«historischen Rechten». Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, dass chinesische Händler,
Fischer oder Gesandte in alten Zeiten sowieso immer die Ersten waren, wenn es etwas auf dem
Meer zu entdecken gab.
Vietnam will das im Falle der Paracel-Inseln und auch der Spratly-Inseln nicht akzeptieren. Wie
Peking führt auch Hanoi die Rechte alter Herrscher ins Feld, um seine Ansprüche zu
untermauern. Nur dass sie der chinesischen Macht wenig entgegenzusetzen haben. Das zeigte
sich besonders krass bei einem Vorfall vor zwei Jahren, als China eine Ölplattform in die
umstrittenen Gewässer schleppte, begleitet von einer Armada chinesischer Schiffe. Es folgte ein
bizarres Seegefecht, bei dem die überlegenen Chinesen mit Löschkanonen und Wasserwerfern
auf vietnamesische Boote feuerten, sie rammten und vertrieben. Später verlegte China die
Ölbohrinsel 981 wieder weiter weg, aber die Nummer ist jedem Vietnamesen im Gedächtnis
geblieben. Peking schiebt sie im Meer hin und her und spricht von legitimer Exploration. Die
Vietnamesen nennen es Provokation.
Eine Zeit der Muskelspiele
Peking beherrscht die Paracel-Inseln seit 1974, es baut dort Stützpunkte aus und hat
Luftabwehrraketen stationiert, ohne dass die territorialen Streitigkeiten gelöst wären. Das
schürt Angst unter den Nachbarn. Sie fragen sich: Wie breit will sich China noch machen? Diese
Sorge hat Vietnam in die Arme ihres früheren Feindes USA getrieben. Die Amerikaner
wiederum werden von den Chinesen zunehmend als Eindringlinge in ihrem maritimen
Hinterhof belauert. So erleben die Staaten Südostasiens eine Zeit der Muskelspiele, der Konflikt
schaukelt sich hoch. Heute Dienstag entscheidet ein Schiedsgericht in Den Haag über eine
Eingabe der Philippinen, die geklärt haben wollen, ob die weitreichenden Ansprüche Chinas auf
dem Meer mit dem internationalen Seerecht vereinbar sind. Das steigert die Nervosität. Und
neben Manila ist es vor allem Hanoi, das Peking in diesen Streitigkeiten die Stirn bietet. Was
geschieht, wenn diese Konflikte eskalieren sollten, möchte sich niemand vorstellen: Ein
militärischer Konflikt hätte schlimmste Folgen für die Weltwirtschaft, denn jedes Jahr
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schleusen Staaten und Unternehmen Güter im Wert von fünf Billionen Dollar durch das
Meeresgebiet.
Überfahrt nach Ly Son: 28 Kilometer liegt diese kleine Insel vor der vietnamesischen Küste und
dient den Vietnamesen als letzter gesicherter Aussenposten auf dem Weg zu den umstrittenen
Paracel-Inseln. Die Wellen tanzen an diesem Morgen auf und ab, sodass die Passagiere alle in
die Tüten spuken. Auf der Insel leben Männer, die schon oft da draussen ihren Kopf
hingehalten haben - ja für was eigentlich? Die nationale Ehre? Die Unverletzlichkeit der
Souveränität? Oder doch eher für ihr Einkommen, das sie sich hart verdienen? Man wird gleich
mehr darüber erfahren von einem Mann namens Le Khoi. In wenigen Stunden will der Fischer
wieder auslaufen. Aber er hat zugestimmt, vorher noch von seinen 30 Jahren auf dem Meer zu
erzählen. Le Khoi sieht nicht aus wie einer, der sich leicht einschüchtern lässt. Er wirkt mit
seinen 50 Jahren noch sehr jugendlich und steckt voller Energie.
Zum Fischen fuhr er schon als Junge hinaus, im Boot des Onkels. Die See hat ihn nie mehr
losgelassen und seine Familie gut ernährt. Sie leben in einem kleinen gepflegten Haus hinter
dem Hafen. Der Fischer serviert bitteren Tee aus kleinen Porzellantassen. In einer Glasvitrine
neben dem Wohnzimmertisch bewahrt er all seine Schätze auf, die er in drei Jahrzehnten aus
dem Ozean gezogen hat. Vor allem sind es bizarre Muscheln, die in allen erdenklichen Farben
schillern. «Es gibt keinen besseren Fangplatz als die Paracel-Inseln», schwärmt Le Khoi. «Und
diese Inseln gehören uns.»
Mit Elektroschockern traktiert
So hat er niemals aufgehört, rund um die Inseln herum zu fischen, auch wenn die Chinesen
anderer Meinung sind und versuchen, das Gebiet vor Fischern aus Vietnam abzuschotten. Dafür
fahren sie, wie Le Khoi beobachtet, mit immer schnelleren und robusteren Schiffen auf. Früher
habe es keine Probleme vor den Inseln gegeben, vietnamesische und chinesische Fischer hätten
sich oft geholfen. Aber Ende der 90er-Jahre habe sich das immer stärker verändert. 2007 sei er
sogar mehrere Wochen lang von Chinesen festgehalten worden. Offiziell wurde das durch
diplomatische Verhandlungen gelöst, doch Le Khoi behauptet, dass von seiner Familie auch
Lösegeld gefordert wurde. Attacken gab es seither immer wieder, zuletzt erwischte es ihn und
seine Mannschaft am 15. August 2014. Er erzählt, wie achtzehn bewaffnete Chinesen an Bord
kamen und sie mit Elektroschockern traktierten. «Sie kommen manchmal wie die Piraten», sagt
Le Khoi. Entweder nehmen sie den Fang mit oder kippen ihn ins Meer. Immer wieder hätten sie
auch Netze und Ausrüstung auf den Booten zerstört. «Aber natürlich behaupten sie, dass sie im
Recht seien.» Sie haben sogar vietnamesische Übersetzer an Bord, die ihnen per Lautsprecher
einhämmern sollen, dass sie hier illegal fischten. Weil die Paracel-Inseln zu China gehörten.
Daran lässt Peking nicht rütteln. Doch Khoi will das Feld keinesfalls räumen, auch wenn sich
seine Familie Sorgen macht. «Ich zittere jedes Mal, wenn er losfährt», sagt seine Frau Duong
Thi Huong. «Aber was sollen wir machen? Wir leben vom Fischen, ein anderes Einkommen
haben wir hier nicht.»
Kapitän Le Khoi hat schon Proviant und Wasser geladen, am nächsten Morgen will er mit seiner
Mannschaft wieder los. Hat er vielleicht noch einen Platz an Bord? Einmal die Paracel-Inseln
umrunden, das wäre schon nicht schlecht. Doch der Fischer winkt energisch ab. Viel zu riskant,
sagt er. «Da draussen kannst du jetzt alles erleben», sagt Le Khoi. Sogar Schiffe, die Schiffe
versenken, bei Nacht.
Südsudan
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Neue Kämpfe gefährden einen fragilen Frieden.
Von Johannes Dieterich, TA vom DI 12. Juli 2016
Festgefahren in den Nilsümpfen
Juba, die Hauptstadt von Südsudan
In Juba, der Hauptstadt des jüngsten Staats der Welt, sprechen wieder die Waffen. Nach drei
Tage langen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Soldaten des Vizepräsidenten Riek
Machar kam es auch am Montag zu heftigen Gefechten am Sitz der südsudanesischen
Regierung: Mörsergranaten detonierten, Panzer patrouillierten in den Strassen, am Himmel
kreisten Kampfhelikopter. «Die Lage wird immer ungemütlicher», sagt Jürg Eglin,
Repräsentant des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Juba.
Zu Beginn der Kämpfe sah es noch danach aus, als ob es sich bei den Zusammenstössen um
unbeabsichtigte Zwischenfälle nervöser Kämpfer handeln könne. Die beiden Protagonisten des
Konflikts - Staatspräsident Salva Kiir und sein Vize Machar - sassen am Freitag zu Gesprächen
im Präsidentenamt, als draussen plötzlich heftige Gefechte ausbrachen. Beide hätten einen
durchaus glaubwürdigen Eindruck gemacht, als sie sich von den Schiessereien völlig überrascht
zeigten, berichten Journalisten.
Fadenzieher im Hintergrund
Seitdem kursieren alle möglichen Theorien, wer für den Wiederausbruch des vor einem Jahr
mit einem Friedensvertrag beendeten Bürgerkriegs verantwortlich sein könnte. Eher
unwahrscheinlich ist die These, dass es sich um einen Putschversuch Machars handeln könnte:
Die militärischen Kräfteverhältnisse in Juba, wo 12 000 Regierungssoldaten den kaum 3000
Kämpfern des Vizepräsidenten gegenüberstehen, lassen das als höchst zweifelhaft erscheinen.
Mehr Sinn macht die Erklärung, dass ein starker Mann im Umfeld des Präsidenten den
Friedensprozess zum Scheitern bringen wollte: Dieser Mann könnte Paul Malong sein, der Chef
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der Streitkräfte, der schon lange als graue Eminenz hinter dem auch intellektuell nicht gerade
glänzenden, unberechenbaren Kiir steht.
Klar ist, dass es bei dem seit drei Jahren anhaltenden Konflikt nicht nur um die Ambitionen der
Politiker Kiir und Machar in dem an Erdöl reichen Land geht: Ausschlaggebend sind vielmehr
die ethnischen Spannungen, die die Vielvölkerregion seit Jahrzehnten heimsuchen. Das
Mehrheitsvolk der Dinka gab schon im Befreiungskampf gegen den Norden den Ton an: Sie
hätten unter den Kriegsverbrechen der sudanesischen Armee am meisten gelitten, sagen deren
Führer. Dagegen galten die Nuer, das zahlenmässig zweitstärkste Volk, als eher unverlässliche
Gesellen: Sie schlugen sich immer mal wieder auf die Seite des Feindes - wie Riek Machar, der
jahrelang in Khartum stationiert war.
Aus ihrer geschichtlichen Rolle leiteten die Dinka nach der Unabhängigkeit vor fünf Jahren
einen Führungsanspruch ab: Selbstverständlich wurde mit Kiir ein Dinka zum
Präsidentschaftskandidaten der Regierungspartei SPLM ernannt. Und mit dem Jieng, dem
Ältestenrat der Dinka, verfügte das Mehrheitsvolk auch über eine Art Schattenregierung. Auf
dieser Ebene werden die lukrativsten Deals ausgehandelt - der Südsudan gilt als einer der
korruptesten Staaten der Welt. Als Vizepräsident suchte Machar gegen die «Dinkatur»
anzugehen und brachte sich sogar als Präsidentschaftskandidaten ins Spiel: eine Provokation,
die im Dezember 2013 zum Ausbruch des Bürgerkriegs führte.
UNO muss Kämpfer entwaffnen
Mit grosser Mühe und zahllosen Rückschlägen zwang die internationale Gemeinschaft Kiir und
Machar an den Verhandlungstisch: Letzterer kehrte schliesslich im April mit knapp 3000
Soldaten nach Juba zurück. Vielleicht meinte es der christliche Prediger Kiir sogar ernst mit
dem Aussöhnungsversuch: Doch die Dinka-Falken unter General Paul Malong scheinen ihren
Einfluss nicht aufs Spiel setzen zu wollen.
Der Südsudan habe nur eine Chance, sagen Experten: Die UNO müsse so schnell wie möglich
die bisherige Mission in den Nilsümpfen mit gut 13 000 Mitgliedern in eine ausgewachsene
Blauhelmtruppe verwandeln, die nicht nur - wie bisher - Flüchtlingen fragwürdigen Schutz in
nachlässig bewachten Camps bietet, sondern die Kämpfenden entwaffnet. Schon vor dem
Ausbruch der jüngsten Kämpfe gab der Staatenbund bekannt, dass fünf Millionen
Südsudanesen vom Hungertod bedroht sind.
Vom Höhepunkt ins Höhentraining
Halbmarathon-Europameister Tadesse Abraham weilt bereits wieder in Äthiopien auf 2800
Metern.
Von Monica Schneider, Amsterdam, TA vom DI 12. Juli 2016
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Alle waren sie gekommen, seine Frau und sein Sohn Elod. Die beiden Brüder, die in Holland
leben. Der dritte Bruder, der wie er in der Schweiz seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die
Geschichte Tadesse Abrahams, des einstigen Asylbewerbers in Uster aus dem Jahr 2004, hat an
der EM in Amsterdam zum vorläufigen sportlichen Höhepunkt gefunden und zur grossen
Zusammenkunft der Familie geführt.
Wie er im Ziel die Schweizer Fahne auf dem Boden ausbreitete und sich darauf einen Moment
der Ruhe und des Bewusstwerdens gönnte; wie er seinem Sohn die Schweizer Kreuze auf den
Backen abküsste; wie er sich von seinen Teamkollegen, die er ebenfalls zu Halbmarathon-Gold
geführt hatte - «Allez la Suisse!» - feiern liess: Abraham wurde für viele Mühen und
Widerstände belohnt, die er nach seiner Ankunft im fremden Land in sozialer und sportlicher
Hinsicht hatte überwinden müssen.
Er hat in dieser Zeit gelernt, dass es im Leben entscheidend ist, die schlechten Momente
wegzustecken und nicht aufzugeben. Der Weg zu EM-Gold war für den 33-Jährigen lang,
gestartet war er in Eritrea als Velofahrer, geehrt wurde er nun als Schweizer und
Halbmarathonläufer. Nach einigen Rückschlägen wie dem EM-Marathon in Zürich, als er
erstmals in Rot-Weiss an den hohen Erwartungen seiner selbst und auch der Öffentlichkeit
scheiterte, oder dem WM-Marathon des vergangenen Jahres in Peking, als ihn eine
Oberschenkelverletzung bremste, erlebt Abraham nun ein Jahr im Höhenflug. In Seoul
verbesserte er im März Viktor Röthlins Schweizer Marathonrekord auf 2:06:40 Minuten - eine
Weltklassezeit nur knapp über dem Europarekord. Und mit dem Sieg in Amsterdam verschaffte
er sich viel Selbstvertrauen auf dem finalen Weg zu den Sommerspielen nach Rio, wo am
21. August der Saisonhöhepunkt ansteht.
Abraham ist bereits gestern nach Äthiopien zurückgeflogen, zurück ins Trainingslager im
Hochland. Es ist ein entbehrungsreiches Jahr für ihn und seine Familie, die in Genf lebt. Er
weilte von Januar bis März in Afrika und kehrte Anfang Juni nach dem GP Bern dorthin zurück.
Erst drei Tage vor dem Rennen traf er in Amsterdam ein, genauso wird er es auch vor Rio
handhaben.
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St. Moritz ist zu wenig hoch
Die Anreise drei Tage zuvor, das hat sich bewährt. Er selber sieht seine Abwesenheiten
nüchtern. «Für mich ist es einfach, anstrengend ist es für meine Frau, die sich in dieser Zeit
allein um Elod kümmern muss, der schon zur Schule geht. Aber wir wissen, dass es für mich
eine wichtige Zeit ist, deshalb nehmen wir das auf uns», sagt Abraham, der fliessend
Französisch und Deutsch spricht.
Während sich der Oerliker Christian Kreienbühl, der zweite Schweizer OlympiaMarathonläufer, im Engadin auf 1800 Metern und ein wenig höher den letzten Schliff verpasst,
muss Abraham höher hinauf. Er sagt: «In St. Moritz spüre ich den Effekt nicht, weil ich auf
2400 Metern geboren bin. Ich muss auf 2800 oder sogar 3000 Metern trainieren, damit sich
das ausbezahlt.» Er hat dort eine Gruppe konkurrenzfähiger Läufer gefunden, mit denen er vor
allem an seinen Schwächen arbeitet: Läufe unter hoher Belastung. «Dauerläufe kann ich alleine
machen, aber in den Trainings mit hoher Belastung bin ich auf gute Leute angewiesen», erklärt
er. Der Halbmarathon vom Sonntag hat ihm gezeigt, dass der eingeschlagene Weg der richtige
ist, die Standortbestimmung fällt kurz und bündig aus: perfekt.
Auch Antidoping Schweiz hat den Weg nach Äthiopien nicht gescheut, Abraham ist dort einmal
kontrolliert worden. Er erzählt, dass die kursierenden Geschichten um gedopte äthiopische
Läuferinnen und Läufer und den Trainer Jama Aden auch in den dortigen Trainingsgruppen
Thema seien. «Es wird darüber gesprochen, aber niemand weiss Genaues, und niemand weiss,
was dabei herauskommt», sagt er. Kontrolliert worden ist er auch am Sonntag. Als Sieger
nimmt er das gerne auf sich.
Gestürzt, nicht gefallen
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Bauchlandung im 5. Satz – da war die grosse Chance schon weitgehend verspielt. Foto: Adam Pretty
(Getty)
Roger Federer verpasst im Halbfinal gegen Milos Raonic eine grosse Chance. Trotzdem hat er
guten Grund, wieder deutlich zuversichtlicher zu sein.
Eine Analyse von Simon Graf, TA vom SA 9. Juli 2016
Roger Federer hat in seiner Karriere schon viele Matchs gewonnen, die er hätte verlieren
können. Oder müssen. Im Wimbledon-Halbfinal gegen Milos Raonic verlor er einen, den er
hätte gewinnen müssen. Eine schmerzliche Niederlage. Er schaffte es, die Partie gegen den
wuchtigen Aufschläger dorthin zu lenken, wo er sie haben wollte. Doch als der Einzug in sein
elftes Wimbledon-Endspiel greifbar war, er mit 2:1-Sätzen führte, nützte er im vierten
Durchgang zuerst seine Chancen nicht und schenkte dann seinem Gegner bei 5:6 das Break mit
einer Serie unerklärlicher Fehler. Raonic packte die Chance zur Wende und blickte danach nicht
mehr zurück.
Noch nicht ganz in Topform
Er wisse selbst nicht, wie das habe passieren können, sagte Federer, als er versuchte, das
Geschehene zu analysieren. Jedenfalls sei er verärgert über sich. Das vorherrschende Gefühl
dürfte bei ihm aber Enttäuschung gewesen sein. Er hatte sich in der Runde zuvor gegen Marin
Cilic mirakulös befreit und eine Chance verschafft auf seine achte Wimbledon-Krone. Zumal ihn
Novak Djokovic, der Mann, der ihn in den letzten drei Major-Finals bezwungen hatte, nicht
mehr hätte davon abhalten können. Federer spielte nach einer von Verletzungen geprägten
Saison noch nicht ganz sein bestes Tennis. Aber der Centre Court von Wimbledon, auf dem er
schon so viele schöne Momente erlebt hatte, inspirierte ihn zu grossen Auftritten.
Es hätte reichen können zu einer weiteren Sternstunde. Seiner unerwartetsten. Im Final wäre er
auf Andy Murray getroffen, gegen den er die letzten fünf Duelle und fünf von sechs
Begegnungen an Grand Slams gewonnen hat. Stattdessen bekommt nun Raonic die
Möglichkeit, gegen den Schotten seinen ersten Major-Titel zu erringen. Federer verpasste also
eine grosse Chance.
Doch wahrscheinlich zeigte sich eben gerade in einigen wenigen, entscheidendenden Szenen,
dass ihm noch die Selbstverständlichkeit abgeht, die man nur durch Matchs und Siege
bekommt. Und die fehlten Federer nach von Verletzungen geprägten Monaten. Er hat in diesem
Jahr erst einen Top-10-Spieler geschlagen, Tomas Berdych am Australian Open.
Sofern er sich gegen Raonic nicht wieder verletzt hat - er fiel im fünften Satz aufs operierte linke
Knie, wurde kurz behandelt, konnte aber weiterspielen -, darf er, wenn die erste Enttäuschung
verklungen ist, zuversichtlich abreisen. Er war erstmals seit seinem ersten Wimbledon-Sieg von
2003 ohne grössere Ambitionen an sein Lieblingsturnier gekommen. Sein Ziel war primär,
wieder Fuss zu fassen auf höchster Stufe.
Eine günstige Auslosung half ihm dabei, er spazierte durch die erste Woche und wurde besser
und besser. Bis er vor dem Viertelfinal spürte, dass vielleicht doch etwas möglich sei. Zwischen
dem Tennis, das er in den Vorbereitungsturnieren in Stuttgart und Halle spielte, und jenem, das
er nun zuletzt in Wimbledon zeigte, liegen Welten.
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Nummer 9 in der Jahreswertung
Die Saison ist schon weit fortgeschritten, doch es stehen durchaus noch Höhepunkte an: zuerst
die Olympischen Spiele in Rio, später das US Open, vielleicht für ihn auch noch das ATP-Finale.
Dank seinem Halbfinalvorstoss hat er sich, obschon er das Gros der Turniere verpasst hat, in
der Jahreswertung bereits wieder auf Rang9 vorgearbeitet. In der Weltrangliste bleibt er nach
Wimbledon vorerst die Nummer 3.
Wenn es ihm gelingt, den körperlichen Rückstand, den er sich durch seine verschiedenen
Verletzungen eingehandelt hat, weiter zu verringern, kann dieses Jahr für ihn noch Erfreuliches
bringen. Und nicht nur das Niveau, das er innert Kürze wieder erreichte, sondern auch die
Begeisterung, die er mit seinen Auftritten in Wimbledon auslöste, dürften für ihn Motivation
sein, nun dranzubleiben.
Als Federer den Centre Court verliess, blickte er noch einmal in die Ränge und bedankte sich für
die Unterstützung. Man hätte das auch interpretieren können als Abschied. Das war es aber
nicht, wie er unmissverständlich klarmachte. Er betonte, dass er fest entschlossen sei, nächstes
Jahr nach Wimbledon zurückzukehren.
Er tut denn auch gut daran, sich von der ständigen Fragerei nach seiner Zukunft und dem
Verweis auf sein Alter - er wird in einem Monat 35 - nicht beeinflussen zu lassen. Selbst mit
wenig Spielpraxis und noch nicht in körperlicher Topform wie nun in Wimbledon kann er noch
weit kommen. Und 2015, als er in Wimbledon, am US Open und am ATP-Finale erst im Final an
Djokovic scheiterte, war er klar besser als in den Jahren zuvor.
An seinen letzten vier Grand Slams spielte sich Federer jeweils unter die letzten vier. Es gibt
keine Garantie, dass er nochmals einen Major-Titel gewinnt. Seinen 18. Sein letzter liegt
inzwischen vier Jahre zurück. Aber eines lässt sich festhalten: Federer verpasste gegen Raonic
zwar eine grosse Chance. Doch die nächste kommt bestimmt.
Der Feind lauert überall
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Der Terror gehört schon fast zum Alltag: Bewohner von Dhaka trauern um die 20 Todesopfer des
Anschlags vom letzten Freitag. Foto: Keystone
Bombenanschläge sind nur eine der Methoden, mit denen Islamisten in Bangladesh Schrecken
verbreiten. SeitMonaten schlachten sie Journalisten und Künstler ab - am liebsten mit
Macheten.
Von Arne Perras, Dhaka, TA vom FR 8. Juli 2016
Pervaj Rigan malt menschliche Körper. Nackte Körper. Mit solchen Motiven beschäftigt sich die
Kunst so lang, wie es Kunst gibt. Aber das heisst wenig für einen Maler, der im Jahr 2016 im
südasiatischen Staat Bangladesh arbeitet. Nicht dass Rigan seine Gemälde versteckte. Sie waren
gerade im Kulturinstitut Alliance Franaise in Dhaka zu sehen. Manche hat er auf Facebook
gestellt. «Diese Bilder, das bin ich», sagt er. Aber dieses Ich, es hat nun Angst vor dem, was
kommen könnte.
Ein Hausbesuch, irgendwo in Dhaka: Unten vor dem Wohnblock herrscht Getöse, die Gassen
sind verstopft, Benzindunst mischt sich mit dem Gestank aus der Gosse. Rikschas und hupende
Autos drängeln, fliegende Händler verkaufen Shampoos und Seife, am Strassenrand leuchtet
das Rot der Melonen. «Ich fühle mich nicht sehr wohl, wenn ich jetzt rausgehe», sagt Rigan, der
im sechsten Stock seiner Wohngemeinschaft sitzt, wo er auch malt. Nicht das Gedränge vor dem
Tor fürchtet er, sondern etwas anderes: «Es ist das Unsichtbare.»
Kürzlich sass er hinten auf dem Motorrad, er fuhr zum Einkaufen. Dabei hat er sich ertappt, wie
er sich immer wieder umdrehen musste, um zu schauen, ob da nicht einer kommt. Von hinten,
wie aus dem Nichts. Mit Paranoia hat das nichts zu tun. Dafür sind schon zu viele gestorben, am
200
Tag, auf offener Strasse. Zerhackt von selbst ernannten Scharfrichtern, die wehrlose Menschen
hinrichten.
Künstler, Intellektuelle, Freidenker: Sie alle blicken auf einen perfiden Feind. Wie ein Gespenst
geistert er durch dieses überwiegend von Muslimen bevölkerte Land, er hält sich im
Verborgenen, bis er plötzlich zuschlägt, mit grausamer Präzision. Unbekannte Angreifer lauern
ausgewählten Opfern auf, sie schlachten sie buchstäblich ab, mit Dolchen und Macheten, um
maximalen Schrecken zu verbreiten. Und die Wirkung dieser bestialischen Morde auf die
Psyche bleibt nicht aus.
Zuerst hat es vor allem säkulare Blogger getroffen, die sich kritisch mit der Religion und dem
Islam auseinandersetzten. Danach religiöse und sexuelle Minderheiten. Dutzende Menschen
sind auf diese Weise gestorben. Kürzlich meuchelten sie einen Professor, der nichts anderes tat,
als die Musik zu lieben und zu fördern. Der Kreis, den die Angreifer ins Visier nehmen, wird
immer grösser. «Dies ist eine spektakuläre Attacke auf unsere Kultur», sagt der Journalist und
Poet Sajjad Sharif.
Viel Nebel, wenig Aufklärung
Keiner weiss genau, wer die Täter sind, der Verdacht fällt immer wieder auf islamistische
Terroristen, doch die Hintermänner der Attacken bleiben im Dunkeln. Zu manchen Attentaten
hat sich die al-Qaida bekannt, zu anderen der Islamische Staat (IS). Wobei die Staatsmacht
beharrlich versichert, dass es keine der beiden Terrorgruppen in Bangladesh überhaupt gebe.
Zuletzt sorgte der Innenminister für Verwirrung, als er die Opposition beschuldigte, mit dem
israelischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten, eine «internationale Verschwörung»
anprangerte und in Verbindung mit den Morden brachte. Viel Nebel, wenig Aufklärung;
womöglich ein Ablenkungsmanöver, um die eigene Untätigkeit zu verschleiern. Das alles
verunsichert und nährt ein Gefühl der Schutzlosigkeit, so wie es jetzt auch Maler Pervaj Rigan
spürt.
Dabei lassen sich die Menschen in diesem Landstrich so leicht nicht unterkriegen. Sie kennen
Gefahren aller Art, sie haben eine lange brutale Militärdiktatur durchgemacht und überwunden.
Sie sind daran gewöhnt, der Wucht ihres Wetters zu trotzen. Sie leben und überleben in einem
riesigen Flussdelta, einer Welt zwischen Wasser und Land. Weil Fluten und Stürme Jahr für
Jahr vieles wegspülen und fortwirbeln, ist das Leben ein ständiger Zyklus. Wer hier etwas für
sein Leben aufbaut, rechnet damit, dass es auch wieder eingerissen werden kann. Mit all diesen
widrigen Kräften haben sich die Leute arrangiert, auch wenn der Klimawandel alles sehr viel
komplizierter macht.
Aber dieser Gegner mit der Machete aus dem Nichts? Er hat nichts Schicksalhaftes an sich, er
trifft präzise, mit kaltem Stahl. Dieser Angreifer zielt auf alle, die den freien Gedanken lebendig
erhalten wollen, er attackiert die bengalische Kultur in all ihrer Vielfalt. Zusammengebunden
durch eine gemeinsame Sprache, hat sie viele Ausdrucksformen gefunden: Tanz, Lyrik, Drama,
Gesang, Malerei. Einer der berühmtesten Vertreter ist SM Sultan, der sich für das einfache
Leben zwischen den grossen Flüssen interessierte. Sultan hat Bauern gemalt, Menschen bei
schwerer Arbeit. Seine Figuren sind nicht schwach, hungernd, verzweifelt. Sultans Bauern sind
voll bepackt mit Muskeln, sie verkörpern Stärke und eine unbändige Vitalität.
Die Männer und Frauen, die SM Sultan in den 70er-Jahren malte, haben oft einen freien
Oberkörper. Nackte Haut war damals kein Tabu. «Wir haben diese Tradition. Aber heute ist es
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viel schwieriger geworden, das zu zeigen», sagt Pervaj Rigan. Und es ist schwierig, als junger
Künstler so zu malen. Männer, die dafür Modell stehen könnten? «Das wagt niemand, nicht
einmal in meiner Wohnung.» Und Frauen? Noch gefährlicher. So hat Rigan immer nach
Fotografien gemalt. Ohne Anleitung seiner Lehrer. An der Akademie, wo er studierte, wird kein
Aktzeichnen unterrichtet; Rigan hat sich alles, was er kann, allein beigebracht. Eines seiner
Bilder heisst «The Beautiful Curse 3». Zwei Körper, Mann und Frau, Rücken an Rücken,
kopfüber schwebend im Universum. «Zu leben ist sehr schön», sagt Rigan, «aber es ist auch ein
Fluch, weil wir so wenig über uns wissen. Wo wir herkommen. Wohin die Reise hingeht.»
Treffen kann es jeden zu jeder Zeit
Manche sagen, die Kunst in Bangladesh befinde sich im Aufbruch. «Früher verkauften Künstler
ihre Werke vor allem an Ausländer. Heute gibt es eine wachsende städtische Schicht, die
einheimische Kunst schätzt und sammelt», beobachtet Philip Küppers, Leiter des GoetheInstituts in Dhaka. Andere sagen, das Kreative in Bangladesh könne man mit Gewalt niemals
ersticken. Zu diesen Menschen gehört Mäzen Abul Khair, der an diesem Nachmittag in seinem
Büro der Bengal Foundation sitzt. Hinter dem Schreibtisch hängt ein Gemälde von ebenjenem
Maler SM Sultan.
Kaum einer dürfte so viel in die Kulturförderung von Bangladesh gesteckt haben wie Abul
Khair. Er ist ein wohlhabender Unternehmer mit besten Kontakten - dennoch sagt er, dass er
sich aus der Politik heraushalte. Stattdessen konzentriert er sich ganz auf die Kunst. Khair und
seine Bengal Foundation fördern den ganzen Kulturbetrieb, sie drucken Kataloge, betreiben
eine Musikschule und mehrere Galerien, sie veranstalten Konzerte, sammeln einheimische
Kunst, ebnen neuer Architektur den Weg. «Jeder Mensch braucht einen Sinn für irgendetwas
Feines, was immer es sein mag. Ansonsten kann er selbst kein feiner Mensch sein», sagt Khair.
Und die Macheten? Gefährden sie nicht das Erbe seiner Stiftung? Eine direkte Antwort gibt
Khair darauf nicht. «Wir müssen schon aufpassen», sagt er. «Es kann jeden treffen. Aber
vernichten können sie so viel Kreativität nicht.»
Aber was bedeutet das für einen schaffenden Geist? Wenn er überlegen muss: Wer wird wohl
der Nächste sein? Wakilur Rahman gerät darüber oft ins Grübeln. Er ist Maler und Bildhauer
und lebte lang in Berlin. Nun hat er eine Serie von Fotos bearbeitet. «Censored Image» nennt er
die kleine Sammlung. Das zensierte Bild. Ein zerwühltes Bett, das man nicht genau sehen kann,
weil es im Kern unscharf ist. Eine Gesprächsrunde unter Freunden, die man nicht identifizieren
kann, weil ihre Köpfe abgedeckt oder verpixelt sind. «Angst führt zu häufiger Selbstzensur»,
sagt Rahman. Es ist eine Frage des Überlebens. Manche seiner Kollegen machen jetzt Pause, sie
tauchen ab, warten auf bessere Zeiten. Oder sie gehen ins Ausland, wenn sie können.
Als Rahman noch in Berlin lebte, bekam er einmal einen Anruf von Radio Multikulti, der
Moderator wollte etwas über ihn, den Maler aus Bangladesh, erfahren: «Was sind Sie
eigentlich?» - «Wie meinen Sie das?» - «Ich meine in religiöser Hinsicht.» - «Ich verstehe die
Frage nicht.» - «Hindu oder Moslem? Woran glauben Sie?» - «Ach so. Wenn Sie mich so
fragen: Ich glaube an die Stiftung Warentest.»
Viele Intellektuelle und Liberale fragen sich heute, was aus ihrer alten Vision vom säkularen
Staat geworden ist. Im Befreiungskrieg von 1971 trennte sich Ostbengalen von Pakistan. Viele
kämpften damals nicht nur für die Freiheit ihres Volkes, das seine eigene Sprache und Kultur
durch die Pakistaner bedroht sah. Sie wollten auch einen säkularen Staat. Die heute regierende
Awami League kämpfte früher für all diese Ideale - heute enttäuscht sie viele Anhänger. «Die
Position unseres Staates ist nicht mehr klar», sagt Kulturredaktor Sharif. «Unser Islam ist
202
traditionell ein synkretistischer Islam.» Doch das gefällt den Hardlinern nicht. «Wir erleben
einen Kampf um die Seele unseres Landes.»
Die Geschichte lastet schwer auf dieser Seele, Kriegsverbrechen bleiben lang ungesühnt. Die
Regierung hat erst 2009 ein Tribunal eingerichtet, um die Täter von 1971 zu richten, die damals
als Verbündete Pakistans grausame Massaker begingen. Deren Führer wurden zum Tod
verurteilt und einer nach dem anderen aufgehängt, obgleich es viel internationale Kritik gab an
den politisierten Prozessen. Exekutiert wurden Führer der religiösen Jamaat-Partei, die zur
Opposition gehört. Manche vermuten, dass die jüngste Mordserie der Extremisten ein
Rachefeldzug sein könnte. Journalist Sharif glaubt allerdings, dass die Macheten-Killer noch
viel extremer sind als die islamistische Partei. «Wir haben es mit einer Radikalisierung zu tun,
wie wir sie bis vor kurzem gar nicht kannten.»
Jedes Wort wird abgewogen
Nach den Morden an den Bloggern und Aktivisten hat sich die Regierung in den Augen vieler
Intellektueller seltsam verhalten. Anstatt die Taten scharf zu verurteilen und konsequent zu
verfolgen, kritisierte die Regierung den Kreis der Opfer. Eine dieser Botschaften lautete:
Beleidigt lieber nicht die religiösen Gefühle anderer. Eine andere hiess: Homosexualität passt
nicht zum Islam. Das klang schon so, als seien die Regierenden der Meinung, die Opfer hätten
an ihrem Tod selbst schuld. Der Staat vermittelt alles andere als den Eindruck, seine Bürger zu
beschützen.
Also halten sie sich zurück. «Wir drehen jedes einzelne Wort hin und her und fragen uns: Geht
das noch?», sagt Kulturredaktor Sajjad Sharif, der für «Prothom Alo» arbeitet, die grösste
Tageszeitung im Land. Gerade lektoriert er einen futuristischen Roman. Darin wütet ein
Philosophie-Freak als Serienmörder. Er nennt sich Ludwig Wittgenstein. Der Killer tötet
Menschen als Kinder Gottes. Weil er Gott selbst töten möchte.
Der Autor hat im Text das bengalische Wort «Ishwar» gewählt, was so viel wie «höheres
Wesen» bedeutet. Würde er für Gott das Wort «Allah» einführen und noch dazu über den Islam
schreiben, wäre die Geschichte schon ganz anders, sagt Sharif. Dann könnte er den Roman in
diesem Land, in dieser Zeit, gar nicht drucken.
Die Angreifer zielen auf alle, die freies Denken lebendig erhalten.
Analyse
Die Jihad-Ideologie des IS und der im saudischen Königreich vorherrschende Wahhabismus, eine
radikalkonservative Lesart des Islam, sind eng miteinander verwandt. Das führt aber nicht zu
einer Allianz - im Gegenteil.
Von Paul-Anton Krüger, Kairo, TA vom MI 6. Juli 2016
Bomben gegen die Glaubensbrüder
203
Die Prophetenmoschee in Medina
Der Selbstmordattentäter sprengte sich am Vorabend des Fests des Fastenbrechens in die Luft,
auf einem Parkplatz direkt neben der Prophetenmoschee von Medina in Saudiarabien, dem
zweitheiligsten Ort der Muslime. Noch hat sich niemand zu diesem Anschlag bekannt, bei dem
mindestens vier Polizisten starben, ebenso wenig wie zu zwei anderen Attentaten in Saudiarabien am selben Tag, die einer schiitischen Moschee und mutmasslich dem amerikanischen
Konsulat in Jiddah galten. Aber alle drei Attacken tragen die Handschrift der Terrormiliz
Islamischer Staat (IS). Kaum war der Anschlagsort in der Nähe der Prophetenmoschee in
Medina geräumt, gingen die Gebete weiter.
Der IS diffamiert Schiiten als Ungläubige und kämpft gegen die Amerikaner ebenso wie gegen
die saudischen Sicherheitskräfte. Das Königshaus zu stürzen und die heiligen Stätten von
Mekka und Medina ihrem selbst ausgerufenen Kalifat einzuverleiben, wäre die Erfüllung ihrer
apokalyptischen Vision und ihres ideologischen Anspruchs, die Muslime weltweit zu führen.
Auch wenn der Anschlag am Ende vielleicht nicht der Grabstätte Mohammeds selbst galt,
sondern dem staatlichen Wachpersonal: Diese Attacke auf Medina während des Ramadan
fordert die saudische Monarchie heraus, die ihren Einfluss und ihre Legitimität nicht zuletzt
darauf stützt, Hüterin der heiligen Stätten zu sein.
Saudiarabien ist unzweifelhaft Opfer islamistisch motivierten Terrors, obwohl die JihadIdeologie des IS und der im Königreich vorherrschende Wahhabismus, eine radikalkonservative
Lesart des Islam, eng miteinander verwandt sind. Schon al-Qaida bombte gegen das
Königshaus. Kronprinz und Innenminister Muhammad bin Nayef entging einem Attentat, bei
dem der Täter sich mit einer in seinem Körper verborgenen Bombe in die Luft jagte. Der IS hat
2014 den Saudis den Krieg erklärt und ihm Priorität eingeräumt noch vor Anschlägen gegen
Ziele im Westen. Dutzende Attentate haben Extremisten im Namen des IS seither in dem Land
verübt, Dutzende hat ein inzwischen recht effektiver Sicherheitsapparat verhindert, der
mehrere Tausend Jihadisten in Haft hält. Zugleich ist das Königreich dem Vorwurf ausgesetzt,
mit seiner als Staatsreligion praktizierten und weltweit verbreiteten ultrakonservativen
Auslegung des Islam den Nährboden für Terrorismus zu schaffen.
204
Der IS bezieht sich in seiner Ideologie auf das früheste Bündnis des Stammes der Saudis mit
den Wahhabiten im 18. Jahrhundert, das geprägt war von Expansionsstreben und Gewalt gegen
Andersgläubige. Der sogenannte Islamische Staat sieht sich als wahrer Hüter dieses Erbes, die
Saudis dagegen seien abgefallen vom rechten Glauben und müssten deshalb getötet werden,
ebenso ihre Soldaten.
Staatsdoktrin unangetastet
Das Königshaus wiederum hat die Allianz mit wahhabitischen Klerikern über Jahrhunderte
hinweg aufrechterhalten. Das religiöse Establishment verleiht dem Monarchen Legitimität in
der konservativen Gesellschaft, die er durch wirtschaftliche Wohltaten allein nicht erlangen
könnte, vielleicht nicht einmal durch Wahlen. Im Gegenzug haben die Gelehrten grossen
Einfluss auf Justiz, Erziehungs- und Bildungswesen sowie in gesellschaftlichen Fragen. Das
Königshaus weitete die Kompetenzen der Kleriker gar noch aus, nachdem Extremisten 1979 die
Grosse Moschee von Mekka besetzt und ein Blutbad angerichtet hatten. Etliche dieser
Gelehrten haben sich erst durch Druck des verstorbenen Königs Abdullah genötigt gesehen,
gegen den IS Stellung zu beziehen.
Das moderne Saudiarabien hat nicht mehr viel zu tun mit dem Leben in den Stammesgebieten
des Najd, das der IS idealisiert. Aber es ist auch weit davon entfernt, seine Staatsdoktrin in
bedeutsamer Weise zur reformieren. Der junge Königssohn hat durchgesetzt, dass die Rechte
der Religionspolizei drastisch beschnitten wurden. Im Land wird das von manchen als
bedeutendes Zeichen gesehen, dass er den Klerikern Grenzen setzen will. Die vielen
Widersprüche, die Saudiarabiens Gesellschaft auf die Probe stellen, würden aber auch damit
nicht aufgehoben.
Der IS hat 2014 der saudischen Monarchie den Krieg erklärt - mit Priorität vor Anschlägen im
Westen.
Eins gegen eins gibt elf
80 Prozent der Penaltys werden verwertet – Granit Xhaka aber verschiesst im EM-Achtelfinal gegen Polen.
205
Es ist der Inbegriff des Duells im Fussball, Gegenstand von Dramen und wissenschaftlichen
Untersuchungen. Und vielleicht ist an allem ein Schweizer schuld. 11 Fakten zum Penalty und
Penaltyschiessen.
Von Anna Baumgartner, TA vom MI 6. Juli 2016
Es war der Torhüter.
Den Penalty erfunden hat ein irischer Goalie. William McCrum stellte seine Idee 1890 dem
International Football Association Board (Ifab) vor, dem noch heute mächtigen Hüter der
Fussballregeln. Wenn ein Angreifer vor dem Tor vorsätzlich gestört wird oder seine Hand
benutzt, dann soll der Schiedsrichter Penalty pfeifen. Das Ifab war zuerst von der Idee nicht
begeistert, unterstellte sie den Fussballern doch, unfair zu spielen, was im viktorianisch
geprägten Gentlemen-Sport überhaupt nicht gern gesehen wurde. Am 2. Juni 1891 wurde der
Penalty aber als Nummer 13 des «Law of the Game» festgeschrieben. In den ersten Jahren
stand der Schütze auf einer Linie, die 12 Yards vom Tor weg war, musste aber nicht zentral vor
dem Tor stehen. 1902 wurden dann der Strafraum und mit ihm der Penaltypunkt eingeführt.
Zehnkommaneunsiebenzweiacht.
Auf Deutsch nennt man ihn: Elfmeter. Und hat damit nicht ganz recht. Denn der Penaltypunkt
wurde in den Regeln 12Yards vor das Tor gelegt, was ganz korrekt umgerechnet nur 10,9728
Meter sind. In der Praxis wird der Penaltypunkt aber anhand der Strafraumlinien berechnet.
Dass das nicht immer so einfach ist, bewies der Berner Platzwart. In der Super-League-Saison
2006/07 bemerkte Schiedsrichter Martin Salm nämlich vor dem Spiel YB - Sion, dass der
Penaltypunkt auf dem Kunstrasen im frisch renovierten Stade de Suisse nur knapp 10 m vom
Tor entfernt lag. Davor hatten auf diesem Rasen schon zwei Super-League- und zwei
Europacup-Spiele stattgefunden, ohne dass jemand das Malheur bemerkte. Der Platzwart
übermalte den falschen Punkt schleunigst und zeichnete einen neuen hin. Der falsche Punkt
landete im YB-Museum.
Das Längste.
Das längste Elfmeterschiessen der Geschichte spielte sich im namibischen Cupfinal 2005 ab.
Nach 120 Minuten stand es zwischen KK Palace aus dem nördlichen Ondangwa und den Civics
aus der Hauptstadt Windhoek 2:2. Die beiden Teams mussten 48-mal antreten, bis eine
Entscheidung gefallen war, einige Spieler kamen bis zu dreimal zum Zug. Am Ende siegte KK
Palace 17:16.
Der Zwei-Mann-Penalty.
Der Elfmeter ist der Inbegriff des Duells auf dem Fussballplatz. Schütze gegen Torhüter. Eins
gegen eins. Doch das muss nicht so sein. Der Penalty muss nicht von dem Spieler ins Tor
befördert werden, den ihn tritt. Als Lionel Messi im Ligaspiel Barcelonas gegen Celta Vigo den
206
Ball vom Elfmeterpunkt aus nur leicht vorlegte, Luis Suarez in den Strafraum stürmte und das
Tor erzielte, waren alle verwirrt und erbost. Doch der Treffer war regulär und nur schlecht für
Messis Statistik: Dort wird er nämlich als verschossen geführt. Eine andere Regel tritt ein, wenn
Penaltys auf den Färöern geschossen werden (aber nur dort). Weil auf der Inselgruppe im
Nordatlantik oft starke Winde über die Fussballplätze fegen, erlaubt es das Fifa-Reglement,
dass ein zweiter Spieler im Strafraum stehen darf, um den Ball zu halten.
Tragt schwere Schuhe!
Weil das Elfmeterschiessen eine der einfachsten Aktionen in einem Fussballspiel ist, kann es
auch sehr gut statistisch ausgewertet werden. Penaltys sind beliebte Forschungsgegenstände in
Mathematik und Physik. So wurde zum Beispiel berechnet, dass sich die Trefferquote deutlich
erhöhen würde, wenn der Schütze doppelt so schwere Schuhe trüge (der Ball wäre dann 2 bis 3
Prozent schneller). Ebenfalls soll es sich lohnen, Penaltys oft zu üben. Wenn jeder Spieler seine
Fähigkeit, Penaltys zu verwerten, um 10 Prozent steigert, dann steigert sich die
Wahrscheinlichkeit, dass alle 5 Schützen treffen um 20 Prozent.
Eine Schweizer Erfindung?
Es ist ein Streitpunkt, der wohl nie geklärt wird: Drei Männer behaupten, das Penaltyschiessen
erfunden zu haben. Früher wurden Cupspiele wiederholt, wenn es keinen Sieger gab. Manchmal
wurde auch eine Münze geworfen. Ab den 50er-Jahren fanden in kleineren Turnieren aber bei
einem Unentschieden auch Penaltyschiessen statt. Darunter auch im Uhren-Cup, dem
internationalen Clubturnier in Grenchen. Weil es sich dabei um ein Vorbereitungsturnier
handelt, waren Wiederholungsspiele unerwünscht, und so schrieb Kurt Weissbrodt ein neues
Reglement. Bei einem Unentschieden muss ein Schütze fünfmal nacheinander zum Penalty
antreten. Das Reglement wurde vom Schweizer Verband und der Fifa gutgeheissen, 1962 kam
es zur Premiere, und im Oltener Tagblatt war zu lesen: «Brügge siegt durch Penaltyschiessen».
Das Problem dieser Entstehungsgeschichte: Das Reglement ist nicht mehr auffindbar. Darum
wird die Erfindung des Penaltyschiessens eher einem anderen zugeschrieben: Der deutsche
Schiedsrichter Karl Wald trat 1970 vor den Ausschluss des DFB und präsentierte seine Idee diese sah fünf Schützen vor. Der Fifa war diese Idee aber schon bekannt. Zwei Jahre zuvor hatte
ihr der Israeli Yosef Dagan einen Brief geschrieben, nachdem Israel den Olympia-Viertelfinal
1968 durch Münzwurf verloren hatte. Der Vorschlag wurde vom Ifab besprochen und im Juni
1970 mit den von Wald vorgeschlagenen Regeln eingeführt. Und Kurt Weissbrodt? Der liess
sich im «Grenchner Tagblatt» zitieren: «Das ist ein Witz und eine Frechheit. Wir waren die
Ersten!»
29 Treffer am Stück.
Die meisten Tore am Stück in einem Penaltyschiessen fielen im Hampshire Senior Cup 2013.
Brockenhurst und Andover Town erzielten in der normalen Spielzeit keine Tore. Vom
Elfmeterpunkt aus trafen sie dann aber 29-mal am Stück. Erst der 30. wurde verschossen Brockenhurst gewann 15:14.
Die Angst des Schützen.
207
Psychologisch gesehen, ist der Torhüter im Vorteil. Gegen 80 Prozent der Schüsse gehen rein,
es wird allgemein erwartet, dass der Schütze trifft. Der Goalie kann somit nur gewinnen. Der
Schütze muss einen Tunnelblick annehmen. Dabei helfen Rituale wie, dass man den Ball immer
auf das Ventil legt oder dass man immer drei Schritte zurück macht. Um seine Chancen doch
ein bisschen zu erhöhen, kann der Torhüter probieren, durch Rufen, Hüpfen oder Rudern mit
den Armen den Tunnel zudurchbrechen. Seit 1997 darf er sich nämlich auf der Torlinie wieder
bewegen.
Die Lösung des Torhüters.
Wird der Ball gut getroffen, fliegt er mit einer Geschwindigkeit von über 100 km/h in Richtung
Tor. Die Reaktionszeit des Goalies beträgt aber eine Viertelsekunde. Damit hätte er nur noch
eine weitere Viertelsekunde übrig, um in eine Ecke zu springen. Er müsste das mit 35 km/h tun,
um den Ball doch noch zu erwischen. Die Lösung für den Torhüter ist also, die Ecke zu
antizipieren - das gibt ihm eine halbe Sekunde, um zu hechten.
Der Schweizer Rekord.
Nachdem vorbei war, was der englische Schriftsteller Nick Hornby als «die wahrscheinlich
sinnlosesten und langweiligsten 90 Minuten - nicht nur in der Geschichte des Fussballs,
sondern des ganzen menschlichen Schaffens» beschrieb, nachdem auch in der Verlängerung
keine Tore gefallen waren, traten die Schweiz und die Ukraine im Achtelfinal der WM 2006 zum
Elfmeterschiessen an. Die Geschichte ist hierzulande nur zu bekannt: Streller verschoss.
Cabanas verschoss. Barnetta verschoss. Die Schweiz schied aus und hält noch heute den Rekord
der ersten Mannschaft, die es fertigbrachte, in einem WM-Penaltyschiessen keinen einzigen
Treffer zu erzielen.
Für immer Verlängerung.
Was, wenn dieses Nervenspiel einfach zu viel wird? Es haben sich schon viele Menschen
Gedanken darüber gemacht. Einige Alternativideen:
Torschüsse/Corner/Fairplay. Endet ein Spiel unentschieden, beruft man sich auf einen anderen
Wert, um den Sieger zu küren. Das könnten mehr Torschüsse sein, mehr Corner, oder eine
Fairplay-Wertung, in der das Team gewinnt, dass weniger Karten erhielt.
Die ewige Verlängerung. Es wird so lange gespielt, bis ein Tor fällt. Zusätzlich könnte nach 10
Minuten bei jedem Team ein Spieler ausscheiden, um die Räume offener zu machen.
AVG. Ein Angreifer (A) hat gegen einen Verteidiger (V) und Goalie (G) 30 Sekunden Zeit, ein
Tor zu erzielen.
Vorgezogenes Penaltyschiessen. Die Elfmeter werden vor der Verlängerung geschossen und
dienen nur als Tiebreak, falls in der Verlängerung keine Entscheidung fällt.
208
Krankheit der Kreativen
Nach mehreren Anläufen hat Oliver einen Umgang mit seiner Krankheit gefunden. Foto: Doris Fanconi
Man schläft nicht mehr, versteht alles, fühlt sich wie ein König. Eine bipolare Störung kann sich
toll anfühlen. Umso schwerer fällt die Einsicht, dass man krank ist. Ein Betroffener erzählt.
Von Michèle Binswanger, TA vom DI 5. Juli 2016
Die Nacht hat sich in Olivers Erinnerung eingebrannt. Wie sie glühte, flirrte, vibrierte. Und er
mit ihr, als er mit dem Sportwagen durch die Strassen bretterte. Der Wagen war nicht sein
Wagen, aber das spielte keine Rolle. Er war barfuss, die Schuhe hatte er zum Fenster
209
hinausgeworfen, warum, wusste er nicht mehr. Auch sonst stand er ziemlich neben den
Schuhen, aber davon bemerkte Oliver nichts. Seit fünf Tagen hatte er nicht mehr geschlafen,
und etwas trieb ihn an, ein nicht enden wollendes Hoch, wie auf Drogen. Doch Oliver hatte
keine Drogen genommen. Es war seine Krankheit, die ihn fliegen liess. «Der Zustand ist einfach
zu schön», sagt er. «Aber was danach kommt, ist richtig beschissen. Man hinterlässt einen
gigantischen Scherbenhaufen.»
Oliver, Ende 30, mit wachen grünen Augen, dem Körpertonus eines Rennpferds und einem
schelmischen Lächeln, sieht aus wie ein ganz normaler Zürcher Kreativer. Das ist er auch, wenn
es die kleine Fussnote nicht gäbe. Oliver leidet unter einer bipolaren affektiven Störung, im
Volksmund: Er ist manisch-depressiv. Früher war er in einem renommierten Grafikerbüro
angestellt. Heute bezieht er IV und arbeitet nach einer Zweitausbildung als Kindergärtner. Das
hat er selber so entschieden. Trotzdem hätte er anders gewählt, wäre er nicht krank geworden.
Auch wenn es lange dauerte, bis er akzeptieren konnte, dass er krank war.
Zwischen ein bis drei Prozent der Bevölkerung leiden unter der Störung, die als Krankheit der
Kreativen gilt. Vincent van Gogh soll bipolar gewesen sein, Sylvia Plath, Ernest Hemingway.
Vermutlich verdankt die Menschheit einige ihrer wertvollsten künstlerischen Errungenschaften
dieser Krankheit, die Betroffene die Welt so viel intensiver sehen, fühlen, erleben lässt. Doch die
Euphorie schlägt um, irgendwann, in Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Depression,
manchmal bis zum Suizid. Und so gut sich eine Manie anfühlt, hinterlässt sie schwere
neurologische Schäden. Auch darin gleicht sie dem Drogenrausch.
Über die Ursachen der Störung ist bis heute wenig bekannt. Bekannt aber ist, dass tatsächlich
ein Zusammenhang besteht zwischen einer erhöhten Kreativität und dem Risiko für affektive
Störungen, zu der auch die Schizophrenie gehört. Das stellte letztes Jahr ein internationales
Forscherteam mit genetischen Studien fest. Jene Hirnprozesse, die affektive Störungen
auslösen können, sind auch für kreative Leistungen verantwortlich. Und tatsächlich sind
Menschen mit höherer Intelligenz unter den Bipolaren überdurchschnittlich vertreten.
Eine Heilung gibt es nicht
Gregor Hasler ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Bipolare Störungen. Er
behandelt über viele Jahre Patienten mit bipolaren Störungen, betreut Angehörige, kennt
zahlreiche Fälle, die nie gleich sind, aber sich alle gleichen. «Die bipolare affektive Störung ist
eine sehr schwere psychische Krankheit», sagt er. Sie ist auch schwer zu verstehen. Eine Manie
äussert sich durch eine «abnorm und anhaltend gesteigerte, zielgerichtete Aktivität und
Energie.» Oft schlafen die Betroffenen nicht mehr, fühlen sich grossartig, manchmal ruhelos,
oder reizbar. Dann tauchen sie in die Depression. Die Phasen sind mal stärker, manchmal nur
schwach ausgeprägt, manchmal wechseln sie sich in kurzer Folge ab. Dann werden die
Patienten vom einen Extrem ins andere geworfen, dann ist das Risiko für Suizid besonders
hoch. Denn auch in der Depression sind die Bipolaren oft agitiert, haben also genug Energie,
destruktive Gedanken auch auszuführen.
Eine Heilung gibt es nicht, aber bei richtiger Therapie können die Betroffenen ein normales
Leben führen mit ihrer Krankheit - von der Umwelt meist unbemerkt. Die Unauffälligkeit kann
aber auch zum Problem werden, denn bis die Krankheit erkannt ist, ist der Schaden oft schon
angerichtet.Auch eine schwächere Form der Manie gilt mittlerweile als anerkannte Krankheit:
die Hypomanie. Da rast man nicht unbedingt ohne Schuhe durch die Stadt, ist aber dauernd auf
Sendung, fühlt sich grossartig und kann pausenlos reden.
210
Besonders belastend für das Umfeld
Der deutsche Theaterregisseur Sebastian Schlösser hat ein Buch geschrieben über seine
bipolare Störung. In Briefen aus der Klinik erläutert er seinem achtjährigen Sohn, warum er
eine Meise hat. Und wie sie ihm zugeflattert ist, als er als 27-jähriger Jungregisseur in Berlin
inszenierte. Was damals mit ihm los war, erklärt er seinem Sohn durch den Vergleich mit einer
Romanfigur. Er habe sich gefühlt, wie der Hochstapler Felix Krull aus Thomas Manns
gleichnamigem Roman. Krull spielt anderen etwas vor, übertreibt und erreicht dadurch Dinge,
die ihm von Natur aus verwehrt geblieben wären. Schlösser schreibt: «Ich traute mir alles zu.
War überzeugt davon, dass es für mich keine Grenzen gibt. Dass ich alles erreichen kann. Ich
bin ein Prinz. Pha, ein König bin ich. Lauter Untertanen um mich herum.» Schlösser quartierte
sich in einem Luxushotel ein, terrorisierte das Personal und stieg schliesslich im Bademantel in
ein Taxi, um dem Bürgermeister zu erklären, wie Theater funktioniert. Die Polizei musste ihn in
eine Klinik schleppen.
Das Eingestehen ihres Leidens fällt bipolar Kranken besonders schwer. Während der
manischen Phase selber ist dies sowieso unmöglich. Aber auch nach Diagnose und Therapie
bleiben viele Betroffene uneinsichtig. Es ist schwer, zu begreifen, dass der Zustand, der sich so
gut anfühlt, so schlecht für sie sein soll. Dass sie ein Leben lang Medikamente nehmen müssen,
die sie ermüden, sie dumpf machen, ihnen Kopfschmerzen bereiten. Viele fühlen sich auch in
ihrer Kreativität beschnitten. Die meisten Betroffenen reden denn auch sehr ungern über ihre
Krankheit. Nachfragen weichen sie aus oder antworten mit: «Mir geht es gut.» Sie fühlen sich
nicht krank und möchten auch nicht so wahrgenommen werden.
Auf das Umfeld wirkt diese abwehrende Haltung besonders belastend, sagt Georg Hasler.
«Vielen bipolaren Betroffenen fällt es viel leichter, über ihre depressiven Phasen zu sprechen als
über die Manie. Entsprechend schwierig sind sie auch zu vermitteln.» Depressionen sind eine
gesellschaftlich anerkannte und weit verbreitete Störung. Vielleicht ist es deshalb leichter,
zuzugeben, dass man darunter leidet als unter unmässigem Selbstwertgefühl, Genusssucht und
gefährlich grossen Plänen. Aber in der Manie richten die Betroffenen oft am meisten Schaden
an: Sie sind selbstherrlich, rücksichtslos, geraten in einen Kaufrausch, bis die Kreditkarte glüht.
Das bereitet vor allem dem Umfeld Mühe. Ehepartnern, Freunden und Kindern lässt sich kaum
vermitteln, warum ein vertrauter Mensch, eine Person, der man Liebe und Zuneigung
entgegenbringt, sich plötzlich aufführt, als wäre er von allen guten Geistern verlassen. Wobei er
selber glaubt, er trage alle guten Geister in sich. Und nicht einsehen kann, was an seinen
Handlungen schlecht sein soll.
Bipolare Störungen sind so unberechenbar wie unheilbar. Manche Patienten erkranken erst in
hohem Alter, andere schon als Teenager. Es ist besonders verheerend, sagt Hasler, wie dann das
Gehirn in seinem Reifeprozess gestört wird.
Oliver war Anfang dreissig, als die Krankheit sich erstmals zeigte. Er sei immer schon ein
Energiebündel gewesen, sagt er, hatte sehr hohe Ansprüche an sich. Wollte er etwas fertig
bekommen, arbeitete er gern nächtelang durch. Er liebt die Ordnung, und weil es seine Frau
damit nicht ganz so genau nahm, sortierte er ihre Kleider immer wieder nach Farben oder nach
Stil auf der Kleiderstange. Sie schien dies kaum zu bemerken. Als sie ein Kind bekamen, häuften
sich die Eheprobleme. Oliver lenkte sich ab durch Arbeit, arbeitete wie ein Verrückter.
Irgendwann schlief er überhaupt nicht mehr. Sein Bruder brachte ihn in die Klinik, wo er drei
Monate lang blieb. «Bei mir sind die depressiven Phasen nicht sonderlich ausgeprägt», sagt er.
Zu schaffen machte ihm mehr die Erkenntnis, dass dieses Hoch, das sich so gut anfühlte, einen
eigentlichen Tiefpunkt seines Lebens darstellte.
211
Den Beruf musste er wechseln
Auch Oliver brauchte verschiedene Anläufe, bis er einen Umgang mit seiner Krankheit fand. Die
Medikamente machten ihn müde, und so setzte er sie kurzerhand ab, ohne Rücksprache mit
dem Arzt. Sehr bald schlief er nicht mehr und startete nach zwei Wochen in die nächste Manie
durch.
Auch dieses Verhaltensmuster kommt öfter vor, sagt Hasler. Betroffene glauben, mit der
Krankheit umgehen zu können, und verzichten deshalb auf Medikamente. Hasler weiss von
einem 70-Jährigen Patienten, der 20 Jahre lang Lithium genommen hatte gegen seine Störung.
Bis ihm ein Arzt sagte, in seinem Alter bestünde kaum mehr die Gefahr eines Rückfalls. Der
Mann setzte die Medikamente ab und steigerte sich sofort in die nächste Manie - mit
schwerwiegenden Folgen.
Hat ein Betroffener einmal die richtige Medikamentierung gefunden und bleibt konsequent bei
der Einnahme, kann er ein normales Leben führen. Den meisten aber machen die sozialen
Konsequenzen zu schaffen. Nach seinem ersten Schub versicherte man Oliver bei der Arbeit, es
werde sich für ihn nichts ändern. Doch er bemerkte, dass die Leute ihn anders behandelten:
ihm weniger zutrauten, weniger Verantwortung gaben. Bis er schliesslich kündigte. «Die Ängste
bringt man nicht mehr aus den Leuten heraus», sagt er heute. «Die Stigmatisierung ist enorm.»
Hilfreich waren für ihn Selbsthilfegruppen. Hilfreich ist auch, dass er die Krankheit inzwischen
akzeptiert und sein Leben entsprechend eingerichtet hat. Nur als krank möchte er nicht
angesehen werden. Wer nicht selber erlebt habe, wie ihm zumute sei, könne diesen Zustand
niemals nachvollziehen. Dass er nämlich ganz normal ist. Fast ganz normal.
Eine Heulsuse wie von Gott gemacht
An keinem anderen Fussballer scheiden sich die Geister derart – Cristiano Ronaldo. Fotos: Miguel A. Lopes
(Epa/Keystone), Robert Pratta (Reuters)
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Er heisst Cristiano Ronaldo und nennt sich in Anlehnung an Namen und Nummer «CR7». Er
wird von vielen bewundert. Und von vielen verachtet. Wieso das so ist? 7 mal 7 Geschichten aus
dem Leben des Stürmers, der heute Portugal in den Viertelfinal gegen Polen führt.
Von Ueli Kägi, Paris, TA vom DO 30. Juni 2016
Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro ist ein ungeplantes Kind, das vierte von Dinis und Dolores.
Die Mutter denkt nach der Geburt im Februar 1985 aus finanziellen Gründen an Abtreibung.
*
Ronaldo sagt über seine Mutter: «Sie ist die wichtigste Person in meinem Leben. Sie hat mir
alles gegeben, ist in guten und schlechten Zeiten an meiner Seite, hat nie eine Türe
zugeschlagen.»
*
Die Eltern geben dem Buben Ronaldo als zweiten Vornamen - nach dem damaligen USPräsidenten Ronald Reagan.
*
Auf der Atlantikinsel Madeira, 950 Kilometer entfernt von Portugals Hauptstadt Lissabon,
leben viele in Armut. Ronaldos Familie gehörte dazu.
*
Nach der Heirat sind Dinis und Dolores ins Haus seiner Eltern gezogen. Sie schlafen zu viert in
einem Zimmer, getrennt durch einen Vorhang.
*
Gemäss der Biografie «Cristiano Ronaldo» von Guillem Balagué hat der Spieler von der
kapverdischen Ur-Grossmutter auch afrikanische Gene, das erkläre vielleicht Ronaldos
Explosivität.
*
Ronaldos Mutter muss nach dem frühen Tod ihrer Mama und aus wirtschaftlichen Gründen in
ein Waisenhaus, darf später aber zum Vater zurück. Mit 13 geht sie von der Schule, um mit dem
Flechten von Erntekörben Geld zu verdienen.
213
*
Vater Dinis ist ein lebenslustiger Fischhändler, bis er zur Armee muss, um in Afrika für die
Kolonien zu kämpfen. Er kehrt als gebrochener Mann zurück und verfällt dem Alkohol, ist aber
kein bösartiger, prügelnder Trinker. Der kleine Cristiano fühlt sich seinem Vater nah und holt
ihn immer wieder in dessen Lieblingsbar ab, damit sie gemeinsam nach Hause gehen können.
*
Der Vater hat einmal gesagt: «Ich möchte, dass mein Sohn glücklich und erfolgreich ist. Ich
aber will in meiner Welt leben.»
*
Ronaldo hat einmal gesagt: «Ich mochte meinen Vater wegen seiner Grosszügigkeit und
Freundschaft zu all seinen Kindern.» Dinis ist 2006 an den Folgen seines Alkoholkonsums
gestorben.
*
«Dinis hat sich zu Tode getrunken. Und das hat Cristiano zerstört», erzählt Mutter Dolores.
Und Dinis hat Ronaldos Versuche, ihm mit Geld und Therapien zu helfen, stets abgelehnt.
*
Ronaldo trinkt nie - oder «nie öffentlich», wie er einmal sagt. Er hat nie geraucht. Und er hat
keine Tattoos, weil er angeblich seine halbjährlichen Blutspenden nicht gefährden will.
*
Am Tag, an dem sein Vater stirbt, ist Ronaldo mit dem Nationalteam in Russland.
*
Ronaldo lädt seine Familie und Freunde zum Essen ein, bezahlt Partys, Privatjet-Flüge und
Nächte im Fünfsternhotel. Während er Red Bull trinkt, gibt es für die anderen Champagner für
1500 Franken pro Flasche. «Ich mag es, wenn meine Freunde glücklich sind.»
*
214
Einmal organisiert er bei sich eine Geburtstagsparty mit Hauscasino. Die Gäste können die
gewonnenen Chips zum Abschied bei ihm in Bares umtauschen.
*
Seit Sommer 2010 ist Cristiano Vater von Cristiano Jr. Mutter des Kindes soll eine
amerikanische Kellnerin sein.
*
Ronaldo hat volles Sorgerecht. Er soll es der Mutter nach dem amourösen Kurzabenteuer für 11
Mio. Euro abgekauft haben. Inbegriffen sei im Vertrag auch, dass die Mutter anonym bleiben
muss.
*
Cristiano Jr wird gefragt, wer sein Vater ist. Er antwortet: «Der Beste der Welt.»
*
Ronaldo hat bislang 10 grosse Titel gewonnen, dreimal die Champions League. Er hat in 801
Spielen 547 Tore erzielt und 182 entscheidende Pässe gespielt.
*
Ronaldo hat einmal eine Vermutung angestellt, weshalb er bei vielen Leuten so unbeliebt ist. Er
glaubt: «Weil ich reich, hübsch und ein grosser Spieler bin. Die Leute sind eifersüchtig auf
mich.»
*
Ronaldos erster Club ist Andorinha in Santo Antonio nahe Funchal. Sein Vater ist Zeugwart des
Vereins.
*
Mitspieler nennen Ronaldo anfänglich «die Nudel», weil er so dünn ist. Sie nennen ihn auch
«Heulsuse», da er weint, wenn Mitspieler seine Pässe nicht zu Toren nutzen. Und wegen seiner
Geschwindigkeit ist er auch «die kleine Biene».
215
*
Ronaldos erster Wechsel kommt mit 10: Er geht für zwei Sets Trikots und 20 Bälle zu CD
Nacional nach Funchal.
*
Ronaldos Eltern lassen den Buben mit 12 Jahren nach Lissabon auf die Fussballakademie von
Sporting ziehen.
*
Ronaldo will unbedingt gehen. Doch als das Flugzeug startet, weint er. «Es war die schwierigste
Zeit meines Lebens.»
*
Ronaldo hat sich auch einmal bei «meinem alten Freund» Albert Fantrau bedankt für seinen
Erfolg als Fussballer.
*
Die Geschichte geht so. Als die Sporting-Scouts kommen, sagen sie: «Wer die meisten Tore
erzielt, den nehmen wir.» Es steht 2:0, Ronaldo und Fantrau haben je ein Tor erzielt. Dann
passt Fantrau uneigennützig zu Ronaldo, 3:0, fertig. «Danach nahmen sie mich», sagt Ronaldo.
*
Stimmts? Ja, sagt Fantrau. Er ist arbeitslos, hat aber ein grosses Haus und Autos, es geht ihm
finanziell bestens. Wie geht das? «Das alles kommt von Cristiano.»
*
Im Trainingszentrum von Sporting müssen sie Schlösser anbringen, um Ronaldo von
nächtlichen Ausflügen in den Kraftraum abzuhalten.
*
Als ein junger Afrikaner zu Sporting kommt, fehlt ein Bett. Ronaldo bietet seines an. Und
schläft auf dem Boden.
216
*
Mutter Dolores sagt: «Er ist ein grosser Mann, ein Freund der Familie, von allen. Er hilft gerne.
Er hat ein gutes Herz. Dieser Junge ist von Gott gemacht.»
*
Ronaldo hat in der gleichen Saison für Sportings U-16, U-17, U-18, für die Reserven und für die
1. Mannschaft gespielt. Kurz darauf ist er bei Man United.
*
Ronaldo 2008: «Ich bin der beste, zweitbeste und drittbeste Spieler der Welt.»
*
Nach dem Tsunami 2004 fliegt Ronaldo los, um sich vor Ort ein Bild zu machen und
Spendengelder zu sprechen.
*
Ronaldo sagt: «Ich würde gerne mit allen, die mich arrogant finden, zusammensitzen und reden
- damit sie sehen können, dass ich gar nicht arrogant bin.»
*
Ronaldo glaubt, dass er nicht schlecht darin sei, ein Vater zu sein. Es sei das Beste im Leben, ein
eigenes Kind zu haben, wie im Traum. «Am Morgen aufwachen und hören Daddy, Daddy, ich
liebe es.»
*
Marketingexperten vermuten, dass Ronaldo im Jahr rund 30 Millionen Euro mit
Werbeverträgen verdient. Sein Vertrag mit Real bringt ihm jährlich mindestens 10 Millionen
Euro netto ein. Bei einem Nationalteam-Zusammenzug fordert er einen Teamkollegen auf, sein
Vermögen zu erraten. 100 Millionen Euro? 150 Millionen Euro? Nein, 250.
*
217
Ronaldo würde Geld bezahlen, um unerkannt einkaufen gehen zu können. Oder einen Tee zu
trinken.
*
Es gibt von ihm auf Youtube dieses Video, wie er in Madrid Tee trinkt. Und daneben läuft ein
Zähler. Kann er öfter einen Schluck nehmen oder muss er häufiger zum Selfie mit Fans lächeln?
Das Selfie führt nach kürzester Zeit 17:3.
*
Ronaldo nimmt sich viel mehr Zeit für Autogramme und Fotos, seit sein Management ihm
einen Imageberater zur Seite gestellt hat.
*
Ronaldo 2014: «In meinem Kopf werde ich immer denken, dass ich der Beste bin.»
*
Ronaldo kann aus seinem bis 2018 laufenden Vertrag mit Real herausgekauft werden. Für die
festgelegte Summe von einer Milliarde Euro.
*
«Ist heute ein Spiel?», fragte Ronaldo, als er 2009 nach seinem Wechsel zu Real Madrid auf
dem Weg ins Bernabeu ist, um dem Publikum vorgestellt zu werden, und er viele Leute sieht.
Da ist kein Spiel. Da sind nur er. Und 80 000.
*
Mit 18 hat Ronaldo seinen Freunden erzählt, dass er Angst habe, die Frauen wollten ihn nur
wegen seines Geldes.
*
Ronaldo hat mehrere Models als Freundin gehabt. Im Januar 2015 beenden er und Irina Shayk
ihre Beziehung.
*
218
Ronaldos erstes Jahressalär als Junior bei Sporting beträgt 10 000 Euro. Es landet direkt auf
dem Familienkonto. Später kauft er mit seinem Geld den Eltern und Geschwistern Häuser und
ermöglicht Karrieren. Er will später ein 7-Sterne-Hotel namens «CR7» aufmachen.
*
Seine Schwester Catia trat als Sängerin Ronalda auf. Und besang ihren Bruder.
*
Es ist schon öfters vorgekommen, dass Real morgens um 4 Uhr von einem Champions-LeagueSpiel nach Hause gekommen ist und Ronaldo noch ins Trainingszentrum wollte - für ein Eisbad
seiner Beine. Und eine Massage.
*
Reals früherer Clubarzt Juan Carlos Hernandez hat das so erlebt: «Die anderen wachen dann
am nächsten Morgen mit geschwollenen Beinen auf. Ronaldo aber ist so gut wie neu.»
Wie eine Millionenstadt unterging
Zwei Mönche unter dem zerstörten Dach eines Tempels in Angkor. Foto: Per-Andre Hoffmann (Look-Foto)
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Mehr als 1000 Tempel machen Angkor in Kambodscha zum grössten Kultort der Welt. Jetzt
entdeckten Archäologen eine Riesenstadt, in der die Erbauer lebten, ein Imperium errichteten und trotzdem untergingen.
Von Berthold Seewald, TA vom DO 30. Juni 2016
Die Tempelanlage im Norden Kambodschas nimmt eine Fläche von mehr als 200
Quadratkilometern ein und gilt damit als der grösste religiöse Kultort der Welt. Bislang wurden
mehr als tausend Tempel und Heiligtümer entdeckt. Mit mehreren Millionen Besuchern ist das
gigantische Areal, das seit 1992 auf der Welterbeliste der Unesco geführt wird, der wichtigste
Touristenmagnet des Landes. Und nun ist Angkor auch das spannendste archäologische
Grabungsfeld Südostasiens.
Davon zumindest ist ein Team um den australischen Archäologen Damian Evans von der Ecole
franaise dExtrême-Orient in Paris überzeugt, das seit 2012 das riesige Gebiet mithilfe eines
Laserverfahrens untersucht hat. «Wir haben ganze Städte unter dem Wald entdeckt, von denen
niemand wusste, dass sie dort sind», sagte Evans dem Londoner «Guardian», der auch eine
stattliche Reihe von Kollegen zitieren kann, die Evans Schlussfolgerungen zustimmen und die
Städte zu den wichtigsten Funden der vergangenen Jahre zählen.
Die Dimensionen sind in der Tat beeindruckend. Um die Tempel von Angkor breiteten sich vor
tausend Jahren urbane Strukturen aus, die insgesamt eine Fläche von rund
900 Quadratkilometern umfassen, ungefähr die Fläche des modernen Berlin.
Schnurgerade Strassen
Deutlich seien schnurgerade Strassen, Kanäle, Wälle und Siedlungen zu erkennen, Spuren einer
urbanen Agglomeration, in der bis zu einer Million Menschen gelebt haben könnte. Damit wäre
Angkor zu seiner Blütezeit eine der grössten Städte der Welt gewesen. Die detaillierte
Untersuchung von Evans erscheint in der Fachzeitschrift «Journal of Archaeological Science».
Auch der deutsche Indologe Hermann Kulke hält die Entdeckungen von Evans für eine
Sensation. Denn sie würden erstmals einen genaueren Blick auf Gesellschaft und Alltagskultur
der Menschen ermöglichen, die vor knapp 1200 Jahren die ersten Tempel im Urwald von
Angkor errichteten. Aus Inschriften an den Heiligtümern kannte man zwar ihre hochrangigen
Erbauer und ihre Selbstdarstellungen. Aber wie ihre Millionen von Untertanen lebten, wie ihr
Reich organisiert war und mit wem es in Kontakt stand, ist noch lange nicht bis ins Letzte
geklärt.
Angkor war die Hauptstadt des Reiches der Khmer. Dieses stark von Indien geprägte Volk
wanderte um 500 v. Chr. aus dem Norden ins heutige Kambodscha ein und gründete in
Kämpfen mit den Cham eine Reihe kleiner Fürstentümer. Als Gründungsdatum des geeinten
Reiches gilt das Jahr 802, als König Jayavarman II. das «Land vor den Barbaren» rettete. Unter
seinen Nachfolgern wurde Angkor zum Zentrum eines Staatswesens, das auf seinem Höhepunkt
um 1200 Kambodscha sowie weite Teile von Thailand, Laos, Vietnam bis hin nach Malaysia
umfasste.
Hochkomplexe Bewässerung
220
Ob sich allerdings aus den Neuentdeckungen schliessen lässt, dass das Khmer-Reich das grösste
Imperium seiner Zeit und Angkor die grösste Stadt gewesen ist, wie jetzt im Überschwang
gemutmasst wird, dürfte ein Blick über die Grenzen relativieren. China unter den Song, das
Abbasiden-Kalifat von Bagdad oder Byzanz brauchen den Vergleich sicherlich nicht zu scheuen.
Von derartigen Superlativen hält Hermann Kulke nicht viel. Der Emeritus der Universität Kiel,
der zu den führenden Kennern der Geschichte Indiens und Südostasiens in Deutschland gehört,
ist vor allem von den «unfassbar komplexen Kanälen und Bewässerungseinrichtungen»
fasziniert, die Evans Analysen sichtbar gemacht haben. Auf den Laser-Scans sind deutlich
Dämme und Wasserbecken zu erkennen, in denen vermutlich die Regenmengen des Monsuns
aufgefangen wurden.
«Dieses System war die wirtschaftliche Grundlage des Angkor-Reiches», sagt Kulke. Denn die
Menschen ernährten sich vor allem von Reis, Nassreis. Dessen Ertrag war im Mittelalter
mindestens sechsmal grösser als der des europäischen Getreides. Und es waren zwei bis drei
Ernten pro Jahr möglich. Zusammen mit Süsswasserfischen bildete er die Nahrungsgrundlage
der Khmer.
Die zentrale Bedeutung des Reisanbaus wirft denn auch die Frage auf, ob die städtischen
Strukturen, die Evans und sein Team entdeckt haben, wirklich so urban genutzt wurden, wie
das in orientalischen oder auch europäischen Städten der Fall war.
Die Khmer wohnten in ebenso leichten wie mobilen Bambusbauten und lebten wohl in enger
Nachbarschaft zu ihren Feldern. Während diese von Dorfgemeinschaften, die offenbar ein
hohes Mass an Autonomie hatten, bewirtschaftet wurden, sorgte eine zentrale Verwaltung
dafür, dass die Bewässerungskanäle regelmässig gesäubert und intakt blieben.
Ein Fenster in die Vergangenheit
Für die Organisation der Bauten, den Hof und den Aufbau eines grossen Heeres, das bis ins 13.
Jahrhundert die Stellung des Reiches sicherte, mussten die Überschüsse vernünftig verteilt
werden. Dazu bedurfte es einer Elite, die sich auch der Schrift bediente. Die steinernen
Inschriften bezeugen, dass die Schreiber sowohl das indische Sanskrit als auch die
Khmersprache beherrschten. Die konnte die Forschung beizeiten entziffern. Dokumente aus
dem Alltag, die auf weniger alterungsbeständigen Schreibstoffen geschrieben waren und daher
im tropischen Klima rascher vergingen, fanden sich dagegen nicht. Die Funde von Evans
eröffnen daher ein neues grosses Fenster in die Vergangenheit der Khmer.
So lernen die Forscher, dass ausgeklügelte Bewässerungsanlagen nicht erst, wie bislang
angenommen, im Angkor-Reich zum Einsatz kamen, sondern schon wesentlich früher. Das kam
durch einen weiteren Fund in den Blick, den Evans mit seinem «Airborne Laser Scanning»,
auch Lidar genannt, machen konnte. Dabei wird die Erdoberfläche von einem Helikopter aus
mit einem Sensor abgetastet. Die Daten von 1900 Quadratkilometern wurden auf ein Modell
übertragen, das selbst Details im Dschungel erkennbar macht.
Mit dieser Methode nahmen die Forscher auch den Berg Phnom Kulen in Augenschein, 50
Kilometer von Angkor entfernt. Auf ihm lag die erste Hauptstadt des Reiches,
Mahendraparvata. Auch diese Stadt, zeigen die Laser-Scans zur Überraschung der
221
Wissenschaftler, war deutlich ausgedehnter als bislang angenommen, womöglich sei sie so
gross wie die moderne kambodschanische Kapitale Phnom Penh.
Obwohl die Tempel des Angkor-Reiches bereits im 19. Jahrhundert von französischen
Reisenden wiederentdeckt worden waren, lag der Fokus der Archäologie lange auf diesen
gewaltigen Kultstätten. Die neuen Funde dürften neue Kapitel in der Forschungsgeschichte
aufschlagen.
Warum ging das Reich denn unter?
Das gilt auch für die Debatte über den Untergang des Reiches. Hermann Kulke zieht eine Linie
vom elaborierten Bewässerungssystem und Reisanbau zu den immer monumentaleren
Bauprojekten der Könige. Nachdem Jayavarman VII. um 1200 eine Invasion der Cham hatte
abschlagen können, nahm er den Mahayana-Buddhismus an und zwang die zahlreichen Hindus
unter seinen Untertanen, das Gleiche zu tun.
Um dem neuen Glauben ein machtvolles Zeichen zu setzen, errichtete er mit dem 63-türmigen
Bayon einen monumentalen Tempelkomplex. Ein Drittel aller Steine, die in Angkor überhaupt
verbaut wurden, liess Jayavarman für seine Bauten über Dutzende Kilometer heranschaffen.
Tausende zerstörte Buddha-Statuen zeigen, dass die religiöse Revolution den Tod des Königs
nicht überdauert hat, erst später erlebte der Buddhismus eine Renaissance.
Was lässt sich sonst noch sagen, das den Niedergang dieses Reiches mit erklärt? Bürgerkriege,
Raubbau, erschöpfte Ressourcen und der Aufstieg des Mongolischen Reichs im Norden, das
sich auch China einverleibte, mögen dazu beigetragen haben, das Land in den Ruin zu treiben.
In der beschädigten Wasserversorgung sieht auch Evans den zentralen Grund für den
Niedergang Angkors und seines Reiches. Hinzu kam die fortschreitende Entwaldung,
verbunden mit einer Klimaveränderung, die im 14. und frühen 15. Jahrhundert zu anhaltenden
Dürren geführt habe. Zu jener Zeit brach in Europa die Kleine Eiszeit an. Die bislang in der
Forschung vertretene These, Hunderttausende Einwohner von Angkor seien vor den
einwandernden Thais nach Süden geflohen, kann der Wissenschaftler allerdings nicht
bestätigen. Seine Scan-Daten legen vielmehr die Vermutung nahe, dass dort niemals so viele
Menschen gelebt haben.
Vielleicht gingen sie einfach
Hermann Kulke bringt eine verblüffend einfache Lösung ins Spiel: Die Bewohner Angkors
könnten einfach ihre Sachen gepackt haben und wieder in die - agrarisch hoch entwickelten Dörfer zurückgegangen sein, als sich ihr Reich aufzulösen begann. So, wie es auf der anderen
Seite des Pazifiks die Maya in Mittelamerika taten, als Kriege und Raubbau ihre Metropolen
unbewohnbar machten. Wie dem auch sei, die neuen Funde in Angkor dürften ganzen
Forschergenerationen Stoff für neue Theorien liefern.
Analyse
Das Aus gegen Island ist die grösste Demütigung in der 144-jährigen Geschichte der englischen
Nationalmannschaft. Wer die Realität sieht, ist davon nicht überrascht.
222
Von Thomas Schifferle, TA vom MI 29. Juni 2016
Im Ego versunken
Synchronschämen: Die noch vor kurzem hochgelobten Stürmer Harry Kane (links) und Jamie Vardy nach
dem 1:2. Foto: Reuters
«Es gibt drei Dinge, die sicher sind im Leben», schreibt der «Daily Mirror»: «Tod, Steuern und
mittelmässige Vorstellungen von England an grossen Turnieren.»
Das Boulevardblatt irrt, es sind vier Dinge: die Hiebe der englischen Presse, wenn die Fussballer
so versagen wie am Montagabend. Die «Sun» erklärt sie zu «Trotteln», die «Times» schreibt
von «hirntotem Fussball».
England und sein Fussball, was für eine Beziehung, was für ein Leiden, was für ein Drama! Gut,
es gibt besonders in diesen Tagen wichtigere Dinge für das Land als ein Scheitern an einer EM.
Der Brexit schürt die Ängste von Millionen. Ändern tut es nichts daran, dass die Fussballnation
tief in ihrem Stolz getroffen ist, wenn die Fussballer gedemütigt werden wie nie zuvor.
1:2 gegen Island, gegen ein Land, in dem es mehr Vulkane gibt als professionelle Fussballer. Ein
Land mit weniger Einwohnern als Croydon, wo Roy Hodgson am 9. August 1947 geboren
wurde. 1:2 trotz eines Trainers, der 4,5 Mio. Franken im Jahr erhielt.
Hodgsons kläglicher Versuch
Hodgson selbst braucht nur Minuten, um die Konsequenz aus dem Versagen zu ziehen - dem
eigenen und dem der Mannschaft. Er erklärt umgehend seinen Rücktritt. Er wäre allerdings
nicht Hodgson, wenn er nicht das Gute erwähnt hätte. Dass es fantastische vier Jahre gewesen
seien. Dass diese Spieler immer alles gegeben hätten, was von ihnen verlangt worden sei. Dass
223
er «extrem stolz» sei auf die Arbeit seines Trainerstabes. Dass die Verjüngung der Mannschaft
zum einen bemerkenswert sei und zum anderen aufregend für die Zukunft des englischen
Fussballs.
Was er sagt, ist ein kümmerlicher Versuch, das totale Versagen zu kaschieren. Dafür geben
ehemalige Nationalspieler ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck. Ian Wright, früher Arsenal, erklärt
bei ITV: «Diese Nationalmannschaft ist Müll!» Bei BBC betet Alan Shearer die Liste seiner
Vorwürfe an Hodgson mit einer Leidenschaft runter, die den einstmaligen Torjäger in ihm
verrät: «Kein System. Keine Ahnung, wer seine besten Spieler sind. Die falschen Spieler
ausgewählt.»
Was jetzt in Frankreich passiert ist, ist das alte Problem des englischen Fussballs. Er verkennt
die Realität. Er sieht Grösse, wo keine ist. Lieber würde er sich diese Passage aus dem
wunderbaren Lied «Footballs Coming Home» einprägen: «Jeder scheint zu wissen, was Sache
ist / Alle habens gesehen / Sie wissen es / Sie sind sich so sicher / Dass es England wieder
versemmelt / Sich alle Träume in Luft auflösen.»
Seit 1966 rennen die Engländer einem Titel nach. Zweimal brachten sie es immerhin in einen
Halbfinal, 1990 an der WM in Italien, 1996 an der EM im eigenen Land, beide Male wurden sie
Opfer ihrer Schwäche in Elfmeterschiessen gegen den späteren Turniersieger Deutschland.
Gleich fünfmal haben sie es geschafft, sich nicht einmal für eine WM oder eine EM zu
qualifizieren. Die verantwortlichen Trainer haben immer wieder gelitten - unter dem Amt, unter
der Beobachtung und der Bedeutung, die damit verbunden sind. Kevin Keegan bestätigte seinen
Rücktritt auf einer Toilette des alten Wembley. Steve McClaren wurde zum «wally with the
brolly», zum Trottel unter dem Regenschirm, weil er sich während der Niederlage gegen
Kroatien im entscheidenden Spiel der EM-Qualifikation 2008 nicht dem strömenden Regen
aussetzen wollte.
Und jetzt also Hodgson! «Ein Glück, dass wir den los sind», titelt die «Daily Mail».
Vier Jahre hielt sich Hodgson als Nationaltrainer. Es waren keine guten vier Jahre. EM 2012:
Niederlage im Viertelfinal gegen Italien im Elfmeterschiessen. WM 2014: wegen Nieder-lagen
gegen Italien und Uruguay schon nach zwei Spielen ausgeschieden. EM 2016: mühevolles 1:1
gegen Russland, glückhaftes 2:1 gegen Wales, klägliches 0:0 gegen die Slowakei. Und dann kam
Nizza.
Island legte alle englischen Schwächen offen. Von der spielerischen und konzeptionellen
Einfallslosigkeit Hodgsons. Von Joe Hart, dem Torhüter, der in der Schweiz nicht einmal die
Nummer 4 wäre. Von Wayne Rooney, der in der Verfassung an dieser EM höchstens noch
Mitleid verdient. Von Jack Wilshere, den Hodgson aus dem Hut zaubert, obschon der in der
ganzen letzten Saison für Arsenal nur 141 Minuten auf dem Platz stand. Von Harry Kane, der
Freistösse so schoss, als müsste er den Mond treffen. Oder von Raheem Sterling.
Ja, Sterling, 21 und von Manchester City vergoldet, dass er schon jetzt weiss, er hat für ein
ganzes Leben und mehr ausgesorgt. Mehr als 60 Millionen Franken ist sein bis 2020 laufender
Fünfjahresvertrag wert. (Dass die Hälfte davon für Steuern weggeht, kann er verkraften.) Er
spielt bei einem Verein, der ein paar richtig gute Spieler hat wie Sergio Agüero, Kevin De
224
Bruyne oder David Silva und sich eine Luftblase wie diesen Raheem Sterling folgenlos leisten
kann.
Als wäre nichts gewesen
So ist das in England, wo das Fern-sehen die Liga mit seinem Geld überschwemmt. 4,2
Milliarden Franken ist der neue Fernsehvertrag wert, pro Jahr. Rund 200 Millionen Franken
erhält fortan der Meister, 130 Millionen selbst ein Absteiger. Der «Independent» kommentiert:
«Der Grund, warum die Nation damit kämpft, Mitgefühl oder eine Verbindung zu vielen dieser
Spieler aufzubauen, ist das Ego. Zu berühmt, zu wichtig, zu reich, zu arrogant, um die
Geschwindigkeit und den Kampf anzunehmen, wenn es gegen eine der winzigsten
Fussballnationen Europas geht. Das ist England.»
Am Dienstag geht es in der Premier League weiter, als wäre nichts gewesen. Liverpool
verpflichtet Sadio Mané von Southampton für 39 Millionen Franken und Crystal Palace Michy
Batshuayi von Marseille für 40 Millionen, und Henrik Mkhitaryan steht vor einem Wechsel
für 39 Millionen von Dortmund zu Manchester United. Hodgson würde sich mit Blick auf das
Nationalteam seine Gedanken machen, wenn er noch sein Coach wäre: Mané ist Senegalese,
Batshuayi Belgier und Mkhitaryan Armenier. Keiner ist Engländer, keiner vergrössert das
Angebot von Spielern, die für England infrage kommen.
Als erster Favorit für Hodgsons Nachfolge gilt U-21-Trainer Gareth Southgte. An der EM 1996
entschied er das Elfmeterschiessen gegen Deutschland mit seinem Fehlversuch.
Analyse
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist kaum wiederzuerkennen: Er gibt sich
gegenüber Israel und Russland plötzlich versöhnlich. Die aussenpolitische Isolation war wohl zu
teuer geworden.
Von Mike Szymanski, Istanbul, TA vom MI 29. Juni 2016
Hemmungsloser Pragmatismus
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Befindet sich derzeit auf Versöhnungskurs: Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan. Foto: Keystone
Der harte Mann knickt ein. Sein Volk erkennt ihn kaum wieder: Ist das wirklich Recep Tayyip
Erdogan, ihr Präsident? Erst schliesst er Frieden mit Israel. Sechs Jahre lang herrschte Eiszeit
zwischen beiden Ländern, nachdem israelische Soldaten 2010 das mit Hilfsgütern für den
Gazastreifen beladene Schiff Mavi Marmara gestürmt hatten. Zehn Menschen kamen damals
ums Leben. Mit Israel sprach man nicht mehr, allenfalls über Israel. Und zwar nicht gut. Am
Montagabend aber sagte Erdogan auf einmal, die Aussöhnung sei im Interesse beider Länder.
Ein Satz, den man von ihm an diesem Abend noch einmal hören wird. Denn auch Russland soll
bald wieder ein Freund der Türken sein. Im November hatten türkische Kampfflieger einen
russischen Jet vom Himmel geholt, der ein paar Sekunden langan der Grenze zu Syrien
türkischen Luftraum verletzt hatte. Ein Pilot starb.
Russland reagierte mit harten Wirtschaftssanktionen. Vor allem kamen keine Touristen mehr.
Entschuldigen wollte sich die türkische Regierung aber nicht. Die Starrköpfigkeit bescherte ihr
einen neuen Feind. Bis Montag jedenfalls. Da bat Erdogan die Hinterbliebenen um Verzeihung
und drückte dem Kreml gegenüber sein «tiefes Bedauern» über den Vorfall aus. Dass Moskau
daraus die lange eingeforderte Entschuldigung ableitet, kann Erdogan nur recht sein. In Ankara
erwartet man sogar wieder einen Telefonanruf Putins.
Millionen Jobs verloren
Das ist die schöne neue Versöhnungszeit. Sie fühlt sich nur sehr ungewohnt an. Der «Hürriyet»Kolumnist Ertugrul Özkök schrieb dazu: «Ich werde nicht fragen, warum ihr das russische
Flugzeug abgeschossen habt. Ich werde auch nicht fragen, warum ihr dafür gesorgt habt, dass
226
Millionen von Menschen im Tourismus Jobs verloren haben. Weil der heutige Tag wichtiger ist.
Was ihr gestern gemacht habt, das war falsch. Aber was ihr heute tut, ist richtig.» Sein
Kolumnisten-Kollege Ahmet Hakan scherzt, warum bei der Gelegenheit nicht auch Frieden mit
der oppositionellen Gezi-Bewegung schliessen, die Regierungskritiker könnten nicht schlimmer
sein als Israel. Aber das ist eine innenpolitische Baustelle. Im Moment scheinen für Erdogan die
Aussenbeziehungen Vorrang zu haben.
Gerade kommt ein Wesenszug Erdogans zum Vorschein, der bei all seiner Kraftmeierei der
vergangenen Monate untergegangen war: ein mitunter hemmungsloser Pragmatismus. Soll die
regierungskritische Zeitung «Cumhuriyet» doch über die «zwei Kehrtwenden an einem Tag»
staunen. Vor allem der Streit mit Russland war zum Problem geworden. Konnte Erdogan
anfangs vielleicht noch bei seinen Anhängern in der Rolle des starken Anführers punkten, der
selbst die mächtigen Russen in die Schranken weist, überwogen im Laufe der vergangenen
Monate immer mehr die Nachteile: Am heftigsten hat es tatsächlich den türkischen Tourismus
getroffen. Um knapp 92 Prozent ging die Zahl der russischen Urlauber zurück.
Aber auch sicherheitspolitisch hat die Krise mit Russland die Türkei schwer mitgenommen.
Nach dem Abschuss konnte Ankara seine Kampfjets im syrischen Grenzgebiet nicht mehr
einsetzen, zu gross war die Sorge vor Vergeltungsmassnahmen durch die Russen. Die Regierung
musste zuschauen, wie mutmassliche Terroristen des sogenannten Islamischen Staates von
syrischer Seite aus die türkische Grenzstadt Kilis unter Beschuss nahmen. Bald kam es in der
Stadt zu Demonstrationen gegen die Tatenlosigkeit. Eine sechsjährige Eiszeit, wie sie zwischen
der Türkei und Israel herrschte, konnte sich die Türkei im Verhältnis zu den Russen nicht
leisten. Erdogans grösster Trumpf bei seinen Anhängern war immer der wirtschaftliche Erfolg
seines Landes - und den stellte der Streit mit Moskau ernsthaft infrage.
Das Versöhnungsabkommen mit Israel, das am Dienstag unterzeichnet wurde, sieht türkische
Investitionen im Gazastreifen vor. Ausserdem kommt die Türkei wieder als Partner infrage,
wenn es darum geht, Israels Gasvorkommen vor der Küste zu verwerten. Etwas mehr
Unabhängigkeit vom russischen Gas ist Ankara wichtig. Man hat gesehen, wie schnell sich das
politische Klima wandeln kann.
Schritt für Schritt scheint Erdogan sein Land aus der aussenpolitischen Isolation herausführen
zu wollen, in die sich die Türkei manövriert hat. Unter Ex-Regierungschef Ahmet Davutoglu,
den Erdogan im Mai aus dem Amt drängte, hiess das Motto der Aussenpolitik noch: Keine
Probleme mit den Nachbarn. Faktisch aber gab es nur noch Streit. Vom Selbstverständnis der
Türkei als regionaler Ordnungsmacht war nichts mehr zu spüren. Davutoglus Nachfolger, Binali
Yildirim, hat einen anderen Anspruch: mehr Freunde, weniger Feinde.
Die jüngsten Bemühungen gehen aber weniger auf Yildirim als vielmehr auf Erdogan zurück. Er
hat sich unter Erfolgsdruck gesetzt. Er will sich per Verfassungsänderung zum
Superpräsidenten ernennen lassen und auch formal mehr Macht bündeln. Davutoglus Ablösung
war nur ein Schritt auf dem Weg dahin. Yildirim ist längst Erdogans Interessenverwalter. Jetzt
will der Präsident beweisen, dass er am besten weiss, wie man Politik macht.
227
Patienten verbrannten im Bett
Ein Angestellter von Ärzte ohne Grenzen ein paar Tage nach dem amerikanischen Angriff auf das Spital im
afghanischen Kunduz. Foto: Najim Rahim (Reuters)
Kriegsangriffe auf Spitäler, Schulen und andere zivile Gebäude häufen sich. Allein in Syrien
meldet die UNO über 360 Angriffe auf medizinische Einrichtungen. Das habe System, sagen die
Ärzte ohne Grenzen.
Philippe Reichen, Genf, TA vom DI 28. Juni 2016
Afghanistan, Kunduz, 3. Oktober 2015, 1 Uhr morgens. Ein Sicherheitsbeauftragter beendet im
Kunduz Trauma Centre seinen Rundgang, einer chirurgischen Klinik der Hilfsorganisation
Ärzte ohne Grenzen (MSF). In der Klinik ist es ruhig. Weder sieht er bewaffnete Kämpfer im
Spital, noch hört er Gefechtslärm in der Nähe. Spitalangestellte stehen im Freien und gönnen
sich nach kräftezehrender Arbeit etwas Ruhe.
In den letzten Tagen haben sich die afghanische Armee und Kämpfer der Terrormiliz Taliban
heftige Gefechte geliefert. Verletzte beider Seiten wurden ins Spital eingeliefert und operiert.
Einige sind noch immer da: 3 bis 4 afghanische Soldaten und 20 verwundete Taliban. 105
Patienten, darunter Kinder, werden in dieser Nacht in der Klinik betreut. 150 Mediziner, Pfleger
und weiteres Hilfspersonal kümmern sich um sie. Auch ein Delegierter des Internationalen
Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ist anwesend. Kurz nach 2 Uhr hört er plötzlich
Kampfflugzeuge über der Stadt und bemerkt zu seinem Entsetzen, dass das Spital aus der Luft
bombardiert wird.
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Der MSF-interne Untersuchungsbericht zur Attacke auf die Klinik ist ein Dokument des
Grauens. Während der ersten Luftschläge auf das Hauptgebäude waren zwei der drei
Operationssäle in Gebrauch. Patienten aus der Intensivpflegeabteilung wurden in die
Operationssäle gefahren und da zusammengepfercht. Pfleger, die bei Patienten in kritischem
Zustand blieben, wurden bereits beim ersten Luftschlag getötet. Immobile Patienten
verbrannten in ihren Betten. Das Bombardement des Hauptgebäudes endete erst um 3.15 Uhr.
Es brannte völlig nieder. 42 MSF-Angestellte und Patienten, darunter auch Kinder, wurden in
dieser Nacht getötet und Dutzende schwer verletzt.
Rasch war klar: Es war ein Angriff der US-Armee. Dabei hatten die MSF den Streitkräften die
Spitalkoordinaten mitgeteilt. Während des Angriffs gingen beim Pentagon ohne Unterlass
Notmeldungen ein. US-Präsident Barack Obama bezeichnete den Vorfall als «Tragödie». Seine
Streitkräfte sprachen von einem Versehen, wollten aber keine unabhängige externe
Untersuchung, wie sie die MSF forderten. Stattdessen liessen sie den Vorfall intern abklären.
Inzwischen haben die USA für die Attacke die Verantwortung übernommen und wollen dem
Vernehmen nach finanzielle Wiedergutmachung leisten.
Damit ist es für Hilfsorganisationen wie die MSF oder das IKRK nicht getan. Angriffe auf
Spitäler sind Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Und der Angriff auf das MSF-Spital
in Kunduz ist kein Einzelfall, wie Thomas Nierle, Präsident von MSF Schweiz, sagt: «In den
Bürgerkriegen in Syrien und dem Jemen werden systematisch zivile Einrichtungen wie Spitäler
und Schulen angegriffen und zerstört. Notleidende und humanitäre Helfer sind den Attacken
militärischer Akteure ausgeliefert. Unschuldige sterben. Humanitäre Hilfe ist unter diesen
Umständen fast nicht mehr möglich.»
Die UNO registrierte allein in Syrien seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 mehr als 360
Angriffe auf 250 medizinische Einrichtungen. Die MSF und das IKRK haben über die sich
häufenden Attacken auf ihre Spitäler und ihr Personal Dokumentationen erstellt. Gemäss einem
MSF-internen Dokument wurden in den Kriegsgebieten Syrien, Jemen, Ukraine, Afghanistan
und Sudan letztes Jahr 75 eigene oder von den MSF unterstützte Spitäler aus der Luft
bombardiert oder mit Granaten beschossen. In diesem Jahr kam es bereits zu über einem
halben Dutzend Angriffen auf MSF-Einrichtungen. Das IKRK hat wegen Attacken auf Spitäler
das Projekt «Health Care in Danger» gegründet. Es sammelte für den Zeitraum Januar 2012 bis
Dezember 2014 in 11 kriegsführenden oder von Bürgerkriegen betroffenen Staaten Daten und
dokumentierte 2398 Fälle von getöteten, verletzten oder misshandelten Patienten; Drohungen
gegen Ärzte und Pflegepersonal; bewaffnete Überfälle auf Spitäler oder Bombardements in
Spitalnähe; aber auch Behinderungen von Spitalautos bei Rettungsaktionen.
IKRK-Präsident Peter Maurer und MSF-Präsidentin Joanne Liu waren im Mai im UNOSicherheitsrat, um sich gegen die Attacken zu wehren. Während Liu eine «Epidemie an
Attacken auf Gesundheitseinrichtungen» anmahnte, forderte IKRK-Präsident Maurer «einen
grundlegenden Verhaltenswandel in der Kriegsführung».
DER GROSSE BAHNREPORT
Von Res Strehle , Das Magazin N°25 – 25. Juni 2016
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Der Zürcher Hauptbahnhof nach seiner Eröffnung 1847
Der neue Konzernsitz der Schweizerischen Bundesbahnen in Bern-Wankdorf führt den Besucher auf
eine Zeitreise. Er muss sich nach der Eingangsschleuse am traditionellen Empfang zwischen zwei
livrierten Portiers und einer Hostesse entscheiden, die alle gleich freundlich und hilfsbereit aussehen.
Danach wird er vom Kommunikationschef durch die Schleuse und den intelligenten Lift in die
oberen Etagen geleitet. Dort beginnt die neue Welt der SBB: offene Räume, Sitzungszimmer hinter
Glas, keine fixen Arbeitsplätze, keine Festtelefone, alles mobil und transparent. Der Weg zwischen
Wohnort und Arbeitsplatz ist für die Konzernmitarbeiter verkürzt worden. Sie können in jedem
Immobilien-Verwaltungszentrum andocken, etwa in Olten, Altstetten oder Lausanne.
Andreas Meyer, der CEO der SBB, hat auch sein eigenes Büro zum Open Space erklärt. Ein grosser
Schritt für die neue Teamkultur und ihn selber. Nach seinem Amtsantritt im Jahr 2007 hatte er noch
Wert darauf gelegt, an der Kaderretraite das grösste Zimmer zu haben. Niemand dockte damals in
seinem Büro an.
Wieso kostet Bern–Zürich fast doppelt so viel wie Zürich–St. Gallen?
Jetzt ist alles anders. Bahnchef Meyer steht am neuen Ort, inmitten seiner Assistentinnen, siebte
Etage, mit Blick auf die Geleise im offenen Bereich «Konzernleitung/Transformation» und tippt ein
paar Zeilen in sein iPad. Ein rot-weisses Bergseil signalisiert den Aufbruch – vor drei Jahren sicherte
das Seil die Konzernleitung bei der Besteigung des Breithorns ob Zermatt. «Keine grosse Sache»,
sagt Meyer, «bloss ein Viertausender.» Mit der Firmenstrategie ist er auf steilerem Gelände
unterwegs. Immerhin, die eben beendete Klausursitzung des Verwaltungsrats scheint in seinem Sinn
verlaufen zu sein. Meyer schlägt den Gang zur Kantine im Nachbargebäude vor und bietet unter
seinem Schirm Schutz vor dem Regen an.
Es gibt derzeit keine Frage, die ihn aus der Ruhe bringt. Vor allem dann nicht, wenn Andreas Meyer
in der Kantine «beim besten Cappuccino der Welt» sitzt. Die Bar ist im modernsten italienischen
Design gestaltet («Il Caffè»), die Tische hingegen sind im Volksdienststil der Fünfzigerjahre
verblieben. Irgendwo dazwischen mäandert die Kultur der SBB. Der 2014 bezogene Hauptsitz soll
für die neue Identität stehen, ohne die alte zu verleugnen. Eine digitale Version der legendären
Bahnhofsuhr von Hans Hilfiker, hier an der nach ihm benannten Strasse, zeigt die Zeit in einem
230
Durchmesser von sieben Metern an. Die Zeiger schlagen alle paar Minuten Kapriolen, auf dem
Zifferblatt macht die Uhrzeit kreativen Bildern Platz. Auf der Website -mitderzeitspielen.sbb.ch
werden die Nutzer aufgerufen, Zeiger und Skala zu verschieben. Höchste Zustimmung erhalten
traditionelle Sujets: Mann, Adler, Schweiz. In den sozialen Medien hagelte es ritik: 700 000
Franken für ein Kunstwerk, kein Wunder werden die Billette und Abos Jahr für Jahr teurer!
Im hinteren Teil der Kantine wird eine langjährige Mitarbeiterin verabschiedet. Andreas Meyer hat
sich für diesen Termin kurz vor Feierabend entschuldigen lassen, wird aber den Abschied persönlich
nachholen. Er ist jovial, mit vielen per Du, seine einst gefürchteten Zornesausbrüche sind selten
geworden. Heute bewegt sich Meyers Ruhepuls meist um die 50. Der Activity-Tracker am
Handgelenk würde Abweichungen gleich anzeigen.
Herr Meyer, wieso haben die SBB die Preise für Tickets und Abos laufend erhöht und gleichzeitig
den Komfort abgebaut?
«Das Angebot ist in den letzten Jahren massiv ausgebaut worden. Ausserdem ist der Reisekomfort
im Vergleich zur Zeit vor zwanzig Jahren unvergleichlich grösser», pariert Meyer. Er erinnert den
Reporter daran, wie mühselig damals noch die Temperatur in den Wagen reguliert werden musste.
Scheiben runterziehen und wieder hoch, das war bei verhockten Fenstern ein Fitnesstraining der
eigenen Art.
Warum schafft es die S-Bahn im Stossverkehr bei grosser Hitze oft nicht, die Wagen auf angenehme
Temperaturen zu kühlen?
«Das mag einmal vorkommen, wenn die Wagen in der Bereitstellung lange an der Sonne standen,
sollte aber nicht häufig der Fall sein. Sonst muss man es mir mitteilen, wir werden uns darum
kümmern.»
Warum verschwindet die Minibar Ende nächsten Jahres und mit ihr der gut gelaunte Migrant hinter
der fahrbaren Kaffeemaschine, der Appenzeller Honigbiber, das vertraute Scheppern im Gang, das
Bahnreisende seit Jahrzehnten im Ohr haben?
«Die Gewohnheiten unserer Kunden verändern sich. Die Verpflegung bringt den SBB jedes Jahr
einen Verlust von mehr als zehn Millionen Franken ein. Die Minibar verschwindet nicht auf einen
Schlag, sondern schrittweise. Dafür wird die Zahl der Speisewagen erhöht, in der ersten Klasse ist
ein Service am Platz vorgesehen. Zudem ist das Angebot an den Bahnhöfen laufend grösser
geworden, viele Kunden decken sich dort ein. Seien wir ehrlich: Wie viele unter jenen, die das
Verschwinden der Minibar und der Nachtzüge beklagen, haben diese Angebote tatsächlich noch rege
genutzt?»
Und dann, die benachbarte Gesellschaft stösst eben auf die austretende Kollegin an, lässt Meyer auf
dieses Potpourri der Kundenmäkelei einen Satz folgen, den der Reporter im Verlauf seiner
Recherche immer wieder hört: Wir jammern auf sehr hohem Niveau.
Das mag sein, aber die Mäkelei und der Drittel Proteststimmen für die Service-public-Initiative
zeigen, dass die Ära vorbei ist, da Reisende bereit waren, Preiserhöhungen bei gefühltem
Leistungsabbau in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig stehen die SBB vor einem fundamentalen Umbau:
weg von einer von Ingenieuren geprägten Kultur hin zu einer von Programmierern geprägten Welt –
Software vor Hardware. Die über hundertjährige Bundesbahn muss sich gerade neu erfinden, ähnlich
wie es die Cars im Fernverkehr getan haben. Die Anbieter haben auf die veränderten
Reisegewohnheiten rasch reagiert und bieten heute fahrende Arbeitsplätze mit funktionierendem
WLAN zu tiefen Preisen an. Experten sind überzeugt, dass der Fernverkehr nur der Anfang war,
Carreisen die Bahn künftig auch national stärker konkurrieren werden.
231
In diesem Zusammenhang lässt sich der kürzlich in einem «Blick»-Interview bekundete Unmut von
Bundesrätin Doris Leuthard deuten darüber, dass die Bahn nach wie vor nicht mit WLAN
ausgerüstet ist und sich auf vielen Strecken bis heute nicht störungsfrei telefonieren lässt. Die SBB
setzen nicht auf WLAN, sondern haben mittels Signalverstärkern den Zugang zum Netz der
Mobilanbieter verbessert und diese gleichzeitig öffentlich auf die Schwachstellen ihrer Abdeckung
hingewiesen. WLAN in der Bahn soll später kommen, wenn es bis dann die attraktiven FlatrateAngebote der Mobile-Anbieter zum unbeschränkten Surfen nicht überflüssig machen.
Weshalb werden die Elvetino-Wägeli abgeschafft?
Die Nutzerzahl im Personenverkehr hat sich seit 1980 verdoppelt. Bis 2050 rechnet die 2014 an der
Urne angenommene FABI-Vorlage zum Ausbau der Bahninfrastruktur mit einer weiteren Steigerung
von rund 50 Prozent. So stark wird man das Netz nicht ausbauen können, das Wachstum muss
folglich ausserhalb der Stosszeiten erfolgen. Die Stosszeiten lassen sich nur entlasten, wenn die
Preise in den Nebenzeiten deutlich tiefer sind. Damit werden die Erträge künftig schwächer wachsen
als die Nutzerzahlen, stark wachsen werden die Unterhaltskosten. Jährlich geben Bund und SBB für
Schienenunterhalt und die Erhaltung der Substanz 1.6 Milliarden Franken aus, bald werden es laut
dem jüngst aus Altersgründen ausgeschiedenen VR-Präsidenten Ulrich Gygi 2 Milliarden sein.
Zudem ist die Treue der Bahnkunden zu den SBB nicht mehr selbstverständlich. Bahnfahren war für
die ältere Generation Teil der Identität, heute ist die Bahn ein Transportmittel neben anderen. Aber es
gibt auch gute Nachrichten: Das eigene Auto ist für die urbane Jugend nicht mehr Teil der Identität.
Wer von A nach B fahren will, sucht sich in den Städten das beste und kostengünstigste Angebot.
Das Mobilitätsportal der Zukunft wird alle Varianten mit Echtzeitdaten aufzeigen und lässt einen die
Vorlieben eintippen: welches Verkehrsmittel, mit/ohne Umsteigen, mit/ohne Fussweg. Die SBB ist
die Spinne in diesem Netz. Ihr stellt sich heute eine ähnliche Aufgabe wie Anfang der Siebziger.
Damals war das Schweizer Autobahnnetz eben fertiggestellt, Autofahren galt als Inbegriff der
Modernität. Die Bahn verlor Marktanteile an den Privatverkehr, sie hätte, ähnlich wie in den USA,
ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren können. Am SBB-Hauptsitz in Bern traf sich jeden
Montagnachmittag der «Spinnerclub», um über die Bahn der Zukunft zu debattieren, heute würde
man es Brainstorming nennen. Die ETH-Historikerin Gisela Hürlimann hat diese Phase der SBB von
der ersten Automatisierung ab 1955 bis zum Schnellverkehr 2005 aufgearbeitet. Schlüsselfiguren
waren die jungen SBB-Ingenieure jener Zeit, ihr Kopf Samuel Stähli, der als Knabe in den Ferien in
Grindelwald stundenlang neben dem Bahnhof sass und die Züge beobachtete. Stähli und seine
Kollegen begannen das Bahnnetz als System von Knotenpunkten zu denken. Der Spinnerclub deutete
in seinem Namen diesen Doppelsinn an: verrückt und vernetzt. Daraus entstand 1982 der erste
Taktfahrplan, später die «Bahn 2000». Stähli, der nach schwerer Krankheit früh verstarb, wird in
diesem Kreis bis heute verehrt, seine Witwe bewahrt die Aufzeichnungen einzelner Sitzungen als
historische Tondokumente auf.
Mit der Einführung des kundenfreundlichen Taktfahrplans, der die komplizierten Kursbücher
überflüssig machte, erfanden sich die SBB noch einmal neu – nach der Elektrifizierung und der
Errichtung eines nationalen Bahnnetzes. Ab 1983 wurde dies zum Schlüssel ihres Erfolgs. Dazu
kamen gutes Marketing, etwa die Regenbogenkarte im Zürcher Verkehrsverbund, das Halbtax-abo
als neues Preismodell, attraktives Rollmaterial wie die Doppelstockwagen, eingängige
Aufbruchsparolen wie «Bahn 2000» – sowie die Sorge um das Waldsterben.
Werner Wildener führt Samuel Stählis Erbe weiter. Der ehemalige SBB-Kadermitarbeiter ist heute
ein gefragter internationaler Experte. Er berät seit seiner Frühpensionierung 2012 die österreichische
Bahn, die in den vergangenen Jahren ihr Image so stark verbessern konnte, dass ihr Chef Christian
Kern als Quereinsteiger zum Bundeskanzler gewählt wurde. Werner Wil-dener wurde 1984 als
Fahrplanchef der SBB mit einer kleinen Gruppe beauftragt, den Taktfahrplan für die «Bahn 2000»
auf dem ganzen Bahnnetz einzuführen. Damals redeten noch weniger Leute drein, weder die
232
Kantone noch das Bundesamt für Verkehr noch der Verband öffentlicher Verkehr. Wildener fuhr das
gesamte Bahnnetz der Schweiz ab, er kannte jeden Kilometer auf dem Schienennetz und die Anzahl
Spuren, wusste in jeder Sekunde, welcher Zug gerade wo unterwegs war. Das war wie blindes
Simultanschach und konnte süchtig machen. Die schwierigsten Probleme haben ihn bis in den Schlaf
begleitet. Grafiken halfen ihm mehr als der Computer, es ging darum, die Kreuze zwischen den
Schnittstellen exakt abzubilden, die Linien symmetrisch. Das ging nicht ohne Anpassungen der
Strecke und neues Rollmaterial. Als man alles zusammenzählte, kam die Gruppe zuerst auf
Investitionen von 14 Milliarden. Schliesslich konnte man sich auf 6 Milliarden beschränken. Werner
Wildener hat dem Reporter das Bild gezeigt mit den roten Linien und den Schnittstellen auf der
Achse Zürich–Bern, Gegenrichtung inklusive, mit Zeit- und Ortsachse. Olten liegt exakt in der Mitte
des Bildes. An den drei Schnittstellen Bern, Olten, Zürich sind die regionalen Verkehrssysteme
angedockt. Eine Beschleunigung um ein paar Minuten würde nichts bringen, sie verschöbe einzig die
Schnittstelle ins Niemandsland – oder kennen Sie Bickigen? Darum gilt heute: Nicht mehr so schnell
wie möglich, sondern so schnell wie nötig.
Ab Abfahrtszeit hat ein Lokomotivführer zwanzig Sekunden Zeit, um die Lok zu starten, das ist im
Fahrplan eingeplant. Schweizer Bahnfans aus der älteren Generation kontrollieren heute noch die
Abfahrt mit dem Sekundenzeiger und ärgern sich, wenn es bis zur Abfahrt vierzig Sekunden dauert.
Der ausländische Reisegast im Abteil nebenan ist von der Pünktlichkeit begeistert.
In der ferrophilen älteren Generation der Schweiz haben die SBB ihre grössten Fans, aber auch ihre
härtesten Kritiker. Ähnlich wie bei der Fussballnati weiss jeder, wie aufgestellt und gespielt werden
müsste – dafür währt die Bindung zu den SBB lebenslang. Andreas Meyer und Werner Wildener
lieben die Bahn zwar auch, aber beide betonen ihr nüchternes, wirtschaftlich-technisches Verhältnis.
Ihre Väter gehörten zur Generation der Fans, Meyer senior arbeitete bei den SBB im Rheinhafen
Birsfelden. «Wenn ich als Junge etwas ausgefressen hatte, beichtete ich es meinem Vater lieber
schnell und fuhr mit dem Velo zu ihm. Wegen seiner Arbeit hatte ich nie ein romantisches Verhältnis
zur Bahn. Mir war zu früh klar, was es heisst, bei jeder Witterung – bei Eiseskälte im Winter, bei
Hitze im Sommer – und in langen Nachtdiensten für den reibungslosen Bahnbetrieb verantwortlich
zu sein.» Wildeners Vater fertigte in Handarbeit eine Modelleisenbahn auf dem Estrich. Das hat dem
Sohn zwar Freude gemacht, aber oft wäre es ihm lieber gewesen, mit Kameraden draussen Fussball
zu spielen, statt mit dem Vater Schotter auf die Bahntrassen zu kleben.
Mit ihrem sachlichen Verhältnis zur Bahn treffen Meyer und Wildener das Lebensgefühl einer neuen
Generation von Experten. Das war noch anders beim Spinnerclub; dessen Mitglieder waren die
persönliche Antithese zu den Autofans, die auf dem neu gebauten Autobahnnetz ihre Leidenschaft
auslebten. Seither brabbeln Babys als erste Wörter, neben «Papa» und «Mama», nicht mehr «TschuTschu», sondern «Auto». Weitere dreissig Jahre dauerte es, bis Modelleisenbahn und
Bähnlerinsignien aus den Kinderzimmern verschwanden. Heute sind Pfeife, Kelle und Billettzange in
der Spielwarenabteilung neben anderen historischen Partykostümen wie Indianer und Cowboy zu
finden – als Wegwerfset für 19.90 Franken. Hochwertig ist die alte Bahnkultur nur noch in Peter
Bichsels Kurzgeschichten.
In der Aussendarstellung aber lässt Andreas Meyer die Bähnler-Emotion gern noch zu. Zur täglichen
Verneigung vor dem Primat der Sicherheit hat er den letzten Gruss der Lokführer für ihren 2013
beim Zugunglück von Marnand verstorbenen Kollegen als Rufton in seinem Handy gespeichert. Das
markdurchdringende Pfeifen hat uns vor einer halben Stunde im Sitzungsraum «Transformation» aus
den Überlegungen über die Bahn der Zukunft geschreckt. Meyer war eben daran zu erklären, wie sie
hier von der Vergangenheit und der Gegenwart ausgehen, um die Zukunft vorwegzunehmen. «Wo
kommen wir her?», steht da gross als Überschrift links, «Wo sind wir heute?» in der Mitte, «Wo
wollen wir hin?» rechts.
233
«Im Spinnerclub ging es darum, die bestehende Technologie auszunützen», sagt Meyer, «heute geht
es auch darum, die Möglichkeiten neuer Technologien zu nutzen.» Wenn Trendforscher wie der
amerikanische Autor Jeremy Rifkin recht haben, werden diese Technologien mit der Vergangenheit
brechen. Neben der physisch vorhandenen Infrastruktur und dem Rollmaterial wird das Beherrschen
des IT-Datennetzes in Zukunft entscheidend sein. Gut eingesetzt, müsste dies dafür sorgen, dass das
Bahnnetz nicht nur zu rund 20 Prozent genutzt wird wie heute – ein ähnlich tiefer Wirkungsgrad wie
ihn einst Automotoren hatten. Dort ist man inzwischen bei 40 Prozent angelangt. Eine solche
Verdoppelung des Wirkungsgrads würde es der Bahn erlauben, die erwartete Steigerung des
Personenverkehrs problemlos zu verkraften. Dies setzt neue Lebensformen voraus: Wir müssten
wegkommen von starren Arbeits- und Schulzeiten, fixen Büroplätzen, hin zur Smart City mit
permanentem Überblick über Staus und Engpässe, zeitlich und örtlich, und der variablen Planung
von Mobilität durch hoch informierte Reisende und Pendler. Bahnfahren muss wieder so cool
werden, wie es für den jungen Samuel Stähli war.
Herr Meyer, warum wirkt die SBB-App bereits ältlich, und der Reisende braucht gefühlte zehn Klicks
bis zum Billett?
«Das wird sich ändern», sagt Meyer. Er präsentiert auf seinem Smartphone die neue App, die vom
SBB-Innovationsteam zusammen mit der Zürcher Start-up-Firma Ubique entwickelt wurde. Das
Design basiert auf deren innovativer ÖV-App «Viadi». Mit dem Finger zieht Meyer auf dem
Touchscreen die Verbindung zwischen seinem Arbeitsort in Bern-Wankdorf und dem Wohnort Muri.
Nun fehlt nur noch ein Klick bis zum Ticket.
Wann wird es für den Ticketkauf am Billettautomaten kein Geografiestudium mehr brauchen, wenn
man zwischen alternativen Routenvorschlägen auswählen will?
«Heute ist die detaillierte Routenwahl durch den Kunden der Abrechnung im Tarifverbund
geschuldet. Aber ab 2020 soll es eine neue, kundenfreundliche Abrechnung geben. Die mehr als 250
Unternehmen und Verbunde arbeiten an Vereinfachungen, die SBB investieren 250 Millionen in die
Entwicklung neuer Vertriebssysteme. Diese Systeme sind die Basis für die weitere Entwicklung
digitaler Angebote. Fernziel bleibt, dass Reisende in einigen Jahren überall ticketlos einsteigen
können, danach werden die bezogenen Leistungen verrechnet.»
War der Swiss Pass der erste Schritt dorthin? Dem Kunden bringt er bisher wenig, ausser ein paar
zusätzlichen Skidestinationen und einer komplizierteren Billettkontrolle.
«Der Swiss Pass ist der erste Schritt zu einfachen Angeboten in der Mobilität. Deutschland beneidet
uns um diese Mobilitätskarte, die in allen Schweizer Transportunternehmen gültig ist. Den
Datenschutz nehmen wir dabei sehr ernst. Im Vergleich zu grossen IT- und
Telekommunikationsfirmen wie Google ist unser Wissen über die Kunden ein Ameisenbeinchen
gegen das Matterhorn. Das ist ein grosser Nachteil für uns und erlaubt uns noch keine
massgeschneiderten Angebote von Tür zu Tür.»
Der Swiss Pass ist der zweite Versuch der SBB, den Nutzern des E-Ticketings personalisierte
Angebote machen zu können. Der erste unter Vorgänger Benedikt Weibel hiess «Easy Ride» und
wurde vom populären Bahnchef wegen zu hoher Kosten und zu grosser technischer Risiken 2001
abgebrochen. Das Bahnpersonal fürchtet den Verlust eigener Kompetenzen, so wie der digitale
Zugriff auf Fahrdaten den Fahrplan im Kopf überflüssig machte. Zudem stellt sich die Frage nach
dem Datenschutz. Der Eidgenössische Datenschützer verlangt, dass die Daten nach 24 Stunden
gelöscht werden.
Warum zum Teufel haben die SBB den Swiss Pass eingeführt?
234
Der Bahnkunde misstraut der wachsenden Datensammlung und ihrer Verwendung ohne sein Wissen
und Einverständnis. So bleibt der Swiss Pass seit der Einführung 2015 ein für alle Seiten
unbefriedigender Versuch – vom Personal misstrauisch beäugt, vom Kunden ungeliebt, da
komplizierter als das Halbtax und in seinen Vorteilen schwer erkennbar. Auch einzelne Neuerungen
auf der SBB-App sind bis heute auf halbem Weg stehen geblieben. Richtig überzeugend und selbst
von Google bewundert ist nur der Button «Take me home», der dem Reisenden an jedem Ort die
beste Verbindung heimwärts anzeigt. Aber der Versuch, die Belegung der Züge in Echtzeit
darzustellen, ist bis heute nicht überzeugend umgesetzt.
Herr Meyer, warum sind die Angaben zur Belegung der Züge online oft nicht verlässlich? Eine
Familie mit Kleinkind will drauf vertrauen können, dass der Zug ab Brig schwach belegt ist,
tatsächlich aber sitzen die Reisenden in überbelegten Abteilen sogar auf den Treppenstufen.
«Da müssen einzelne Gruppen kurzfristig umgebucht haben, oder ein Zug ist ausgefallen. Natürlich
sind diese Angaben stets ohne Gewähr. Kunden entscheiden sich oft spontan, welchen Zug sie
nehmen. Ich empfehle deshalb allen, die einen Sitzplatz sicher wollen, zu reservieren – insbesondere
bei internationalen Reisen oder bei der Fahrt in den Familienurlaub. Gerade darum brauchen wir aber
auch Daten, um unsere Prognosen zu verbessern.»
Warum sind die Züge in den Flaschenhälsen, etwa um den Zürcher Bahnhof Stadelhofen oder im
Raum Lugano, so oft verspätet? Die Zielvorgabe von 89 Prozent der Züge mit weniger als drei
Minuten Ankunftsverspätung scheint illusorisch.
«Tatsächlich sind unsere Knoten stark belastet. Deshalb möchten wir Tangentialzüge einsetzen, die
andere Stadtbahnhöfe wie Oerlikon, Altstetten, Renens oder Wankdorf direkt anfahren und die
Bahnknoten entlasten. Das Ausland beneidet uns nach wie vor um die Pünktlichkeitswerte, sie sind
auf einer gemischt genutzten Trasse Weltrekord», sagt Meyer. Aber er versteht den Ärger jener, die
ihren Anschlusszug nicht erreichen. «Darum messen wir nicht nur die Pünktlichkeit der Züge,
sondern auch, wie viele Reisende ihr Ziel pünktlich erreichen.»
Es geht heute nicht nur um die Mobilität der Reisenden, es geht um die Mobilität der Betriebskultur.
lar, dass sich ein Riese wie die SBB mit insgesamt knapp 33 000 Beschäftigten und
vergleichsweise hohem Durchschnittsalter nicht so rasch bewegen kann wie eine Start-up-Firma. Der
Aufbruchsgeist ist in den Räumen des international vernetzten Impact Hub hinter dem Zürcher
Limmatplatz deutlich spürbarer als am SBB-Konzernsitz in Bern-Wankdorf, wo die neue Bürowelt
von oben verordnet wurde. Die SBB wollen von der Kreativität junger Start-ups profitieren. 2013
stellte sie ihnen in der Zürcher Sihlpost Raum zur Verfügung, bis Ende dieses Jahres sollen die
Fahrplandaten aller ÖV-Transportunternehmen öffentlich zugänglich werden, auch die Verspätungen
und Änderungen von Gleisen und Fahrwegen. Andreas Meyer hat die Medienmitteilung in die
Kantine mitgebracht, das Datum mit Leuchtstift markiert, das bereits Realisierte mit Pfeil
hervorgehoben. Das war eine gute Nachricht für die Verfechter von «Open Data» und «Open
Innovation» wie den Zürcher André Golliez, Mitglied von Impact Hub. Mobilität ist für Golliez das
Paradebeispiel seiner Utopie öffentlich zugänglicher Daten. Der Bereich ist vergleichsweise wenig
sensitiv, die Chancen für eine Kommerzialisierung sind hoch. Vorbild sind Website und App von
«Transport for London», wo alle verfügbaren Daten zum Verkehr im Grossraum London bereits
heute verknüpft sind – ein ideales Übersichts- und Ticketportal für Reisende (tfl.gov.uk).
Logisch, dass auch andere an der Verknüpfung dieser Daten interessiert sind. Google Maps hat die
Verkehrsdaten von 18 000 Städten mit arten, Fotos, dreidimensionaler Darstellung, Innenansichten
und Hinweisen auf Hotels und Restaurants verknüpft. In der Schweiz sind erst Zürich, Lausanne und
Genf dabei, das wird sich rasch ändern. Zürich ist heute ein internationaler Forschungsschwerpunkt
im Bereich der Mobilität. Am Ende werden sich die grössten Portale durchsetzen, die SBB stehen in
Konkurrenz mit Jungunternehmern wie auch mit Suchmaschinen. Die Erfindungen von Start-ups
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kann man integrieren, vor Google und den Community-Apps fürchtet man sich nicht, solange diese
keine Tickets verkaufen. Auch das könnte sich ändern. Über Google Flights lassen sich bereits
Flugreisen buchen. Der Betreiber einer trendigen App könnte eine kleine Bergbahn kaufen, die dem
Tarifverbund des Verbands öffentlicher Verkehrsunternehmen (VöV) angeschlossen ist, und danach
Billette für das ganze Netz verkaufen.
Mit ihrer Pionierrolle im Bereich selbst fahrender Autos sind Google und Apple heute schon dabei,
Erfahrungen als Anbieter im Mobilitätsnetz zu sammeln. Bei der Wahl einer Reiseroute wird der
Taxidienst UberPop von Google Maps standardmässig als Alternative zu Privatauto, ÖV und
Fussmarsch angeboten. Darüber hinaus will Google laut einem Sprecher keine Transportleistungen
anbieten. Nur: Von der Kontrolle eines integralen Mobilitätsportals zur Steuerung der
Verkehrspräferenzen und der Beteiligung an den Erträgen ist es ein kleiner Schritt.
«Diese globalen Konzerne sind unsere Konkurrenten der Zukunft», sagt Meyer beim besten
Cappuccino der Welt und skizziert dann ein ähnliches Modell der Kooperation nationaler Kräfte, wie
es das «Projekt Tell» von Swisscom, SRG und Ringier für die Medienbranche vorsieht.
Partnerschaften werden für die SBB immer wichtiger – die grosse Chance des Unternehmens besteht
darin, digitale Dienstleistungen mit physischen Angeboten zu verknüpfen. Die SBB haben auf beiden
Ebenen eine einzigartige Stellung: 4.5 Millionen Besucher gehen monatlich auf ihr Portal, zudem
kontrollieren sie die Infrastruktur.
Künftig wird man den Verkehr noch viel enger zusammen mit der Raumplanung denken müssen.
Das zeigt die Entwicklung seit der «Bahn 2000» und dem parallel dazu erweiterten
S-Bahn-Netz in den Städten. Die Beschleunigung auf der Strecke zwischen Bern und Zürich mit den
nahtlosen Anschlüssen des Regionalverkehrs führte viermal zu der Notwendigkeit, das Zürcher SBahn-Netz auszubauen.
Die Bahnhöfe der grossen Städte sind die Knotenpunkte in diesem Netz. In der Railway City zeigt
sich die Stadt der Zukunft. Hier fielen die starren Ladenöffnungszeiten, hier lebt die Agora der alten
Griechen wieder auf – ein öffentlicher Markt- und Verweilplatz als Zentrum einer Stadt, am
Wochenende in der 24-Stunden-Version. Städte ohne grosszügig gestaltete Bahnhöfe mussten
nachrüsten. Genf hat in seinen Bahnhof Cornavin 110 Millionen Franken investiert. Lausanne will
bis 2025 gleich 2 Milliarden für einen neuen Bahnhofsplatz verbauen. Vorbild: die Pariser Place de
la République. Auch Google sucht am Forschungsplatz Zürich die Bahnhofsnähe: Ende Jahr werden
ihre Softwareentwickler auf drei Etagen über der Sihlpost einziehen, ein weiterer Ausbauschritt ist
nebenan an der Europaallee geplant.
Zentrale Anbieterin und Sympathieträgerin in diesem Netz wollen die SBB sein. Um dahin zu
kommen, werden sie den Kulturwandel nicht nur am Konzernsitz, sondern auch unter den
Zugbegleitern vorantreiben müssen. Diese zeigen noch wenig Begeisterung, zusätzlich zum Ticket
auch den Swiss Pass der Reisenden zu scannen – es bedeutet doppelten Aufwand. Dazu kommt die
Unsicherheit über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze. «Fragen Sie Frau Pilloud!» – verweist ein
Zugbegleiter leicht ungehalten auf die Chefin Personenverkehr, als der Reporter ihn gefragt hat, wie
lange es seine Funktion noch geben werde.
Die alte SBB-Kultur hält sich am hartnäckigsten an der Steinerstrasse 35, mitten im Berner
Diplomatenquartier Kirchenfeld. In einem Bau aus den Siebzigern logiert der einstige Schweizer
Eisenbahnerverband (SEV), heute unter dem Namen Gewerkschaft des Verkehrspersonals. Präsident
Giorgio Tuti hatte den Reporter ein paar Tage zuvor empfangen. Sein Vater ist in den Fünfzigern als
Fabrikarbeiter eingewandert und war bei Von Roll. Die Tutis erleben nun den zweiten grossen
Strukturwandel – nach jenem in der Industrie nun jenen im Verkehr.
236
«Es geht darum, diesen Wandel für die Betroffenen verträglich zu gestalten», sagt Giorgio Tuti.
Dabei hilft ihm der hohe Organisationsgrad der Angestellten, bei den Zugbegleitern sind es 95
Prozent. Und es hilft das Verbot der Kündigung aus wirtschaftlichen und betrieblichen Gründen im
Gesamtarbeitsvertrag, der noch bis 2018 gültig ist. Wer in einer Funktion nicht mehr gebraucht wird,
muss umgeschult werden. Ein wichtiger Passus – ist doch zu erwarten, dass es weniger Zugbegleiter
brauchen wird, wenn Bahnfahrten ab 2025 automatisiert erfasst werden können. Auch der Mensch
im Lokführerstand scheint nicht auf alle Zeiten unersetzlich.
Herr Meyer, wird der Kündigungsschutz für das Bahnpersonal über 2018 hinaus bestehen?
«Er steht nicht infrage. Gerade in einer Zeit mit zunehmender Unsicherheit wollen wir als
Arbeitgeber verlässlich sein. Es wird nach wie vor Zugbegleiter brauchen, auch nicht weniger pro
Zug, denn die Züge werden länger. Innerhalb der Belegschaft wird es aber Verlagerungen geben.»
Sind in Bälde selbst fahrende Loks denkbar?
«Auf einzelnen Streckenabschnitten mit einfachen Betriebsbedingungen und standardisiertem
Rollmaterial wollen wir diese Alternative evaluieren. Zum Beispiel auf der voraussichtlich neu zu
bauenden Strecke zwischen Neuenburg und La Chaux-de-Fonds.»
Die führerlose Lok wird auf Widerstand der gut organisierten Lokführer stossen. Die italienische
Bahn konnte noch nicht einmal die Vorschrift zweier Lokführer in der Kabine abschaffen.
«Meine Kollegen, die auf dem italienischen Netz fahren, haben mir schon nach meinem Amtsantritt
vor neun Jahren versichert, dass diese Vorschrift demnächst aufgehoben wird.»
Die SBB-Beschäftigten scheinen unter den Veränderungen zu leiden, im Vergleich mit der
Zufriedenheit der Kunden liegt die Arbeitszufriedenheit deutlich tiefer.
«Sie hat sich verbessert. Bei der letzten Erhebung erreichte sie 66 von 100 Punkten.»
Durch das Ende der Preiserhöhungen und den absehbaren Ausbau der Spartickets ausserhalb der
Stosszeiten wächst der Kostendruck auf die Bahn. Damit wird auch der Druck wachsen, Personal
abzubauen. Das «RailFit»-Programm sieht bis 2020 Einsparungen von 550 Millionen vor, weitere
1.75 Milliarden bis 2030. Aber wo sparen, wenn der Unterhalt der Infrastruktur teurer wird, das
Rollmaterial modernisiert werden muss und die IT-Kosten zunehmen? Für die Zugbegleiter etwa
wird die Aufgabe der Billettkontrolle in einigen Jahren ganz wegfallen. Bis 2020 wollen die SBB so
weit sein, dass der Kunde auf dem eigenen Netz geortet werden kann und danach die bezogenen
Leistungen per Abrechnung begleicht. Werden dann alle Zugbegleiter «Kundenberater»? Kaum. Als
die Zürcher VBZ in den Siebzigerjahren in den Trams die Kondukteure abschafften, war es einer von
acht. SEV-Präsident Tuti erwähnt das vergleichsweise hohe Durchschnittsalter der SBBBeschäftigten und damit die Möglichkeit von Pensionierungen. Ob all den Erörterungen ist Meyers
Cappuccino kalt geworden. Zeit für ein paar letzte Fragen.
Herr Meyer, warum ist die Strecke Bern–Zürich eigentlich die teuerste Eisenbahnstrecke der Welt?
«Das ist sie nicht.»
Welche ist teurer?
Meyer überlegt. «Grindelwald–Jungfrau ist sicher teurer.»
237
Wieso ist Bern–Zürich fast doppelt so teuer wie Zürich–St. Gallen?
«Die Strecken sind unterschiedlich lang, entsprechend ist auch der Preis unterschiedlich. Dazu
werden Strecken tarifgewichtet, die Baukosten mit eingerechnet, Komfort, Angebot und
Convenience.»
Auch die Tatsache, dass die SBB angesichts der regelmässigen Staus auf der A1 auf dieser Strecke
eine Art Monopol haben?
«Nein, das spielt keine Rolle.»
Und dann hat der Bahnchef noch ein eigenes Anliegen gegenüber dem Reporter: «Erlauben Sie mir
die Bemerkung, dass auch die Medien dazu einen Beitrag leisten können, wenn sie auf
Skandalisierung und irreführende Halbwahrheiten verzichten.» Mit dieser Mahnung macht sich der
Reporter ans Schreiben. Im Land mit dem am dichtesten befahrenen Schienennetz der Welt. Doppelt
so stark genutzt wie in Deutschland, dreimal so stark wie in Frankreich. Mit Weltrekord bei der
Pünktlichkeit, aber auch bei den Preisen. Die SBB waren in diesem Land schon zweimal Teil der
kulturellen Identität: Ende des 19. Jahrhunderts, als das nationale Schienennetz für den Aufbruch des
jungen Bundesstaates stand. In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als sich der ÖV
als Alternative zum Strassennetz behaupten musste.
Jetzt haben die SBB zum dritten Mal die Chance, den wirtschaftlichen und kulturellen Wandel in der
Schweiz mitzuprägen: ohne Jobabbau, aber mit neuen Aufgaben für das Personal. Der Bahnsitzplatz
als Reise-, Verweil- und Arbeitsplatz: nicht mehr teurer, nicht mehr schneller am Ziel, dafür
komfortabler und multifunktional. Der Bahnhof als wichtigster öffentlicher Raum in den urbanen
Zentren. Die Bahnreise vernetzt, nicht nur mit Zugsanschlüssen, sondern auch mit allen anderen
Verkehrsmitteln der Smart City: Velo, attraktive Fusswege, Auto, mit wachsendem Anteil an
Carsharing und selbst fahrenden Autos. Smart Traffic und smarte Reisende, in Echtzeit über die
wichtigen Verkehrsdaten informiert und damit in der Lage, Staus und Stosszeiten auszuweichen,
wenn dereinst auch starre Arbeits- und Schulzeiten Vergangenheit sind. In dieser neuen Welt gäbe es
keinen Anlass mehr für kleingeistige Mäkelei, Skandalisierung und Halbwahrheiten.
Interview mit einer Bestie
Bilder: Patrick Tombola
Ein Gespräch von Jan Christoph Wiechmann
Das Magazin N°25 – 25. Juni 2016
Mike, Deckname Zeus, ist 28, verheiratet und Vater eines achtjährigen Sohnes. Er hat 26
Menschen getötet und Aufträge für weitere 130 Morde vergeben. Aber er lebt in Freiheit.
Kann das gut für eine Gesellschaft sein? Ein Gespräch über Schuld und Sühne und
Gerechtigkeit.
Das Magazin — Das wird ein schwieriges Gespräch.
Zeus — Ich weiß.
238
Nicht nur für Sie.
Das kann ich mir denken.
Sie sind – anders lässt es sich nicht sagen – ein Massenmörder. Wie viele Morde haben Sie
begangen?
26.
Und sind dennoch auf freiem Fuß. Sie sitzen hier unter einem Mangobaum bei einer Cola und
würzigen Teigtaschen.
Weil ich ausgepackt habe und mit der Justiz meines Landes kollaboriere.
Wie viele Jahre hätten Sie sonst bekommen?
Der Staatsanwalt sagte: 280 Jahre. Ich wurde wegen sieben Morden verurteilt, habe aber alle 26
gestanden. In allen Einzelheiten.
Wie viele Jahre der Strafe hätten Sie in ihren Augen verdient?
Wahrscheinlich alle 280.
Sie haben einen Deal gemacht.
Ich habe die Mitglieder meiner kriminellen Organisation verraten.
Wie viele?
Mehr als 200.
Und diese 200 wurden verurteilt?
Jeder einzelne. Sie sitzen im Gefängnis. Die geringste Strafe betrug 40 Jahre, die höchste 180 Jahre.
Es muss viele Menschen geben, die Sie jetzt aus Rache töten wollen.
Das stimmt. Hunderte. Darunter auch gute Freunde.
Sie haben auch ihre Freunde verpfiffen?
Alle. Ich musste alles auf den Tisch legen. Hätte ich nur einen Freund verschont, hätte der mich
längst umgebracht. Denn ich verstieß ja gegen jede Regel unserer Organisation.
Dazu kommen die Angehörigen Ihrer Opfer, die ebenfalls Rachegefühle haben.
Das sind ebenfalls Hunderte. Auch die wollen mich töten.
Ich mochte das Leben des Anführers. El Diablo. Er hatte einen tollen Lebensstil, er hatte alles:
Macht. Geld. Frauen. Er tötete und tötete und bekam so den Respekt. Da wollte ich hin. Wie kommt
man dahin? Indem man tötet.
239
Und Sie sitzen hier so ruhig in der Abendsonne unter diesem Mangobaum.
Ruhig bin ich nicht. Ich zittere. Das sehen sie. Aber ich versuche jetzt Morde aufzuklären. Versuche,
den Angehörigen dabei zu helfen, die Leichen zu finden – und vielleicht sogar etwas Ruhe.
Das ist eine Hauptfrage dieses Gesprächs. Ist das gerecht? Können Sie der Gesellschaft helfen?
Ich finde schon.
Ich tu mich schwer mit dem Gedanken. Vor fünf Jahren noch haben Sie Menschen auf bestialische
Weise getötet. Nun sitzen Sie hier in Freiheit und geben sich als geläuterter junger Mann.
Die Justiz hat so entschieden. Ich habe zur Aufklärung etlicher Verbrechen beigetragen. Ich habe
dazu beigetragen, dass Mörder nicht mehr morden können. Die Welt ist heute ein besserer Ort.
Beginnen wir von vorn. Wie wird man zum Mörder? Zu einem Menschen, der die bewusste
Entscheidung trifft: Ich lösche das Leben dieses Menschen vor mir aus?
Ich glaube, das ist überall in der Welt ähnlich. Keiner kommt ja als Mörder zur Welt.
Wie war es bei Ihnen?
Ich bin in einer armen Siedlung in San Salvador groß geworden. Mein Vater war Wachmann, er
verdiente 200 Dollar im Monat. Meine Mutter war Hausangestellte. Sie kamen erst spät von der
Arbeit nach Hause. Da blieb viel Zeit für das Leben auf den Straßen. Und die sind in El Salvador in
den Händen der Gangs. In meinem Viertel war das die Gang Barrio 18.
Aber man muss ja deswegen nicht Mitglied werden.
Ich wollte Geld für die Familie dazu verdienen. Bei uns reichte es nie. Wir waren drei Kinder zu
Hause.
Wie viel Geld bekamen sie von den Gangs?
Sie lockten mich zunächst mit einem Dollar pro Tag für den Job des Spähers. Dafür dass ich den
ganzen Nachmittag an der Ecke stehe und berichte, wenn Polizisten ins Viertel kommen. Später
bekam ich etwas mehr, um Drogen zu transportieren. Danach auch Waffen. Kinder werden von der
Polizei in Ruhe gelassen.
Wie alt waren Sie?
12.
Dachten Sie nie: Das ist verboten?
Es geht ums Überleben. Und so schlimm erscheint einem das nicht, ein kleines Säckchen an die
nächste Ecke zu bringen. Heute reflektiere ich viel über mein Leben. Ich glaube, ich wollte meiner
Familie damals etwas zurückzahlen. Wir hatten keinen Kühlschrank, keinen Fernseher, immer nur
Schulden.
Ihre Eltern ahnten nichts?
240
Doch, die Nachbarn haben es ihnen erzählt. Meine Mutter verprügelte mich. Mein Vater erklärte mir
mit viel Geduld, warum ich aufhören sollte. Er ist der beste Vater der Welt.
Aber sie gehorchten nicht.
Nein, ich war immer ein Rebell. Und die Versuchung war groß. Ich verdiente schnell mehr als meine
Eltern zusammen.
Es ist die alte Geschichte vom schnellen Geld.
Sie glauben mir nicht?
Was für ein Machtgefühl, wenn man einem Erwachsenen in die Fresse sagt: Zahl mir 200 Dollar
oder ich brenne deinen LKW nieder und blas dir dein Gehirn aus dem Schädel.
Doch. Aber es muss doch auch eine Stimme einsetzen: Moment mal, was ich hier mache, ist falsch.
Ich glaube, der Prozess ist überall auf der Welt ähnlich. Das ist nicht so anders als in Syrien im Krieg
oder in Mexiko unter Führern wie El Chapo. Man will irgendwie dazu gehören. Man sucht Wärme.
Eine Bande oder Religion oder ISIS gibt sie einem. Sie verlangt die Unterwerfung für ihre Ziele.
Diese Ziele können Geld sein oder Macht oder eine Ideologie. Ein autoritärer Führer lenkt einen
geschickt an den Punkt. Und dann ist man zu allem bereit.
Sie wurden offizielles Mitglied der Gang Barrio 18?
Nicht sofort. Das wird man nur mit einem Mord. Ich war schon als Kind groß und stark und wurde
für Schutzgelderpressung eingesetzt. Was für ein Machtgefühl, wenn man einem Erwachsenen in die
Fresse sagt: Zahl mir 200 Dollar oder ich brenne deinen LKW nieder und blas dir dein Gehirn aus
dem Schädel.
Solche Schutzgelderpressungen machten Sie mit allen Händlern ihres Viertels?
Nein, nicht in den kleinen Geschäften. Nicht mit dem Bäcker. Nur mit den Lieferanten von
außerhalb. Den großen Busunternehmen. Es war eine Art Unternehmenssteuer. Eine Reichensteuer.
Wir brauchten ja den Rückhalt unserer eigenen Viertels.
Warum?
Bei Razzien der Polizei etwa. Damit Nachbarn uns die Türen öffnen und wir fliehen können. So
kaufen wir uns ihr Schweigen.
Wann wurden Sie offizielles Mitglied?
Mit 14. Ich wurde damals sowohl von der Polizei als auch von rivalisierenden Gangs bereits für ein
Mitglied gehalten. Da dachte ich: Warum dann nicht offiziell beitreten und die Vorteile mitnehmen.
Vorteile?
Mehr Geld. Frauen. Macht.
Sie mussten dafür töten. Das war Ihnen klar?
241
Das war mir klar.
Das ist ein großer Schritt. Das Leben eines Menschen einfach so auslöschen.
Ich hatte eine gewisse Neugier. Aber wichtiger war: Ich mochte das Leben des Anführers. El Diablo.
Er hatte einen tollen Lebensstil, er hatte alles: Macht. Geld. Frauen. Er tötete und tötete und bekam
so den Respekt. Da wollte ich hin. Wie kommt man dahin? Indem man tötet.
Wie kam es zu ihrem ersten Mord?
Ich suche mir einen Klassenkameraden aus. El Pelon. 14 Jahre, wie ich. Ich hielt ihn für einen
Anhänger der rivalisierenden Streetgang MS 13. Konnte ihn nie leiden. Er bekam immer die
schönsten Mädchen. El Diablo gab sein Einverständnis. Es ist abends gegen neun. Ich lauere ihm auf.
Warte bis sich El Pelon von seiner Freundin mit einem Kuss verabschiedet. Dann nähere ich mich
von hinten. Er dreht sich um. Blickt mich an, voll Todesangst. Er weiß, dass er sterben wird. Da
drücke ich ab. Fünfmal.
Bleiben wir kurz bei diesem Moment, bei dieser Sekunde.
In Ordnung.
In dieser Sekunde, bevor man abdrückt.
Was ist damit?
Sie haben den Finger am Abdruck. Sie wissen, dieser Junge wird gleich tot sein, wenn ich abdrücke.
Da muss doch ein natürlicher Impuls einsetzen.
Mein Adrenalin war auf 1000. Mein Herz pochte, so dass ich befürchtete, mein Brustkorb zerplatzt
gleich.
Ich meine nicht die Aufregung. Ich meine diesen natürlichen Instinkt: Ich töte nicht.
Nicht in meiner Umgebung. Das Töten gehört dazu. Es ist so selbstverständlich wie bei Euch der
Schulweg.
Keiner hat Sie bei der Tat gesehen?
Doch, drei Leute. Aber aus Angst sagt keiner bei uns im Viertel etwas. Sie wissen: Wer mich verrät,
wird getötet. Das liest du tagtäglich in der Zeitung: 60jährige Frau hingerichtet. Es gibt nur einen
Grund: Sie hat irgendetwas verraten oder sich bei der Polizei beschwert.
Zurück zu Ihnen. Was taten Sie als nächstes?
Ich ging nach Hause. Meine Eltern standen im Eingang. Sie ahnten es. Es war ganz ruhig im Viertel
gewesen. Plötzlich zerreißen die Schüsse einer 45er die Stille. Und fünf Minuten später tauche ich
auf, völlig nervös.
Was taten Ihre Eltern?
Nichts. Keiner sagte etwas. Sie blickten mich nur erschrocken an.
242
Ihre Eltern haben nie etwas gesagt?
Mein Vater hat es ein paar Mal probiert. Ich habe immer nur geantwortet: Wenn es dir nicht passt,
geh ich und lebe mit der Gang.
Wir sind jetzt an einem weiteren wichtigen Punkt: Was können Eltern machen? Was müssen sie
machen?
Am Kind dranbleiben. Im Gespräch bleiben. Mein Vater hat mich nie aufgegeben.
Das ist ein schwaches Argument. Sie haben ja weiter getötet. Das Zögern ihres Vaters hat nichts
verhindert.
Mein Vater sagte mir später einmal, ich war wie eine Bestie. Er hatte Angst vor mir. Er hatte Angst,
dass ich ihn oder Mutter töte.
Er hätte Sie an die Polizei ausliefern können.
Wer macht das schon mit dem eigenen Sohn. Dann hätte die Gang auch ihn und als Strafe die
gesamte Familie ausgelöscht.
Hatten Sie keine Schuldgefühle nach Ihrem ersten Mord?
Erst später im Bett. Da hatte ich plötzlich irre Panik. Was soll ich machen, fragte ich einen
ameraden. Töte noch mal, sagte der, dann wird’s leichter. Ich töte also noch mal. 25 mal. Es wird
tatsächlich leichter.
Wie hat die Gang reagiert?
Nach dem ersten Mord folgt das Aufnahmeritual. Um zehn Uhr vormittags brachten sie mich zum
Fußballplatz. Der Chef zählt langsam bis 18. In der Zeit prügeln und treten die anderen auf dich ein.
Es soll einen abhärten für die Folter der Polizei.
Wir haben gefeiert. Mit Alkohol und Marihuana.
243
Der frühere Gangleader und 26-fache Mörder Zeus arbeitet heute mit der Polizei zusammen – und
muss inkognito bleiben, um zu überleben.
Sie töten einen unschuldigen Jugendlichn und feiern mit Alkohol und Marihuana.
Ich fühle mich schlecht. Ich habe einen Sohn. Ich sehe heute jeden Menschen als Sohn Gottes.
Lassen sie uns überlegen, wie man es verhindern könnte. Wie wäre es, wenn es Schusswaffenverbote
gäbe?
Das ist naiv.
Das würde den Zugang zumindest erschweren.
Wir besorgen uns die illegal.
Würden Sie mit einem Dolch genauso einfach zustechen wie Sie abdrücken?
Das ist schon schwieriger. Man muss sehr viel mehr Widerstände überwinden.
Das ist ja ein Hauptargument bei der Debatte um schärfere Waffengesetze etwa in den USA.
Andererseits haben wir Macheten eingesetzt.
Macheten?
Ich erinnere besonders einen Fall. Einer unserer Homeboys wohnte zwischen zwei verfeindeten
Vierteln.
Homeboys?
244
Gangmitglieder heißen Homeboys. Als er einmal high war, rutschte ihm raus, dass er früher mal zur
MS 13 wollte, aber die hatten ihn nicht aufgenommen. Das hätte er nicht sagen dürfen. Die MS 13
sind unsere ewigen Rivalen.
Was passierte?
Wir lockten ihn auf den Cerro, unseren Berg, eine Art Hinrichtungsstätte. Wir waren 25. Dort
zerhackten wir ihn mit Macheten.
Bei lebendigem Leib?
Ja. Arme, Beine, Finger – alles ab. Bis er ohnmächtig wurde und verblutete. Alle Einzelteile.
Ersparen Sie mir die Details.
Sie sagten, Sie wollten die ganze Geschichte hören.
Warum diese bestialische Grausamkeit?
Ich glaube, es ist eine Botschaft für die andere Gang, für die Gesellschaft. Wir sind grausamer als
alle. Wir zerschneiden euch Finger für Finger. Wenn ihr einen von uns zerstückelt, zerstückeln wir
einen von euch und stecken ihm auch noch den abgehackten Penis in den Mund. Ich habe dem
Richter jeden Mord geschildert. Irgendwann haben wir unsere Opfer zerhackt und enthauptet, auch
bei lebendigem Leib. Es ist eine Art Wettbewerb unter uns Banden: Wer mordet am grausamsten.
Was müssen Sie für ein Mensch sein, um sich solch niederen Instinkten hinzugeben.
Es passiert in der Gruppe, wir waren 25. Alle stacheln sich gegenseitig auf. Und jeder hat Angst.
Wenn ich nicht mitmache, gelte ich als schwach. Vielleicht bin ich dann der nächste.
Keiner übergibt sich?
Nein.
Kein Mitleid?
Alle sind kalt.
Passiert das unter Drogeneinfluss?
Einige rauchen Marihuana, aber wir haben nie unter starkem Alkoholeinfluss getötet. Es gibt keine
mildernden Umstände.
Ein anderer Tag. Wir treffen uns in einem Park im Zentrum von San Salvador. Vögel zwitschern,
fliegende Händler verkaufen Tortillas, Liebespaare knutschen.
Wie wurden Sie zum Chef der Bande?
Das war 2006. Es gab Razzien der Polizei. Alle wurden festgenommen, bis auf fünf. Da kam der
Befehl aus dem Knast, von El Diablo, dem Anführer. Ich solle das Kommando übernehmen.
Warum Sie?
245
Ich galt als der kaltblütigste. Als Palabrero, als Chef, hätte ich in der Folge nicht mehr selbst morden
müssen, sondern delegieren können. Aber ich habe selber weiter getötet. Wer am meisten tötet,
bekommt den meisten Respekt.
Haben sie auch Frauen ermordet?
Wenn der Befehl kam, mussten wir es tun.
Wir machten kurzen Prozess, wollten es schnell hinter uns bringen.
Was für ein Befehl?
Manchmal kam der Befehl von einem Anführer im Knast. Einmal beschwerte er sich, weil eine
Freundin ihn nicht mehr besuchte. Dann erfand er etwas von Untreue. Warum töten, fragten wir. Er
sagte: Du machst es, weil ich es dir sage. Also führten wir den Befehl aus. Ein nettes Mädchen. Sie
hatte es nicht verdient.
Sie selbst haben ihn ausgeführt?
Ich und fünf andere. Wir haben sie an einem Baum aufgeknüpft. Wir machten kurzen Prozess,
wollten es schnell hinter uns bringen. Sie tat uns Leid.
Wissen Sie, was mich erschreckt? Diese gefühlslose, nüchterne Art, in der sie das erzählen.
Sie wollen doch die Fakten. Ich lege alles offen. Ich habe es nicht gern getan, aber es wurde zum
Alltag. Du stumpfst ab.
Morden ist ja vor allem Männersache. Mehr als 85 Prozent aller Morde werden von Männern
begangen. Haben Sie je eine Frau dabei gesehen?
Wir hatte eine Mörderin, Heidi, aber das ist die Ausnahme. Sie hat einen Jungen sogar mit einer
Machete verstümmelt. In unserer Gang gab es insgesamt fünf Frauen – Homegirls. Sie hatten
dieselbe Autorität wie Männer. Wir hatten – wenn man so will – volle Emanzipation.
Aber sie folgen letztlich dem männlichen Modell von Autorität und Unterwerfung.
Ja.
Ich habe bei der Polizei viele Leichenfotos gesehen. Darunter sind viele Mädchen, auch ihre Babys.
Ich versuche zu begreifen: Wie weit muss ein Mensch kommen, um ein Kind hinzurichten?
Vielleicht kann man nicht alles ergründen.
Das reicht mir nicht. Sie haben es getan.
Ich schäme mich ja unendlich. Keines meiner 26 Opfer hat es verdient. Jeden Tag bitte ich um
Vergebung. Es tut immer noch weh.
Ihre Gefühle sind mir angesichts Ihrer Taten ziemlich egal. Ich spreche mit ihnen, um zu verstehen,
ob man Morde verhindern kann. Ich denke an die Eltern, denen sie Kinder geraubt haben.
Ich muss los.
246
Wir sind noch nicht fertig.
Was gibt es noch?
Warum werden Kinder ermordet?
Kinder habe ich nie getötet. Aber es folgt einer einfachen Logik. Wenn zum Beispiel ein Verräter
geflohen ist, kann man ihn selber nicht kriegen, aber seine Familie sehr wohl, die Frau, die Kinder.
Und Sie haben es wirklich nicht getan?
Nein. Einmal gab es einen Befehl. Wieder von den Anführern aus dem Knast. Wir sollten die Familie
von Manolo töten, einem Verräter: Seine Mutter. Seine schwangere Frau, 20 Jahre. Und seine beiden
kleinen Kinder. Er hatte angeblich der Polizei Infos gesteckt.
Was haben Sie gemacht?
Ich ging zum Haus seiner Familie. Allein. Ich sagte: Senora, gehen Sie. Warum, fragte sie. Gehen
Sie, sagte ich, sofort. Gehen Sie, sonst sind Sie tot. Noch am Abend riefen Sie mich wieder aus dem
Knast an und ich sagte: Die Familie ist geflohen, aber wir bleiben dran.
Und Manolo?
Ich habe ihn später im Reintegrationsprogramm wieder getroffen. Er hat mir gedankt.
Wie flogen Sie auf?
Ich wurde unvorsichtig, größenwahnsinnig. Ich behielt einiges von der Beute für mich. Ich musste ja
alle bezahlen, wie ein Arbeitgeber. Verwaltete einen ziemlichen Etat. Aber ich gab es zunehmend für
Alkohol und Frauen aus, ging in Nachtclubs. Ich tauchte immer häufiger unter und entzog mich den
Befehlen der Anführer. Irgendwann schnappte mich die Polizei.
Wie kam es zum Deal mit der Justiz?
Ein Polizist sagte: „Du bekommst mehr als 200 Jahre. Für Mord, Entführungen, Erpressung. arum
arbeiten wir nicht zusammen?“ Ich dachte: Ich werde nie wieder in Freiheit sein. Andererseits: enn
mich die Gang erwischt, bin ich tot. Ich war verzweifelt. Ich wollte mich töten.
Mein Vater sagte mir später einmal, ich war wie eine Bestie. Er hatte Angst vor mir. Er hatte Angst,
dass ich ihn oder Mutter töte.
Was gab den Ausschlag?
Mein Vater sagte: „Ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht fallen. Gehe den aufrechten Weg. Denk auch
an die pfer.“ Er hat mich gerettet. Da habe ich die Polizei an all die Tatorte geführt, all die Gräber.
Sie bekamen keine Freiheitsstrafe?
Wegen der Kooperation mit der Justiz bekam ich nur drei Jahre. Von denen saß ich neun Monate ab
und verbrachte den Rest in Reintegrationskursen.
247
Das ist alles? Der Staat muss doch bestrafen. Er muss abschrecken. Die Gesellschaft verlangt
Gerechtigkeit.
Ich wurde ja bestraft. Ich war Monate lang mit 27 Leuten in einer Zelle in San Vincente. Alle aus
verschiedenen Banden. Wir schliefen im Stehen. Zu essen gab es irgendeine Pampe. Ich wollte
sterben.
Und danach in den Reintegrationskursen?
Da gab es Therapie, viele Gespräche, Beschäftigung, aber auch hinter Gittern. Ich habe mich sehr gut
mit anderen Ex-Kriminellen verstanden, meinen früheren Feinden.
Da sind wir bei einer entscheidenden Frage: Sind Menschen wie Sie reintegrierbar?
Ich denke schon. Schauen Sie mich an. Ich arbeite heute in einer Fabrik. Ich bin ein guter Vater und
lese meinem Sohn abends Geschichten vor. Es gab viele Versuchungen wieder in die Kriminalität
einzusteigen und mehr Geld zu verdienen. Wir sind bitterarm. Aber das kommt für mich nicht mehr
in Frage.
Wie lang haben Sie gebraucht, um an diesem Punkt zu sein?
Sechs Monate. Bei mir ging das schnell.
Wie viele Mörder sind reintegrierbar so wie Sie?
Vielleicht 100 von den 2000, die ich kenne.
Das sind gerade mal 5 Prozent.
Die anderen sind ohne Familie. Oder sie sind zu sehr gefangen in der Gewaltspirale. Die haben
nichts zu verlieren. Wenn draußen einer auf dich wartet, ein Vater, eine Freundin, ein Sohn, hast du
noch Hoffnung.
Das ist genau die Frage. Lohnt sich das für die Gesellschaft – 5 Prozent? Es ist ja ungerecht, dass
Sie so schnell draußen sind. Die etwas zynische Botschaft Ihres Falles ist: Du kannst morden wie du
willst. Wenn du andere verrätst, bist du morgen schon wieder frei.
Aber die Gesellschaft profitiert von mehr Sicherheit. Wie viele Morde wurden verhindert, weil die
Mörder hinter Gitter sitzen.
Dafür treten andere an ihre Stelle. Es verändert sich nichts Grundsätzliches. Wie ließen sich Morde
von vornherein verhindern?
Das Rezept aus meiner Erfahrung wäre: Du brauchst eine gerechtere Gesellschaft. Du brauchst
Eltern, die zu Hause präsent sind. Du brauchst genug zu essen. Und du musst früh intervenieren. Du
darfst keine kriminelle Strukturen entstehen lassen. Musst sie sofort zerstören.
Sie haben unendlich viel Leid über Menschen gebracht. Haben Sie je den Schmerz der Angehörigen
gesehen?
Einmal ja. Die Mutter eines Opfers ging damals von Tür zu Tür und fragte nach ihrem Sohn. Sie trug
das Foto ihres Sohnes in den Händen. Sie weinte.
248
Was haben Sie ihr gesagt?
Wenn ich jetzt an ihr Gesicht denke, tut es mir so leid.
Was haben Sie gesagt?
Ich weiß nicht, wo er ist. Dabei lag er zerhackt unter der Erde auf unserem Hügel. Später habe ich
die Polizei dort hingeführt. Sie übergaben der Mutter eine Tüte voller Knochen.
Sie sagen das und essen dabei und schmatzen.
Was soll ich machen?
Haben Sie sich entschuldigt?
Nach dem ersten Mord folgt das Aufnahmeritual. Um zehn Uhr vormittags brachten sie mich zum
Fußballplatz. Der Chef zählt langsam bis 18. In der Zeit prügeln und treten die anderen auf dich ein.
Es soll einen abhärten für die Folter der Polizei.
Nein, die würden mich töten.
Ziemlich feige von Ihnen oder?
Mag sein. Aber ich will leben. Will meinem Sohn ein guter Vater sein.
Anderen haben Sie Söhne und Väter genommen.
Er senkt den Blick.
Werden Sie sich entschuldigen?
Ich glaube schon. Ob die Familien mir verzeihen, weiß ich nicht. Aber wenn ich ihnen die Augen
schauen und um Vergebung bitten dürfte, das würde mich befreien.
Sie reden nur von sich. Ich denke eher an die Angehörigen.
Wie soll ich das machen? Wenn ich zu ihnen gehe und um Verzeihung bitte, könnten sie mich töten.
Die Eltern wissen, dass Sie deren Söhne ermordet haben?
Sie wissen das. Sie waren ja Zeugen vor Gericht, um meine Version zu bestätigen. Aber wir liefen
uns nie direkt über den Weg. Ich war immer beschützt, der geheime Zeuge.
Haben Sie Briefe geschrieben? Angerufen?
Nein.
Warum nicht?
Ich müsste es wohl tun. Aber ich kriege es irgendwie nicht fertig.
Muss das nicht Teil dieses Prozesses sein?
249
Sie haben Recht. Wir müssen die Spirale der Gewalt durchbrechen. Wir müssen uns verzeihen.
Damit es sich nicht wiederholt.
Haben Sie sich selber verziehen?
Ich habe mir verziehen. Ich habe viel gebetet. Ich glaube nicht, dass Gott mich straft. Ich habe mich
verändert. Ich danke ihm für eine zweite Chance. Ich versuche es mit guten Taten zurück zu zahlen.
Zum Beispiel?
Ich kaufe mir selber nichts. Wenn etwas übrig bleibt von meinem mickrigen Gehalt, gebe ich es
einem Bettler.
Und jetzt sitzen wir in diesem Park mitten in der Stadt. Was ist, wenn sie einer erkennt?
Ich glaube, er hätte mehr Angst vor mir als ich vor ihm. Ich bin bekannt als brutaler Führer. Sie
wissen ja nicht, auf wessen Seite ich gerade bin.
Sie blicken sich ständig um.
Das ist noch so drin.
Wie viele Menschen wollen Sie wirklich töten?
Vielleicht 200. Aber die große Mehrheit sitzt im Knast.
Aber die suchen Sie doch.
Ich lebe heute in einem anderen Viertel, das von den Rivalen kontrolliert wird. In dieses Viertel
trauen sie sich nicht. Meine ganze Familie musste fliehen.
Leben Sie nicht in ständiger Angst? Vielleicht ist das die gerechte Strafe.
Hier gerade nicht, aber auf dem Heimweg wieder. Da fahre ich mit dem Bus durch Gegenden, die
von verschiedenen Gangs kontrolliert werden.
Haben Sie Ihr Aussehen verändert?
Meine Haare sind kürzer. Meine Kleidung ist ohne jede Gangsymbolik.
Sie haben eine Frau.
Die kennt meine Geschichte.
Sie lebt mit einem Massenmörder zusammen.
Sie sieht mich als Mensch, als geläutert. Wir sind verheiratet. Eines Tages wollen wir in der Kirche
heiraten.
Kennt Ihr Sohn Ihre Geschichte?
Nein, er ist ja erst acht.
250
Ich habe dem Richter jeden Mord geschildert. Irgendwann haben wir unsere Opfer zerhackt und
enthauptet, auch bei lebendigem Leib. Es ist eine Art Wettbewerb unter uns Banden: Wer mordet am
grausamsten.
Werden Sie ihm die Geschichte erzählen?
Eines Tages schon. Hoffe ich.
Sie sind ein Mann, der anderen Kindern den Vater nahm.
Wenn er mich nicht versteht, muss ich das akzeptieren. Das wird nicht leicht. Ich hoffe, dass er mag
wie ich als Vater zu ihm war. Ich bin heute der Mensch, der ich bin – auch wegen meiner schlimmen
Vergangenheit.
Wir haben jetzt zwei Tage lang gesprochen.
Es tut gut.
Es ist nicht als Therapie gedacht.
Die Menschen sollen wissen, wie es zugeht. Ich will zur Aufklärung beitragen.
Die schwierigste Frage zum Schluss: Wenn Gangmitglieder Sie ausfindig machen, werden die nicht
nur Sie töten, sondern auch Ihre Familie, auch Ihren Vater, auch Ihren Sohn.
Ja. Und nicht nur töten.
Sondern?
Das können Sie sich ja denken.
Sie haben keine Angst?
Natürlich. Hoffentlich kommt es nicht dazu. Ich tu alles, um sie zu beschützen.
«Es wurde aus Wut entschieden»
251
Sieht derzeit keine Möglichkeit für ein Zurück: Tony Blair, ehemaliger britischer Premierminister. Foto:
Simon Dawson (Bloomberg)
Der britische Ex-Premier Tony Blair sagt, das Verhältnis zwischen den EU-Strukturen und den
Bürgern sei aus dem Gleichgewicht. Doch die EU sei ohne Zweifel die richtige Idee für das 21.
Jahrhundert.
Mit Tony Blair sprach Stefanie Bolzen in London, TA vom SA 25. Juni 2016
Wie soll die EU mit der Entscheidung der Briten umgehen?
Die britische Regierung und Europa sollten zunächst einmal nachdenken und abwarten. David
Cameron hat absolut zu Recht darauf verzichtet, sich jetzt schon auf Artikel50 zu berufen, der
den Austritt aus der EU regelt. Es ist wichtig für Europa, das Geschehene erst einmal zu
verdauen, weil es für alle beteiligten Nationen weitreichende Folgen haben wird. Es wird
unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen auf die globalen Märkte geben. Und es gibt auch
unmittelbare politische Folgen, denn die meisten anderen EU-Länder kennen ähnliche
Protestbewegungen.
Warum haben die Briten so entschieden?
Es gibt echte Ängste und Sorgen, besonders wegen der Immigration, die das alles
beherrschende Kampagnenthema der Brexit-Befürworter war. Die Labour-Stimmen haben für
das Ergebnis eine wichtige Rolle gespielt, und in vielen Labour-Gebieten haben die Menschen
so entschieden aus Wut über das, was in ihrer unmittelbaren Umgebung passiert. Zudem wurde
252
gegen die aktuelle Regierung gestimmt. Es war ein Protestvotum. Obwohl es eine eindeutige
Entscheidung war, haben sich immerhin 48 Prozent der Wähler für einen Verbleib in der EU
ausgesprochen. Und diese 48Prozent sind jetzt sehr besorgt.
Schottland und Nordirland haben gegen den Brexit gestimmt. Könnten sich diese
Regionen jetzt vom Vereinigten Königreich abspalten?
Wir sehen sicher neuen Belastungen entgegen. Wenn Grossbritannien die EU verlässt, obwohl
Schottland sich eindeutig für den Verbleib entschieden hat, dann kommt ein gewichtiges
Argument hinzu, das beim letzten Unabhängigkeitsreferendum noch keine Bedeutung hatte.
Der Brexit könnte sich natürlich auch auf die Grenze zwischen Nordirland und der Republik
Irland auswirken.
Was muss die Regierung tun,um den in Nordirland gemachten Fortschritt zu
sichern?
Wir sollten uns darum bemühen, die offenen Grenzen zwischen Grossbritannien, Nordirland
und Irland zu erhalten. Das hat sehr geholfen, die nationalistischen und republikanischen
Sichtweisen in Nordirland zu integrieren. Im Augenblick weiss ich nicht, wie das gehen soll,
denn sobald die Republik Irlandzur Grenze mit der EU wird, kann man den freien
Personenverkehr nur noch schwer aufrechterhalten.
Die Eurogegner waren besonders stark in Labour-Hochburgen. War das ein
Protestvotum gegendie neue Labour-Führung?
Ich glaube, es ist mehr Folge der aus meiner Sicht sehr halbherzigen Unterstützung für den
Verbleib durch die aktuelle Labour-Führung. Labour hätte klarmachen sollen, dass dies keine
Protestwahl gegen die Regierung sein darf. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass das Thema
Immigration für Labour-Wähler eine sehr grosse Bedeutung hat. Auch wenn Grossbritannien
kaum einen Vorteil davon haben wird, wenn Menschen aus dem Rest Europas nicht mehr zu
uns kommen können. EU-Bürger zahlen hier weit mehr Steuern, als sie Leistungen beziehen.
Sie leisten einen bedeutenden Beitrag für dieses Land. Um das klarzumachen, hätte es eine
klare und einheitliche Botschaft der Labour-Verantwortlichen geben müssen.
Wie wird sich der Entscheid für den Brexit auf die Rolle Grossbritanniens in der
Welt auswirken?
Wir verlassen mit dem Austritt aus der EU den grössten Handelsraum der Welt. Wir werden
uns danach sehr anstrengen müssen, um Grossbritannien erneut international Geltung zu
verschaffen. Das wird das grösste Problem sein, mit dem sich die politische Führung des
Landes, wie immer diese nach dem Rücktritt Camerons auch aussehen mag, zu beschäftigen
hat.
Wie konnte sich das grösstenteils proeuropäische Establishmentso im britischen
Volk täuschen?
Viele Brexit-Befürworter sind genauso elitär wie die Gegner. Als Vertreter der politischen Mitte
müssen wir Lösungen für die Menschen finden, auch beim Thema Einwanderung. Und wir
müssen Führungsstärke beweisen, um Positionen am linken und rechten Rand abzudrängen.
Sie tragen nichts zur Bewältigung der Probleme in unserem Land bei. Das sieht man daran, was
gerade an den Finanzmärkten und mit dem britischen Pfund geschieht. Es ist durchaus
denkbar, dass der Finanzminister sein Budget überarbeiten muss. Ich hoffe, es kommt nicht
dazu, aber alles, womit das Establishment den Bürgern angeblich nur Angst einjagen wollte,
zeichnet sich heute schon ab.
Ist das europäische Projekt angesichts der Protestbewegungen in anderen
Ländern in Gefahr?
Es gibt eine grosse Herausforderung für das europäische Projekt. Und diejenigen, die an Europa
glauben, müssen es verteidigen, dafür eintreten und echte Reformen vorantreiben. Diese
Debatte gibt es seit mehr als einem Jahrzehnt, und natürlich wurde sie durch die
Gemeinschaftswährung noch verschärft. Denn sie setzt ein viel höheres Mass an politischer
Integration voraus, nicht bloss einen wirtschaftlichen Zusammenschluss. Die
Gemeinschaftswährung ist eigentlich ein politisches Projekt, wurde aber nur wirtschaftlich
umgesetzt. Im gemeinsamen Währungsgebiet gibt es erhebliche wirtschaftliche Belastungen.
Und natürlich wird das europäische Projekt dadurch beeinträchtigt. Zudem stellt sich die Frage,
wie weitere politische Integration aussehen soll. Und wie sieht die Einstellung der Menschen in
253
Europa dazu aus? Wenn die anderen EU-Länder Referenden über die Mitgliedschaft abhalten
würden, dann wären diese hart umkämpft.
Glauben Sie, dass in absehbarer Zukunft ein Proeuropäer wie Sie Premierminister
werden könnte?
Irgendwann kann es wieder einen Meinungsumschwung geben. Viel wird davon abhängen, wie
wir die Folgen in den kommenden Tagen und Wochen verarbeiten. Ich habe immer daran
geglaubt, dass Europa die richtige Idee für das 21.Jahrhundert ist. In einer Welt mit China, den
USA, Indien, Russland und bald Indonesien und Brasilien als grossen Playern geht es nicht nur
um Frieden, sondern auch um machtpolitische Strukturen und unterschiedliche Interessen. Da
müssen sich kleinere Nationen zusammentun, um Einfluss auszuüben. Das gewinnt immer
mehr an Bedeutung, je stärker die Welt zusammenwächst. Europa ist also als Projekt
unverzichtbar. Doch das Verhältnis zwischen den Machtstrukturen und den Menschen ist aus
dem Gleichgewicht geraten. Das muss sich wieder ändern. Leider hat Grossbritannien nun
wegen des Brexit keinen Einfluss mehr auf diesen Prozess.
Ist der Austritt nicht in gewisser Weise auch Ihr Vermächtnis? Sie haben ja das
Land 2004 für die Bürger der neuen Mitgliedsstaaten in Osteuropa geöffnet.
Wir hätten Übergangsfristen in Anspruch nehmen können. Aber das hätte nichts an der
heutigen Situation geändert. Die eigentliche Frage lautet: Besteht die richtige Antwort auf die
Probleme Grossbritanniens darin, Menschen aus dem übrigen Europa rauszuwerfen? Ich sage:
Nein.
Aber viele Menschen in Europa fühlen sich abgehängt. Wie sollman darauf
reagieren?
Wir müssen über die Lösungen für Probleme nachdenken, die alle Länder gleichermassen
beschäftigen. Die Auswirkungen der Finanzkrise, die Folgen der Globalisierung und der neuen
Technologien. Das ist das grosse politische Projekt, mit dem sich die politische Mitte
auseinandersetzen muss. Diese Debatte findet nicht nur hier statt, sondern auch in den USA.
Wenn wir die Welt nicht abriegeln wollen, müssen wir Lösungen bieten für Dinge wie
Lohneinbrüche oder die steigende Belastung im Alltag.
Welche Leistungen rechnen Sieder EU besonders hoch an?
Wenn wir uns die Geschichte der EU anschauen, wird klar, dass dies eine Ära von Frieden und
Wohlstand gewesen ist. Heute gibt es eine tief greifende Enttäuschung über das politische
System. Das ist wahr. Aber die Menschen waren schon immer im gewissen Mass mit dem
politischen System unzufrieden. Wenn Sie in den 80er-Jahren ein Referendum zum Verbleib
Grossbritanniens in der EG abgehalten hätten, bin ich nicht sicher, wie es ausgegangen wäre.
Glauben Sie, dass die Entscheidung der Briten umkehrbar ist?
Ich sehe derzeit keine Möglichkeit für ein Zurück. Die nächsten Tage und Wochen werden eine
Zeit der Reflexion und des Nachdenkens sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob es irgendwann zu
einem neuen Referendum kommen wird. Ich glaube, dafür müssen wir erst einmal die
Konsequenzen dieser Entscheidung verdauen. Die Folgen erscheinen zunächst sehr technisch,
aber sie werden immense Auswirkungen auf den Alltag der Menschen haben.
«Viele Brexit-Befürworter sind genauso elitär wie die Gegner.»
Analyse
Die europäische Integration galt bisherals unumkehrbar. Diese Gewissheit ist jetzt weg. Die EU ist
gelähmt. Von Stephan Israel, Brüssel, TA vom SA 25. Juni 2016
Eine Mischung aus Lügen und Mythen
Ein politisches Erdbeben hat Europa erschüttert. Es ist ein anderes Europa, das gestern Freitag
aufgewacht ist. Kein Zweifel, es ist ein historischer Moment. Man kann es auch eine
Zeitenwende nennen. Bisher ist die EU immer nur gewachsen. Erstmals in ihrer Geschichte
wird die EU ein Mitglied verlieren. Das steht jetzt fest, nachdem die Briten sich mit knapper
Mehrheit für den Brexit entschieden haben.
254
Die europäische Integration galt bisher als unumkehrbar. Diese Gewissheit ist jetzt weg. Das
einmalige Modell für Prosperität und Sicherheit ist in Gefahr. Die Währungsturbulenzen sind
nur die Vorboten der tektonischen Erschütterungen, die noch kommen. Zuerst einmal gibt das
Votum der Briten den EU-Gegnern starken Auftrieb. In Grossbritannien ist der englische
Nationalist Nigel Farage der grosse Triumphator. In Frankreich applaudiert Marine Le Pen, in
den Niederlanden Geert Wilders.
Die Nationalisten rütteln an dem Europa, wie wir es kennen. Die EU, diese Konsensmaschine,
wollen sie lieber heute als morgen verschrotten. Dabei ist Brüssel oft nur Projektionsfläche oder
Sündenbock für das Versagen der nationalen Eliten. Brüssel istso stark oder so schwach, wie es
die Hauptstädte wollen. Das «Wir gegen Brüssel» ist ein Märchen, das im britischen
Abstimmungskampf grossen Anklang fand. Wann immer in Brüssel etwas entschieden wurde,
sass David Cameron mit am Tisch.
Folgt der Frexit?
Es ist schlicht ein anderes Europa,das den Nationalisten vorschwebt.Sie wollen auf Abschottung
gegen die Globalisierung setzen und träumen von einer Rückkehr zur uneingeschränkten
Souveränität. Folgt auf den Brexit der Frexit oder der Nexit? Nein, das ist auf absehbare Zeit
nicht zu erwarten. Das Votum der Briten wird aber den Rechtspopulisten und Nationalistenbei
den Wahlen im nächsten Jahr in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland Auftrieb
geben.
Auch in anderen Hauptstädten werden die Regierungen unter Druck geraten. Europas
Fragmentierung wird schleichend weitergehen, die EU in ihrer Handlungsfähigkeit lähmen. Das
ist fatal angesichts Herausforderungen wie der Flüchtlingskrise, des Klimawandels oder der
Kriege in nächster Nachbarschaft. Es ist ein Teufelskreis, denn die EU wird so die Erwartungen
der Bürger noch weniger erfüllen können als bisher.
Europa wird mit sich selber und mit schwierigen Scheidungsgesprächen mit Grossbritannien
beschäftigt sein. Die Trennung und Neuregelung der Verhältnisse wird Jahre in Anspruch
nehmen und viel Energie absorbieren. Auch, weil die Vorstellungen der «Brexiter»
erschreckend vage sind. Sie haben den Kampf mit einer Mischung aus Lügen und Mythen
gewonnen. Das dürfte sich schon bald rächen.
Auf der anderen Seite werden sich auch die Mitgliedsstaaten schwer damit tun, wie sie mit dem
britischen Votum umgehen sollen. Zwar könnte der Austritt der Briten auch eine Chance sein.
Die Briten waren schon immer die Bremser und Rosinenpicker im Club. Ohne sie könnte es
eigentlich einfacher sein voranzugehen. Und weshalb nicht den Briten eine lockere Beziehung
und Anbindung an den Binnenmarkt anbieten, der auch für andere wie die Türkei, die Ukraine
oder gar die Schweizin Zukunft attraktiv sein könnte.
Aber für den grossen Wurf oder für originelle Ansätze fehlt es zwischen den verbleibenden
27Mitgliedern im Club an Konsens und Bereitschaft zu strategischem Denken. Gut möglich,
dass die Scheidung schmutzig wird, dass die Animositäten zunehmen in nächster Zeit. Eine 40jährige Beziehung muss gekappt werden. Das wird möglicherweise nicht so schnell gehen, wie
sich das einige auf beiden Seiten vorstellen.
255
Die Franzosen etwa gehören zu jenen, die an den Briten gerne ein Exempel statuieren möchten,
um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Andere wie die Deutschen wollen Hand bieten für
ein faires Scheidungsverfahren. Die Gefahr ist gross, dass die EU sich in Kakofonie verliert.
Schon jetzt steht fest, dass es auf beiden Seiten nur Verlierer geben wird.
Zwar dürfte Grossbritannien den höheren Preis bezahlen. Noch mehr als die Einheit der EU ist
kurzfristig der Zusammenhalt Grossbritanniens gefährdet. Doch mit ihrem Votum fügen die
Briten auch der EU historischen Schaden zu. Nach aussen verliert die EU als Akteur auf der
internationalen Bühne an Gewicht und Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig droht ihre innere Balance
aus dem Gleichgewicht zu geraten. Grossbritannien ist immerhin die zweitgrösste
Volkswirtschaft in der EU und Vetomacht im UNO-Sicherheitsrat. Es klingt wie ein Witz der
Geschichte, dass die Regierungen in London einst auf die rasche Öffnung der Arbeitsmärkte für
die Osteuropäer drängten. Anders als andere im Club verzichteten die Briten sogar auf die
langen Übergangsfristen. Und sie führten an der Seite der Amerikaner im Irak einen falschen
Krieg - eine der Ursachen für die Flüchtlingswellen, mit denen die EU sich heute schwertut.
Nun ziehen die Briten sich auf ihre Insel zurück und lassen ihre europäischen Partner im Stich.
Mit ihrem Votum fügen die Briten auch der Europäischen Union historischen Schaden zu.
Jetzt machen sich wieder alle lustig über uns»
Gross waren die Erwartungen der Österreicher, klein war nun der Erfolg. «Es war einfach nur
schlimm», sagt ein führender Sportjournalist des Landes.
Mit Fritz Neumann sprach Philipp Loser, TA vom FR 24. Juni 2016
256
Bitter wars, so richtig bitter. Europameister wollten die Österreicher in Frankreich werden,
mindestens. Das Erreichen der Achtelfinals schien eine Selbstverständlichkeit. Dem Schweizer
Bundestrainer Marcel Koller verliehen sie noch vor dem Turnier eine Ehrenmedaille, die
Euphorie im Land war nach einer passablen Qualifikation fast grenzenlos. Dann die Realität:
eine 0:2-Niederlage gegen biedere Ungarn, ein sehr glückliches 0:0 gegen Cristiano Ronaldos
Portugal - und zum Schluss das 1:2 gegen euphorisierte Isländer. Ein Punkt, ein Tor, Rückreise.
Fritz Neumann, stellvertretender Sportchef der Wiener Tageszeitung «Der Standard» und
preisgekrönter Autor, hat es schon vor dem Turnier gewusst: «Ich mahne zur Vorsicht», sagte
er damals in unserem Interview. Nun blickt er auf das Turnier zurück und findet: Es war alles
noch viel schlimmer als befürchtet.
Freuen Sie sich auf den Winter?
Haha. Wir hatten doch tatsächlich die Hoffnung, weg vom Wintersport zu kommen. Aber jetzt
machen sich wieder alle lustig über uns. Die «Süddeutsche» etwa hat ein Bild von Marcel
Hirscher gepostet: «Dont worry Austria - winter is coming.» Das streut natürlich Salz in unsere
Wunden.
Die sind gross. Es war aber auch eine eher blamable Leistung.
Ja. Das war sehr, sehr schlecht. Es war ganz schlecht. Das Schlimme daran war der Abstand
zwischen dem, was wir gesehen haben, und dem, was wir uns von dieser Mannschaft erhofft
hatten. Er war riesig. So weit von unseren Erwartungen entfernt waren wir selten.
Warum?
Das ist ziemlich einfach: Unsere Erwartungen waren zu gross. Und die Leistung war wirklich
schlimm. Als wir vor acht Jahren zum ersten Mal an einer EM waren, gemeinsam mit euch als
Gastgeber, war das Team viel näher an seinen Möglichkeiten. Das Turnier verlief damals genau
gleich: Wir verloren das erste Spiel, beim zweiten hatten wir Riesenglück - und beim dritten
hätten wir mit einem Sieg noch weiterkommen können. Damals verloren wir gegen die
Deutschen 0:1, nun gegen Island. Damit ist eigentlich alles gesagt.
Das Echo auf den EM-Auftritt ist brutal. Im «Standard» hiess es etwa in der
Einzelkritik über Verteidiger Florian Klein: «Während Österreichs planloser
Systemverwirrung wie alle anderen am Abgrund, unsicher und voller Fehler.»
Es war ja auch schlecht! Die Wurzel des Übels war der körperliche Zustand unserer Spieler.
Warum waren die nur so schlecht beieinander? Sie waren einfach nicht fit, und das muss einem
zu denken geben. Und dann ging im ersten Spiel gegen die Ungarn schon sehr, sehr viel schief.
Schlüsselszene war wohl die Verletzung von Zlatko Junuzovic.
Nicht die Rote Karte von Aleksandar Dragovic?
Dragovic ist ersetzbar. Im zweiten Spiel bekamen sie ja kein Tor. Und wenn ich an den Elfmeter
gegen Island denke (Dragovic verschoss, Red.) Vielleicht hätte er dort besser auch gefehlt.
Das sah auch der Kommentator des ORF so, der sich beim Spiel gegen Island
enorm aufregte. Er sprach dabei in der Wir-Form, was es sonst wohl nirgendwo
gibt.
Das zeigt, wie gross unsere Hoffnungen waren. Das «wir» auf ORF gab es früher nur beim
Skisport, während der Qualifikationsphase für die EM hat es sich auch beim Fussball
eingeschlichen. Diese Qualifikation war ja der Ursprung der Euphorie. Und, ganz ehrlich: So
richtig prickelnd war das schon damals nicht immer. Die hatten ein paarmal richtig Glück.
Wenn man sich jetzt die Vorrunde der EM anschaut, muss man auch sagen, dass unsere Gruppe
wohl nicht die stärkste war. Drei Mannschaften aus unserer Qualifikationsgruppe fuhren zur
EM, neben Österreich noch Schweden und Russland. Sie haben zusammen drei Punkte geholt,
vier Tore geschossen und sind alle Letzter geworden. So viel zu unserer grossartigen
Qualifikation.
Eine besondere Enttäuschung war David Alaba. Was war los mit ihm?
Das ist die grosse Frage! Teamchef Marcel Koller wusste nie richtig, wo er ihn aufstellen soll.
Hinten links wäre er verschwendet gewesen, im Mittelfeld funktionierte es aber auch nicht
257
richtig. Er schlug in diesen drei Spielen vielleicht mehr Fehlpässe als in einer ganzen Saison
beim FC Bayern.
Also ist Koller schuld? Hat er die EM verspielt, wie eine Zeitung schrieb?
Es geht schnell bei uns - vom Heiligen zum Buhmann in ein paar Sekunden. Beim Coaching hat
er sich nicht viel vorzuwerfen, finde ich, er hatte mehr Mut als andere Coachs an Grossanlässen.
Aber man muss sich schon fragen, was in der Vorbereitungsphase im körperlichen Bereich der
Spieler geschehen ist.
Wie ist nun die allgemeine Stimmung in Österreich?
Natürlich ist da eine grosse Enttäuschung. Aber auch die Einsicht, dass ein Achtelfinal
unverdient gewesen wäre. Wer gegen Island verliert, hat es nicht verdient, weiterzukommen.
Bei der Schweiz lief es genau umgekehrt. Die Stimmung war vorher schlecht, nun
wurde sie besser.
Das habe ich doch schon bei unserem ersten Interview vorausgesagt! Die Schweizer spielen ja
auch ganz gut. Der Auftritt gegen Frankreich hat mir sehr gefallen. So ist es halt: Die Schweizer
haben viel mehr Erfahrung auf diesem Niveau, und das spielt offenbar tatsächlich eine Rolle.
Das hat auch Marcel Koller mehrfach gesagt - und dass das eine gute Erfahrung für die Zukunft
war. Ich bin mir da allerdings nicht so sicher.
Vielleicht bringt doch der Winter die Erlösung.
Jaja. Auf die Olympischen Spiele in Rio können wir auch nicht wirklich hoffen. Wobei:
Schlechter als bei den letzten Spielen können wir gar nicht sein (Österreich holte in London
keine Medaille).
Fussball wird ja auch schon bald wieder gespielt.
Ja, im Herbst startet die Qualifikation für die Weltmeisterschaft. Das wird schon werden, haben
wir gedacht, als unsere Gegner bekannt wurden. Wer hatte schon Angst vor Irland oder Wales?
Jetzt haben wir die in Frankreich spielen sehen - und uns halt auch.
Fritz Neumann ist stellvertretender Sportchef der österreichischen Tageszeitung
«Der Standard» und preisgekrönter Autor.
Protest auf dem Fussboden
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Angeführt von John Lewis, demonstrierten Dutzende demokratische Abgeordnete im USRepräsentantenhaus. Foto: AP, Keystone
Mit einem Sitzstreik will eine Gruppe US-Demokraten schärfere Waffengesetze erzwingen. An
ihrer Spitze: John Lewis, ein Held der Bürgerrechtsbewegung. Doch die Erfolgsaussichten sind
gering.
Von Nicolas Richter, Washington, TA vom 24. Juni 2016
Der Aufstand beginnt, als ein Mann mit kahlem Schädel ans Pult tritt und sagt: «Ich bitte alle
meine Kollegen, sich mir im Plenarsaal anzuschliessen.» John Lewis sagt das ganz ruhig. Er
klingt sogar melancholisch und blickt so ernst auf sein Pult, als stehe jetzt ein Ritual bei einem
Begräbnis an. Lewis (76) ein Abgeordneter aus dem Südstaat Georgia, kann wütend sein, aber
er beherrscht auch den würdevollen Auftritt. Es folgt an diesem Mittwochmorgen eine
Demonstration im US-Repräsentantenhaus: Mehr als 100 Abgeordnete versammeln sich zum
Sitzstreik, verharren auf dem Fussboden. Nach dem Terrorangriff in Orlando vor knapp zwei
Wochen mit 50 Toten möchten sie etwas erreichen, das in der US-Politik derzeit als so gut wie
unmöglich gilt: Sie möchten schärfere Waffengesetze erzwingen.
40-mal im Gefängnis
Natürlich ist John Lewis der Anführer. Wer sonst würde zu einer Aktion aufrufen, die nach dem
Protokoll im US-Kongress völlig ungehörig ist. Lewis ist ein Gigant der Bürgerrechtsbewegung Proteste prägen sein Leben. Im August 1963 rief er vor dem Lincoln-Memorial in Washington
eine Revolution aus, bevor Martin Luther King seine «Ich habe einen Traum»-Rede hielt über
eine Welt, in der Hautfarbe keine Rolle mehr spielt. Und als Lewis 1965 den Marsch über die
Brücke von Selma anführte, hätten ihn Alabamas Staatspolizisten beinahe totgeschlagen. 40mal war er im Gefängnis, unter anderem 2009, nachdem er vor der Botschaft des Sudan gegen
den Massenmord in Darfur protestiert hatte.
Amerika hat sich geändert seit der Bürgerrechtsbewegung: Im Weissen Haus regiert Barack
Obama, der erste schwarze Präsident. Aber die Linke hat nicht alle ihre Vorstellungen
durchsetzen können, und gegen nichts haben Obama und seine Demokraten so emsig - und
vergeblich - gekämpft wie gegen die Waffen. Allein während Obamas Amtszeit haben sich
Massenmorde in einem Kino, in einer Grundschule, an einer Universität, in einer Kirche
ereignet. Immer waren die Täter schwer bewaffnet und entschlossen, so viele Menschen zu
töten wie möglich. Orlando ist der jüngste Vorfall.
Mit der gleichen Regelmässigkeit versuchen die Demokraten, das Waffenrecht zu verschärfen.
Nach Orlando wollen sie im Abgeordnetenhaus zwei Gesetze zur Abstimmung stellen, die
Terrorverdächtige daran hindern würden, Waffen zu erwerben. Versuche dieser Art enden
allerdings immer mit dem gleichen Ergebnis: Im Kongress werden sie überstimmt von den
Republikanern, die in beiden Kammern die Mehrheit stellen, aber auch von einzelnen
Demokraten. Auf dieses Ritual reagieren die Befürworter strengerer Gesetze mit wachsendem
Frust, und am Mittwoch entlädt sich dieser im Tumult.
Ein grosser Redner
Lewis wendet seine ganze Redekunst auf. «Wir haben Hunderttausende Menschen an
Waffengewalt verloren, wann kommt der Wendepunkt?», ruft er. Dann legt er die Finger an die
Stirn, als denke er nach: «Sind wir blind? Können wir sehen?» Sogleich aber ruft er wieder ins
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Plenum: «Wie viele Mütter und Väter müssen Tränen der Trauer vergiessen, bevor wir etwas
tun? Die Zeit für Ruhe und Geduld ist lange vorbei.» Er fordert den republikanischen Speaker
auf, neue Gesetzesentwürfe wenigstens zur Abstimmung zu stellen. «Lassen Sie uns wählen.
Lassen Sie uns unseren Job machen. Wir sind hier, um zu arbeiten.»
Anschliessend eskaliert die Lage. Dutzende demokratische Abgeordnete setzen sich auf den
Fussboden und blockieren damit die Gänge zwischen den Sitzreihen. Sie halten Schilder hoch
mit den Namen von Opfern oder singen Protestlieder wie «We Shall Overcome». Paul Ryan, der
republikanische Speaker, bezeichnet die Aktion als «Showeinlage» und erinnert daran, dass die
Gesetze ohnehin keinerlei Chance auf Verwirklichung haben, weil sie der Senat, die zweite
Kammer, in ähnlicher Form bereits abgelehnt habe. Der Republikaner Louie Gohmert schreit
den Demokraten entgegen, sie sollten statt über Waffengesetze lieber über den «radikalen
Islam» reden. Irgendwann lässt Ryan die Kameras abschalten, die das Geschehen im Saal nach
draussen übertragen. Die Demokraten behelfen sich mit Periscope, einer App für
Videoübertragung.
Die Machtprobe dauert die ganze Nacht. Am Morgen kehrt Ryan zurück in den Plenarsaal. Er
lässt ein Budget verabschieden und vertagt dann alles Weitere auf den 5. Juli, wenn das
Wochenende mit dem Nationalfeiertag vorüber ist. Die Republikaner verlassen das Kapitol.
«Was denken die sich eigentlich?», fragt Nancy Pelosi, die Fraktionschefin der Demokraten.
«Was auch immer es ist, sie wollen es niemandem erzählen. Deswegen machen sie sich mitten
in der Nacht davon.» Gleichzeitig lobt sie den Kampfgeist der Demokraten; ihr Protest sei «auf
der ganzen Welt» gehört worden. Für die Partei ist diese Auseinandersetzung eine gute
Gelegenheit, rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl Basis und Spender zu mobilisieren.
Ob sich deswegen die Waffengesetze ändern, ist fraglich. Manche glauben, dass allein die
Anwesenheit des alten Kämpfers John Lewis ein gutes Omen sein muss, und sie nennen den
Aufstand einen Wendepunkt, wie es einst die Demonstration auf der Brücke von Selma war.
«Danke, dass ihr Ärger macht. Es ist ein guter Ärger», sagt Lewis zu seinen sitzstreikenden
Kollegen. «Manchmal steht man auf, indem man sich setzt.»
Das widersprüchliche
Leitwolfs»
Lebendes
«Islamisten-
260
Der Verdächtige machte mehrmals bei den umstrittenen Koran-Verteilaktionen «Lies!» mit. Foto: Siegfried
Grassegger (Keystone)
Die Bundesanwaltschaft hat einen potenziellen Drahtzieher der Winterthurer Islamistenszene
verhaftet.
Martin Sturzenegger, TA vom DO 23. Juni 2016
Es wird zunehmend deutlich: Die Stadt Winterthur hat ein Problem mit islamistischen
Extremisten. Dafür spricht schon länger einiges - nun kam ein neuer Hinweis hinzu. Im Fokus
steht die Verhaftung des 30-jährigen Muslims S. (Name der Redaktion bekannt), welche die
SRF-Sendung «Rundschau» gestern publik machte. Er sitzt seit vergangenem Februar im
Regionalgefängnis Bern in Untersuchungshaft.
Beobachter vermuten, dass es sich beim gebürtigen Italiener um eine einflussreiche
Persönlichkeit in der Winterthurer Islamistenszene handelt. Laut dem Journalisten Kurt Pelda,
der S. gemäss eigener Aussage mehr als ein Jahr lang beobachtete, gehört der Konvertit zu den
mutmasslichen Drahtziehern, wenn es darum geht, muslimische Jugendliche zu radikalisieren.
«Man kann ihn als Islamisten-Leitwolf bezeichnen», sagt der Kriegsreporter zum TA. Im Raum
steht der Verdacht auf Unterstützung und Mitgliedschaft einer Terrororganisation. Die
Bundesanwaltschaft möchte sich nicht zum Verhafteten und zu Tatbeständen äussern, da es
sich um ein laufendes Verfahren handle.
Klar ist, dass S. in der AnNur-Moschee in Winterthur-Hegi verkehrte - jenem Gotteshaus, das
zuletzt immer wieder in der Kritik stand. Mindestens fünf der jungen Leute, die aus Winterthur
in den Jihad gezogen sind, verkehrten dort zeitweise. S. wohnte mit seiner Frau in
unmittelbarer Nähe der Moschee. In Tiefgaragen des Wohnviertels soll er sich regelmässig mit
Jugendlichen der AnNur-Moschee versammelt haben. Ihnen habe er etwa Handyvideos mit
islamistischen Gesängen der Terrormiliz IS gezeigt. Mit mehreren Imamen der Moschee sei er
zudem in engem Kontakt gestanden.
261
Atef Sahnoun, Präsident der AnNur-Moschee, widerspricht: «S. verkehrte höchstens einen
Monat lang bei uns.» Wann das war, daran kann sich Sahnoun nicht mehr genau erinnern. Es
müsse aber «irgendwann in der Zeit vor seiner Verhaftung» gewesen sein, sagt er auf Anfrage
des TA. «Möglicherweise», räumt Sahnoun ein, sei es während längerer Zeit zu Treffen mit
Jugendlichen ausserhalb der Moschee gekommen. Was dort genau geschehen sei, könne er
nicht sagen. Die Jugendlichen hätten ihm in vertraulichen Gesprächen versichert, dass die
Treffen «unproblematisch» gewesen seien.
«Unproblematische Treffen»
Er sei froh, dass S. verhaftet wurde, sagt Sahnoun. «Das hat ihm möglicherweise das Leben
gerettet.» Der 30-Jährige sei auf die schiefe Bahn geraten - womöglich habe er mit einer
Ausreise nach Syrien geliebäugelt. Familiäre Probleme hätten S. belastet. Seine katholischen
Eltern hätten nicht akzeptieren wollen, dass ihr Sohn zum Islam konvertiert sei. Es kam zum
Streit.
Bis zu seiner Verhaftung im Februar war S. unter einem Pseudonym auf Facebook aktiv. Die
Einträge zeigen ein widersprüchliches Bild: Er veröffentlichte Beiträge über muslimische
Enthaltsamkeit und liess sich gleichzeitig beim Essen im edlen Sushi-Lokal ablichten.
Dazwischen immer wieder Bilder von schnellen Autos und ein Koran-Zitat: «Unter euch gibt es
welche, die das Diesseits wollen, und unter euch gibt es welche, die das Jenseits wollen.» S.
wollte beides. Er kritisierte den westlichen Lebensstil und klimperte dabei mit dem
Autoschlüssel seines Mercedes-Benz. Während er seine Muskeln zelebrierte, trug seine Frau
einen Niqab - eine Ganzkörper-Verschleierung. Der Schweizer Nachrichtendienst hat
momentan 500 potenzielle Jihadisten auf dem Radar. Rund 60 davon stammen aus der
Eulachstadt - sprich mehr als jeder Zehnte. Mindestens ein Dutzend junger Menschen reiste aus
Winterthur in den Heiligen Krieg nach Syrien. Darunter der 19-jährige Doppelbürger Christian
I., der - obschon für tot erklärt - von der Schweiz ausgebürgert werden soll. Andere wurden von
den Behörden abgefangen, bevor sie ihre Reise ins Kriegsgebiet antreten konnten.
Verbindung zu Fitnesscentern
Möglich, dass mit S. nun erstmals einer der Hintermänner der Extremistenszene verhaftet
wurde. Darauf deutet das Umfeld, in dem sich der Winterthurer bewegte. So nahm er mehrmals
am Projekt «Lies!» teil. Aus dem Dunstkreis der umstrittenen Koran-Verteilaktion, die von
Deutschland aus orchestriert wird, zogen schon mehrere junge Männer in den Jihad. Gemäss
Pelda soll S. für den Aufbau des Ablegers in der Schweiz verantwortlich gewesen sein.
Weitere Verbindungen gibt es zu mehreren Fitnesscentern, in denen S. verkehrt haben soll.
Darunter das nicht mehr existierende MMA-Sunna-Gym, das von Valdet Gashi gegründet
worden war - jenem erfolgreichen Kampfsportler, der sich Anfang 2015 nach Syrien abgesetzt
hatte. Dazu passt, dass S. offenbar von der Zürcher Kantonspolizei wegen Anabolikaverkaufs
verhaftet wurde, ehe er später für weitere Ermittlungen der Bundesanwaltschaft übergeben
wurde. Die Kantonspolizei will sich auf Anfrage des TA nicht zum Fall äussern.
Nährboden für Extremismus
Der aktuelle Fall S. verdeutlicht: Winterthur bietet einen Nährboden, auf dem extremistisches
Gedankengut gedeiht. Im Fokus stehen immer wieder die AnNur-Moschee, die «Lies!»Aktionen und die Kampfsport-Zentren. Auch wenn die meisten Besucher dieser Institutionen
wohl harmlos sind, so sind sie doch Teil eines Netzwerks, durch das regelmässig Jihadisten
rekrutiert werden. Mit S. könnte ein erster Drahtzieher gefasst sein.
262
«Ich spiele Rechtsaussen. Rakete!»
Mag kleine Restaurants und grosse Bühnen, ob als Schauspieler oder Fussballfan: Peter Lohmeyer,
Anhänger von Schalke04, fühlt sich als solcher von den Spielern nicht immer ernst genommen. Foto: Reto
Oeschger
Der deutsche Schauspieler Peter Lohmeyer erklärt seine Liebe zum Fussball und warum er sie
trotz korrupter Fifa-Funktionäre nicht verlieren will.
Mit Peter Lohmeyer sprach Thomas Schifferle, Lyon
Dienstag in Croix-Rousse, ein Hügel und Quartier mitten in Lyon. Hier lebt Peter Lohmeyer seit
ein paar Wochen, weil er an der Oper von Lyon eine Rolle in Mozarts «Die Entführung aus dem
Serail» erhalten hat. «Keine Touristen, 80 Prozent Immigranten, mehr Frankreich geht gar
nicht», erklärt der 54-Jährige, warum er sich hier so wohlfühlt.
Zwei Stunden sind es noch, bis Deutschland sein letztes Gruppenspiel gegen Nordirland
bestreitet. Und ein Tag ist es bis zur Premiere der Oper. Lohmeyer trägt Sonnenbrille,
verwaschenes Leibchen und kurze Hose, als er sich in eine kleine Bar setzt, zu reden beginnt
und sich irgendwann unruhig umschaut: «So, kommt jetzt hier mal ein Getränk? Was trinken
Sie denn? Sie können doch Französisch, oder? Ich hätte gerne einen ganz leichten, gespritzten
Weisswein.» Am Ende landet er beim Bier.
Was macht Sie im Momentnervöser? Das Spiel vonDeutschland gegen Nordirland
oder Ihre Opernpremiere?
Ich bin sicher nervöser wegen der Premiere. Ich bin noch nie vor einem Fussballspiel nervös
gewesen. Nein, ist gelogen. Bei meinem Heimatverein bin ich nervös . . .
. . . Schalke 04 . . .
263
. . . und bei einem Spiel von Deutschland war ich 1970 nervös, und zwar, weil ich mich am
Abend hinter dem Sofa meines Vaters versteckt hatte und das Spiel gegen England bei der WM
in Mexiko sah, das ja grandios war. Da war ich nervös: Erwischt mich mein Vater oder nicht?
Hat er?
Nein, ich glaube, er hat gepennt. Man kann das ja auch zur Legende werden lassen. Aber es ist
nie so, dass ich für die deutsche Nationalmannschaft eine emotionale Verantwortung mit mir
herumtrage. Das tue ich für meinen Verein, für Schalke, da bin ich aufgeregt.
Sie fühlen sich also nicht besser als Deutscher, nur weil die Nationalmannschaft
Weltmeister ist?
Ne, ne . . . (lacht)
Aber was empfinden Sie bei einem solchen Erfolg?
Mir geht es um das Interesse am Fussball. Wie haben die Deutschen das gemacht? Wie war es
möglich, dass Brasilien gegen Deutschland 1:7 verliert? So ein Spiel zu sehen und zu
analysieren, das ist für mich das Wichtige. Eröffnungs- und Endspiele sind immer das
Schrecklichste bei einer Welt- oder einer Europameisterschaft. Ich sah Italien gegen Frankreich
in Berlin (den Final von 2006) - grauenvoll.
Dummerweise haben Endspiele eine gewisse Bedeutung.
Ja, ja, das stimmt. Im Fussball gewinnt nicht immer der Bessere, sondern manchmal der
Glücklichere. Ich freue mich natürlich immer, wenn der Bessere gewinnt. Vielleicht kommt das
auch daher, dass ich selbst gespielt habe. Und man möchte das Gefühl, man sei der Bessere, am
Ende auch belohnt haben.
Und weil Sie nicht so viel gewonnen haben, haben Sie wieder aufgehört?
Ich war nie Weltmeister.
Welche Art von Fussballer waren Sie?
Ich war in der C-Jugend des VfB Stuttgart. Ich war sehr laufstark, ich laufe gerne. Damals hiess
meine Position noch Mittelläufer, sie wurde noch nicht Sechser oder Achter genannt. Was ich
jetzt spiele, bei Prominentenspielen und so, ist Rechtsaussen. In dieser Position spielte ich
schon mit Lothar Matthäus zusammen. Er bezeichnete mich als «key player». Ich wusste gar
nicht, dass er Englisch kann.
Wann war denn das?
Bei einem legendären Spiel, zumindest für mich legendären. Das war bei einem Benefizspiel in
Reading, kurz vor der WM 2006. Lothar wollte zuerst gar nicht mitspielen, weil er Angst hatte
und Boris (Becker) nicht erschienen war. Aber Grönemeyer war da und brachte seinen Sohn
mit. Wir dachten, wir kriegen gegen die Engländer so richtig einen auf die Hose, bei denen
spielte Chris Waddle mit. Lothar kam dann doch und fragte mich: «Wo spielst du?» Ich:
«Rechtsaussen. Rakete!» Ich schoss zwei Tore, wovon eines nicht anerkannt wurde. Meine
damalige Frau fragte mich: «Was ist dir jetzt wichtiger? Das Spiel da oder ein Filmpreis.» Ich
sagte: «Das kannst du dir doch denken. Ein solches Spiel machst du nie wieder . . . Scheiss auf
einen Filmpreis.»
Und wenn es ein Oscar wäre?
Einen Oscar würde ich schon nehmen. So zur Not.
Was gibt Ihnen der Fussball?
Einmal geht es darum, selbst zu spielen. Ich spiele im Park oder auch in einer Werbeliga in
Hamburg, mit Werbern, aber die nehmen mir das zu ernst. Wenn ich spiele, habe ich das
Gefühl, da zählt der Steilpass, zählt das Verständnis untereinander, das Zusammenspiel. Und
alles fliegt weg, Arbeitsprobleme, Beziehungsprobleme. Das ist mein Yoga. Wenn ich ins
Stadion gehe, bin ich Beobachter, frei von allem. Zumindest fühle ich mich frei, auch wenn
«Spiegel online» einmal über mich schrieb: «So darf er sich nicht benehmen.»
Wieso das?
Wir spielten damals zu Hause gegen Bayern, und bei Oli Kahn machte ich halt auch «huh, huh,
huh». Dabei wurde ich gesehen. Dann schrieb ich dem vom «Spiegel» zurück und erklärte ihm,
wie ich das im Stadion sehe: «Ich bin Fan und verhalte mich so.» Ich bin kein Ultra, der etwas
zündet oder so, das ist mir zu doof. Sobald Gewalt, Hass, Dummheit dazukommt, denke ich mir:
Bullshit. Wenn Manuel Neuer zu uns mit Bayern zurückkommt, rufe ich auch nicht
«Hurensohn». Weil ich völlig verstanden habe, dass er damals nach München ging. Mir geht es
264
um das Erlebnis im Stadion. Ausser es gibt ein dreckiges, blödes 0:0. Dann sage ich mir auch:
Wäre ich doch zu Hause geblieben.
Woher kommt Ihre Verbundenheit mit Schalke?
Ganz einfach. Wir lebten in Hagen, ich spielte als Kind im Handballverein, und die Trikots
waren blau. Als Kind reagiert man auf Farben. Wenn wir gelbe Trikots gehabt hätten, wäre ich
jetzt halt . . .
. . . bei Dortmund.
Ja. Mein Schauspielkollege Joachim Krol hat mal über mich so schön gesagt, er bewundere
meine Leidensfähigkeit. Trotzdem, das Spiel hat für mich auch viel mit Freude und Spass zu
tun, gebaut auf einer Leidenschaft. Meine Emotionen kommen raus, aber ich werde nicht blöd
herumpöbeln.
Weil es nicht Ihre Art ist? Oder weil Sie eine öffentliche Figur sind?
Weil es nicht meine Art ist. Wenn die Schalker singen: «Steht auf, wenn ihr Schalker seid»,
dann stehe ich auf. Aber wenn meine Lieblingszeitschrift «11 Freunde» von Edelfan schreibt,
sage ich: Pass auf, was du schreibst . . . Ich sitze natürlich auf der Haupttribüne. Wieso soll ich
in der Nordkurve sein? Soll ich da einem das Ticket wegnehmen? Aber wenn irgendein Russe,
der wieder Kohle in den Verein steckt und seine Plätze auf der Haupttribüne nicht benutzt,
nicht da ist, sitze ich lieber da. Mir ist egal, wo ich sitze. Ich will nur das Spiel sehen. Ich
verhalte mich nicht anders, nur weil ich Peter Lohmeyer bin. Wenn mich die Leute sehen,
fragen sie mich: «Peter, wie spielen wir heute?» Ich sage: «3:2, wie immer.» Dann sagen sie:
«Klasse, finden wir super.»
Was macht Ihnen Spass beim Fussballschauen?
Es macht mir Spass, Systeme zu verstehen, wie etwas funktioniert, wie sich die Abwehrreihe
nach vorne bewegt. Wie sich der Kuranyi, der Schönhaar-Stürmer, im Gegensatz zu einem
Lewandowski bewegt. Wenn der Kuranyi sich einmal den Ball hinten holt, kriegt er ja sofort
Applaus. Da denke ich: He Alter, das musst du immer machen. Es geht beim Fussball auch um
die Perspektive, um den Respekt vor den Leuten, die jedes Wochenende hingehen. Wenn die auf
der Nordtribüne mal sagen, sie haben die Schnauze voll, wenn sie sich wie in der letzten Saison
einmal umdrehen, dem Spielfeld den Rücken zudrehen und so ihre Haltung zeigen, dann ist das
interessant. Aus ihrer Perspektive heisst das: Sie möchten von den Spielern respektiert werden.
Und da denke ich, dass wir, die Fans, nicht ernst genug genommen werden.
Die Spieler selbst verlangen immer Respekt. Sie scheinen lieber zu nehmen, als zu
geben.
Ja, und jetzt ist die Frage: Woran liegt das?
Daran, dass sie nicht immer genug sensibilisiert sind für die Belange der
Zuschauer.
Das System krankt, absolut. Und das beginnt im Verein. Und das geht weiter, wo der Spieler
seine grosse Karre falsch einparkt und ich frage: Wieso braucht der eine grosse Karre? Schützt
du als Verein in einem solchen Fall deinen Spieler und machst ihn gleichzeitig erwachsen?
Gelingt dem Verein das? Ich habe vier Kinder, ich weiss, sie sind mit 18 volljährig, aber das
heisst nicht erwachsen. Da denke ich mir: Was braucht es noch im Verein? Reicht der Trainer?
Wer bildet die Jungen weiter? Kommt da einer aus der Pädagogik und kümmert sich um sie?
Was wir dabei vergessen: Es kann ja sein, dass einer Probleme hat. Was ist, wenn ich Theater
spiele und meine Freundin macht am Tag vor der Vorstellung Schluss mit mir? Oder wie stark
ist die Psyche eines 18-Jährigen? Natürlich hat der Fussballer seine Leistung zu bringen, aber
was ist da noch, was ist mit dem Menschen? Die Spieler trainieren einmal am Tag, von 10 bis 12,
und dann? Was machen sie dann? Das sind Sachen, über die man sich Gedanken machen muss.
Der grosse Schriftsteller Albert Camus hat gesagt: «Alles, was ich von Moral oder
Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fussball.» Was
können Sie damit anfangen?
Ich würde es umdrehen. Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen anderen gegenüber
gelernt habe, auch durch mein Elternhaus, kann ich durch den Fussball besser nachvollziehen.
Soziale Verantwortung. Was der Mensch neben dir ist, egal, wo er herkommt. Was Egoismus
vor dem Tor bedeutet. Was eine Mannschaft ist. Ich wurde mal gefragt, warum ich kein Tennis
spiele. Ich sagte: «Da bin ich alleine! Was soll der Quatsch!»
Was lässt sich im Fussball über Respekt lernen?
265
Viel. Vor allem, weil der Respekt oft fehlt. Gegenüber dem Gegner, dem Mitspieler, dem
Zuschauer.
Warum ist das so?
Du bewegst dich als Spieler öffentlich. Ich bin ja auch in einem Job, in dem man spielt, so tut als
ob. Im Fussball kannst du nichts vertuschen. Du bist auf offener Bühne. Und da immer den
Respekt zu bewahren . . . Für mich gibt es zwei deutsche Spieler, bei denen ich sofort
unterschreiben würde, dass sie das können. Das sind der Herr Müller und der Herr Neuer. Es
gibt bestimmt andere, die ich vergessen habe, aber bei den beiden spüre ich das einfach.
Verlieren Sie nie die Lust am Fussball?
Ich sage mal so: Die Lust lasse ich mir nicht nehmen, das ist mein Ehrgeiz. Und, so platt das
klingt, die Wahrheit liegt auf dem Platz.
Otto Rehhagels grosser Satz.
Fünf Euro fürs Phrasenschwein, ja. Ich komme nochmals auf uns Zuschauer zurück, zu unserer
Macht. Was wäre denn, wenn 60 000 am Samstag um 15.30 Uhr einmal einfach nicht zum Spiel
kommen würden? Es geht ja kommerzmässig immer weiter, auch in Deutschland werden die
Spiele auf Montagabend gelegt, um mit den Fernsehgeldern in England mithalten zu können.
Aber was ist, wenn wir nicht kommen? Wer will schon Geisterspiele? Die Macht, die wir haben,
ist uns eigentlich nicht klar. Und jetzt sind wir bei den Funktionären. Die springen mit uns um,
wie sie wollen. Ich bin an einer WM auf einer Fanmeile und darf nicht mehr das Bier trinken,
das ich trinken möchte. Ich bin echt nicht blöd, aber wie lange haben wir die Augen zugemacht,
bis das mit der gekauften Weltmeisterschaft rausgekommen ist?
Der WM von 2006 . . .
Ich wurde vor einem Jahr vom «heute-journal» des ZDF eingeladen, einmal zwei Minuten zu
einem Thema zu reden. Zu der Zeit ging es gerade darum, ob Blatter (als Fifa-Präsident)
abgewählt wird oder nicht. Da habe ich auf der Fifa rumgekloppt und habe auch schon gesagt:
Soll bloss keiner glauben, dass die Deutschen ihre WM nicht auch gekauft haben! Aber was ist
jetzt bei der Fifa? Infantino! Unglaublich! Da wird der eine mit 20 Millionen in die Rente
geschickt, und Uli Hoeness muss sich denken: Warum war ich eigentlich im Knast? Jetzt spielen
die bei der Fifa das Spiel mit Infantino weiter. Das gibt es doch gar nicht. Und alle und sie auch
(er formt die Hände zu einer Raute und imitiert damit Angela Merkel) werden wieder im
Stadion stehen und dem nächsten Präsidenten die Hand geben.
Vielleicht spielt für Angela Merkel keine Rolle, ob sie neben Blatter, Infantino
oder Erdogan sitzt.
Die geht in die Kabine, um den nächsten Wahlkampf zu gewinnen.
Was denken Sie dann?
Es redet ja schon keiner mehr von der WM in Südafrika, wie die Stadien leer stehen. Oder von
den Toten, als in Brasilien die Stadien gebaut wurden. Oder von den 4000 Toten, die es
vielleicht geben wird, bevor in Katar das Ding (die WM) beginnt. Das enttäuscht mich bei den
Deutschen. Wenn du Weltmeister bist, kannst du dich auch anders verhalten. Was ich nicht
verstehe bei unserem Bundestrainer, ist darum das, was er zu Katar sagt. Wissen Sie, was er
sagt? «Ja, das ist echt blöd, dass die Public Viewings dann im Winter sind.» Das ist alles.
Was würden Sie an Löws Stelle sagen?
Dass man als Mannschaft unter diesen Umständen gar nicht dahin reist.
Wer getraut sich das schonim Fussball?
Es ist eben ein Konstrukt, bei dem es nur um Bereicherung geht. Trotzdem kann ich meinen
Mund aufmachen. Die Frauen haben eine Haltung gezeigt, als sie bei der WM in Kanada nicht
auf Kunstrasen spielen wollten. Fand ich ganz toll, schlimm nur, dass sie das nicht
durchgekriegt haben. Da könnten die Männer doch auch Haltung zeigen zu Katar, zu Russland.
Verlangen Sie nicht zu viel?
Ich verlange nur eine Haltung. Mehr nicht. Wieso soll Jérôme Boateng vorsichtig sein und
sagen, dass Politik ihn nichts angeht, wenn er wegen seiner Hautfarbe von der AfD angegriffen
wird? Wieso soll er nicht sagen, dass die Umfragewerte der AfD deshalb total hinuntergegangen
sind? Darüber soll er doch reden statt über irgendwelche Probleme in der Abwehr. Wie toll
würdest du als deutsche Mannschaft in der Welt dastehen! Mit einer Haltung!
266
Lohmeyer zieht es auf Beginn des Deutschland-Spiels in die Brasserie de la Mairie, seine erste
Anlaufstelle im Quartier. Die Stammgäste sind vom Leben nicht verwöhnt. Auf den Strassen
rundherum ist es laut. Die «Fête de la musique» zieht die Menschen an. In der Kneipe trifft
Lohmeyer Kollegen von der Oper wie den Tenor Michael Laurenz. Jüngst, in der mit
nordirischen Fans gefüllten Metro, hat er zu ihm gesagt: «Michael, komm, stimm was an!»
Laurenz hat aus Aida gesungen, und die Nordiren riefen begeistert: «Pavarotti! Pavarotti!»
Mario Gomez trifft zum 1:0. «Hat er wieder Glück gehabt», sagt Lohmeyer. Als Gomez eine
Chance vergibt und den Boden anklagend anschaut, ruft Lohmeyer: «Alter, schau nicht auf den
Rasen!» Er feuert auch die Nordiren an, nur gibt es nicht viel anzufeuern, weil sie kaum vors
gegnerische Tor kommen. Zwischendurch sagt er: «Euer Xhaka, der ist schon gut.» Er
verdrückt Chips zu einer Cola. Deutschland gewinnt mit einem Tor. Lohmeyer bilanziert: «So
wird man nicht Europameister.»
Chronik eines verpfuschten Familienlebens
Vier Polizisten begleiteten den Täter (Zweiter von rechts) in den Gerichtssaal. Illustration: Robert
Honegger
Der 32-Jährige, der in Zollikon seine Eltern brutal getötet hat, soll in eine stationäre Therapie.
Von Liliane Minor, TA vom DO 23. Juni 2016
Am 11. Oktober 2014 erschüttert eine blutige Tat ein beschauliches Quartier in Zollikon: Ein 30jähriger Mann tötet seine Eltern. Dabei geht er mit unglaublicher Brutalität vor. 17-mal sticht er
267
mit einem Küchenmesser auf den Vater ein, so heftig, dass die Klinge abbricht und schliesslich
im Schädel des 63-Jährigen stecken bleibt. Als die Mutter dem schreienden Vater zu Hilfe eilen
will, greift der Sohn auch sie an, mehr als 40 Stichverletzungen fügt er ihr zu; wieder bricht das
Messer, sogar mehrfach, er holt ein neues, auch das geht entzwei und bleibt irgendwann
stecken.
Der Sohn, der nun wie aus einem Wahn erwacht - jedenfalls schildert er das später der
Staatsanwältin so -, sieht entsetzt, was er angerichtet hat und versucht erst, sich die Pulsadern
aufzuschneiden, dann will er sich unter einen Zug werfen. Es fehlt ihm der Mut, letzten Endes
stellt er sich der Polizei.
Viel Streit, viel Geld
Was treibt einen jungen Mann zu einer solchen Tat? Mit dieser Frage beschäftigt sich seit
gestern das Bezirksgericht Meilen, es hat als erste Instanz über den heute 32-Jährigen zu
urteilen.
Eines wurde an der Gerichtsverhandlung schnell deutlich: Harmonisch ging es in der Familie
nie zu. Die Beziehung zwischen Eltern und Sohn ist geprägt von Übermass. Übermass an
Erwartungen des Vaters an den Sohn, der zu Beginn seiner Schulkarriere als
überdurchschnittlich intelligent gilt, aber bald zu rebellieren beginnt. Übermass an Kritik,
Beschimpfungen, Schlägen, wann immer der Sohn zu wenig lernt oder bockt. Übermass aber
auch an Fürsorge. Die Eltern räumen ihrem Wunschkind alle Steine aus dem Weg. Wann
immer der Junge in der Schule Schwierigkeiten macht, melden ihn die Eltern in einer anderen
an, seine Schulkarriere verbringt er meist in Privatschulen.
Nach der Matur soll er studieren, dreimal fängt er ein neues Fach an, dreimal bricht er ab,
dazwischen geht er auf Reisen. Die Eltern zahlen ihm alles und noch mehr. Einmal schenken sie
ihm einen Mercedes, den er zu Schrott fährt. Auch hier: Übermass. Schon mit zwölf kifft er, als
er volljährig wird, probiert er fast alles aus, was an Drogen auf dem Markt zu haben ist.
Richtig selbstständig wird er nie, lebt meist daheim, obwohl er das Leben dort als «Hölle»
empfindet. Dem Gericht erzählt er von fehlender Liebe, «ständig schrie mich der Vater an, in
den letzten Wochen auch die Mutter». Warum zog er dann nie aus? Diese Frage beantwortet er
leise, nuschelnd. Irgendwie sei er einfach zu wenig konsequent gewesen, seine Zukunftspläne
bestenfalls vage.
In den zwölf Monaten vor der Tat spitzt sich die Situation zu. Der Sohn hasst den Vater und
kommt doch nicht los von ihm. Zunehmend zeigen sich Anzeichen einer psychischen
Erkrankung. Im November 2013 wird er ein erstes Mal in eine psychiatrische Klinik
eingewiesen, zuvor hat er dem Vater auf einem Kissen ein Messer gebracht und ihn
aufgefordert, sich umzubringen. Nach dem Klinikaustritt fährt er nach Amsterdam, wird
ausgeraubt, die Mutter zahlt ihm ein Taxi nach Hause.
Immer öfter fühlen sich die Eltern bedroht von ihrem Sohn, die Mutter schaltet die Kesb ein.
Der hat dafür kein Verständnis: «Sie hat gelogen, damit sie mich so in die Klinik einweisen
kann. Sie hat immer mit mir gestritten, ich habe sie nie bedroht.» Im Juni wird der Sohn erneut
in die Psychiatrie eingewiesen. Eine Gutachterin kommt zum Schluss, dass der junge Mann an
Schizophrenie leide. Sie empfiehlt eine Unterbringung, notfalls gegen den Willen des Kranken.
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Und sie warnt: Wird die Erkrankung nicht behandelt, sind Gewalttaten möglich.
Wahrscheinlichste Opfer: die Eltern. Wahrscheinlichster Tatort: die gemeinsame Wohnung.
Freispruch oder 20 Jahre
Zwei Monate später passiert genau das, was die Gutachterin befürchtet. Nachdem der Sohn
mehrfach aus der Klinik entwichen ist, nehmen ihn die Eltern wieder auf unter der Bedingung,
dass er einen Drogenentzug mache. Sie melden ihn in einer Entzugsstation an, bis dahin darf er
die Wohnung nicht mehr verlassen, nicht einmal Schmerzmittel erhält er. Dabei leidet er an
Nackenschmerzen, seit er in einer Disco mit einem Türsteher in Streit geraten ist und dieser ihn
fast bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hat.
Den Sohn wieder aufzunehmen - erst recht unter diesen Bedingungen - erweist sich als fatal.
Zwei Woche lang können sich die drei kaum ausweichen, es wird viel geschrien, schliesslich
haut der Sohn ab, kifft, trinkt, kehrt zurück. Da platzt dem Vater der Kragen. Er packt den Sohn,
der wie so oft aus einer Diskussion davongelaufen ist, von hinten an der Schulter, vielleicht auch
um den Hals, sagt ihm, er solle verschwinden, er wolle ihn nie mehr sehen. Da nimmt der Sohn
das Messer.
Warum er zustach, das wollte er dem Gericht gestern nicht sagen. Er verweigerte alle Aussagen
zur Tötung. «Er sah sein bequemes und finanziell sorgenfreies Leben in Gefahr», so erklärte die
Staatsanwältin die Tat, die sie als Mord qualifiziert. Die psychische Erkrankung sei als Grund
nur vorgeschoben, der angebliche Griff des Vaters um den Hals eine Schutzbehauptung: «Als
der Vater ihn anfasste, sah er rot.» Sie verlangte eine Strafe von 20 Jahren, aufgeschoben
zugunsten einer stationären Massnahme. Ganz anders beurteilte der Verteidiger die Tat. Sein
Mandant habe sich bedroht gefühlt, um sein Leben gefürchtet: «Als ihn der Vater angriff, kam
ihm die Szene in der Disco wieder hoch.» Darauf habe sich die Anspannung der letzten Wochen,
ja seines ganzen Lebens, Bahn gebrochen. Er habe sein Handeln auch wegen der psychischen
Krankheit nicht mehr steuern können. Deshalb sei der Täter freizusprechen. Aber auch der
Verteidiger sprach sich für eine stationäre Massnahme aus. Die hat der Mann übrigens schon
begonnen, er befindet sich in der Psychiatrie Rheinau.
Das Urteil soll noch vor den Sommerferien gesprochen werden.
Düsenjets nach Naziplänen
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Präzisionsarbeit mit deutschen Grundlagen. Reissbretter bei Saab in Linköping in den 50er-Jahren. Foto:
Saab AB
Die schwedischen Kampfflieger wären undenkbar ohne deutsches Know-how aus dem Zweiten
Weltkrieg. Beim Technologietransfer spielte die Schweiz eine Schlüsselrolle.
Von Tobias Keller, Linköping, TA vom MI 22. Juni 2016
Die Hand des Testpiloten drückte den Schubregler durch. Der Düsenjet mit dem Namen Saab J29 Tunnan raste über die Piste und hob in den grauen schwedischen Himmel über der
Industriestadt Linköping ab. Die Angestellten und Zuschauer applaudierten. Das europaweit
erste Kampfflugzug mit den für die damalige Zeit einzigartigen Pfeilflügeln absolvierte am
1. September 1948 seinen Jungfernflug. Das war eine technische Meisterleistung und der Flug
wegweisend für die Zukunft der modernen Kampfjetkonstruktion.
Saab beschreibt den Flug später als «einer der grössten Meilensteine in der Firmengeschichte».
In dieser Firmengeschichte spielte die Schweiz mehrfach wichtige Rollen. Zuletzt, als ihre
Militärs den Saab Gripen kaufen wollten, den modernsten Nachfolger des Tunnan. Sie wurden
aber vom Volk in einer Abstimmung 2014 abrupt gebremst. Weniger bekannt ist, dass die
Schweiz schon ganz am Anfang bei der Entwicklung der schwedischen Jets eine Schlüsselrolle
hatte.
In engem Kontakt mit Grossdeutschland
Unter der Führung der Brüder Marcus und Jacob hatte die prominente Unternehmerfamilie
Wallenberg die Firma Saab 1937 gegründet. Zweck war die Herstellung von Kampfflugzeugen.
Zuerst baute man deutsche und amerikanische Modelle in Lizenz. 1940 präsentierte Saab den
ersten eigenen Entwurf. Anfang der 40er-Jahre konstatierten die Brüder ihre Zufriedenheit
über den Geschäftsgang. «Saab agierte über den Erwartungen dank der einheimischen
Aufrüstung», heisst es in einem historischen Werk über die Wallenberg-Brüder. Sie waren zu
dieser Zeit auch offizielle Unterhändler Schwedens für die Handelsbeziehungen mit
Deutschland. In den ersten vier Kriegsjahren reiste allein Jacob Wallenberg 17-mal nach Berlin.
270
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs schockierte die deutsche Luftwaffe die Alliierten mit dem
ersten einsatzfähigen düsengetriebenen Kampfjet, der Messerschmitt ME-262, von der
deutschen Propaganda als Wunderwaffe bezeichnet. Unter Hochdruck hatten die Ingenieure
und Mathematiker des Flugzeugherstellers Messerschmitt im bayrischen Augsburg versucht,
ihre Vision vom modernen Kampfflugzeug umzusetzen. Auf ihren Reissbrettern entstanden weit
fortgeschrittene Pläne für weitere Typen von technisch ambitionierten Düsen- und
Raketenflugzeugen. Fluggeräte, die ihrer Zeit weit voraus waren und von denen die alliierten
Aviatiker nur träumen konnten.
Nicht nur die Konstrukteure der wallenbergschen Flugzeugschmiede verfolgten sperberhaft die
Entwicklungen, auch die Amerikaner ahnten, was zu erbeuten war. Am 29. April 1945 nahmen
die US-Truppen das Gelände der Messerschmitt-Werke ein. Sie wurden enttäuscht. Sie fanden
lediglich einen beschädigten Prototyp einer neuen Kampfjetgeneration vor. Nach Befragungen
der Techniker mussten die Amerikaner feststellen, dass ein wichtiger Teil der Unterlagen fehlte.
Die Deutschen hatten sie kurz zuvor auf Mikrofilm gesichert und wasserdicht verpackt. Diese
Pläne für vier neue Messerschmitt-Geheimprojekte blieben verschwunden. Vorerst.
Geschmuggelte Baupläne
Während die Besatzungsmächte die zerbombte deutsche Industrie auf allfällige Kriegsbeute
abgrasten, die in der anstehenden Konfrontation mit der Sowjetunion nützlich sein könnte,
wurden deutsche Kampfjet-Projektstudien in der Schweiz bereits intensiv studiert. In ihrem
Standardwerk zu den Messerschmitt-Geheimplänen schreiben die Militärhistoriker Walter
Schick und Willy Radinger: «Auch in der neutralen Schweiz war man kurz nach Kriegsende mit
der Auswertung deutscher Forschungsberichte beschäftigt.» Detaillierte Aufzeichnungen der
vier in den Messerschmitt-Werken vermissten Geheimprojekte waren offenbar in der Schweiz
angekommen.
Schick und Radinger schreiben, die berüchtigte deutsche Sicherheitspolizei SS habe kurz vor
Kriegsende einen Messerschmitt-Angestellten verhaftet, als er versuchte, Dokumente in die
Schweiz zu schmuggeln. Nur das nahende Kriegsende habe den Mann vor der Erschiessung
bewahrt. Es muss schon vorher Versuche gegeben haben, Unterlagen in die Schweiz zu bringen.
Aber wie, wo, durch wen und an welche Adresse: Das ist unbekannt. Klar ist nur, dass diese
Geheimdaten schliesslich in Schweden landeten.
Wänströms Schweizer Reise
In einem Aufsatz aus der Zeit kurz nach dem Krieg berichtet der damalige Projektleiter des Saab
J-29 Tunnan, Saab-Chefingenieur Frid Wänström sei Ende November 1945 aus der Schweiz
zurückgekehrt. Wänström habe unter anderem «aufsehenerregende Windkanalresultate für
Pfeilflügel» im Gepäck. Tatsächlich war Frid Wänström zwischen dem 11. und dem
22. November 1945 zu Studienzwecken in die Schweiz gereist. Der «Tages-Anzeiger» hatte in
Schweden exklusiv Zugang zum bisher unter Verschluss gehaltenen Reisebericht von
Wänström. In diesem Bericht kommentiert Wänström die Ausbeute seiner Reise kurz und
trocken zwischen den hochbrisanten Flugzeug- und Aero-dynamikdaten. Die Überschrift zu den
Daten der ME-262 lautet: «Nach den schweizerischen Ausmessungen und Notizen».
Wänström hatte reiche Beute gemacht. Die Schweden erhielten von ihm die gesamten Daten
eines zwei Wochen vor Kriegsende in Dübendorf mit leeren Tanks gelandeten MesserschmittDüsenjägers: Flügelprofile, Fahrwerk, Bewaffnung, alles fein säuberlich getippt und gezeichnet.
Diese geheimen Daten von einem der modernsten Kampfflugzeuge dieser Zeit konnten nur
knapp sechs Monate in der Schweiz gehalten werden. Und nicht nur das: Die
271
Konstruktionsdaten für die Messerschmitt ME163B Komet, eine weitere, raketengetriebene
«Wunderwaffe», figurieren im Bericht unter dem Titel: «Me-163B - nach einer kurzen
deutschen Beschreibung in Schweizer Besitz». Neben den konkreten Bauplänen sind auch die
für diese Zeit führenden Forschungsergebnisse zum Verhalten von «Pfeilformen bei hohen
Fluggeschwindigkeiten» in der Schweiz an Wänström übergeben worden. Dazu kommt weiteres
Material wie «Untersuchungen an Luftschrauben mit pfeilförmig gekrümmten Blattachsen» also hochsensibles Wissen über Hochtechnologie und Aerodynamik. All diese Unterlagen
reisten in Wänströms Koffer nach Schweden. Über die Herkunft des Materials schrieb der
schwedische Ingenieur nur knapp: «Die Nachfolgenden Rapporte hat der Unterzeichnende
privat und vertraulich von einer Privatperson in der Schweiz erhalten.»
Wer war diese Privatperson? Wer hatte in dieser Zeit in der Schweiz Zugang und Verständnis
für das deutsche Aviatikwissen? Und wer hatte womöglich Kontakt nach Schweden?
Freundschaft im Windkanal
Die Spur führt zu Jakob Ackeret. Der ETH-Professor war einer der ganz wenigen Ingenieure in
der Schweiz, der die Berechnungen, Messungen und Pläne der Deutschen lesen und verstehen
konnte. Ackeret hatte von 1921 bis 1927 an der Universität Göttingen auf dem Gebiet der
Flugzeugaerodynamik mit Spezialinteresse Hochgeschwindigkeitsflug gearbeitet. Ackerets
Forschungsergebnisse flossen unter anderem in die Entwicklung der Schweizer WeltkriegsKampfflugzeuge C-36 und Morane D-3802/03 ein.
Frid Wänström muss Ackeret spätestens 1940 kennen gelernt haben. In Ackerets Nachlass
befindet sich ein Bild, das den Schweden zu dieser Zeit in einem Windkanal der ETH Zürich
zeigt. Wänström testete dort die erste Saab-Eigenkonstruktion, den zweimotorigen Bomber B18.
Darüber, ob Ackeret die Schweizer Quelle für deutsche Qualitätsmathematik war und ob er die
einzige Quelle war, kann nur spekuliert werden. Jedenfalls ist Ackeret im Bericht von
Wänström als einzige Person am Rande namentlich erwähnt. Mögliche weitere schriftliche
Unterlagen und Informationen zu dem Thema unterliegen im Schweizer Bundesarchiv einer
verlängerten Geheimhaltung.
Die Saab-Flugzeugwerke gingen mit Wänströms Unterlagen an die Arbeit. Mit dem J-29
Tunnan waren bereits im Herbst 1948 die ersten Messerschmitt-Berechnungen von den
Schweden flugfähig gemacht worden.
Die Messerschmitt-Daten reichten den Schweden als technische Grundlagen für drei
Kampfflugzeuge. Laut dem schwedischen Fachblatt «Teknikhistoria» war neben dem J-29
Tunnan auch der Jet J-32 Lansen «deutlich bei Messerschmitt angelehnt». Anfang der 50erJahre begannen Ingenieure in Linköping den J-35 Draken (Erstflug 1955) zu entwerfen. Dazu
berichtet «Teknikhistoria»: «Saabs Konstrukteure entwickelten und verbesserten das deutsche
Konzept zur Vollendung und schufen einige eigene Details.» Wahrscheinlich gehörten zu den
Beteiligten auch deutsche Ingenieure, die während des Kriegs bei Messerschmitt
Geheimprojekte vorangetrieben und dann bei Saab angeheuert hatten.
Dank den Papieren aus der neutralen Schweiz konnte das wallenbergsche Unternehmen Saab
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges insgesamt 1730 Stück dreier verschiedener
272
Kampfjettypen verkaufen. Keine schlechte Ausbeute für Wänströms Reise durch das
kriegsversehrte Europa.
Die Schweiz wälzte nach dem Krieg eigene Pläne für Militärjets aus heimischer Produktion.
1958 genehmigte das Parlament einen Kredit von 407 Millionen Franken für die Anschaffung
von hundert P16-Erdkampfflugzeugen der Flug- und Fahrzeugwerke Altenrhein. Aber drei
Wochen später stürzte der Prototyp in den Bodensee - wegen einer defekten Schweissnaht. Der
Traum vom eigenen Kampfflugzeug wurde schleunigst begraben.
Mit der späteren Evaluation des schwedischen Draken kehrte ein deutscher Entwurf, der über
Zürich nach Schweden gelangt war, in die Schweiz zurück. Der Draken unterlag dann aber in
den 60er-Jahren der französischen Mirage. 2014 scheiterten die Flugzeugbauer aus Schweden
mit dem Modell Gripen zum zweiten Mal. Aber sie geben nicht auf. Ein Saab-Sprecher bestätigt:
«Wir sind sehr daran interessiert, in der neuen Evaluation in der Schweiz mit dabei zu sein.»
USA
Die Republikanische Partei steht unter Schock. Die Trump-Kampagne liefert nichts: keine
Organisation, keine Strategie, keine Werbung, kein Geld.
Von Constantin Seibt, TA vom 22. Juni 2016
Was, wenn Donald Trump pleite ist?
Donald Trump, Präsidentschaftsbewerber der Republikaner, kennt wenig Tabus. Er sprach über
die Länge seines Donalds: «Kein Problem! Ich garantiere es!» Über seine Phobie des
Händeschüttelns: «Eine barbarische Sitte. Ich bin ein Saubere-Hände-Mann. Am gefährlichsten
sind Lehrer. Auf Lehrerpulten gibt es 17 000Keime pro Quadratinch.» Und über sein
Vermögen: «Ich habe ZEHN MILLIARDEN DOLLAR.» (Grossbuchstaben von ihm.)
Letzteres zählt mehr als alles andere. Das Magazin «Forbes» schrieb, kein Einziger von
1500Ultrareichen habe sich über seine Milliardärsliste nur annähernd so oft beschwert wie
Trump: «Ihr lasst mich arm aussehen!» Dabei habe man sein Vermögen grosszügig geschätzt:
auf 4,5 Milliarden Dollar. Während Bloomberg auf 2,9 kam.
Trump ging sogar vor Gericht, um gegen seinen Biografen zu klagen, weil dieser sein Vermögen
zu klein einschätzte. Er verlor, weil Trumps Hauptargument war, dass sein eigener Name «viele
Milliarden Dollar» wert sei.
So weit, so harmlos. Doch nun wird Trumps Vermögen zur politischen Bombe: Was, wenn
Trump in Wahrheit pleite ist?
273
Jedenfalls schockierten die neuesten Zahlen die Republikanische Partei. Die Trump-Kampagne
hat nur noch 1,3Millionen Dollar in der Kasse. Im Monat Mai sammelten sie nur 3,1 Millionen
Dollar - weniger, als Trumps Vorgänger Mitt Romneyin jeder beliebigen Woche einnahm.
Und entsprechend ärmlich sieht die Organisation aus: Trump versucht, mit einem KMU
Präsident zu werden. Bis jetzt arbeiten nur 70Leute für ihn. Die Ausgaben für TV-Spots in den
Swing-Staaten: 0Dollar. Die Ausgaben für Zeitungsinserate: 0Dollar. Die Ausgaben für
Datenspezialisten: 40 000Dollar. Die Ausgaben für Campaigner dort: der Partei überlassen.
Die höchsten Ausgaben der Trump-Kampagne (für die der Partei später Rechnung gestellt wird)
gehen an Trump selbst: 350 000Dollar für den Trump-Privatjet, 500 000Dollar an TrumpHotels. Die nächstwichtigste Investition: 200 000Dollar für Hüte. («Letztlich», kommentierte
ein Blog, «ist die Trump-Kampagne ein Huthandelsunternehmen.»)
Dagegen hat Hillary Clinton 700Leute an Bord, betreibt ein Trump-feindliches Dauerfeuer von
TV-Spots in Swing-Staaten, baut Wahlhelferzentren auf und hat 42Millionen in der Kriegskasse.
Zwar gibt es ein paar Erklärungen. Trump verlangte, man solle ihn für die «schlanke
Organisation» loben. Und dass Grossspender nichts geben, erklärte Trump so, dass er seine
Kollegen doch nicht anrufe, um um Geld zu betteln.
Die Frage, die die Republikaner schockiert, ist: Wo bleibt sein eigener Check? Denn
ursprünglich sagte Trump, seine Kampagne mit den geschätzten Kosten von 1Milliarde Dollar
selbst zu zahlen. Doch nun will er nichts mehr davon wissen. Und stellt sogar die eigenen
Spesen der Partei in Rechnung.
Noch nie war eine Präsidentschaftskampagne vier Monate vor der Wahl so miserabel
aufgestellt. Und dazu kommt die Frage: Ist der Kandidat für den mächtigsten Job der Welt ein
Hochstapler?
Das politisch Explosive daran ist, dass diese Frage erst jetzt gestellt wird. Seitenweise schreiben
die US-Zeitungen über Trumps Geschäfte: etwa über Trumps Universität, die kurz nach Trumps
Ausstieg «wegen Betrug an den Studenten» geschlossen wurde. Oder über Trumps Führung des
Atlantic-City-Casinos: Er kassierte Millionen und hinterliess den Investoren den Bankrott.
Warum kommt das erst jetzt? Immerhin hatte Trump in den Vorwahlen 16Konkurrenten gegen
sich. Doch keiner der 16 tat, was sonst alle tun: den Schmutz recherchieren. Alle warfen Trump
nur eins vor: mangelnde ideologische Reinheit - etwa, dass er für eine Krankenversicherung sei.
Doch über seine Geschäfte redete niemand.
Den plausibelsten Grund für das Schweigen lieferte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul
Krugman: Die Republikanische Partei sei innerlich tot.
Das deshalb, weil sie seit Jahren systematisch ermordet wurde: durch ihre Geldgeber. Die KochBrüder und andere Milliardäre investierten in strenge Orthodoxie. Wagte ein Republikaner, sich
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für höhere Steuern, für Banken- oder Waffenregulierung oder überhaupt für einen Kompromiss
auszusprechen, finanzierten die Milliardäre bei der nächsten Wahl einen Gegenkandidaten.
Das Resultat war von aussen gesehen zwar eine kompromisslose Kampfpartei. Doch im Inneren
verwandelten sich die Republikaner in einen Funktionärsclub: mit Politikern, deren Karriere
(wie einst im Ostblock) davon abhängt, nichts zu äussern, was der Parteilinie widerspricht. So
etwas wie Wirklichkeit spielte keine Rolle mehr.
Kein Wunder, knickte die Partei fast kampflos ein, als Trump sie angriff. Sie fiel, so Krugman,
«als ob der böse Wolf in die Strohhütte der drei kleinen Schweinchen blies».
Und nun steht ein dilettantischer Milliardär an der Spitze, der von der Partei Geld will, statt
Geld zu geben. Auch wenn die Strategen nun erstarren: Die Republikaner haben ihre Seele
gefunden.
Der Mostbröckli-König von Bogotá
Das Fleisch ist kolumbianisch, die Verarbeitung Schweizer Handwerk. Der Appenzeller Hans Koller in seiner
Metzgerei in Bogotá. Foto: Henry Siquera Barras
Der Appenzeller Hans Koller hat vor 50 Jahren in der Hauptstadt von Kolumbien seine erste
Metzgerei eröffnet. Inzwischen gehört er zu den grössten Fleischanbietern. Dabei wurde er
selber mehrmals fast geschlachtet.
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Von David Karasek, Bogotá, TA vom DI 21. Juni 2016
Als er den Kopf nach links dreht, blickt er in den Lauf eines Revolvers. Und spürt, wie sich die
Kugel durch das Fleisch seines Zeigefingers bohrt. Der Schütze steht direkt neben seinem
Wagen, die Waffe hält er ins geöffnete Fenster. Es ist warm an diesem Abend in Bogotá. Der
nächste Schuss trifft ins Schwarze. Die Kugel schlägt in seiner Stirn ein, genau dort, wo beim
Rind das Bolzenschussgerät angesetzt wird. Er sackt zusammen, doch wie eine nervöse Kuh, bei
der aufgrund ihrer Unruhe der Schuss nicht exakt platziert werden kann, verliert er das
Bewusstsein nur für Sekunden, wird wieder wach und spürt kurz darauf die dritte Kugel in
seinem Rücken. Diese schmerzt ihn «wie ein Saucheib», wie er später sagen wird. Das Blut rinnt
ihm über Gesicht und Körper. Er stellt sich tot, wie ein erlegtes Tier. Wie die nicht korrekt
sedierte Kuh kämpft auch er gegen das Geschlachtetwerden an - doch er ist stärker als das Vieh,
er überlebt. Es ist Januar 1963.
Er, das ist Hans Koller. Und mit Säuen und Kadavern kennt er sich aus. Hans Koller ist
Appenzeller, und Hans Koller ist Metzger. Seine Metzgereien betreibt er in Kolumbiens
Hauptstadt Bogotá, in die er Anfang der 60er-Jahre ausgewandert ist. Eigentlich wollte er
immer nach Australien - die Welt bereisen, fremde Kulturen kennen lernen, etwas anderes
sehen als die Appenzeller Berge. So bedurfte es nicht viel Überredungskunst, als er, damals
noch Metzgerlehrling, von einem Kollegen aus Kolumbien das Angebot bekam, dort Wurst zu
produzieren. Immerhin liegt Kolumbien auf halber Strecke zu seinem Wunschkontinent, dachte
sich der junge Schlachter. Wie abenteuerlich sich seine Auswanderung gestalten würde, sollte er
schnell bemerken. Denn die Luft ist dünn in den Bergen Kolumbiens, auf 2600 Meter Höhe.
Am 11. Juni 1961 kam er nach einem endlos erscheinenden, 27-stündigen Flug in Bogotá an. Die
KLM-Maschine kam in extreme Turbulenzen, er musste derart kotzen, dass er das Datum der
Ankunft nie vergessen wird.
Wie der Hinflug verlief auch der Start in dem so fremden Land: holprig. Ganz anders als im
beschaulichen Appenzell bestimmen in den 60er-Jahren Hektik, Strassenlärm und Kriminalität
den Alltag in Bogotá. Genau in diesen Jahren beginnt der brutale Konflikt zwischen der
Regierung und den kommunistischen Farc-Rebellen. Ihre Einnahmequellen: Erpressung,
Drogenhandel, Raub. Darum die Schüsse auf Hans Koller.
Niemand traute sich in seinen Laden
Am Rand der Stadt entstehen Elendsviertel. Sie sind bezeichnend für das Leben in Bogotá.
Wichtige Infrastrukturen in diesen Quartieren fehlen bis heute, viele Menschen leben ohne
Wasserleitungen. Die Arbeitslosigkeit ist mit den Jahren der Unruhe ständig gestiegen, sodass
die Einwohner nur wenig Geld für Nahrungsmittel ausgeben können. Wurst war zudem
unbeliebt, Fleisch musste billig sein. Präsentation, Vielfalt oder gar Exotisches wie Mostbröckli
waren weder gewohnt noch gewollt.
Der zurückhaltend wirkende Schweizer Metzger hatte zunächst einen schweren Stand bei den
Einheimischen. Er erzählt, dass sich in den ersten Jahren kaum jemand in seinen Laden traute.
Das Geschäft lief so schleppend, dass er abends das Fleisch verschenkte. Doch seine Idee von
Sauberkeit, Aufgeräumtheit und die abendlichen Gratissnacks waren es schliesslich, was die
Neugierde der Leute weckte. Stolz berichtet Koller, dessen buschige Augenbrauen beim
Sprechen geradezu tanzen und den Gesprächspartner einzuladen scheinen, seinem Takt zu
folgen, von einer Begebenheit, die ihn die Herzen der Anwohner erobern liess: Eine ältere Dame
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hielt seine ausgelegte Rinderbrust für Entrecote, und er zog sie nicht, wie bei den ortsansässigen
Metzgern laut Koller üblich, über den Tisch und jubelte ihr die Rinderbrust überteuert unter,
sondern klärte sie auf. Diese ehrliche Art, für ihn selbstverständlich, für die kolumbianische
Kundschaft neu und bewundernswert, half ihm, so ist sich der Metzger sicher, in Bogotá Fuss zu
fassen und die Menschen für sich zu gewinnen.
In all den Jahren hat er nicht nur seinen breiten Appenzeller Dialekt behalten, sondern auch ein
Appenzeller Wurstimperium in Bogotá aufgebaut. Seine fünf Metzgereien gehören zu den
grössten in Bogotá, mittlerweile arbeiten seine kolumbianische Frau und alle seine Kinder in
dem Betrieb. Dass Wurst nicht zu den Lieblingsspeisen der Kolumbianer gehörte, nahm Koller
zur Kenntnis, eingeschüchtert hat es ihn nicht. Im Gegenteil: Mit Cervelat und Mostbröckli
brachte er Spezialitäten nach Bogotá, die reichere Kundschaft anlockt.
Und immer wieder die Hygiene. Darauf legt er Wert. In Sachen Reinheit hat Koller dort neue
Massstäbe gesetzt, darauf ist er stolz. Was für Schweizer Metzger Standard ist, ist in Bogotá die
Ausnahme. Fliegen sitzen auf den Schinken und sich stapelnden Fleischklumpen. Verkauft wird
alles, was nicht wegläuft. Bei Koller hingegen durchlaufen die Mitarbeiter verschiedene
Hygieneschleusen, und die angelieferten Schweinehälften werden erneut gewaschen, bevor sie
weiterverarbeitet werden. Für kolumbianische Verhältnisse gleicht das einem Waschzwang. Als
Schweizer jedoch fühlt man sich zu Hause, die gut situierten Einwohner Bogotás wissen es zu
schätzen, und mittlerweile kaufen auch ärmere Bürger bei Koller ein. Qualität setzt sich durch,
daran hat Hans Koller immer geglaubt. «Das Fleisch ist kolumbianisch, aber alles andere ist
Schweizer Güte», schwärmt Koller. Auf seine Herkunft ist er sichtlich stolz, und so vermarktet
er sich auch - die Verpackung seiner Waren verziert eine Zeichnung seines Geburtshauses in
Appenzell. Ein Holzbauernhaus, rundherum Kühe und Edelweiss. Für den Schweizer konnte es
besser nicht laufen.
Juni 1994. Dieses Mal sind es zwei Maschinenpistolen, die auf ihn gerichtet sind. Nicht nur bei
Schweinen, auch unter Kriminellen wird das Schlachten automatisiert. Wieder ist er im Auto
unterwegs, wieder geschieht alles so schnell, dass ihm kaum Zeit zum Atmen bleibt. Er spürt
dumpfe Schläge auf Kopf und Rücken, dann wird er gefesselt, geknebelt und in einen
Kofferraum verfrachtet. Genau wie Kühe beim Transport weiss er nicht, wie ihm geschieht,
Todesangst begleitet ihn. Entführt am helllichten Tag, auf dem Weg zu seiner Farm, liegt er jetzt
zusammengepfercht im Dunkeln. Die Täter laden ihn in einem Waldstück ab, lassen ihn dort
liegen. Doch er schafft es, sich zu befreien. Er überlebt auch diesen Viehtransport, entkommt
abermals dem Tod und rettet sich ein zweites Mal vor der Schlachtbank.
Zwar kam er bei diesem Überfall ohne Narben davon, doch auch diese Attacke hinterlässt
Spuren. Insgesamt waren die 1990er-Jahre geprägt von Unruhen zwischen der Staatsgewalt
und den grossen Drogenkartellen Cali und Medellin. Die Folge waren zahlreiche, meist
unbeteiligte Opfer. Wie Koller. Sein erster Gedanke: Rückzug in die Schweiz. Und zwar sofort.
Man könnte sagen, er hatte einen Kolumbien-Koller. Doch schon nach einer Woche besann er
sich auf seine neue Heimat, seine Kinder und seine Frau. Ihm wurde klar, dass Kolumbien nun
sein Zuhause ist, und er blieb. Aber er sagt heute: «Im Herz, tief drin, bleibst du Appenzeller.
Egal ob ich hier in Bogotá lebe. Ist ja ziemlich auf Säntis-Höhe.»
Aus Narben wurden Falten
Seine Metzgerei wurde zu einem grossen Familienbetrieb. Doch mittlerweile denkt der
inzwischen 76-Jährige, der die schweren Kühltüren mit Leichtigkeit öffnet und sich täglich
persönlich vom korrekten Ablauf in der Fabrik überzeugt, über das Aufhören nach. Seine beiden
277
Töchter und sein Sohn, die sich bereits seit geraumer Zeit um Finanzen, Qualitätskontrolle und
Produktion kümmern, werden bald übernehmen, die Appenzeller Fleischproduktion in Bogotá
ist also gesichert.
Zwar ist seine Narbe auf der Stirn mit der Zeit Falten gewichen, aber die Überfälle und die
unsichere Gesamtsituation in Kolumbien sind auch an Koller nicht spurlos vorbeigezogen. Seine
Fabrik wird von Kameras und Sicherheitspersonal überwacht, in den letzten Jahren hat er
häufiger von den Schüssen geträumt, und es falle ihm zusehends schwer, darüber zu sprechen.
Zeit, sich zurückzuziehen und das Schlachtfeld der nächsten Generation zu überlassen.
Aufgeklärt wurden die Verbrechen an Koller übrigens nie - so hektisch, wie es in Bogotá zugeht,
so überlastet ist auch die Justiz in Kolumbien. Fälle wie diese kommen meist erst gar nicht vor
Gericht.
«Jeder kann der Nächste sein»
Das Verschwinden von fünf Buchhändlern aus Hongkong gab Rätsel auf. Nun macht einer der
Verschleppten China schwere Vorwürfe.
Von Kai Strittmatter, Peking, TA vom SA 19. Juni 2016
Skyline von Hong Kong.
Fünf Buchhändler, die aus der Stadt verschwinden und Monate später wieder in chinesischem
Polizeigewahrsam auftauchen. Das ist der Thriller, der Hongkong seit Ende letzten Jahres in
Atem hält. Der 61-jährige Lam Wing-kee spielte darin bislang als einfacher Angestellter nur eine
278
Nebenrolle. Doch nun hat er sich ins Zentrum des Dramas katapultiert. Mit einer
Pressekonferenz, die wie eine Bombe einschlug.
Pekings Geschichte ging bislang so: Die fünf Hongkonger seien nicht festgenommen oder gar
gekidnappt worden, sondern den chinesischen Sicherheitsbehörden freiwillig und voller Reue in
die Arme gelaufen. So hatten das die fünf auch selbst erzählt, als sie nach fast vier Monaten
spurlosen Verschwindens mit einem Mal auftauchten, in Interviews mit dem chinanahen TVSender Phoenix. Vor der Kamera «gestand» auch Lam Wing-kee, gegen chinesische Gesetze
verstossen zu haben. «Ich bin bereit, bestraft zu werden», sagte er da.
Nicht, dass irgendjemand in Hongkong das geglaubt hätte. Nur beweisen konnte das Gegenteil
keiner. Bis Lam diese Woche berichtete, wie er letzten Oktober nach Shenzhen fuhr, um seine
Freundin zu besuchen. Wie er an der Grenze festgenommen und von Sicherheitsleuten in die
Stadt Ningbo verschleppt wurde. Mit verbundenen Augen. Wie er dort fünf Monate in
Einzelhaft gesessen habe. Wie die Beamten mit ihm sein falsches «Geständnis» für die Kameras
probten: «Sie gaben mir das Drehbuch, und ich musste ihm folgen. Wenn ich davon abwich,
wurde die Szene neu gedreht.»
Am Ende, sagt Lam, liessen die Behörden ihn nach Hongkong reisen, weil sie an seine
Kooperation glaubten. Sie hätten ihn beauftragt, die Kundendaten der Buchhandlung nach
Peking zu bringen. Warum er an die Öffentlichkeit ging? Lam sagt, er habe als Einziger der fünf
keine engste Familie, also weniger zu verlieren als die anderen: «Wenn ich es nicht tue, wer
dann?» Lam Wing-kee hatte auch eine klare Botschaft für die Hongkonger: «Jeder kann der
Nächste sein.» Und eine für die Welt: «Hongkong wird sich roher Gewalt nicht beugen.»
Gastbeitrag
Der Kampf gegen Landminen und Streubomben geht weiter.
Von Petra Schroeter, TA vom SA 18. Juni 2016
Barbarische Waffen
Jeden Tag werden auf der Welt 90 Zivilisten durch Antipersonenminen, Streumunition und
andere explosive Waffen getötet oder verletzt. Weil dieses barbarische Kampfgerät in dicht
bevölkerten Gebieten eingesetzt wird, verursacht es bis zu 92 Prozent zivile Opfer, darunter
auch zahlreiche Kinder. Dabei hat der Einsatz explosiver Waffen in den letzten vier Jahren
deutlich zugenommen, obwohl einige davon durch internationale Verträge verboten sind.
Explosive Waffen werden in den meisten Konflikten auch innerhalb dicht bevölkerter Gebiete
eingesetzt, sowohl durch staatliche Streitkräfte als auch durch nicht staatliche Gruppen jüngste Beispiele dafür liefern Syrien, Gaza, Jemen oder die Ukraine. Die massive Verwendung
dieser Waffen in städtischen Gebieten zeigt, dass Armeen, Freischärler und Terrorgruppen, die
sich ihrer bedienen, den Schutz und das Leben der zivilen Bevölkerung vollständig ignorieren.
Töten, verletzen, verstümmeln
279
Der Wirkungsbereich explosiver Waffen kann von einigen Metern bis hin zu mehreren Hundert
Metern Radius um die Explosion reichen. Und da keine Waffe voll und ganz zuverlässig ist und
die Zielgenauigkeit variiert, ist das Leben von Zivilisten umso mehr in grosser Gefahr.
Wenn sie nicht töten, verursachen sie Verletzungen und Verstümmelungen, zwingen Menschen
zur Flucht, zerstören zivile Einrichtungen und behindern die humanitäre Hilfe. Ein grosser
Anteil dieser Waffen explodiert nicht sofort bei ihrem Aufprall auf dem Boden. So bleiben sie
noch lang nach einem Krieg als grosse Bedrohung liegen.
Handicap International ist eine 1982 von zwei Ärzten gegründete unabhängige Organisation.
Schon am Anfang ihrer Arbeit stand der Kampf gegen Landminen im Zentrum. 1992 gründete
Handicap International zusammen mit fünf weiteren Nichtregierungsorganisationen die
Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen, die fünf Jahre später zum OttawaVertrag führte, der von der Schweiz und 161 weiteren Ländern unterzeichnet wurde. Nicht dabei
sind unter anderen die USA, Russland, China und Indien.
Dafür erhielt die Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen 1997 den
Friedensnobelpreis. Sein Engagement setzte Handicap International anschliessend in der
Kampagne gegen Streubomben fort. 2008 mündete das in die Oslo-Konvention, die bisher von
der Schweiz und 118 weiteren Staaten anerkannt wird.
Psychologische und soziale Hilfe
Handicap International ist in 60 Ländern mit über 300 Projekten tätig. Zu den Themen gehört
die körperliche Versorgung der Opfer in Orthopädiewerkstätten und Rehabilitationszentren,
aber auch psychologische Unterstützung und Hilfe bei der sozialen Integration sowie die
organisatorische von Selbsthilfeprojekten.
Aus dieser konkreten Arbeit zieht Handicap International die Motivation, politisch und in der
Öffentlichkeitsarbeit den Einsatz explosiver Waffen weiterhin mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln zu bekämpfen. Weitere Massaker und das inakzeptable Leiden der
Bevölkerung wollen wir verhindern.
Auf der Place des Nations in Genf erinnert die zwölf Meter hohe Skulptur «Broken Chair» des
Schweizer Künstlers Daniel Berset an den Einsatz für die Opfer von Landminen und
Streumunition. Das Monument appelliert an die Verpflichtung der Staaten, ziviles Leben zu
schützen und die Opfer zu unterstützen. So symbolisiert es gleichermassen die
Schutzbedürftigkeit und die Würde der Menschen, die in Konflikten geschädigt werden. Broken
Chair soll daran erinnern, dass es möglich ist, zu handeln und Dinge zu ändern.
Petra Schroeter
Die Ethnologin mit Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit
Geschäftsführerin von Handicap International Schweiz.
ist
seit
2011
280
Die Karawane in der zerrissenen Stadt
Marseille, Schmelztiegel der Kulturen im Süden Frankreichs, erlebt die EM auf unterschiedliche
Weise.
Eine Reportage von Peter M. Birrer mit Fotos von Reto Oeschger, TA vom 17.06.16
281
Marseille, in diesen Tagen ein Ort zwischen Fussballfieber und Ohnmacht.
Der Rauch steigt hoch vom kleinen Kohlegrill, hinter dem zwei Männer stehen und pausenlos
Dutzende Merguez braten. Sie schmieren Brot um Brot, füllen es mit Zwiebeln und Tomaten,
belegen es mit der scharf gewürzten Wurst und verlangen dafür drei Euro. Das Geschäft läuft
prima im «Nouryad» beim Cours Julien, mitten in einem Quartier von Künstlern, Buchläden
und Bars in Marseille. Der Wirt hat alles, was er an Stühlen hat auftreiben können, wie in einem
Kino platziert, die Sicht auf den grossen Bildschirm ist perfekt. Die Franzosen gegen die Albaner
- die Kundschaft denkt: Pflichtaufgabe.
Etwas abseits sitzt eine junge Frau, sie trägt Kopftuch, darüber einen Haarreif mit FrankreichFähnchen, beisst in ein Sandwich und trinkt Cola. Engy El Sayed Aly, 21, praktiziert den
Ramadan und darf jetzt, da es dunkel ist, essen. Sie tut es genüsslich, erzählt, wie sie sich im
Alltag um Kinder mit Behinderungen kümmert, und sie erzählt auch, wie sie als Ägypterin ein
kleiner Teil dieses Schmelztiegels von Religionen und Kulturen einer Stadt mit 850 000
Einwohnern ist, wie sie sich mit den Franzosen identifiziert. Und als sie sieht, wie die Leute vor
dem TV die Hände zusammenschlagen, wie Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund
mitleiden, sagt sie: «Sehen Sie das? Wir leben hier alle zusammen, und diese vielen Kulturen,
die geben dieser Stadt einen Reichtum.» Bevor sie anfügt: «Marseille ohne all seine Probleme
wäre nicht Marseille.»
Marseille am Mittwoch. Der Tag beginnt oben in der Basilika Notre-Dame de la Garde, auf dem
Kirchturm thront die Madonna, die «Bonne Mère». Am Eingang pustet ein alter Mann in ein
Waldhorn, die Töne ergeben die Marseillaise. Eine Touristengruppe löst die nächste ab, und an
diesen Ort zieht es auch Fussballfans, französische wie albanische. Sie beten für den Abend.
Oder posieren gemeinsam für Fotos mit Blick auf den alten Hafen oder - auf der anderen Seite mit dem futuristischen Stade Vélodrome im Hintergrund.
Balthazar im Gefängnis
Clément Tomaszewski hat keine Zeit für einen Besuch in der Kirche, er muss Interviews geben,
ganz viele. Der 68-Jährige ist am Vorabend schon angereist und steht nun vor einem
abgesperrten Hotel in der Nähe des Parc Borély im südlichen Teil Marseilles. Der parkierte Bus
mit dem Slogan «Votre force, notre passion» ist untrügliches Indiz dafür, wer an dieser
unscheinbaren Adresse an einer viel befahrenen Strasse übernachtet hat: Frankreichs
Fussballer. Und wo sie sind, ist meistens Clément Tomaszewski, der sich selber zu einer Marke
gemacht hat - er nennt sich «Clément dAntibes», und natürlich ist sein treuster Begleiter bei
ihm: Balthazar, der Hahn, den er an eine blau-weiss-rote Leine gelegt hat.
Bis er 20 war, interessierte sich der Mann aus Antibes für Rugby, nicht für Fussball. Aber mit
dem 16. Juni 1982 änderte sich der Inhalt seines Lebens, als er mit einem Freund an die WM
nach Spanien reiste und in Bilbao ein erstes Spiel sah, Frankreich - England (1:3). Sein Geld
verdiente er, indem er in einem Spital gebrochene Arme und Beine in Gips legte, und er gab
vieles davon für die Nationalmannschaft aus. Schätzungsweise 90 000 Euro habe ihn sein
Hobby bis heute gekostet, aber dafür hat er einiges gesehen. Er besuchte 39 Länder auf vier
Kontinenten, war an sieben WM-Turnieren dabei, die EM 2016 ist bereits seine sechste. Auf
seinem Trikot führt er wie bei einem Totomaten nach, bei wie vielen Länderspielen er anwesend
war. 228 sind es, am Abend folgt das 229.
282
Clément dAntibes zeigte sich stets mit Balthazar auf der Tribüne, aber an dieser EM hat die
Uefa dem Hahn Stadionverbot erteilt. Das heisst: Er muss im Auto warten, wenn die Franzosen
spielen. «Sie haben ihn ins Gefängnis gesteckt, das gefällt ihm nicht», sagt Clément. Er selber
stand an der WM 2010 in Südafrika kurz davor, die Liebe zu den Bleus zu kündigen, weil er sich
fürchterlich über die Spieler aufgeregt und sich geschämt hatte. «Wie die sich aufgeführt
haben», sagt er, «das war ein Skandal!» Aber dann habe ihm Laurent Blanc gut zugeredet, der
Weltmeister von 1998, «also sagte ich: Okay, ich bleibe. Aber nun wird das mein letztes Turnier,
danach bin ich zu alt.»
Ein Spieler lässt sich nicht blicken, trotzdem sind massenhaft Leute da, auch Basile Boli. In
Marseille ist er spätestens seit 1993 eine Legende, als er Olympique mit seinem 1:0 gegen Milan
zum Champions-League-Sieg führte. Clément ruft: «Basile, ein Foto!» Und Boli, als TV-Experte
vor Ort, gehorcht. Clément mag Boli, aber er verehrte früher Michel Platini, «er war meine
Nummer 1». Und Zinédine Zidane bewunderte er.
Zidane ist ein Sohn der Hafenstadt im Süden, gross geworden im Norden, in einer Gegend mit
miserablem Ruf. Die Quartiers Nord sind gezeichnet von Armut und Kriminalität, von hoher
Arbeits- und Perspektivlosigkeit, und die Spuren von Zidane in La Castellane sind weitgehend
verwischt. Das Haus, in dem er mit seiner Familie lebte, ist vor kurzem abgerissen worden. Aber
er dient immer noch als Beispiel dafür, dass man mit Fussball aufsteigen und der Not entfliehen
kann.
Schimpfender Pizzaiolo
Dominique Mazza schaut aus seinem Lokal, das er vor 16 Jahren eröffnet und dem er den
Namen «Chez Doumé» gegeben hat. Vor ihm erheben sichdie gigantischen Sozialsiedlungen,
und Mazza sagt: «Verzichten Sie lieber darauf, sich dort blicken zu lassen.»
57 ist er, kurze Hosen, Trägerleibchen, gut genährt. Über mangelnde Arbeit kann er sich nicht
beklagen. In der Pizzeria des gebürtigen Sizilianers hängen Wimpel der Clubs von Siena,
Ternana und Olympique Marseille, dazu Boxhandschuhe, eine Girlande mit Frankreich-Flaggen
zieht sich quer durch den Raum. Der Arbeitsplatz des Chefs befindet sich neben dem heissen
Ofen. Der Schweiss rinnt ihm von der Stirn und der Nasenspitze. Die EM läuft, aber ist die EM
auch hier? «Neulich waren 20 Iren bei mir zu Gast», sagt Mazza, «das war toll. Aber sonst? Ist
das kein Fest.» Er schimpft über die Organisation, darüber, dass die Ausschreitungen rund um
England - Russland nicht verhindert werden konnten, «es ist ein Desaster».
An Mazza zeigt sich, wie zerrissen die Stadt, wie zerrissen die hier lebenden Menschen sind.
Mazza liebt Fussball, er könnte stundenlang schauen. Aber die Bilder vom vergangenen
Samstag, als Hooligans wüteten, haben sich eingebrannt, «da dreht sich bei mir der Magen
um». Er zeigt hinüber zu den Betonbunkern, die in den Himmel ragen: «Die da drüben, die sind
mitverantwortlich, dass es eskalierte.» Er meint die Jugendlichen, die keinen Job, dafür viel
Zeit haben, Unsinn anzustellen. Das missfällt Mazza. Und darum hat er nichts dagegen, wenn
die EM-Karawane wieder abzieht. «Wir profitieren ohnehin nicht davon», sagt er, «und wir
haben auch ohne diese Krawallbrüder genügend Theater in der Stadt.»
Arbeitslose Polizisten
Zurück im Zentrum, um die Ecke beim alten Hafen. Raymond, ein 50-jähriger Einheimischer,
schaut Russland - Slowakei in der Bar Unic, auf einem Schild am Eingang steht die Botschaft:
«Das Spiel wird direkt übertragen - und in Frieden.» Am Samstag war «Krieg», so nennt es
283
Raymond unumwunden und zuckt mit den Schultern. Nächsten Dienstag kommen die Ukrainer
und Polen nach Marseille. Raymond sagt: «Man kann nur hoffen.»
Die Strasse und Treppe hoch, weg vom ermüdenden Tourismus, eintauchen in eine Ecke der
vielen wunderbaren, legalen Graffiti. Richard Caramanolis, 58 und ehemaliger Boxer, gehört
das «Au petit Nice», auf Public Viewing für seine Gäste verzichtet er bewusst. Ihn macht es
wütend, wenn in einer Stadt der Mob wütet, aber ihn regt es auch auf, dass sich Marseille das
bieten lässt. «Vor 30 Jahren hätten die Leute hier nicht alles einfach hingenommen, sondern
sich gewehrt», sagt er, «es kommen Leute zu uns, um sich die Köpfe einzuschlagen. Und dann
höre ich oft: Der Alkohol war schuld. Ist alles Blödsinn. Das sind Barbaren! Beim Rugby wird
viel getrunken, vielleicht mehr als beim Fussball. Aber da trinken alle Fans zusammen.» Bei
Caramanolis sassen am Samstag Engländer draussen. Dann kamen Russen. «Sie hatten keinen
Anstand», sagt der Wirt, «und ich hatte keine Lust auf Unruhe. Also schloss ich.»
Es ist 18 Uhr geworden. Am Boulevard Théodore-Thurner wehen Fahnen im Wind, Frankreich
in überragender Grösse, und im TV ist die Reihe an Schweiz - Rumänien. Das 1:1 von Paris?
Eine Randnotiz. Die Leute warten auf 21 Uhr, und die Spannung steigt, obwohl Albanien nicht
die Ausstrahlung eines grossen Gegners hat. Fünf Polizisten schauen im «Nouryad» vorbei,
begrüssen den Besitzer und dessen Helfer mit Bruderküssen, dann postieren sie sich hinter den
Zuschauern. Arbeit haben sie heute keine. Ein Angestellter serviert für ein paar Minuten keine
Drinks, sondern zündet eine Fackel an, die Polizisten drehen nicht einmal den Kopf zu ihm.
Alles im grünen Bereich.
Es wird kühl, und es steht 0:0, immer noch. 0:0 gegen Albanien? Dann, die 90. Minuten, das
1:0. Und die Welt ist in bester Ordnung, erst recht, als das 2:0 fällt. Vor dem «Nouryad» bricht
riesiger Jubel aus, aus einem Radio tönen zwei Stimmen, die sich überschlagen. «Dieses
Frankreich macht Spass», schreit einer, das Fernsehen zeigt Clément dAntibes, ohne Balthazar
und trotzdem glücklich. Und Engy El Sayed Aly, die junge Ägypterin, ist stolz. Stolz auf
Frankreich.
Der berüchtigte Sportminister
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Beschwichtigen, erklären, attackieren: Funktionär Witali Mutko beherrscht ein breites Rollenrepertoire.
Foto: Alexander Zemlianichenko (Keystone)
Witali Mutko ist das politische Gesicht des russischen Sports. Schliesst heute der internationale
Leichtathletik-Verband die Russen von Olympia aus, droht auch sein Fall.
Ein Porträt von Christian Brüngger, TA vom FR 17. Juni 2016
Wenn Witali Leontjewitsch Mutko mit kritischen Fragen konfrontiert wird, verengen sich seine
kleinen Augen zu Schlitzen, presst er die Lippen zusammen. Dann hat er so gar nichts mehr von
jenem jovialen Politiker und Gesprächspartner, der er in entspannteren Situationen sein kann.
In den vergangenen Monaten hielt sich der Spass des russischen Sportministers in engen
Grenzen. Seit 2015 prasselt eine Dopingmeldung nach der anderen über ihn und sein Land
herein, vor neun Tagen wurde er von der ARD gar bezichtigt, eine positive Dopingprobe
vertuscht zu haben. Und am letzten Samstag an der Fussball-EM feuerte er die eigenen
Hooligans nach dem Spiel gegen England im Stadion mit Jubelgesten an.
Über mangelndes Interesse an seiner Person kann sich der 57-Jährige darum nicht beschweren.
In den vielen Monaten unter Beobachtung hat er sein feuriges Temperament manchmal ein
wenig zu zügeln gelernt, was nicht bedeutet, dass Mutko die leisen Töne lieben gelernt hätte. Als
ein renommiertes Expertentrio der Welt-Anti-Doping-Agentur im Herbst 2015 nach langen
Recherchen zum Schluss kam, dass in der russischen Leichtathletik systematisch gedopt werde
und Mutko «davon unmöglich nichts habe mitbekommen können», nannte er den Bericht
«ohne Basis» und «erdichtet». Die beiden Whistleblower, welche den Skandal erst aufdeckten,
nennt er bis heute «Verräter», und er bezichtigte den Internationalen Leichtathletik-Verband,
über 150 positive Proben vertuscht zu haben.
Der deutsche Lieblingsfeind
Wenn Mutko bzw. der russische Sport also hart kritisiert wird, stellt er sich wie ein
beschützender Vater vor seine Familie. In erster Linie sind seine Propagandaauftritte eine
Rückversicherung ans eigene Volk: Wir lassen uns von den bösen Westlern nicht einfach
herumschubsen, besagen sie. Und: «Die Erfindungen» sind ganz einfach eine «konzertierte
Verschwörung der Gegner», die Russland den sportlichen Erfolg «neiden». Zu seinem innigsten
Feind hat er den Journalisten Hajo Seppelt erkoren. Der Deutsche legte mithilfe der beiden
Whistleblower fast im Alleingang die Verfehlungen des russischen Sports offen. Im
Selbstverständnis von Mutko will Seppelt schlicht seinen Abgang, aus persönlichen Motiven.
Andere Gründe kann Mutko für die Recherchen von Seppelt nicht erkennen.
Der Journalist aber ist für Mutko eigentlich ein peripheres Problem. Als Sportminister hat er
sich mit zwei weitaus substanzielleren Themen zu beschäftigen: wie er der Suspendierung der
russischen Leichtathleten von allen internationalen Wettkämpfen und damit dem drohenden
Ausschluss von den Olympischen Spielen begegnen kann - und wie er die ebenfalls suspendierte
eigene Anti-Doping-Agentur wieder zum Funktionieren bringt. In beiden Fällen hat er das
Personal ausgewechselt, doch diese kosmetischen Retuschen reichen nicht aus, den AusschlussGAU zu verhindern.
Heute entscheidet der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) über das Schicksal der
Russen und damit indirekt auch über die Karriere von Witali Mutko. Fallen seine
Leichtathleten, wird er wohl auch um sein politisches Über-leben kämpfen müssen. Mit einer
Charmeoffensive hat Mutko zum Wochenbeginn reagiert und der IAAF in einem Brief seine
285
Sicht dargelegt. Sein Kernargument: Ja, einzelne russische Athleten hätten betrogen und
gehörten gesperrt, die vielen ehrlichen russischen Leichtathleten allerdings mittels Ausschluss
mitzubestrafen, sei unstatthaft. Zumal in Russland die Zahl an Gedopten kein bisschen höher
sei als bei anderen Nationen. Überdies habe sein Land alle Vorgaben der IAAF erfüllt und mit
deren Taskforce reibungslos zusammengearbeitet. Für Mutko ist darum klar: Man kann die
russischen Leichtathleten unmöglich von Rio ausschliessen.
Fast zur gleichen Zeit publizierte die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) ein Dokument, in dem
sie detailliert auflistete, wie quer sich der russische Sport im Anti-Doping-Kampf weiterhin
stellt (siehe Box). Von einem tiefgreifenden Wandel kann die Wada nichts erkennen.
Fairerweise muss man Mutko zugutehalten, dass er eine Kultur des Betrügens, die sich über
viele Jahrzehnte in die Köpfe der Sportler, Trainer und Funktionäre zu fressen schien, nicht in
wenigen Monaten tilgen kann.
Ob Mutko allerdings die richtige Person ist, diese Mentalität abzustellen, darf aufgrund seiner
Biografie bezweifelt werden. Aufgewachsen in Krasnodar ganz im Westen des Landes, studierte
er in St. Petersburg (damals Leningrad) und avancierte in den 1990er-Jahren zu einem der
Vizepräsidenten der Stadt. Ein anderer Vizepräsident von St. Petersburg hiess damals Wladimir
Putin, ein weiterer Mitarbeiter Dmitri Medwedew. Mutko zählt mittlerweile zu den engen
Vertrauten von Präsident Putin, der zu den Sportproblemen im Land lange schwieg, ehe er
hartes Durchgreifen von seinem Sportminister forderte.
Es war allerdings Medwedew, Russlands Präsident von 2008 bis 2012, der Mutko öffentlich
blossstellte. Erst seit kurzer Zeit im Amt, waren die Olympischen Winterspiele von 2010 Mutkos
erster Grossanlass. Trotz vieler Staatsmillionen fiel die russische Delegation durch. Bloss drei
Titel brachte sie heim. Eine von Medwedew angeordnete parlamentarische Untersuchung
brachte zum Vorschein, dass Mutko 97 Frühstücke im Wert von 4500 Dollar abrechnen liess für seinen 20-tägigen Aufenthalt. 32 000 Dollar betrugen seine Hotelkosten. Statt Mutko
musste jedoch der Präsidentdes Nationalen Olympischen Komitees zurücktreten. Das
Bauernopfer genügte.
Ein Herz für den Fussball
Ohnehin schlägt das Sportherz von Mutko mehr für den Fussball als für den olympischen Sport.
1995 bis 2003 präsidierte er Zenit St. Petersburg und machte ihn zum Spitzenclub - auch dank
Mauscheleien, wie seine Kritiker behaupten. 2005 bis 2009 führte er den russischen
Fussballverband, ehe er im selben Jahr in die Exekutive der Fifa gelangte und ab 2015 erneut an
die Spitze des nationalen Fussballverbandes. In seiner Funktion als Multisportfunktionär war er
auch der Vorsitzende der erfolgreichen russischen Fussball-WM-Kandidatur für 2018. Weil sein
Englisch sehr bescheiden ist, fiel in jener Zeit primär der polyglotte OK-Chef Alexei Sorokin auf.
Aus Jux schenkte Putin seinem Freund Mutko zu dessen letztem Geburtstag darum ein
Englisch-Wörterbuch.
Zum fleissigen Sprachstudenten aber hat sich Witali Mutko in den turbulenten vergangenen
Arbeitsmonaten nicht entwickeln können. Angriffe pariert er darum weiterhin in russischer
Sprache, mit zusammengekniffenen Augen und gepressten Lippen.
Wir lassen uns von den bösen Westlern nicht herumschubsen, insinuieren seine öffentlichen
Auftritte.
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Welt-Anti-Doping-Agentur Grosse Zweifel an Russlands Reformwillen
Heute entscheidet der Weltleichtathletik-Verband IAAF in Wien, ob er die russischen
Leichtathleten von den Olympischen Spielen in Rio ausschliesst. Primäre Basis für die
Entscheidung werden die Ergebnisse einer IAAF-Taskforce sein, welche den Funktionären ab 9
Uhr präsentiert werden. Die Equipe um den norwegischen Anti-Doping-Spezialisten Rune
Andersen hatte in den letzten Monaten als Bindeglied zwischen IAAF und Russland fungiert
und die vom Verband vorgebrachten Änderungen überwacht. Kurz vor dem fundamentalen
Entscheid hat nun die Welt-Anti-Doping-Agentur ein 23-seitiges Dokument publiziert, in dem
es Russland hart kritisiert und dem Land abspricht, sich im Dopingkampf glaubwürdig
reformieren zu wollen.
Weil die nationale russische Anti-Doping-Agentur zurzeit suspendiert ist, testet die britsche
Behörde in Russland. Allerdings konnte sie gemäss Wada zwischen Februar und Mai 736
geplante Dopingkontrollen nicht durchführen. Die Gründe: Die Athleten waren nicht
anzutreffen, verweigerten die Tests, die Kontrolleure erhielten keinen Einlass (etwa in
Militärkasernen), wurden vom Geheimdienst eingeschüchtert, von Trainern lange hingehalten
oder fanden unbrauchbare Arbeitsbedingungen vor. Zöllner hätten zudem Kontrollen vor der
Ausfuhr zerstört. Wer den Wada-Bericht liest, kann nur zu einem Schluss kommen: Die
russischen Leichtathleten werden die Spiele in Rio bloss als Zuschauer miterleben. (cb)
«Wir befinden uns im Krieg»
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Nicolas Sarkozy verspricht Visionen, Leadership und Leidenschaft. Foto: Nicolas Reitzaum (Dukas)
Nicolas Sarkozy, von 2007 bis 2012 Präsident von Frankreich, drängt zurück an die Macht. Er
sieht sich als Retter Europas in Krisenzeiten - und fordert Härte gegen Terrorismus und eine
gestraffte Führung der EU.
Mit Nicolas Sarkozy sprach Martina Meister, TA vom FR 17. Juni 2016
Nicolas Sarkozy empfängt im zehnten Stock des Sitzes seiner Partei Les Républicains im Süden
von Paris. Auf dem Weg dorthin muss die Grossdemo gegen die Reform des Sozialgesetzes
durchquert werden, die den Boulevard de Montparnasse in ein Schlachtfeld verwandelt: Steine
und Metallstangen werden auf Polizisten geworfen, Wasserwerfer kommen zum Einsatz, das
Kinderkrankenhaus Necker muss von Sondereinsatzkräften geschützt werden. Es fühlt sich an
wie Bürgerkrieg. Im selben Krankenhaus wird der kleine Junge behandelt, dessen Eltern in
Magnanville bei Paris vor seinen Augen von einem Terroristen bestialisch ermordet wurden.
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Frankreich ist in einer Krise. Sie ist sozial, sie ist wirtschaftlich und sie ist auch politisch. Kein
Hoffnungsträger ist in Sicht für die Wahlen im Mai 2017, der das Profil hat, diese Probleme zu
lösen. Bei den Republikanern treten im November zwölf Kandidaten zu den Vorwahlen an,
darunter auch Sarkozys früherer Redenschreiber und Alter Ego Henri Guaino. Sarkozy selbst
hat sich noch nicht als Kandidat erklärt, positioniert sich aber als Retter der Nation, ja als
Retter Europas.
Was haben die Attentate in Orlando und Magnanville bei Ihnen ausgelöst?
Beide Ereignisse zeigen, dass wir uns im Krieg befinden. Es ist ein äusserer Krieg, den wir gegen
den Islamischen Staat und al-Qaida führen, aber auch ein innerer Krieg gegen unsere eigenen
Landsleute, die dem radikalen Islam anhängen. Wenn man den Feind besiegen will, muss man
ihn benennen: Unser Feind ist der Jihadismus und der radikale Islam, die sich gegenseitig
befruchten. Wir können nicht akzeptieren, wie der radikale Islam die Frauen behandelt, wie er
Homosexuelle verfolgt. All das ist eine Schande.
Was heisst das ganz konkret, Krieg zu führen?
Die Bedrohung hat nicht mehr denselben Charakter, nicht mehr dieselbe Dimension und auch
nicht mehr dieselbe Bedeutung. In den vergangenen zwei Jahren sind die letzten Tabus
gefallen: In Frankreich ist ein Firmenchef geköpft, eine Zeitungsredaktion vernichtet, Besucher
von Konzerten und Caféterrassen sind mit Maschinengewehren niedergemetzelt worden. Nun
wurde ein Polizist bei sich zu Hause ermordet. Aber wir, die westlichen Demokratien, haben
immer noch nicht das Ausmass dieser neuen Bedrohung begriffen.
Was schlagen Sie vor?
Vier Massnahmen könnte man sofort umsetzen. Erstens: Alle Islamisten müssen in
Isolationshaft. Zweitens müssen wir innerhalb der Gefängnisse einen Geheimdienst aufbauen.
Nicht nur die Zellen müssen abgehört werden, es muss auch infiltrierte Agenten geben, genauso
wie in den radikalen Moscheen und Gruppen. Drittens: Jeder Ausländer und jeder Franzose,
der die doppelte Staatsbürgerschaft hat und mit einer terroristischen Vereinigung in
Verbindung steht, muss sofort ausgewiesen werden. Wozu haben wir denn den
Ausnahmezustand? Wir haben nicht die Mittel, sämtliche 11 500 Personen, die als gefährlich
registriert sind, rund um die Uhr zu überwachen. Alle, die in den letzten Jahren zur Tat
geschritten sind, waren den Geheimdiensten bekannt. Ich verlange, dass das Prinzip der
Vorsorge, das ich bei Sexualdelikten durchgesetzt habe, genauso für die Sicherheit gilt.
Und was wollen Sie mit denen machen, die Sie nicht ausweisen können, die
Franzosen sind?
Ich verlange, dass sie unter Hausarrest gestellt werden und eine elektronische Fussfessel
bekommen, damit man weiss, wo sie sich aufhalten.
Fehlt noch der letzte, der vierte Punkt . . .
Für solche, die wegen Terrorismus verurteilt worden sind, fordere ich seit eineinhalb Jahren die
Einrichtung von Deradikalisierungszentren. Das Gefängnis ist die Strafe für die Horrortaten,
die sie begangen haben. Aber man darf sie danach nicht in die freie Natur lassen, ohne dass sie
den Beweis dafür erbracht haben, keine Bedrohung mehr zu sein.
Gilt das auch für diejenigen, die aus Syrien zurückkehren?
Wir wollen keine Jihadisten, die zurückkehren, ganz gleich ob sie Ausländer sind oder die
doppelte Staatsbürgerschaft haben. Ist es ein Franzose, der zurückkehrt, dann muss er für seine
Verbrechen ins Gefängnis. Danach muss er deradikalisiert werden, bevor er wieder raus darf.
Welche Lösung sehen Sie für Syrien?
Alle, die mir vorgeworfen haben, in Libyen interveniert zu haben, sehen am Beispiel Syrien, was
passiert wäre, wenn wir es nicht getan hätten. Mit dem IS, al-Qaida, immer noch Bashar alAssad an der Macht und einer geschwächten Opposition ist uns in Syrien der Grand Slam
gelungen! Man kann endlos darüber streiten, ob man im Irak, in Kuwait oder in Afghanistan
intervenieren darf. Aber nicht über Syrien. Syrien ist in unmittelbarer Nachbarschaft, es gehört
zum Mittelmeergebiet.
Sind Bodentruppen nötig?
289
Natürlich. Es braucht am Ende immer Bodentruppen, die abschliessen, was die Luftkräfte
erreicht haben. Es können aber in keinem Fall europäische Truppen sein. Wir dürfen nicht eine
Wiederauflage eines Krieges von Orient gegen Okzident riskieren. Es braucht arabische
Bodentruppen, aber vor allem und zuallererst politische Initiativen.
Solange in Syrien Krieg ist, werden wir die Einwanderung bewältigen müssen . . .
Was die Einwanderungspolitik betrifft, müssen wir vor allem eine Sache regeln: Die Hotspots
müssen an den Südküsten des Mittelmeeres aufgebaut werden, damit die Asylanträge bearbeitet
werden können, bevor die Menschen das Mittelmeer überqueren. Sie sollten von Europa
finanziert, aber in den Ländern eingerichtet werden, die den Druck der Einwanderung abfangen
müssen, also in Libyen, Tunesien, Marokko und in der Türkei.
Ist es falsch, in Italien und Griechenland weitere Hotspots einzurichten?
Diese beiden Länder sind in einer extrem schwierigen Lage. Aber es entbehrt jeder Logik, dass
die Flüchtlinge das Meer überqueren und ihr Leben riskieren müssen, um dann möglicherweise
aus Italien oder Griechenland wieder abgeschoben zu werden.
Die Flüchtlingskrise hat Europa in eine politische Krise gestürzt. Was tun?
Das Problem Europas und das Problem der Welt ist die Abwesenheit von Leadership. In Syrien,
in der Ukraine, während der Finanzkrise - wer hat da nach Lösungen gesucht? Schengen liegt
seit zwei Jahren am Boden, und es gibt keinen ernst zu nehmenden Vorschlag. Der einzige
Vorschlag, die Quotenlösung, ist zum Heulen. Als könnte man das Problem von 1,3 Milliarden
Afrikanern und Millionen von Syrern mit Quoten lösen. Wie auch immer die Entscheidung der
Briten in Sachen Brexit ausgeht: Wir brauchen einen neuen europäischen Vertrag.
Wie müsste der aussehen?
Es müsste ein «Schengen II» geben, das ich seit Jahren fordere. Im Zentrum müsste eine EuroSchengen-Gruppe stehen, das sich aus den Innenministern zusammensetzt mit einem
Präsidenten, der für Frontex verantwortlich wäre. Es liegt doch auf der Hand, dass nicht einer
der 28 Kommissare die Einwanderungspolitik Europas regeln kann.
Wie die Eurogruppe der Finanzminister?
Ganz genau. Übrigens: Als ich das vorgeschlagen habe, wollte es niemand. Inzwischen sind alle
davon überzeugt. Es braucht eben eine Vision, es braucht Leadership, wenn man vorankommen
will.
Lange Zeit hat das deutsch-französische Paar die Rolle dieses Motors gespielt. Ist
die deutsch-französische Freundschaft am Ende?
Ich weiss eines: Das deutsch-französische Paar ist für Europa unabdingbar. Wir dürfen uns in
Frankreich nicht zu Polemiken mit Deutschland hinreissen lassen, nicht zu alten
Erbfeindschaften, die von Ludwig XIV. bis 1945 alle 30 Jahre einen Krieg zwischen unseren
Nationen ausgelöst haben. Weise Staatsmänner haben für Versöhnung gesorgt. Es ist schon
verrückt: Wenn es ein deutsch-französisches Paar gibt, ärgern sich alle anderen. Wenn es keins
gibt, geraten sie in Panik.
Woran liegts, dass wir uns entfernt haben?
Niemals hätte ich akzeptiert, dass Angela Merkel allein mit Recep Tayyip Erdogan verhandelt.
Das war ein schreckliches Symbol für Europa.
Das war nicht Merkels Schuld . . .
290
Dass Frankreich an diesen Verhandlungen nicht teilgenommen hat, liegt ganz allein an Franois
Hollande. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was Deutschland macht, aber niemals
werden Sie erleben, dass ich Deutschland öffentlich kritisiere. Denn gerade wenn es
Streitigkeiten gibt, muss man miteinander sprechen, Kompromisse finden und gemeinsame
Leadership aufbauen.
Was würde ein Brexit jetzt bedeuten?
Einen doppelten Schiffbruch. Europa würde seine zweitgrösste Wirtschaftsmacht verlieren. Das
ist ein Problem. Für unsere britischen Freunde wäre es eine Katastrophe. Umso mehr, als dann
sehr schnell die Zentrifugalkräfte in Aktion treten würden. Sehr schnell würde die Frage nach
der Unabhängigkeit Schottlands auf den Tisch kommen.
Sie rechnen mit dem Auseinanderfallen Grossbritanniens?
Diese Kräfte wirken überall in Europa, nicht nur in Grossbritannien.
Was ist die richtige Antwort darauf?
Der drohende Brexit hätte eine Gelegenheit sein müssen, Veränderungen in Europa
voranzutreiben. Einige der britischen Forderungen sind vollkommen gerechtfertigt. Der neue
europäische Vertrag, den ich vorschlage, würde Raum für zwei Europas lassen. Ein Europa des
Euro und ein Europa der 28. Ersteres, so wie ich es mir vorstelle, müsste einen Finanzchef
haben, müsste einen europäischen Währungsfonds gründen und eine Regierung bilden, die
mehr Integration, mehr Solidarität und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gewährleisten
würde.
Hat die Türkei einen Platz in diesem Europa?
Nein. Ich sage ganz klar: Die Türkei ist nicht dazu berufen, Mitglied der Europäischen Union zu
werden. Die Türkei steht ja nicht einmal auf der Liste der sicheren Länder beim Kampf gegen
illegale Einwanderung, und wir reden über die Möglichkeit, dass 80 Millionen Türken ein
Visum bekommen. Das ist der reine Wahnsinn!
Treibende Kräfte in Europa kommen derzeit aus der rechtspopulistischen oder
linksextremen Ecke, AfD in Deutschland, Podemos in Spanien . . .
Europa fehlt es an neuen Ideen. Es braucht Visionen. Man muss sich wieder für Europa
begeistern und für Europa auch etwas riskieren. Wir wollten dieses Europa, damit unsere
Zivilisation überlebt.
Sind Sie derjenige, der Frankreich und Europa retten wird?
Sie stellen die Frage in einer Weise, dass es lächerlich wäre, mit Ja zu antworten. Wenn ich Nein
sagen würde, klänge das heuchlerisch.
Haben Sie den Ehrgeiz?
Ehrgeiz, das war vorher. Inzwischen ist es Leidenschaft. In naher Zukunft geht es darum, die
politische Autorität in Frankreich und Europa wiederherzustellen. Es wird kein harmonisches
Zusammenleben geben ohne eine Autorität, die dafür sorgt, dass die Regeln dieses
Zusammenlebens respektiert werden.
291
Ein Priester als Schöpfer der Urknalltheorie
«Ihre Physik ist scheusslich!»: So beendete Einstein das erste Gespräch mit Lemaître (hier ein späteres
Treffen 1933). Foto: akg-images
Georges Lemaître folgerte als Erster, dass das Universum aus einem Punkt entstanden sein
muss. Er kämpfte fast bis zu seinem Tod vor 50 Jahren um Anerkennung für das neue Weltbild
- auch gegen Albert Einstein.
Thomas Bührke
Die Urknalltheorie markiert die bislang letzte grosse Revolution in unserem kosmischen
Weltbild. Sie brauchte Jahrzehnte, um sich endgültig durchzusetzen. An dem Ringen und den
teils sehr heftigen Diskussionen über die Vorstellung von der Entstehung des Universums
waren damalige Grössen wie Albert Einstein und Edwin Hubble beteiligt. Doch als Vater der
Urknalltheorie gilt der weniger bekannte belgische Mathematiker und Abt Georges Lemaître.
Sein Todestag jährt sich am 20.Juni zum fünfzigsten Mal.
Die Umwälzung begann im November 1915, als Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie bei
der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin einreichte. Darin erklärte er
die Schwerkraft auf völlig neue Art und Weise. Demnach ist sie gar keine auf unerklärliche
292
Weise wirkende Kraft, sondern eine Eigenschaft des Raumes. Jede Form von Materie,
insbesondere Sterne und Planeten, verbiegt den Raum in ihrer Umgebung. Alle Körper und
auch Licht werden dadurch auf krumme Bahnen gezwungen: Der Mond umkreist die Sonne,
weil er der Raumkrümmung der Erde folgt.
Kurz nach Veröffentlichung der Einstein-Gleichungen versuchten einige Mathematiker damit
die Krümmung des Universums zu berechnen. 1917 stiess der holländische Mathematiker
Willem de Sitter dabei auf eine seltsame Lösung, in der das All sich ausdehnte. Einstein lehnte
diese Vorstellung ab und plädierte für ein Universum, das wie die Oberfläche einer Kugel
gekrümmt ist. Ein solches Universum konnte aber nur möglich sein, wenn man in die EinsteinGleichungen eine Zahl einfügte, kosmologische Konstante genannt. Sie steht für eine
hypothetische Kraft, deren Existenz und Grösse sich einzig durch astronomische
Beobachtungen ermitteln lassen.
Forschung und Glauben
In den 20er-Jahren fand der russische Mathematiker Alexander Friedmann heraus, dass
Einsteins «Kugeluniversum» extrem unwahrscheinlich ist. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der
Raum sich ausdehnt oder zusammenzieht. Er fand sogar Lösungen, in denen das Universum
periodische Expansions- und Kontraktionszyklen durchläuft. Daraufhin kam es zu einem
heissen Disput mit Einstein, der Friedmann Rechenfehler unterstellte. Am Schluss musste
Einstein zugeben, dass Friedmanns Lösungen formal korrekt waren, aber am statischen
Universum hielt er trotzdem fest. Friedmann konnte diese Auseinandersetzung nicht weiter
fortsetzen, er starb ein Jahr später. Erst Lemaître sollte den Fehdehandschuh wieder
aufnehmen.
Georges Lemaître kam am 17.Juli 1894 in Charleroi, inmitten des belgischen Kohlereviers, zur
Welt. Nach dem Studium von Mathematik und Ingenieurwissenschaften ging er an die
Universität von Louvain (Löwen) und promovierte dort in Mathematik. Gleichzeitig studierte er
Theologie und wurde 1923 Priester. Als Geistlicher in einem kirchlichen Amt arbeitete er jedoch
nie. Er legte auch grossen Wert darauf, Forschung und Glaubensfragen streng voneinander zu
trennen.
Während seines Priesterseminars hatte er sich mit der Allgemeinen Relativitätstheorie
beschäftigt. Ähnlich wie Friedmann, dessen Arbeiten er wohl nicht kannte, suchte er nach
allgemein möglichen Lösungen für das Universum. Im Jahr 1925 stiess er dabei auf Lösungen
der Einstein-Gleichungen, in denen sich das Universum ausdehnt. Die Veröffentlichung in
einem unbedeutenden Journal nahm jedoch kaum jemand zur Kenntnis.
Von der Richtigkeit seiner Ergebnisse fest überzeugt, suchte Lemaître den direkten Kontakt mit
Einstein. Im Jahre 1927 gelang es ihm endlich, am Rande eines Kongresses in Brüssel mit der
Berühmtheit für kurze Zeit zu diskutieren. Dieses in Wissenschaftskreisen legendäre Gespräch
hat Lemaître in seinen Memoiren festgehalten. Wie schon in der Affäre Friedmann akzeptierte
Einstein Lemaîtres Ergebnisse in mathematischer Hinsicht, fand sie aber vom
weltanschaulichen Standpunkt aus unannehmbar: «Ihre Berechnungen sind richtig, aber Ihre
Physik ist scheusslich!», beendete Einstein das Gespräch. Lemaître hatte den Eindruck, dass
Einstein in der aktuellen astronomischen Forschung nur schlecht Bescheid wusste. Die aber
sollte wenig später den Ausschlag geben.
293
Bereits 1924 hatten Astronomen Anzeichen dafür gefunden, dass sich viele Galaxien von
unserer Milchstrasse entfernen. Die Datenlage war aber schlecht, und erst Edwin Hubble gelang
1929 der Durchbruch. In einer der bedeutendsten astronomischen Arbeiten des
20.Jahrhunderts bewies Hubble, dass sich tatsächlich alle Galaxien bis auf wenige Ausnahmen
von uns entfernen und diese Fluchtgeschwindigkeit mit zunehmender Entfernung der Galaxien
anwächst.
Lemaître und einigen Kollegen war sofort klar, dass sich Hubbles Beobachtung der
Galaxienflucht als sichtbares Indiz für ein expandierendes Universum interpretieren liess: Der
Raum dehnt sich aus und reisst die Galaxien mit, die sich so beständig voneinander entfernen.
Einsteins «grösste Eselei»
Lemaître publizierte 1928 seine Ergebnisse in einem französischsprachigen Periodikum seiner
Universität, das international keinerlei Beachtung fand. Drei Jahre später brachte dann eine
britische Fachzeitschrift die Arbeit in englischer Übersetzung heraus, was Lemaître endlich
bekannt machte. Er ging in seiner Interpretation sogar noch weiter und kam zu dem Schluss:
Wenn sich das Universum heute ausdehnt, muss es vor Jahrmilliarden in einem Punkt
begonnen haben, an einem «Tag ohne gestern», wie man gerne sagt. Am 9.Mai 1931 erschien in
der Zeitschrift «Nature» ein kurzer Artikel, in dem er schrieb: «Wir könnten uns den Beginn
des Universums in Form eines einzigen Atoms vorstellen, dessen Atomgewicht der
Gesamtmasse des Universums entspricht.» Diese Arbeit gilt heute als Geburt der
Urknalltheorie. Nun war die Beweislast erdrückend, Einstein verwarf seine kosmologische
Konstante. Später soll er diese Tat als seine «grösste Eselei» bezeichnet haben.
Lemaîtres Urknalltheorie wurde bei weitem nicht von allen Kosmologen anerkannt. Erst die
Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung im Jahr 1965 brachte den Durchbruch.
Dieses am gesamten Himmel nachweisbare Strahlungsfeld ist eine Art Nachhall des Urknalls,
der eine Fülle von Informationen über den Anfang der Welt enthält. Für diese Entdeckung
sowie für deren detaillierte Untersuchung mit dem Weltraumteleskop Cosmic Background
Explorer (Cobe) wurden zwei Physik-Nobelpreise vergeben - Georges Lemaître selber erhielt
diese Auszeichnung nie. Im Jahr 1965 erlitt er einen Herzinfarkt. Noch ans Krankenbett brachte
ihm ein Freund die Ausgabe des Fachmagazins «Astrophysical Journal», in dem die
Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung bekannt gegeben wurde. Am 20.Juni 1966
starb Lemaître in Louvain. Sein Name lebt weiter in den Friedmann-Lemaître-Gleichungen, die
ein expandierendes Universum beschreiben.
Lemaître hatte den Eindruck, dass Einstein in der astronomischen Forschung nur schlecht
Bescheid wusste.
Die verschiedenen Leben des Omar Mateen
294
Am Freitag war Omar Mateen noch hier: Muslime beten am Montag in der Moschee von Fort Pierce. Foto:
Sam Hodgson (Redux, Laif)
War er selbst schwul, ein Islamist oder einfach nur labil? Während man rätselt, was den
Attentäter von Orlando motivierte,wächst in weiten Teilen der USA eine muslimfeindliche
Stimmung. Angefacht wird diese von Donald Trump.
Von Sacha Batthyany, Orlando, und Nicolas Richter, Washington, TA vom 15.06.2016
Das Islamische Zentrum von Fort Pierce, einer verschlafenen Küstenstadt an Floridas Ostküste,
liegt an einer der Hauptstrassen des Ortes. Der Schütze von Orlando, Omar Mateen, erschien
am Freitagabend noch zum Gebet, sagt Bedar Bakht, ein Pakistaner, der seit Jahren hier lebt.
«Ich kannte Omar schon als Kind, als er mit seinem Vater zu uns kam.» In den vergangenen
Monaten sei Omar oft mit seinem dreijährigen Sohn zum Gebet erschienen. «Er war sehr ruhig,
höflich und zurückgezogen», so Bakht (51), der früher ein Fast-Food-Lokal führte und heute in
der Moschee als Koch arbeitet. «Omar war einer, der immer nur schwieg. Es war kein Zeichen
von Radikalisierung zu erkennen.»
Mateen war nicht der einzige Attentäter, der diese Moschee besuchte, ein unscheinbares
Gebäude, in dessen Nachbarschaft sich eine Methodistenkirche befindet und ein
heruntergekommener Beautysalon. Ein Teenager namens Moner Mohammad Abusalha ging
hier vor Jahren ebenfalls ein und aus, erinnert sich Bakht. Abusalha war 22 Jahre alt, als er
Ende Mai 2014 in Syrien einen Lastwagen mit Sprengstoff in ein Restaurant fuhr und 37
Menschen in den Tod riss.
Die beiden Attentäter Abusalha und Mateen kannten sich, «so wie sich Teenager eben kennen»,
sagen die anderen Muslime aus Fort Pierce, die an diesem Abend die Moschee besuchen. «Aber
das macht uns nicht zu einer radikalen Zelle, wie einige Medien behaupten», sagt Bedar Bakht.
«Wir sind nur eine kleine, friedfertige Gemeinde.»
Der Imam fühlt sich bedroht
295
Es sei «reiner Zufall», dass die beiden aus derselben Stadt stammten, sagt Wilfredo Ruiz, der
Sprecher der Moschee in Fort Pierce. Mateen, der am Sonntag in Orlando 49 Menschen
erschoss, sei ein «verstörter junger Mann» gewesen, «er war psychisch krank, homophob und
leider bis an die Zähne bewaffnet».
Rund 300 muslimische Familien leben in Fort Pierce. Mit der Bevölkerung gab es in der
Vergangenheit kaum Probleme. Einmal, kurz nach den Terroranschlägen auf die Twin Towers
in New York 2001, habe jemand einen Stein in ein Fenster geworfen. «Mal fiel vielleicht das
eine oder andere Schimpfwort», sagt Bakht, der Koch. «Seit Sonntag aber herrscht hier blanke
Wut.» Es vergehen keine fünf Minuten, ohne dass ein Auto vorbeifährt und hupt, manche
strecken ihren Mittelfinger hoch, andere schreien «Muslims go home!» oder «Fuck Islam!» Der
Imam Syed Rahman, ein Arzt, der unweit von seiner Moschee eine Praxis führt und in der Stadt
von vielen geschätzt wird, erhielt am Telefon mehrere Morddrohungen. Noch seien all die
Journalisten hier, sagt Bakht, die das Gebäude seit Sonntag belagern, «was aber, wenn ihr alle
weiterzieht?» Natürlich fühle er sich bedroht, und er habe Angst, es könnte ihm etwas
passieren. «Aber das hält mich nicht davon ab, zum Gebet zu erscheinen.»
Nach dem Anschlag auf den Nachtclub Pulse in Orlando wächst nicht nur in Fort Pierce,
sondern in weiten Teilen der USA eine muslimfeindliche Stimmung. Zwar ist das Massaker, das
Omar Mateen angerichtet hat, noch längst nicht aufgeklärt, und sein zentrales Motiv liegt noch
im Ungefähren. Aber etliche weisse, christliche Amerikaner richten ihren Zorn offensichtlich
schon jetzt gegen Muslime. Angefacht werden ihr Hass und ihre Vorurteile durch Donald
Trump, den designierten republikanischen Kandidaten für die Präsidentschaft. Er verlangt
harte Einreisebeschränkungen für Muslime und unterstellt US-Präsident Barack Obama sogar,
gemeinsame Sache mit den Islamisten zu machen.
Es besteht inzwischen kein Zweifel mehr daran, dass Mateen vom radikalen Islam und von
Gewalt fasziniert war. In der Tatnacht bekannte er sich zur Terrorgruppe Islamischer Staat. Die
Bundespolizei FBI hat mehrmals gegen ihn ermittelt, zuerst 2013, nachdem er im Gespräch mit
Kollegen den Wunsch geäussert hatte, als Märtyrer zu sterben. Mateen erklärte den Ermittlern,
die Kollegen hätten sich über seinen Glauben lustig gemacht, und er habe sie bloss erschrecken
wollen. Die Hinweise reichten jedenfalls nicht, um eine längerfristige Beobachtung zu
rechtfertigen. Ein Jahr später wurde Mateen auch zu seiner Verbindung zum
Selbstmordattentäter Abu-salha befragt, den er aus der Moschee in Fort Pierce kannte. Der
Kontakt, so stellte das FBI damals fest, soll aber nicht sehr eng gewesen sein.
Warum Mateen aber am Ende einen Club angriff, der als Treffpunkt für Homosexuelle galt, ist
unklar. War er schlicht ein labiler Mensch, wie ihn Weggefährten beschreiben, oder trieb ihn
tatsächlich eine radikale Ideologie? War er ein Schwulenhasser, oder war er selbst schwul? Ein
Zeuge berichtet, er habe Mateen über eine Dating-App für Schwule kennen gelernt und ihn
mehrmals im Pulse gesehen. Ein früherer Klassenkamerad erzählt, er habe mit Mateen
Schwulenbars besucht, und Mateen habe eine Beziehung mit ihm anfangen wollen. Mateen, der
in den USA geborene Sohn afghanischer Einwanderer, lebte zuletzt offenbar mit einer Frau
zusammen und hatte einen Sohn. Seine erste Ehe mit einer Frau scheiterte in wenigen
Monaten, weil er sie misshandelte.
Trump bezog am Montag in einem Interview auch US-Präsident Obama in seine
muslimfeindlichen Tiraden ein. «Wir werden angeführt von einem Mann, der entweder nicht
hart ist oder nicht klug oder der irgendwelche anderen Gedanken hat», sagte Trump; dies
wurde weitgehend als Unterstellung verstanden, der Präsident mache gemeinsame Sache mit
296
Islamisten. Trump hat in der Vergangenheit oft infrage gestellt, ob Obama überhaupt
Amerikaner ist, und er hat ihm über Twitter immer wieder vorgeworfen, der
Muslimbruderschaft nahezustehen. Einmal schrieb Trump, Obama «liebt den radikalen Islam».
Das Schwein lebt nun im Garten
Ibrahim Hooper, Sprecher des Rats für amerikanisch-islamische Beziehungen, nannte Trumps
Rede «echt verstörend»; sie sei darauf angelegt, «eine religiöse Minderheit zu stigmatisieren
und zu verteufeln». «Donald Trump hat das Klima in unserer Stadt vergiftet», sagen Jennifer
und Michael Parsons, Nachbarn der Moschee in Fort Pierce. Ganz entspannt sitzen sie in ihren
Liegestühlen, trinken Bier und schauen rüber zu den Muslimen auf der anderen Strassenseite,
die gerade das Abendgebet beendet haben. «In nur einem Jahr ist es ihm gelungen, die
Menschen gegen Muslime aufzuhetzen. Man muss sich nur vorstellen, wie er unser Land
spaltet, sollte er dereinst im Weissen Haus sitzen.»
Jeder Zweite in Fort Pierce sei heute offen muslimfeindlich, so schätzen sie und zählen die
hupenden und fluchenden Autofahrer, die an der Moschee vorbeirasen. Dabei sei Herr Rahman,
der Imam, ein wunderbarer Mensch und ein guter Arzt, sagt Jennifer Pierce, die an Brustkrebs
erkrankte. «Ohne ihn wäre ich nicht mehr am Leben.»
Als Donald Trump vor ein paar Monaten forderte, Muslimen die Einreise zu verbieten, habe ein
Unbekannter ein lebendiges Schwein vor der Moschee ausgesetzt, erzählen die beiden. Der
Imam hätte es ihnen vorbeigebracht, weil er nicht wusste, was er damit machen solle. «Das
Schwein lebt nun bei uns im Garten. Gemeinsam mit unseren Hunden und Katzen. Die sind so
unterschiedlich, aber sie verstehen sich prächtig.»
Muslime bleiben eine kleine Minderheit
Eine US-Studie zeigt, dass die muslimische Bevölkerung weltweit wächst, aber in Europa viel
weniger stark, als Islamkritiker vorhersagen.
Von Hugo Stamm, TA vom MI 15. Juni 2016
Die Zahl der Muslime in der Schweiz wird bis 2050 weit weniger stark ansteigen, als
Schätzungen bisher vermuten liessen. Machen sie aktuell 4,9 Prozent der Bevölkerung aus,
werden es in 34 Jahren 7,6 Prozent sein, wie das US-Forschungsinstitut Pew errechnet hat. Die
Ergebnisse der Studie «Zukunft der Weltreligionen» wurden am Montag von Alan Cooperman,
Direktor des Pew Reserch Centers, im Gottlieb-Duttweiler- Institut in Rüschlikon vorgestellt.
SVP-Exponenten haben wiederholt prognostiziert, dass die Gemeinschaft der Muslime in der
Schweiz rasend schnell wachsen wird und bis 2050 allenfalls die Hälfte der Bevölkerung
ausmachen könnte. Die weltweite Studie des renommierten Instituts Pew relativiert diese
Prognosen stark. Demnach wächst die Zahl der Muslime bei uns bis 2050 lediglich um
2,7 Prozent der Bevölkerung.
Die Untersuchung berücksichtigte nicht nur die demografische Entwicklung (Geburtenrate,
steigende Lebenserwartung und Religionswechsel), sondern auch die Migration. Diese hat laut
297
Studie einen weniger grossen Einfluss, als allgemein vermutet wird. Allerdings kann die
Untersuchung kurzfristige politische Ereignisse, die eine Fluchtwelle auslösen, nicht
berücksichtigen.
Starke Zunahme Religionsloser
Die Vergleichszahlen zeigen, dass die muslimische Bevölkerung im übrigen Europa schneller
wachsen wird als in der Schweiz. Pew-Direktor Cooperman sagte: «Ich sehe keine Überflutung
Europas durch den Islam. Die muslimische Gemeinschaft wird bis 2050 lediglich auf
10 Prozent steigen und in keinem europäischen Land eine Mehrheit erreichen.» Auch die Zahl
der Religionslosen werde steigen, und zwar noch stärker als die der Muslime, nämlich von heute
21 auf 28 Prozent (2050), so Cooperman.
Weltweit betrachtet wird der Islam hingegen die einzige Religion sein, die prozentual schneller
wächst als die Weltbevölkerung. Dies hat zur Folge, dass die Muslime die Christen in Zukunft
zahlenmässig überflügeln werden. Heute sind 31,4 Prozent der Weltbevölkerung Christen,
23,2 Prozent gehören dem Islam an. 2070 werden beide Religionsgemeinschaften gleich gross
sein (32,2 Prozent), 2100 werden die Muslime die Christen um 1,1 Prozent überflügeln und die
grösste Glaubensgemeinschaft bilden.
Die Zahl der Christen wächst parallel zur Weltbevölkerung, nämlich um 35 Prozent, die Zahl
der Muslime hingegen um 73 Prozent. Somit weist nur der Islam ein reales Wachstum auf. In
absoluten Zahlen: Die Zahl der Christen wächst von 2010 bis 2050 von 2,17 auf 2,92 Milliarden,
diejenige der Muslime von 1,6 auf 2,76 Milliarden. Der Hinduismus als drittgrösste
Religionsgemeinschaft wächst von 1 auf 1,38 Milliarden.
Cooperman wartete an der Tagung in Rüschlikon mit einer weiteren Überraschung auf: «Die
Welt wird insgesamt immer religiöser», sagte er. Zwar nehme in westlichen Ländern die
Säkularisierungstendenz weiter zu, doch in den rasch wachsenden Schwellenländern spiele der
Glaube weiter eine wichtige Rolle.
Europas Christentum schrumpft
In Europa hingegen wird die Zahl der Christen ungebremst sinken und zwar von 553 Millionen
(2010) auf 454 Millionen (2050). Machen sie heute rund drei Viertel der Bevölkerung aus,
werden es bis 2050 nur noch zwei Drittel sein. Die meisten Europäer, die aus der Kirche
austreten, werden religionslos, weshalb diese Gruppe auf 23 Prozent anwachsen wird. Die
10 Prozent Muslime bleiben also eine kleine Minderheit.
Die stärkste Säkularisierung wird Frankreich erleben. Sind die Christen heute mit 63 Prozent
die grösste Glaubensgemeinschaft, werden sie die Mehrheit bis 2050 an die Religionslosen
verlieren, die dann 44,1 Prozent der Bevölkerung ausmachen werden. Trotzdem müssen sich
die christlichen Kirchen keine Sorgen machen: Die Verluste in Europa werden durch die
demografische Entwicklung in Zentralamerika, Südamerika und im südlichen Afrika
wettgemacht. In diesen Weltgegenden bleibt auch die Volksfrömmigkeit intakt.
Meist ist nackte Gier der Antrieb»
298
Bundesrichter Niklaus Oberholzer befasst sich seit fast 40 Jahren mit Verbrechern. Er sagt:
Betrüger und Betrogene sind oft seelenverwandt.
Mit Niklaus Oberholzer sprach Mario Stäuble, TA vom MI 15. Juni 2016
Sind Sie schon einmal auf einen Betrüger hereingefallen?
Ja. Es war Fussball-WM, und ich war im Einkaufscenter unterwegs. Der Mann war Brasilianer,
und er fragte mich, ob ich ihm hundert Franken ausleihen könne. Er habe kein Portemonnaie
dabei, würde mir dann das Geld zu Hause vorbeibringen - zusammen mit einer brasilianischen
Fahne. Ich dachte mir schon: Diese Geschichte klingt zu gut.
Trotzdem wollten Sie dem Mann offensichtlich glauben. Warum?
Ich habe viele Erfahrungen mit Betrügern gesammelt, als ich in St. Gallen als Anwalt gearbeitet
habe. Diese Leute sind menschlich faszinierend. Ein Dieb, der nachts in ein Haus einsteigt,
muss niemand um den Finger wickeln. Aber ein Betrüger muss das Opfer dazu bringen, dass es
ihm sein Geld freiwillig in die Hand drückt. Dazu muss er Charme und Charisma ausstrahlen,
seinem Gegenüber etwas vorgaukeln können. Erst aus dem Zusammenspiel von Täter und
Opfer kann ein Betrug entstehen.
Glauben Betrüger die Geschichten, die sie ihren Opfern auftischen?
Normalerweise gehen die Täter nicht hin und sagen: So, jetzt ziehe ich den Leuten das Geld aus
der Tasche. Viel häufiger ist, dass die Betrüger ein gestörtes Verhältnis zur Realität haben. Sie
überschätzen sich selbst, mischen vielleicht noch Verschwörungstheorien bei. Im Stile von: Die
bösen Banken streichen fette Gewinne ein,
jetzt werde ich das auch den Normalsterblichen ermöglichen.
Der Betrüger als Robin Hood?
Genau. Am Anfang scheint es oft sogar zu funktionieren. Aber dann kommt das erste Scheitern und das Stopfen der Löcher beginnt. Ganz ähnlich wie beim Spieler im Casino: Er verliert, also
erhöht er den Einsatz, um den Verlust zu decken. Im Glauben, er könne das verlorene Geld
zurückholen.
Die Geprellten sind oft weder dumm noch naiv. Unter den 2000 Geschädigten im
Fall Behring sind auch Unternehmer und Banker.
Zu konkreten Fällen werde ich mich nicht äussern. Allgemein gesagt: Meist ist nackte Gier der
Antrieb.
Opfer und Täter sind sich also gar nicht so unähnlich?
Man sieht nicht selten eine gewisse Verwandtschaft. Der eine skizziert eine unglaublich
attraktive Chance, und genau diese Gelegenheit reizt den anderen. Beide sind auf der Suche
nach dem schnellen Gewinn. Wenn Sie für Ihr Geld hundertprozentige Sicherheit wollen, dann
können Sie es auf ein Sparkonto einzahlen, und dafür bekommen Sie 0,05Prozent Zins. Aber
vielen genügt das eben nicht.
Wie viele der Opfer melden sich?
Wir beobachten häufig, dass die Geschädigten gar keine Anzeige stellen, weil sie nicht
offenlegen können, woher ihre Ersparnisse kamen. Als ich noch Staatsanwalt war, habe ich
einmal im Portemonnaie einer Betrügerin einen Zettel gefunden - darauf stand, wem sie wie viel
aus der Tasche gezogen hatte. Darunter war auch ein Herr, der 1,2 Millionen Franken verloren
hatte. Als ich ihn befragte, sagte er: «Ich habe dieser Frau nie Geld gegeben.» Später, als er
mein Büro verliess, raunte er mir noch zu: «Meinen Sie, ich will diese 1,2 Millionen nachträglich
auch noch versteuern? Weg ist das Geld sowieso.»
299
Weshalb muss der Staat solche Opfer überhaupt schützen? Man könnte ja auch
sagen: Sie sind selber schuld!
Es gibt Betrüger, die gezielt Schwache ausnutzen, die zum Beispiel in Altersheimen auf
Beutefang gehen. Solchen Geschädigten muss man natürlich helfen. Und dann gibt es einen
zweiten Schutzbereich: die Lauterkeit der Wirtschaft, das Vertrauen darauf, dass in der
Geschäftswelt grundsätzlich alles mit rechten Dingen zugeht. Hier gilt: Strafe muss sein. Aber
die Frage stellt sich natürlich: Wie sollen Ermittler mit den Geschädigten umgehen?
Wieso ist das so schwierig, wo liegt das Problem?
Ich bin jetzt seit bald 40Jahren in diesem Metier. Unser Gesetz ist ausgerichtet auf
übersichtliche Fälle, auf den Mörder, der ein Opfer erschiesst, auf den Betrüger, der drei
Grossmüttern das Geld aus der Tasche zieht. Heute sehen wir aber Betrugsfälle mit Tausenden
von Geschädigten. Die Regeln sind immer jedoch für alle Fälle dieselben.
Was sind die Folgen?
Verzögerungen. Die Ermittlungen leiden extrem unter der Verpflichtung der Behörden, all diese
Geschädigten in das Verfahren hineinzunehmen. Heute gilt: Der Staatsanwalt muss jeden
Geschädigten anschreiben und ihn einladen, seine Rechte wahrzunehmen. Da kommen auch
jene Leute mit rein, die gar nicht aktiv Strafanzeige gestellt haben, die einfach in den
beschlagnahmten Akten aufgetaucht sind. Die werden dann Teil der ganzen Übung: Sie müssen
informiert werden, wenn Einvernahmen stattfinden, sie haben das Recht, Beweisanträge zu
stellen. Das ist ein riesiger administrativer Aufwand. Ich habe in St. Gallen einen Fall mit 1400
Geschädigten erlebt. Nur schon der Briefversand war ein Albtraum. Da kamen fünf Prozent der
Couverts zurück mit dem Vermerk «Adresse geändert».
Wenn ein Täter erst nach einem Jahrzehnt verurteilt wird, nimmt das niemand
mehr ernst.
Meiner Meinung nach ist hier die Politik gefragt. Wenn der Staat seinen Strafanspruch in
Grossfällen mit Tausenden Geprellten durchsetzen will, müsste man die Geschädigten aus dem
Strafverfahren ausschliessen.
Das müssen Sie näher erklären.
Bis in die 80er-Jahre waren die Opfer im Strafrecht aus Sicht der Behörden nicht mehr als ein
lästiges Beiwerk. Das änderte sich aber mit dem Opferhilfegesetz. Man hat begonnen,
Geschädigten mehr und mehr Rechte einzuräumen. Dabei dachte man vor allem an die Opfer
von Gewalt- oder Sexualdelikten.
Und jetzt merkt man, dass dies nicht in jedem Fall sinnvoll ist?
Ja. Eigentlich geht es hier ja um gescheiterte Verträge: Der Betrüger verspricht etwas, und das
Opfer erhofft sich eine Rendite, die nie eintrifft. Wenn der Betrug aufgeflogen ist, will der
Betrogene möglichst viel Geld zurück. Dafür gibt es aber bereits ein Mittel: das Betreibungsund Konkursrecht. Damit können die Geprellten ihr Geld zurückfordern. Man würde sie besser
von Anfang an auf diesen Weg verweisen, statt die Strafermittlungen mit den Geschädigten zu
überfrachten.
Dazu müsste man allerdings das Gesetz ändern.
Eine ausgefeilte Lösung habe ich nicht bereit. Aber mir scheint die Zeit gekommen, dass sich die
Politik damit befasst. Ich hoffe, dass im Gefolge des Behring-Prozesses - unabhängig von dessen
Ausgang - eine Diskussion in Gang kommt.
Gibt es weitere Ideen, wie sich verhindern lässt, dass die Justiz zehn Jahre lang
mit einem einzelnen Fall ringt?
In der Schweiz gilt der Grundsatz, dass der Staatsanwalt alles untersuchen muss, wovon er
erfährt. Aber ist das immer richtig? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Man hat in einem Fall genug
Beweise beisammen, um einen Täter für vier Jahre ins Gefängnis zu bringen. Ist es nun
300
sinnvoll, nochmals so viel Zeit zu investieren, nur damit am Ende viereinhalb Jahre
herausschauen? Es gäbe anderes zu tun. Es laufen genügend Kriminelle frei herum.
Sollten Staatsanwälte mit Betrügern Deals schliessen können - im Sinn von
Geständnis gegen milde Strafe?
Das gibt es bereits heute unter dem Titel «abgekürztes Verfahren». Nur: Heute müssen alle
Geschädigten mit einem solchen Deal einverstanden sein - und Sie können sich vorstellen, dass
sich bei hundert Betroffenen immer einer findet, der damit nicht einverstanden ist. Man hatte
in der Schweiz nicht den Mut, die Geschädigten in solchen Fällen auszuschliessen. Auch das
sollte man diskutieren.
Kurz: Staatsanwälte sollen pragmatischer entscheiden.
Mein Appell geht in erster Linie an die Politik. Wir sollten wegkommen von der Verpflichtung,
alles verfolgen zu lassen, was noch irgendwie mit einem Fall zusammenhängt. Die Ermittler soll
sich auf den Kern der Sache konzentrieren. Wenn Fälle über zehn Jahre dauern, leidet das
Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz.
Letzte Frage: Hängt bei Ihnen heute eine brasilianische Fahne zu Hause?
Ich habe weder eine Fahne erhalten noch die hundert Franken wiedergesehen.
Gefahren eines Zeckenstichs, TA vom 13. Juni 2016
Borreliose und FSME
Zecken tragen oft Krankheitserreger in sich: Rund ein Drittel trägt Borrelien in sich, die
Bakterien, die für die Infektionskrankheit Lyme Borreliose verantwortlich sind. Insgesamt liegt
die Wahrscheinlichkeit, nach einem Zeckenstich daran zu erkranken bei rund 3 Prozent. Das
heisst, dass «nur» bei einem Zehntel der Stiche mit Borreliose-Bakterien infizierter Zecken sich
auch die Krankheit manifestiert. Der Krankheitsverlauf ist unterschiedlich. Nach rötlichen
Hautirritationen rund um den Einstich (tritt nur bei rund einem Drittel der BorrelioseErkrankungen auf) folgen meist Kopfschmerzen und Grippesymptome. Ohne
Antibiotikabehandlung muss mit gravierenden, langjährigen Folgen gerechnet werden, denn die
Borrelien können Hirn, Nervensystem und Gelenke befallen. Bei der Borreliose gilt: Entfernt
man die Zecke innerhalb der ersten 24 Stunden, so ist das Risiko einer Ansteckung sehr gering.
Ebenso gefürchtet ist die von Zecken übertragene, aber viel seltenere FrühsommerMeningoenzephalitis (FSME), gegen die man sich impfen kann. Nur etwa ein Prozent der
Zecken ist infiziert. Die FSME-Viren werden beim Stich der Zecke sofort über den Speichel
übertragen, ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden bekannten Zeckenkrankheiten.
Im Gegensatz zur Borreliose ist die FSME medizinisch nicht heilbar und kann bei schwerem
Verlauf tödlich enden. Die Borreliose dagegen ist heilbar und deshalb das kleinere Übel. (do)
Mit Geld können US-Strafgefangene fast alle
Annehmlichkeiten kaufen
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Freies Bad im Swimmingpool: Ein US-Sträfling mit Fussfessel testet die Wassertemperatur. Foto: Andy
Cross («The Denver Post»)
Die knappen Budgets im Strafvollzug privilegieren vermögende und prominente Sträflinge. Sie
verbringen ihren Arrest in Privatwohnungen und heuern ihr eigenes Wachpersonal an.
Von Walter Niederberger, San Francisco, TA vom MO 13. Juni 2016
Der Fall rund um den 32-jährigen Unternehmer Reza Zarrab wirft einmal mehr die Frage auf,
wie gerecht der Strafvollzug ist. Die USA werfen dem iranisch-türkischen Doppelbürger vor,
Wirtschaftssanktionen gegen den Iran umgangen zu haben. Doch der Verdächtige bestreitet
nicht nur seine Schuld, er weigert sich auch, die U-Haft mit anderen Kriminellen zu teilen. Er
bietet eine Kaution von 50 Millionen Dollar, damit er die Haft in einer Mietwohnung in
Manhattan absitzen kann. Zudem will er eigenes Wachpersonal einstellen. Anwälte für eine
gerechte Justiz weisen die Praxis als unvereinbar mit einem fairen Rechtsvollzug zurück.
Die Akte Zarrab ist besonders pikant. Er steht unter dem Verdacht, der Kompagnon des
iranischen Ölmagnaten Babak Zanjani zu sein; diesem droht in seiner Heimat die Todesstrafe
wegen Betrugs in Höhe von bis zu vier Milliarden Dollar. Zarrab hält angeblich den grössten
Teil der Vermögenswerte von Zanjani. Er soll sich in die USA abgesetzt haben, um selber der
Strafverfolgung zu entgehen, weil mit dem Iran kein Auslieferungsabkommen besteht.
Machtwort von Preet Bharara
Zarrab wurde im März dieses Jahres bei der Einreise mit Frau und fünfjähriger Tochter in
Miami verhaftet und in New York wegen Umgehung der US-Wirtschaftssanktionen gegen den
Iran angeklagt. Sein Anwalt Benjamin Brafman griff ein und legte dem Gericht ein Angebot vor:
Zarrab wolle eine Kaution von 50 Millionen Dollar hinterlegen, davon 10 Millionen in bar. Er
wolle eine Wohnung für seinen Hausarrest mieten, eigenes Wachpersonal einstellen und eine
GPS-Fussfessel tragen. Anwalt Brafman versicherte, sein Klient sei ein guter Vater und
grosszügiger Wohltäter und werde nicht fliehen.
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Der New Yorker Generalstaatsanwalt Preet Bharara widersetzte sich diesen Forderungen. Die
Beweislage sei so erdrückend, dass eine Entlassung gegen eine Kaution und private U-Haft
nicht infrage kämen. Zudem habe der Angeschuldigte die Ermittler bezüglich seiner
Vermögensverhältnisse und seiner Reisepläne belogen. Der Vorschlag sei nichts anderes, so
Bharara, als «mit dem immensen Vermögen das Fluchtrisiko zu verschleiern und eine Fassade
von Sicherheit vorzutäuschen, die nur den reichen Angeklagten zur Verfügung steht».
Es wäre aber nicht das erste Mal, dass einem vermögenden Straffälligen in den USA eine
Sonderbehandlung gewährt würde. Der Milliardenschwindler Bernie Madoff und der wegen
einer Vergewaltigung verhaftete frühere Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique
Strauss-Kahn, konnten die Untersuchungshaft ebenfalls zu Hause absitzen. Das gleiche Privileg
geniesst derzeit der chinesische Milliardär Ng Lap Seng, der sich wegen Betrugs und
Geldwäscherei verantworten muss.
Die gehäuften Fälle zeigten, dass der Strafvollzug einer Zweiklassengesellschaft gleiche,
kritisieren die Anwälte des Brennan Center for Justice, einer Organisation, die zum Ziel hat, die
Masseninhaftierung in den USA zu beseitigen und faire Bedingungen für alle Gefangenen zu
schaffen. Denn wer keine Kaution in Millionenhöhe leisten kann, muss die U-Haft in
gefährlichen, überfüllten und vergammelten Zellen absitzen. Er wartet mehrere Woche,
teilweise mehr als ein Jahr, bis der Fall verhandelt wird. «Reiche erkaufen sich nicht nur gutes
Essen und eine schöne Wohnung», sagt eine Sprecherin von Correctional System, einer privaten
Gefängnisfirma. «Sie sind nicht den Risiken der Bandenkriminalität ausgesetzt.»
Warum die Richter den Begehren ei-ner privaten Haft nachgeben, obwohl sie skeptisch sind,
erläuterte Richter Jed Rakoff in einem Urteil aus dem Jahr 2009. «Dies ist zwar ein schwerer
Mangel unseres Systems», schrieb Rakoff. «Dennoch gibt es keinen Grund, jemandem ein
Recht zu verweigern, wenn er nachweisen kann, dass keine Fluchtgefahr besteht.» Der Richter
unterstrich diesen Punkt, indem er in seinem Fall dem privaten Wachpersonal erlaubte,
«angemessene Gewalt» anzuwenden, sollte der Verdächtige fliehen.
«Was für eine schreckliche Idee»
Ein wesentlicher Grund für die Bevorzugung vermögender Täter sind ausserdem die knappen
Budgets im Strafvollzug. An der Westküste gibt es deshalb eine andere Version des
Gefangenenprivilegs. 16 Städte in Kalifornien offerieren seit einigen Jahren ein «Pay to Stay»Modell: Die Verurteilten zahlen eine Tagespauschale und dürfen dafür die Haft in einer
Sonderabteilung des Gefängnisses verbringen. Sie können tagsüber auswärts arbeiten, dürfen
Privatbesuche empfangen, eigenes Essen zubereiten oder anliefern lassen.
In Pasadena etwa kosten solche Pauschalgefängnisferien 143 Dollar pro Tag. In Fullerton kostet
es 127 Dollar pro Nacht, wenn ein Gefangener sein eigenes TV-Gerät, sein Telefon und einen
eigenen Kühlschrank haben will. Die Zelle werde meist nicht geschlossen, wird versichert. 2014
machten in Glendale 268 Gefangene Gebrauch von einem solchen Angebot und steuerten
63 000 Dollar zum Gefängnisbudget bei. «Was für eine schreckliche Idee», kommentierte Peter
Eliasberg, Rechtsexperte der Amerikanischen Bürgerrechtsunion. «Dies ist ein Schlag ins
Gesicht des Konzepts einer gerechten Justiz für alle.»
Vince Neil, Sänger der HardrockGruppe Mötley Crüe, ist gleicher Meinung. Er verursachte in
angetrunkenem Zustand einen Autounfall, bei dem ein Mitfahrer getötet wurde. Sein
Prominentenstatus verhalf ihm zu einer minimalen Strafe von 30 Tagen Haft in einem «Pay to
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Stay»-Gefängnis. «Ich hätte es verdient, ins Gefängnis zu kommen», sagte er später. «Aber ich
bezahlte 2,5 Millionen Dollar und konnte dann 30 Tage vergnügt mein Bier trinken und Sex
haben. Das ist doch verrückt. Das ist die Macht des Geldes.»
Tradition des Betrugs
Jahrhundertbetrüger Bernie Madoff (rechts), verhaftet 2008, wurde sechs Monate später bereits verurteilt.
Foto: Shannon Stapleton (Reuters)
Warum brauchte es 12 Jahre bis zum Behring-Prozess? Warum ist der Anlegerschutz so
schwach? Warum empfehlen sich Trickbetrüger die Schweiz?
Von Constantin Seibt, TA vom SA 12. Juni 2016
Die Schweiz ist das Land des Handschlags, der Wertarbeit, der schnell und höflich arbeitenden
Beamten. Und die Schweiz ist das Land, das sich Betrüger im Netz als gelobtes Land empfehlen.
Ein Vergleich: Im Dezember 2008 stürzte das Imperium des Börsenstars Bernie Madoff
zusammen. Die Behörden stellten fest, dass Madoffs Investmentfirma ein klassisches
Schneeballsystem war: Sie hatte alte Kunden mit dem Geld von neuen ausbezahlt. Mit
gigantischem Schaden: 4400 betroffene Kunden, 65 Milliarden Dollar. Im Juni 2009, sechs
Monate nach der Verhaftung, wurde Madoff zu 150 Jahren Gefängnis verurteilt.
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Dagegen: Im Oktober 2004 stürzte das Imperium des Börsenstars Dieter Behring zusammen.
Die Behörden stellten fest, dass Behrings Firmen ein Schneeballsystem bildeten: Alte Kunden
wurden mit dem Geld von neuen gefüttert. Der Schaden: 800 Millionen Franken. Jetzt, zwölf
Jahre später, kommt es zum Prozess.
Leute mit Schwarzgeld: Ideale Beute
In den USA sechs Monate, in der Schweiz zwölf Jahre: Warum der Unterschied? Es gibt
mindestens zwei: 1. Behring ist nicht geständig. 2. Der Fall ging an die neue, völlig unerfahrene
Bundesanwaltschaft. Und dort ertrank der erste Staatsanwalt in seinem Fall: 2000 Geschädigte
plus komplexes Firmengeflecht. Er ermittelte in alle Richtungen, nur nicht in die
entscheidende: ob Behring persönlich Gelder verschob. Deshalb scheint ein Freispruch nicht
unmöglich.
Doch untypisch ist Behrings Fall nicht. Wirtschaftsprozesse brauchen unendlich lange. Ein
Mann begeht Taten, für die ein Opa vor Gericht steht. Selbst in einfachen Fällen: Bis zum Urteil
gegen einen Direktor der Bank Leumi, der seine Bank um 100 Millionen Franken geschädigt
hatte, dauerte es fast 10 Jahre: obwohl der Mann bei der Verhaftung geständig war und Strafe
erwartete.
Und es sind nicht nur die grossen Fische, die lang vor sich her stinken. In den Nachrichten
finden sich unzählige Geschichten von Betrügerbanden, die über Jahre im Geschäft bleiben:
malmit wertlosen Aktien, mal mit nie gebauten Immobilien. Sie hinterlassen eine Kette von
Konkursen: Das Geld ist weg, die Schulden bleiben in der Firmenruine. Und die Betrüger
werden kaum je - und wenn, erst nach Jahren - verurteilt. Es gibt zwei Gründe für die
Konjunktur des Betrugs in der Schweiz: 1. Bis vor kurzem wimmelte es hier von idealer Beute
für Banker wie Betrüger: Leute mit Schwarzgeld. Die konnten nicht klagen. 2. Das Schweizer
Rechtssystem.
Zum Vergleich die USA. Diese haben ein Sheriff-System mit dem Motto: «Crime should not
pay!» Der Staatsanwalt klaubt sich aus dem Fall, was Erfolg verspricht, um den Schurken hinter
Eisen zu bringen. Als man dem Mafia-Boss AlCapone keine Morde nachweisen konnte,
verurteilte man ihn wegen Steuerhinterziehung.
Das Schweizer System konzentriert sich nicht auf den Täter, sondern auf den Schutz des
Bürgers vor dem Staat und auf Eigenverantwortung. So muss für eine Verurteilung wegen
Betrugs «Arglist» plus «ein komplexes Lügengebäude» nachgewiesen werden. Eine simple Lüge
genügt nicht. Operiert ein Anlagebetrüger dilettantisch genug, etwa mit einer erfundenen Bank,
erhält er einen Freispruch, weil der Kunde die Unwahrheit hätte nachprüfen können.
Das heisst: Die Staatsanwaltschaft muss prüfen, ob die Betrüger raffiniert genug waren. Und die
Opfer unintelligent genug.
Das Zweite, was Betrugsprozesse in die Länge zieht, ist der Opferschutz: Die Staatsanwaltschaft
muss alle Geschädigten einbeziehen, sonst ist das Urteil anfechtbar. Das heisst: Sie kann nicht
mit der Hauptsache abkürzen, sondern muss breit ermitteln. Im Fall Behring etwa mussten an
2000 Geschädigte 50-Seiten-Fragebögen versandt und bearbeitet werden: ein logistischer
Albtraum. Jeder grössere Fall legt einen Staatsanwalt auf Jahre lahm: Kein Wunder, stellen
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diese im Zweifelsfall lieber ein - und die Verteidigung hat gute Chancen, mit Verjährung
durchzukommen.
Der Schutz jedes Betrügers ist: Komplexität. Oft mit Firmengeflechten, Strohleuten, unklarer
Verantwortung. Und das Schweizer Recht verschafft ihm zusätzliche Komplexität. Dazu kommt,
dass Betrug und gute Gesellschaft Brüder sind: Der gute Anlagebetrüger verschafft sich Zugang
zum Polo-Club in St. Moritz, bahnt dort über persönliche Sympathie Geschäfte an - wie der gute
Privatebanker auch. Nicht zuletzt blühte das Schwarzgeld am Rand der Kriminalität: Die
Banken machten Renditen wie sonst nur Hehler, weil die Kunden sich nicht wehren konnten.
Die Lobby des Betrugs
Kein Wunder, dass Betrug eine der grossen Traditionen dieses Landes ist. Und im Parlament
eine grosse Lobby hat. Als etwa der SP-Ständerat Daniel Jositsch ein Betrug-«light»-Gesetz
vorschlug (ohne die «Arglist»-Klausel), lehnte die bürgerliche Mehrheit ab. Und eine Motion
des FDP-Nationalrats Hans Hess von 2011, Serienkonkurs-Tätern Neugründungen von Firmen
schwieriger zu machen, versandete. Dagegen sprach sich der Finanzminister Ueli Maurer nach
dem Panama-Papers-Skandal für Offshorefirmen aus: Man brauche diese Möglichkeit «für
reiche Leute». Gleichzeitig verfasste er ein Papier, um das Gesetz für Kleinanleger zu
sabotieren: Banken sollen den Kunden weder die Risiken noch Kick-backs bekannt geben. Und
seine Partei, die SVP, verlangte bei der Durchsetzungsinitiative die Ausweisung von Ausländern
selbst bei Kleinstdelikten - mit zwei Ausnahmen: Steuerhinterziehung und Betrug.
Das nicht zuletzt, weil Betrug ein Oberschichtsverbrechen ist. Die grössten Summen
verschwinden nicht durch Profibanden, sondern durch Mitglieder der Chefetage: Die Kader
nehmen, weilsie es können. Und das Risiko ist gering. Laut den Spezialisten von KPMG werden
nur 2 von 10 Fällen angezeigt - erstens, weil die Firmen Reputationsverlust fürchten, zweitens,
weil Vorgesetzte der Täter nicht das Gesicht verlieren wollen.
Kurz: Die Schweiz hat eine Tradition des Handschlags, der seriösen Arbeit und des Vertrauens.
Aber auch eine Tradition des Betrugs. Und solange sich Wirtschaft und Politik hier einig sind,
hat die Justiz wenig Chancen.
Die Jihadisten-Mutter
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«Man hat mir meinen Sohn gestohlen», sagt Véronique Roy, hier mit ihrem Mann vor ihrem Haus in
Sevran. Foto: Isabella Stahl
Véronique Roy aus dem Pariser Vorort Sevran hat ihren Sohn verloren. Er konvertierte zum
Islam, schloss sich den IS-Terroristen an und starb im Irak. Nun kämpft seine Mutter gegen die
Radikalisierung von Kindern.
Von Martina Meister, Paris, TA vom SA 11. Juni 2016
Am 14. Januar erhält Véronique Roy auf ihrem Handy ein Foto des Testaments ihres Sohnes. Es
ist handgeschrieben, mit blauem Kugelschreiber auf der ausgerissenen Seite eines Notizblocks.
Quentin Roy hat nichts weiter zu vererben als ein Samsung-Tablet. Darunter die
Handynummern seiner Eltern. «Maman» und «Papa» steht dort geschrieben. Man möge sie
benachrichtigen.
Véronique Roy kennt das genaue Todesdatum ihres Sohnes nicht. Alles, was man ihr mitgeteilt
hat, ist Folgendes: Abu Omar al-Faransi, wie sie ihn nannten, sei als «Märtyrer auf dem Boden
des Kalifats» gestorben. Mit 23 Jahren. Sie hat kein Datum, es wird nie einen Körper geben und
womöglich nicht mal einen Totenschein. Denn das Kalifat des sogenannten Islamischen Staats
(IS) ist kein Staat und wird ihr kein Dokument liefern. Sie kann deshalb sein Konto nicht
schliessen, seine Lebensversicherung nicht auflösen. Ihr Sohn gilt in Frankreich schlicht nicht
als tot, nur als verschwunden.
Froh, dass er tot ist
Auf ihrem Handy zeigt sie die Fotos von Quentin. Sie zeigt die Entwicklung, wie aus einem
gutaussehenden jungen Mann, der den Ball kickt, ein bärtiger Jihadist wird mit «toten Augen».
Jemand, dem man «das Gehirn gewaschen hat». Jemand, der gelitten hat; jemand, der
vielleicht sogar Schlimmes getan hat. Sie ist in Wahrheit froh, dass er jetzt tot, sein Leid vorbei
sei. «Hier hätte ihn das Gefängnis erwartet, dort der Tod.» Sie spricht von ihm, als sei er von
einer unheilbaren Krankheit erlöst worden.
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Roy, eine kluge Frau mittleren Alters, bezeichnet sich als «Opfer des Terrorismus», aber als ein
«Opfer auf der falschen Seite» - eines, das man nicht anerkennt, dem man nicht hilft, das man
alleine lässt. Das soll nicht schamlos klingen. Sie weiss sehr wohl, was die Menschen erlitten
haben und noch erleiden, die einen Sohn, eine Tochter bei den Attentaten aufs Pariser Bataclan
oder die Bistros verloren haben. Nur hat auch sie das Gefühl, einen Sohn verloren zu haben:
«Man hat ihn mir gestohlen», sagt Roy. Sie ist wütend auf ihren Bürgermeister, wütend auf die
Regierung, wütend auch auf die Imame, die der Radikalisierung zusehen, ohne sie zu
denunzieren.
Sie kann auch nicht fassen, dass es immer noch Leute gibt, die glauben, es träfe nur die
Muslime; es träfe nur die Jungs aus den Vorstädten; nur die Arbeitslosen, sozial
ausgeschlossenen. Alles Unsinn: «Es trifft Akademiker, Katholiken, sogar Juden. Mein Sohn ist
der Beweis dafür, dass niemand vor diesen Predigern gefeit ist.» Quentin Roy war ein
sportlicher junger Mann, aufgewachsen in Sevran, einem Vorort von Paris. Er war christlich
erzogen worden, besuchte eine katholische Privatschule, begeisterte sich für Fussball, spielte
Klavier. Nach der Matura hatte er eine Ausbildung als Krankengymnast angefangen. Er war ein
sensibler, mitunter schüchterner Junge, der in seinem Kopf die grossen Fragen umwälzte. Auch
sein älterer Bruder beschreibt ihn als «furchtbar nett», ein Typ, den alle mochten, der auch den
Frauen gefiel.
Als Quentin seinen Eltern 2012 erklärte, dass er zum Islam übergetreten sei, zeigten sie
Verständnis. Die Roys sind offene, tolerante Leute. «Quentin hatte ein spirituelles Bedürfnis. Er
suchte nach Sinn», sagt Véronique Roy. «Wenn es heute passieren würde, im Jahr 2016,
selbstverständlich wäre ich sofort alarmiert und würde mir Sorgen machen.» Damals hat sie
etwas Zeit gebraucht, um Hilfe zu suchen. Hilfe bei Ämtern, in Moscheen. Als er bei der
Beerdigung seiner Grossmutter die Kirche nicht betreten wollte, bekam sie einen Schreck. Zwei
Jahre nach seiner Konversion ging er heimlich nach Syrien. Als ihr Sohn von dort nur noch in
Koranversen schrieb, bat sie den Imam, ihr andere Stellen zu nennen, mit denen sie antworten
könnte. Umsonst. «Die Leute sind völlig verloren.» Jihadismus mitten in Frankreich? Das
Phänomen ist noch neu - verlässliche Rezepte gibt es nicht.
Roy sitzt in einem Café in der Nähe der Pariser Oper. Bis spätabends hat sie gearbeitet. Das
Gesundheitsmagazin, für das sie die Anzeigenakquisition macht, hat gerade Redaktionsschluss.
Bevor sie später nach Hause, nach Sevran, fahren wird, gut 20 Kilometer nördlich von Paris, im
berüchtigten Departement 93 gelegen, Seine-Saint-Denis, eine knappe Stunde mit der
Regionalbahn, wenn kein Streik ist. Sie gibt dieses Interview, weil sie Zeugnis ablegen will, die
Leute wachrütteln. Sie war viel im Fernsehen, im Radio. Mit anderen Müttern war sie gerade
auf der Titelseite eines Nachrichtenmagazins: «Monsieur le Président, retten Sie unsere
Kinder!» Es ist ein Appell an Franois Hollande, endlich etwas gegen die Radikalisierung zu tun
und gegen die Prediger des Hasses vorzugehen.
Seither gibt es den Begriff der «Jihadistenmütter». Weil Roy, diese blonde Französin mit den
blauen Augen, so gar nicht dem Klischee entspricht, das man sich von ihnen macht, ist sie eine
wichtige Figur in Frankreich geworden. Anfangs hat sie mit einem Fernsehspot Werbung für
eine Notrufnummer gemacht. Dann bat man sie, vor Präfekten zu sprechen. Danach stürzten
sich die Medien auf sie. Seit sie neulich Hollande in einer Fernsehsendung gegenübersass,
kennt sie wirklich jeder: eine Frau, die sich nicht in ihrer persönlichen Trauer vermauert,
sondern wenigstens andere vom Jihad abhalten will. Sie hat einen öffentlichen Kampf aus dem
Verlust ihres Sohnes gemacht.
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Das französische Molenbeek
Roy will nicht hinnehmen, dass man die Eltern für schuldig erklärt und das Problem damit
unter den Teppich kehrt. «Wir haben ihn nicht zum Jihadisten erzogen!» Sogar gegenüber dem
Präsidenten hat sie diese Chuzpe gezeigt, hat ihn mit Fragen bombardiert, hat zum Handeln
aufgefordert. «Er schien mich ernst zu nehmen», sagt Roy, «aber er fühlte sich unwohl bei
diesem Thema.»
Unwohl und vielleicht machtlos. Allein aus Sevran, einer 50 000 Einwohnerstadt, sind
15 Jugendliche zu den Terroreinheiten des IS gestossen. Einige sind tot. Offizielle Zahlen gibt
es nicht. Als ein «französisches Molenbeek» hat der Islamspezialist Gilles Kepel den Vorort von
Paris bezeichnet. Sevran war bis dahin nur für Drogen und Kriminalität berüchtigt. Der Ort
gehört zu den 100 ärmsten Gemeinden Frankreichs, 73 Nationalitäten, die Arbeitslosigkeit liegt
bei 17 Prozent, in den Problemvierteln und bei den jungen Leute bei 40 Prozent. Was Roy nicht
verstehen kann, ist, wie man die Radikalisierung der Muslime zulassen konnte. Allmählich
verschwanden die «normalen Läden» aus Sevran. Es gibt heute überwiegend Halal-Imbisse,
und wer an Markttagen die Stadt besucht, sieht fast ausschliesslich verschleierte Frauen. An den
Ecken stehen junge Männer mit Chachia, Gebetsmütze, sie tragen lange Gewänder, Quamis,
eine Verkehrsweste darüber, und sammeln für den Neubau einer Moschee. Sie soll in der Nähe
des Einfamilienhausviertels gebaut werden, wo die Roys wohnen. Quentin Roy ging in die
«Daesh-Moschee». Sie war als Salafistennest unter Muslimen bekannt. Publik wurde das erst
nach den Attentaten des 13. November. Es dauerte noch mal ein halbes Jahr, bis sie
geschlossen wurde.
Roy macht dem Bürgermeister Vorwürfe. Stéphane Gatignon, 46 Jahre, seit 2001 im Amt, ist
ein Grüner, zuvor war er Kommunist. Er hat mal Blauhelmeinsätze für seine Drogenviertel
gefordert. Auch in den Hungerstreik ist er schon getreten, um mehr Geld für seine Kommune zu
fordern. Aber die Notrufnummer der Regierung für Jihadkandidaten, die hat er zwei Jahre lang
nicht veröffentlicht. Klientelismus, vermutet Roy. Er habe Angst, seine muslimischen Wähler zu
verlieren, die die Mehrheit stellen. «Er vermeidet den Kontakt mit uns. Wir sind wie Aussätzige,
Paria», sagt Roy.
Eine ehemalige Sozialarbeiterin aus Sevran, Nadia Remadna, hat derweil die «Mütterbrigade»
gegründet. Auf internationaler Ebene gibt es inzwischen die «Mothers for Life»: Frauen, die
ihre Kräfte vereinen und zeigen wollen, dass es keine Einzelschicksale sind, die sie erleiden. Die
Mutter wird im Koran verehrt, sagen sie. Warum also al-Baghdadi, dem selbsternannten
Kalifen, gehorchen und nicht auf die Mütter hören?
Die Roys sind vor 30 Jahren nach Sevran gezogen, in ein Einfamilienhaus mit Garten: «Wir
haben die Stadt nie verurteilt. Wir haben aber zugesehen, wie sie verarmte. Wir fühlten uns
wohl, wir waren glücklich. Es gab gute Schulen, Musik- und Sporteinrichtungen und einen
wunderbaren Wald gleich hinter dem Haus. Es waren privilegierte Lebensverhältnisse.» Sie
bereut diese Entscheidung nicht. Aber vom Glück kann sie nur noch in der Vergangenheit
sprechen.
Diese Chinesen!
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Javier Zanetti, langjähriger Captain von Inter Mailand, mit dem chinesischen Coach Gong Lei in Nanjing bei
der Bekanntgabe der Übernahme am Montag. Foto: Getty
Mailands Fussball wird chinesisch. Die alten Mäzene mögen nicht mehr. Während China sich
anschickt,zur globalen Fussballmacht zu werden, enden gerade einige Romanzen.
Oliver Meiler, Rom, TA vom DO 9. Juni 2016
In Mailand ist der häufigste Unternehmernamen Hu. Nicht Rossi, nicht Bianchi, auch nicht
Colombo. Sondern Hu, ein chinesischer Name. Das schreibt eine italienische Zeitung. Vielleicht
stimmt es gar nicht. Vielleicht ist es eine Übertreibung, die dazu dienen soll, alles noch etwas
mehr zu dramatisieren. Es passiert gerade Dramatisches in der Welt des Calcio milanese, des
Mailänder Fussballs. Und fürs Drama sorgen ausgerechnet die Chinesen, von denen man bis vor
kurzem noch gedacht hatte, sie würden sich nicht für diesen Sport interessieren. Nicht ernsthaft
jedenfalls.
Nun aber wollen sie auch im Fussball eine Macht werden. «Questi cinesi!» «Diese Chinesen!»,
hört man immer wieder. Das ist nicht böse gemeint, nur argwöhnisch, wohl auch etwas
ängstlich. Eine globale Fussballmacht will Peking werden. Es ist ein Masterplan für mehr Soft
Power, getragen auch von der Kommunistischen Partei. Von Xi Jinping, dem Präsidenten
Chinas, weiss man mittlerweile hinlänglich, dass er ein Fussballnarr ist.
Die Eroberung beginnt in Mailand. Der chinesische Grosskonzern Suning, Hersteller von
Haushaltgeräten, kauft den Football Club Internazionale Milano, besser bekannt als Inter,
gegründet 1908. Und wenn nicht alles täuscht, dann wird bald auch der andere Traditionsclub
der Stadt, die Associazione Calcio Milan, gegründet 1899, chinesischen Investoren gehören. Ein
Epochenwandel ist das, passt aber ganz gut in die Stadt mit ihrer alteingesessenen chinesischen
Gemeinde, 30 000 Mitglieder, einer stattlichen Chinatown am Rand des historischen Zentrums
und vielen Unternehmern mit dem Namen Hu, die in zweiter, dritter Generation in Mailand
leben.
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Die heruntergekommene Serie A
Im fernen Nanjing, im Südosten Chinas, begann diese Woche das erste Kapitel des Wandels. Da
trat der Konzernchef von Suning vor die Presse und sagte: «Wir wollen Inter wieder grossartig
machen.» 270 Millionen Dollar soll er bezahlt haben für 68 Prozent der Anteile. Die Wand
hinter dem Rednerpult war mit schwarzen und blauen Streifen überzogen, den Vereinsfarben.
Dazu der Titel der Hymne: «Amala!» «Liebe sie!» Mit «sie» ist Inter gemeint. Für die Italiener
ist Inter weiblich.
Es ist nicht überliefert, ob die chinesischen Bühnenbildner Berater aus Mailand beigezogen
hatten, um auch sicher nichts zu vergeigen bei der Inszenierung. Dem Übersetzer unterlief dann
aber bei der Liveübertragung ein Fehler, der situationskomischer kaum hätte sein können: Statt
Inter sagte er Milan. Für die Wiederholung der Sendung schnitten sie die Passage dann heraus.
Niemand soll sein Vorurteil bestätigt sehen, dass die Chinesen nichts von Fussball verstehen.
Questi cinesi!
«Es wäre jetzt einfach, dumme Sprüche zu reissen», schreibt «La Repubblica», «Wortspiele mit
Frühlingsrollen oder so.» Doch der Calcio könne sich Ironie nicht leisten. «Wir sind so tief
gesunken, dass es uns nicht zusteht, der Welt Lektionen zu erteilen.» Alle Versprechen der
letzten Jahrzehnte, den heimischen Fussball zu modernisieren, die Stadien zu renovieren, die
Fans wieder in die Arenen zu holen, die Vermarktung der nationalen Liga auch im Ausland zu
pushen, sie nach Asien zu öffnen - verpufft. Ausser bei Juventus Turin natürlich, dem Verein
der Familie Agnelli von Fiat, der alles richtig macht und zuletzt fünfmal in Folge die
Meisterschaft gewonnen hat, die heruntergekommene Serie A. Juve ist die Ausnahme, die
einzige. Man könne froh sein, schreibt «Repubblica», dass die Chinesen überhaupt bereit seien,
in den italienischen Fussball zu investieren. «Das ist eine Chance, keine Bedrohung.»
Bis es zu viel war
Die Käufer aus Nanjing wollen nämlich viel Geld ausgeben für neue Spieler. Wenn es das
Financial Fairplay der Uefa zulässt, dann sollen Stars mit klingenden Namen zu Inter kommen,
damit es wieder erfolgreich und liebenswert wird. Seit 2010, seit dem Triple inklusive
Champions League, als man sich unter alten Interisti beinahe (aber natürlich nur beinahe) an
das «Grande Inter» unter Helenio Herrera erinnert fühlte, gewann man nichts mehr. Der
Verein hatte sich übernommen, der Erfolg wurde ihm gewissermassen zum Verhängnis.
Massimo Moratti, der generöse Präsident und Erdölindustrielle, Sohn Angelos, Präsident des
wirklich «grossen Inter», hatte über all die Jahre hinweg Hunderte Millionen Euro in den
Verein gesteckt. Mit mehr Herz als Kopf, wie ein Romantiker, ein Fan. Irgendwann war es dann
allen zu viel, auch ihm selber.
Vor drei Jahren verkaufte Moratti die Mehrheit an ein indonesisches Medienunternehmen, das
einen jungen Mann mit rundem Gesicht nach Mailand schickte, um bei Inter den Chef zu geben.
Als man Erick Thohir bei seinem ersten Auftritt fragte, welcher Spieler aus der langen
Geschichte Inters ihm denn am besten gefalle, sagte er: «Nicola Ventola.» Nicht Giacinto
Facchetti, nicht Armando Picchi, nicht Sandro Mazzola. Auch nicht der Brasilianer Ronaldo
oder Zlatan Ibrahimovic. Sondern Nicola Ventola. Der Stürmer hat früher insgesamt 37-mal für
Inter gespielt und 7 Tore erzielt. Zur Ikone brauchte es etwas mehr. Man stellte dann wilde
Vermutungen an, warum Thohir ausgerechnet Ventola nannte. Am ehesten überzeugte die
These von der Schwiegermutter: Die ist Indonesierin. Ventola jedenfalls freute sich sehr. Und in
Mailand festigte sich das Vorurteil, dass dieser immerzu lächelnde Mann aus Jakarta, der bald
alle paar Wochen einflog und Floskeln auf Englisch herunterbat, tatsächlich keine Ahnung hat
von Fussball. Und von Italien.
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Immerhin aber behandelte Thohir den alten Mäzen Moratti, der noch immer 30Prozent des
Vereins hielt, so, wie sich das gehörte: Er hofierte ihm und zitierte ihn ständig, weil Morattis
Reden die Gefühlslage der Fans viel besser trafen. Nun endet auch diese Zeit der Romantik.
Moratti scheidet ganz aus, seine 30 Prozent gingen als Erste an die Chinesen. Thohir bleibt wohl
noch ein Jahr länger, dann ist auch er weg - mit einem schönen Gewinn. In Italien rätselt man
darüber, warum Suning mit seinem Kaufangebot den Gesamtwert des Vereins jetzt um 100
Millionen Euro höher einstufte, als er vor drei Jahren war, beim Kauf der Indonesier.
50 Millionen Euro soll Thohir herausziehen können aus dem Geschäft, obwohl er nichts
gewonnen hat, keinen einzigen Titel und fast keine Ehre. Warum also zahlte Suning mehr?
Inter, mit 328 Millionen Euro verschuldet, wäre ihnen wohl notfalls noch viel mehr wert
gewesen. Der Name trägt, obwohl es stiller geworden ist um den Verein. Er gehört zu den zehn,
fünfzehn wichtigsten Marken in diesem Geschäft. Und dann gibt es noch diese Anekdote, den
Stoff für eine schöne Legende. Inter war einst der erste italienische Club gewesen, der China
bereiste. 1978 war das, in Zeiten, da noch wirklich nichts darauf hinwies, dass die Chinesen
diesem Sport anhängen würden. Sandro Mazzola, der grosse Sandro Mazzola, hatte damals
seine Spielerkarriere bereits beendet gehabt. Er reiste als «Dirigente» mit nach China, als
Vorstandsmitglied. Das Stadion war voll, und es wollte den grossen Sandro Mazzola spielen
sehen. Und so streifte er sich noch einmal das Trikot über und spielte eine Halbzeit lang. Für
die Chinesen. Davon bezieht die neue Geschichte nun etwas Seele.
Verkaufen - aber bestimmen
Bei Milan ist es noch nicht ganz so weit. Und auch da ist es eine Romanze, die endet. Silvio
Berlusconi, Präsident seit 1986, will verkaufen, damit er kein Geld mehr verliert. Er ist bald 80.
Das Erbe soll dann für alle fünf Kinder einmal üppig ausreichen. Er kann aber nicht loslassen.
Seit einem Jahr geht das nun schon so. Immer mal wieder verkündete die «Gazzetta dello
Sport», das Mailänder Blatt unter den drei täglich erscheinenden Sportzeitungen Italiens, dass
die Verhandlungen gelaufen seien, es fehle nur die Unterschrift, einige Tage noch, höchstens.
Dazu gab es dann jedes Mal einige Seiten Hommagen an den früheren Cavaliere, der ja alles
gewonnen hat, mehrmals, und der sich nie damit begnügte, einfach nur Besitzer zu sein. Kopf
und Herz. Berlusconi redete bei den Mannschaftsaufstellungen drein, ärgerte sich öffentlich
über Entscheidungen seiner Trainer, auch über Auswechslungen.
Ein thailändischer Kaufinteressent, den die Medien nur «Mister Bee» nannten, schien ganz
nahe dran zu sein. Man sah ihn mit seiner Frau in Mailand, verfolgt von Paparazzi. Bis er dann
doch plötzlich wieder weg war, entmutigt vom «Padrone», der nicht loslassen kann von dieser
Bühne, die ihm bei der Verführung des Volkes half. Die Chinesen bearbeiten ihn nun auch
schon eine ganze Weile. Wer hinter der Seilschaft steht, die für Milan bietet, mag Berlusconi
nicht verraten. Alles sehr seriös, sagte er nur, um dann gleich wieder Zweifel aufkommen zu
lassen an deren Eignung. Offenbar möchte er sich vor dem Verkauf versichern, dass die Käufer
seinem Milan und ihm selber auch den gebührenden Respekt erweisen. Am liebsten würde er
Präsident bleiben. Seine Tochter aus zweiter Ehe, Barbara, sähe er weiterhin gerne als
Geschäftsführerin - eine Rolle, die sie sich seit einigen Jahren und selten sehr harmonisch mit
Vaters langjährigem Vertrauten Adriano Galliani teilt. Und auch der soll bleiben dürfen.
Man hört, die Forderungen des Verkäufers gingen so weit, dass er dem Käufer auch noch die
Strategie für die Zukunft vorgeben will, wenn er eigentlich nichts mehr zu sagen hätte.
Berlusconi schwebt vor, dass Milan mit vielen italienischen Talenten wieder gross werden soll.
Wo er die alle herholen möchte, bleibt sein Geheimnis.
312
Der Entscheid soll erst in der nächsten Woche fallen, oder in der übernächsten. Er lässt sie
zappeln - questi cinesi. Vielleicht zahlen sie dann mehr. Berlusconi liegt gerade im Spital,
eingeliefert nach einem kleinen Schwächeanfall, den er am Tag der Gemeindewahlen in Rom
erlitten hatte. Etwas mit dem Herzen. Nichts Ernsthaftes, versichert seine Entourage. Aber der
Zeitpunkt passt nun mal zum Drama, zum Epochenwandel.
Das Derby, nun ja
Mailand wird überall etwas chinesischer. Pirelli etwa wird chinesisch, übernommen von
Chemchina. Der Deal beinhaltet auch ein Aktienpaket am «Corriere della Sera», dem
bürgerlichen Leibblatt der Mailänder. Das Politecnico hat einen Teil seiner Gebäude verkauft,
damit die chinesische Tsinghua University, an der schon Xi Jinping studiert hat, ihre
Niederlassung in Italien eröffnen kann. Die chinesische Ratingagentur Dagong entschied sich
gerade dafür, ihren europäischen Sitz im Mailänder Finanzbezirk anzusiedeln. Und eben nicht
in London, Paris oder Zürich.
Das sind alles kleine Zeichen, die sich dann zu einem grossen Ganzen verdichten werden, wenn
im Stadion Giuseppe Meazza im Stadtteil San Siro, der «Scala del Calcio», immer Chinesen die
Hausherren sein werden. Ob nun Inter spielt oder Milan. Das «Derby della Madonnina», das
Mailänder Stadtderby, ist dann auch chinesisch. Und daran muss man sich zuerst einmal
gewöhnen.
Der Padrone mit mehr Herz als Kopf wird keine Rolle mehr spielen.
»
„Kinder brauchen einen Oberbandenführer“
313
Psychologe Allan Guggenbühl fordert ein neues Lehrer-Königtum: «Die Dorfschule» von Albert Anker
(1831–1910).
Jugendgewalt-Experte Allan Guggenbühl sagt, die Schule entwickle sich in die falsche
Richtung. Statt einer bürokratischen Verwässerung der Verantwortung sollten die Lehrer
wieder mehr Autorität bekommen.
Mit Allan Guggenbühl sprach Alexandra Kedves, TA vom MI 8. Juni 2016
Von der Handschlag-Debatte bis zum Prüfungsterror: Die Schule ist ständig im
Kreuzfeuer der Kritik. Was muss sich ändern?
Es ist paradox: Die Schule will den Schülern mehr Lernfreiheit zugestehen, mit ihnen einen
machtfreien Diskurs führen und ihre Kreativität fördern - doch oft führen genau diese
Absichten zum Gegenteil: Freiheit und Kreativität der Schüler werden eingeschränkt.
Wo werden die Schüler geknebelt?
Schulen sind Normvollstrecker, das ist wie einst. Da ist es problematisch, vorzugeben, man sei
ein Hort der Kreativität und des freien Handelns. Der Widerspruch zeigt sich etwa, wenn man
Schulhäuser besucht: Überall hängen schöne Sprüche, es wird zu Respekt aufgerufen,
gewaltlose Kommunikation verlangt und Nachhaltigkeit gepredigt. Mich erinnern solche
Sprüche an die DDR oder China, wo man die Menschen auch durch Leitsätze kontrollieren will.
Die meisten Kinder betrachten sie als heisse Luft. Denn sobald ein Kind sagt, was es wirklich
denkt, oder sich andersartig verhält, reagiert die Schule: Es hagelt Time-outs, Strichlein, Gelbe
Karten und Überweisungen zu Profis, die die Kinder flicken sollen, damit sie nicht «blöd tun»,
andere beleidigen oder Heterogenität kreativ ausleben. Oft wird ein Kind zum Therapiefall,
ohne dass sich die Lehrperson mit der Bedeutung des Widerstands oder Fehlverhaltens
auseinandersetzt.
Wie sieht das konkret aus?
Ich hatte einen Fall, wo zwei Schüler ihre deutsche Lehrerin mit «Heil Hitler» begrüssten.
Natürlich geht das gar nicht. Aber die Schule hat mit dem «Schlaghammer» reagiert, es gab eine
kurzzeitige Suspendierung vom Unterricht, Gespräche beim Schulleiter und Psychologen.
Besser wäre es gewesen, wenn der Vorfall zwischen der Lehrerin und den Schülern besprochen
worden wäre; man hätte mal intensiv über das Thema Nazis sprechen können. Solche
Auseinandersetzungen sind wichtig - das ist auch bei einem verweigerten Handschlag so.
Ist die Begrüssung mit Handschlag nicht essenziell - als Anerkennung der
Gleichberechtigung der Frau? Ist das verhandelbar?
Die Gleichberechtigung ist nicht verhandelbar. Genauso wenig wie die Meinungsfreiheit oder
die Gewaltlosigkeit. All dies ist auf dem Schulgelände ein Must und nicht optional. Aber das
erreicht man nicht mit Zettelchen aufhängen oder mit erzwungenen Handschlägen, sondern
indem man es vorlebt.
Wie geht Vorbildsein richtig?
Das richtige Verhalten kann nicht dekretiert werden, sondern die Lehrer müssen sich stets neu
mit den Schülern auseinandersetzen. Details sind da schon wichtig: Bei der Begrüssung müssen
die Schüler die Präsenz des Lehrers - oder eben der Lehrerin - würdigen, sei es, indem sie
«Guten Morgen, Frau Müller» sagen, oder mit einem Blickwechsel. Ob Hand oder nicht, ist
dabei aber zweitrangig; in England zum Beispiel oder auch hier am Arbeitsplatz schüttelt man
sich auch nicht jeden Morgen die Hand. Die Hauptsache ist, Haltung zu zeigen, Werte zu
vermitteln; dafür muss man auch einmal Spannungen aushalten, Konflikte austragen und nicht
gleich an Fachpersonen weiterdelegieren. In Schulen verläuft nie alles nach Programm: Das
Halbchaotische ist Alltag. Es zu meistern, braucht Zeit und vor allem Herzblut. Dieses Herzblut
aufzubringen, ist für Lehrer heute nicht einfach; das System erschwert es ihnen.
«Herzblut» ist ein grosses Wort. Was meinen Sie mit «das Herzblut fehlt»?
Lehrpersonen sind heute nicht mehr die primären Wissensvermittler. Theoretisch können sich
Kinder Wissen völlig selbstständig aneignen, daher setzt man ja jetzt auf «Kompetenzen». Was
jedoch vergessen wird: Kinder wollen ins Wissen der Alten eingeführt werden, es sich nicht auf
314
Befehl selber aneignen. Sie wollen die Geschichten der Alten hören und sich mit Menschen
auseinandersetzen, wollen, aus der Beziehung heraus, ihre Inhalte ablehnen oder annehmen. So
erst beginnen sie, selbstständig zu denken. Und das geht nicht ohne Lehrer, die sich mit ihrer
ganzen Person auf den Schüler einlassen und eine Reibungsfläche bieten. Das ist heute
schwierig: Oft mischen sich die Eltern ein, zudem gibt es wenig Vollzeitlehrer; Teilzeiter und
Fachlehrer haben aber zu wenig Ressourcen und Zeit für so eine Beziehung.
Manche nennen die Lehrer heute «Schulflüchter», da sie sich keine Minute länger
als nötig den Schülern widmen würden. Gehen die Kinder im System unter?
Bei Problemen werden Fachpersonen gerufen. Das Kind erhält eine Diagnose und kommt dann
zum Logopäden, Heilpädagogen, zur Polizei, zu Psychologen, Sozialarbeitern. Da besteht die
Gefahr, dass es zur Verantwortungsdiffusion kommt, die Auseinandersetzung mit einer
Lehrperson über das Wissen nicht mehr möglich ist - und die Schule ihre Kernaufgabe
vermasselt. Das ist fatal!
Sie zählen auch zu den Spezialisten, die immer hinzugezogen werden . . .
Ich versuche, mich nicht als Spezialisten zu inszenieren, sondern immer nur das Allernötigste
zu machen, sodass die anderen selber weiterwissen.
Braucht es eine Leitwolf-Pädagogik?
Absolut! Kinder brauchen Leitfiguren, um sich zu entwickeln. Mein Begriff dafür ist:
«Oberbandenführer». Sie sehnen sich nach Lehrerpersönlichkeiten, an denen man sich
orientieren kann, mit denen man auch einmal nicht einverstanden ist. Diese Lehrperson gibt
Leitlinien vor, unterscheidet zwischen Falsch und Richtig und vermittelt Inhalte. Es ist klar,
dass die Schüler nicht alles übernehmen; sie hören sich an, was die Alten sagen, um dann später
etwas anderes daraus zu machen.
Wie positioniert sich die Schule denn heute stattdessen?
Fortschrittliche Schulen achten auf Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Gendergerechtigkeit,
Gesundheits- und Friedensförderung, Sozialkompetenz usw. Es geht um eine bessere Welt.
Doch das sind Ziele, an denen wir alle regelmässig scheitern, Ziele, die uns zwar berechtigen,
mit den Kindern zu arbeiten und von ihnen Anpassung einzufordern. Aber es wird schwierig,
wenn wir von Kindern mehr erwarten als von uns, wie etwa nie zu mobben, keine aggressiven
Auseinandersetzungen mehr zu haben. Das ist, als fordere man von Paaren, eine immerzu
harmonische Ehe zu führen. Dafür müssten alle vor der Trauung obligatorisch
Konfliktpräventionskurse besuchen. Also: Da die Schule sich nach hehren Idealen ausrichtet,
haben die Schüler oft keine Chance. Dabei ist doch eigentlich die Moral entscheidend.
Beherrscht ein Schüler die Stoppregel, gibt er schön die Hand, hat er eine hohe
Sozialkompetenz, sagt das noch nicht viel über seinen moralischen Kompass aus - siehe
Rupperswil.
Wie lehrt man denn Moral?
Man muss für sie einstehen. Früher gab es das Risiko, dass Lehrer zu selbstherrlich wurden.
Manchmal verschanzten sie sich in ihrem Reich wie kleine Diktatoren und benahmen sich wie
Sadisten. Das versucht man mit der Professionalisierung zu verhindern, zu Recht. Doch man ist
zu weit gegangen, hat die Verantwortung weit gestreut - wir brauchten wieder ein wenig eine
Lehrer-Monarchie! Auch Integrationsarbeit kann besser geleistet werden, wenn es eine
Überstruktur gibt, die von der Person des Lehrers repräsentiert wird.
Wieso würde die Integration von einer Lehrer-Monarchie profitieren?
Der mittlerweile überall vertretene Ansatz der Selbstorganisation, des Lernens nach eigenen
Zielsetzungen, lässt gerade die Kinder hängen, die vom Elternhaus her nicht genug
Unterstützung haben; und die, die aus sprachlichen oder kulturellen Gründen das ganze
Konzept nicht verstehen. Lehrer sollten wieder den Mut haben, bestimmte Lernziele und
Inhalte für alle vorzugeben; gutmütige Könige und Königinnen zu sein.
Sie selbst werden in Krisen zu Schulklassen gerufen. Was tun Sie?
Das Erste ist immer, dass wir, sobald wir über die Sachlage Bescheid wissen, mit einem klaren
Urteil vor die Klasse treten. «Helen wurde von Alexander gemobbt, und Andres, Isabel und
Irene haben mitgemacht. Das war eine böse Sache, und Helen geht es jetzt nicht gut.» Meistens
streiten die Schüler die Vorfälle ab. Sie wollen uns überzeugen, dass die Anschuldigungen nicht
stimmen. Wir fordern sie dann auf, zu beweisen, dass wir nicht recht haben, und geben ihnen
die Möglichkeit, Ideen zu entwickeln. Wir setzen dazu Geschichten ein, die das Thema der
315
Schüler aufnehmen. Es gibt Spiele, kleine theatrale und andere Formen der
Auseinandersetzung.
Funktioniert das?
Unsere Interventionen wurden von Externen evaluiert, und man stellte fest, dass von zehn
Interventionen acht eine Änderung bewirkten. Auffallend war, dass es nach den Interventionen
oft deutlich weniger Krankheitsfälle gab und sich die Lernmotivation steigerte.
Sie sprechen von Geschichten als Zugang zum Konflikt. Welche Rolle kann das
Schultheater spielen?
Es ist ein schöner und wichtiger Freiraum für die Schüler, genau wie Sportaktionen oder ein
Chor. Generell würde ich allerdings sagen, dass das Schultheater überschätzt wird. Nicht alle
Schüler spielen gern Theater. Wenn sie jedoch gern spielen, ist es eine grosse Bereicherung:
Schüchterne werden selbstsicherer, anderen tut die spezielle Aufmerksamkeit gut. Theater regt
die Fantasie an. Es ist zu wünschen, dass es in der Schule überhaupt mehr Anlässe gibt, in
denen die Schüler imaginieren und spielen dürfen, wie es im Theater geschieht.
Aber an den Universitäten klagen sie jetzt schon über die zu geringe Vorbildung
der Studienanfänger.
Das Problem ist, dass Stoff oberflächlich gelernt wird. In China, wo ich an den Universitäten
von Macao und Ghuanzou lehre, klagen viele Lehrer über das geringe Interesse der Studenten
an Inhalten. Lernen wurde zum Anpassungsakt, zu bulimischem Lernen. Man merkt sich nur so
viel, wie man für den Multiple-Choice-Test wissen muss, spuckt es aus und - vergisst es. Wer
sich wirklich interessiert, droht durchzufallen. Es geht nur darum, das Kreuzchen an der
rechten Stelle zu machen. Mir scheint: Eine solche Lernweise verhindert Innovation und
revolutionäre Entdeckung. Schüler lernen, in Prüfungen zu bestehen, und nicht, ihren Geist zu
schärfen.
«Die Hauptsache ist, Haltung zu zeigen, Werte zu vermitteln. Dafür muss man auch einmal
Spannungen aushalten.»
Allan Guggenbühl
Der Psychologe (64) ist Konfliktmanager und Experte für Jugendgewalt. Jüngst erschien von
ihm: «Die vergessene Klugheit: Wie Normen uns am Denken hindern».
Die Boys aus der Burschenschaft
Brexit: Die Briten entscheiden am 23. Juni
316
Im britischen «Kampf um Europa» stehen sich David Cameron und Boris Johnson gegenüber.
Sie gehören derselben Partei und derselben Oberschicht an, gingen zur selben Schule und Uni und sind erbitterte Rivalen.
Premier David Cameron (l.) und Kontrahent Boris Johnson sind sich als Feinde eng verbunden. Foto: Getty
Von Peter Nonnenmacher, London, TA vom MI 8. Juni 2016
317
Kurioser geht es kaum als jetzt im «Kampf um Europa», um die weitere EU-Zugehörigkeit
Grossbritanniens. Für den Brexit, für den Austritt, streitet an vorderster Front einer, der
Brüssel «eigentlich liebt» und kürzlich noch versicherte, dass er nie für den Austritt war.
Leidenschaftlich um den Verbleib in der Union dagegen müht sich ein Politiker, von dem sein
ehemals engster Mitarbeiter sagt, er sei «in Wirklichkeit ein Fan des Brexit». Willkommen im
britischen Referendumssommer. Hier ist nichts, wie es scheint. Alle normalen Regeln der
Politik sind ausser Kraft gesetzt.
Da ist Premierminister David Cameron, der das Pro-EU-Lager anführt. Der ToryRegierungschef, erklärt dessen langjähriger Top-Ratgeber und persönlicher Freund Steve
Hilton, habe als seine ureigene Mission im Grunde immer das Ausscheren aus der EU gesehen.
Der Brexit, meint Hilton, entspreche «voll und ganz» Camerons «Instinkten». Sähe er sich
nicht als Premier in der Verantwortung, würde der Tory-Vorsitzende ohne weiteres selbst an
der Spitze der Austrittsbewegung stehen. Entsprechende Abkoppelungsstrategien für
Grossbritannien hätten er, Hilton, und Cameron in der Vergangenheit ausführlich
durchgespielt.
In der Tat hat sich David Cameron früher selbst immer wieder als «Euroskeptiker» bezeichnet.
An der EU missfiel ihm, dass sie «schädlich» war «für eine flexible Marktwirtschaft».
Selbstverständlich könne Grossbritannien sehr gut auch ausserhalb der EU existieren,
verkündete er im Vorjahr. Vor den Verhandlungen über einen Spezialdeal für die Briten zu
Beginn dieses Jahres versicherte er, er halte sich «alle Optionen offen». Er könne genauso gut
Nein wie Ja sagen zur Europäischen Union.
Und nun? Nun reist David Cameron unermüdlich durchs Land, um für die EU-Mitgliedschaft
zu werben. Täglich taucht er irgendwo auf, krempelt die Ärmel hoch und preist den 28-StaatenBund. Ohne EU, macht er seinen Zuhörern begreiflich, werde Britannien verarmen, allein
dastehen, sich allen Einflusses begeben und Frieden und Stabilität in Europa gefährden. Nie
war die EU so notwendig wie heute, ist die Parole aus Downing Street.
Es ist, Tag für Tag, eine hektische Kampagne geworden. Immerhin geben die Umfragen dem
Brexit mittlerweile eine echte Chance. Und auf des Premiers Schultern lastet viel
Verantwortung für die Entscheidung am 23. Juni - schon weil sich die Führung der
oppositionellen Labour Party aus taktischen Gründen zurückhält in dieser Schlacht.
Camerons Hauptkontrahent aber, kein anderer als sein Parteifreund Boris Johnson, muss sich
seinerseits Fragen gefallen lassen wegen seiner Haltung zu Europa. Denn der ehemalige
Bürgermeister von London, das Schwergewicht des Brexit-Lagers, ein Mann, der seine Nation
mit allen Mitteln zum Ausgang drängt, hat noch vor wenigen Monaten Fraktionskollegen
gestanden, dass er «dummerweise überhaupt nicht für den Austritt» sei.
Johnson hat in früheren Jahren im kleinen Kreis die EU und «das europäische Projekt» immer
verteidigt. Er hat im Februar dieses Jahres eingeräumt, dass nach einem EU-Austritt eine
britische Regierung «sich jahrelang in fusseliger Verhandlungsarbeit um neue
Handelsarrangements» bemühen müsste, statt sich um «die wirklichen Probleme unseres
Landes» kümmern zu können.
In Brüssel zur Schule gegangen
318
Ein Austritt aus der EU hat für Johnson nie viel Sinn gemacht. Schliesslich ging der BrexitFührer als Sohn eines ehemaligen EU-Bürokraten zeitweise in Brüssel zur Schule. Später
arbeitete er fünf Jahre lang dort als Auslandskorrespondent. Im Anschluss an diese Arbeit
erwog er eine Kandidatur fürs EU-Parlament, woraus allerdings nichts wurde. Im Unterschied
zu seinem eher insularen Parteikollegen Cameron hat Johnson durchaus weiter gespannte
Horizonte. Er ist selbst ein Vielvölkerspross und hat Einwanderer in Grossbritannien immer
willkommen geheissen. Er betrachtet sich als «kosmopolitischen Liberalen», spricht fünf
Sprachen, hat Europa bereist.
Gewiss: Bekannt geworden ist Johnson durch spöttische Geschichten über Brüssel, durch
zynische Kommentare zur Kommissionsarbeit. In seiner Zeit als EU-Berichterstatter für den
rechtskonservativen «Daily Telegraph» Anfang der 90er Jahre war er es, der mit launighämischen Depeschen aus dem «Herzen Europas» dem modernen «Euroskeptizismus» an der
Heimatfront Nahrung gab. Manch britischer Beobachter geht heute davon aus, dass Johnson
die «euroskeptische Haltung» in dieser Form sogar erst erfand - und seinen «Telegraph»Lesern und all den Nationalisten bei den Konservativen die Argumente lieferte, die sie
benötigten für ihre eigene Abneigung gegen «den Kontinent».
Durch Johnson erfuhr man in England, dass die EU den Mitgliedsstaaten in ihrem
Standardisierungsdrang kleinere Kondome, begradigte Bananen und viereckige Erdbeeren
verordnen wolle, dass britische Fischer künftig Haarnetze tragen müssten, Teebeutel
abgeschafft würden, Kinder unter acht Jahren keine Luftballons mehr aufblasen dürften und
Särge nur noch im Einheitsformat zu produzieren seien.
Johnsons britische Kollegen in Brüssel, von ihren eigenen Chefredaktoren angerufen, rauften
sich die Haare. Die «EU-Mythen» im «Telegraph» wurden in der belgischen Hauptstadt zum
festen Begriff. Manche Reporter vor Ort wurden zu Spezialisten im Anstechen der fantastischen
Seifenblasen, die Johnson am laufenden Band produzierte und in die Heimat entliess.
Johnson selbst aber amüsierte sich königlich über die Aufregung. Natürlich, räumte er privat
ein, dürfe man «nicht alles todernst» nehmen an seinen Geschichten. Was er freilich erreichte,
war eine gehörige Unruhe in London - und ein hohes persönliches Profil.
Und genau das, meinen Johnsons Kritiker, habe er jetzt wieder gesucht, mit seiner Übernahme
der Sprecherrolle für den Brexit. Denn bis zum Tag seiner Entscheidung in diesem Frühjahr
wusste er offenbar nicht, ob er für oder gegen die EU sein sollte. David Cameron liess er lange
im Glauben, dass er sich dem Pro-EU-Lager anschliessen würde. Der Regierungschef bot ihm
angeblich im Gegenzug ein Schlüsselministerium zur freien Auswahl an. Aber neun Minuten
bevor er vor seine Haustür trat, um seine Gegnerschaft zur EU bekannt zu geben, textete Boris
«Dave» (wie er Cameron nennt), um ihm mitzuteilen, dass er beim Referendum gegen ihn
anzutreten plane. Für den «Telegraph», für den er noch immer eine wöchentliche Kolumne
schreibt, hatte er vorab zwei verschiedene Versionen vorbereitet - eine pro und eine kontra
Brexit. Er sei, feixte Johnson, wochenlang «wild wie ein Einkaufswagen hin- und
hergeschwenkt».
Reiner Opportunismus
Mit «speiübel grünem Gesicht» habe Cameron auf die Entscheidung reagiert, enthüllten später
Vertraute des Premierministers. Britanniens EU-Gegner dagegen jubelten. Etliche Tories und
sämtliche Oppositionspolitiker aber schüttelten die Köpfe. Sie deuteten die «goldene Chance»,
319
die Johnson mit einem Mal in einem EU-Austritt für Britannien erkannte, als «goldene
Chance» für dessen eigene Karriere - als rein opportunistischen Schritt.
Nachdem Boris Johnson als Abgeordneter wenig geglänzt und als Londoner Bürgermeister
kaum ein nennenswertes Erbe hinterlassen habe, meinen Johnsons Kritiker, habe er hier eine
Gelegenheit gesehen, mitten auf der grossen Bühne zu stehen, Cameron direkt herauszufordern,
sich zum Liebling der antieuropäischen Parteibasis der Konservativen zu machen und für eine
Übernahme der Regierung in Stellung zu gehen.
Nicht von einer festen Überzeugung hat sich der blonde Wuschelkopf offenbar bei seiner
Entscheidung leiten lassen. Sondern vom Kalkül, was ihm selbst am nützlichsten sei. «Auf die
EU einzudreschen, war immer seine Marke, nie seine Überzeugung», urteilte die «Financial
Times». Wäre es echte Überzeugung gewesen, fand der Historiker Timothy Garton Ash, hätte
Johnson diese «schon einige Zeit vorher vertreten und geteilt».
Boris Johnson kümmert es unterdessen wenig, wie seine Parteinahme für den Brexit
interpretiert wird. Seit er sich an die Spitze der Bewegung gesetzt hat, um Britannien aus der
EU zu hebeln, hat er auch das mit Flair und Geschick getan. In seinem roten «Battle Bus»
(Schlachtbus), dem Bus der «Vote Leave»-Kampagne, rollt er durchs Land, um Gegenparolen
zu Cameron auszugeben. Nur ausserhalb der EU könne das Vereinigte Königreich wirklich
souverän sein und wirtschaftlich neu aufblühen, verkündet «Brexit-Boris». Nur auf sich gestellt,
vermeide London «all den Schaden, den die EU in Europa angerichtet hat».
Neid auf das «Leichtgewicht»
Den Umfragen zufolge vertrauen in Sachen EU doppelt so viele Wähler Boris Johnson wie
David Cameron. Johnson - immer witzig, immer geistreich - ist der mit Abstand beliebteste
Politiker der Konservativen. Boris sei «am besten platziert» für die Nachfolge in No. 10
Downing Street, hat Cameron jüngst gegenüber Freunden eingeräumt.
Genau dahin aber, in die britische Machtzentrale, zieht es und zog es Johnson schon immer.
Dem zwei Jahre jüngeren «Leichtgewicht» Cameron hat der langjährige Weggefährte und
Rivale des Premiers den Aufstieg immer geneidet. Die beiden Politiker kennen sich schon ewig.
Sie gingen zur gleichen Zeit in die Eliteschule Eton. Sie wuchsen im gleichen Umfeld mit
denselben Wertvorstellungen auf. Später, als sie in Oxford studierten, gehörten sie gemeinsam
dem Bullingdon Club an, einer Art Burschenschaft des reichen Establishments.
Dass nun ausgerechnet zwei «Bullingdon Boys» und als Intimfeinde bekannte «beste Freunde»
um die Zukunft Grossbritanniens miteinander rangeln, womöglich noch auf der jeweils falschen
Seite im Ring, hat natürlich hier und da Verwunderung ausgelöst. Premier Cameron wird dabei
zumindest zugestanden, seine Anti-EU-Instinkte niedergekämpft zu haben und es mit seinem
Plädoyer für den Verbleib in der EU ernst zu meinen. Dass es Boris Johnson sonderlich ernst sei
in diesem «Kampf um Europa», glauben die wenigsten.
In Orbans Wunderwelt
320
«Gott, Glück und Viktor Orban» können in Ungarn Karrieren beschleunigen: Der ungarische
Premierminister an einem Fussballturnier in seinem Geburtsort Felcsut. Foto: Laszlo Balogh (Reuters)
Frankenschuldner leben in einem «Wohnpark» im ungarischen Niemandsland, eine
Nostalgiebahn fährt nach Nirgendwo: zu Besuch bei Viktor Orbans Prestigeprojekten.
Eine Reportage von Bernhard Odehnal, Ocsa und Felcsut, TA vom MI 8. Juni 2016.
«Aus der Schweiz kommen Sie? Und in den Wohnpark wollen Sie?» Die Verkäuferin in der
Imbissbude an der staubigen ungarischen Landstrasse blickt die Besucher ungläubig an. Als
wüsste sie nicht, ob sie die Idee für besonders mutig oder wahnsinnig halten soll. Sie
entscheidet sich für einen sehr knappen Rat: «An Ihrer Stelle würde ich das bleiben lassen.»
Der «Wohnpark» liegt gleich auf der anderen Seite der Landstrasse: kleine Häuser in Weiss mit
Giebeldächern, in Reih und Glied an drei Längs- und zwei Querstrassen. Der Frühlingswind
weht Sand und Erde auf, in den Vorgärten bellen Hunde. Menschen sind hier nicht zu sehen.
Eigentlich gehört die Siedlung zu Ocsa, einer kleinen Gemeinde 20Kilometer östlich der
ungarischen Hauptstadt Budapest. Aber Dorf und Wohnpark sind ganze fünf Kilometer
voneinander entfernt. Dazwischen liegen Wiesen, Felder und das Asphaltband einer Autobahn.
Gemüse ernten, Hühner halten
Etwas einsam sei es hier schon, sagt ein Mann, der sein Velo in die Siedlung schiebt, «aber
dafür können wir eigenes Gemüse ernten und Hühner halten». Als vor fünf Jahren mit dem Bau
begonnen wurde, galt der Wohnpark Ocsa als grösstes Sozialprojekt von Regierungschef Viktor
Orban. Damals stieg der Kurs des Schweizer Frankens in ungeahnte Höhen. Hunderttausende
Ungarn mit Frankenkrediten hatten plötzlich doppelt so hohe Schulden und wurden
gezwungen, ihre neuen Wohnungen oder Häuser zu verlassen.
Um einen dramatischen Anstieg der Obdachlosigkeit zu verhindern, plante die
rechtskonservative Regierung eine eigene Siedlung für die Opfer des starken Frankens. Auf der
321
grünen Wiese sollten 500 Häuser gebaut werden, dazu ein Kindergarten, eine Schule, eine
Kirche, Arztpraxen und ein Supermarkt. Billige Mieten zwischen 60 und 80Franken pro Monat
sollten den Menschen ermöglichen, eine neue Existenz aufzubauen. 2,5Milliarden Forint
(9Millionen Franken) investierte der Staat in die erste Ausbaustufe. Die zweite Stufe kam nie.
Nach Fertigstellung von 80Häusern wurde das Projekt gestoppt. Erst waren die
Auswahlkriterien zu streng, dann wollten Familien aus der Stadt nicht in die Wüste ziehen,
auch wenn ihnen die Kosten der Frankenkredite über den Kopf wuchsen. Also holte man
Sozialfälle aus den umliegenden Dörfern, darunter viele Romafamilien. Kindergarten, Schule,
Supermarkt wurden nie gebaut. Lebensmittel gibt es nur in der Imbissbude an der Landstrasse.
Die Warnung der Verkäuferin stellt sich als übertrieben heraus: Niemand hasst hier die
Schweizer, niemand will sie anpöbeln oder sie für ihre starke Währung zur Rechenschaft ziehen.
Gesprächig sind die Menschen aber auch nicht. Sie schämten sich für ihre Armut, erklärt der
Mann mit dem Velo: «Sie haben ihre alte Welt hinter sich gelassen und wollen in der
Anonymität bleiben.» Seinen Namen möchte niemand preisgeben, auch der Mann mit dem
Velo nicht. Er soll hier Sandor heissen.
Drei Jobs, billige Miete
Das Leben in der Siedlung sei nicht so schlecht, sagt Sandor. Eine Gemeinschaft aber gebe es
kaum: «Jeder ist mit dem Überleben beschäftigt.» Sandor arbeitet von 2 bis 5 Uhr früh in einer
Bäckerei, von 5 bis 10 Uhr bei einer Spedition und am Nachmittag als Trainer im Sportclub.
Drei Jobs, billige Miete, ein Gemüsegarten und Hühner: So kann er seine Familie recht und
schlecht durchbringen. Ausser ihm kümmert sich kaum jemand um den eigenen Garten. Hinter
vielen Häusern liegen Baumaterialien oder Autowracks. Ein Zettel informiert die Bewohner,
dass ihre Siedlung mit-ten im Jagdgebiet liege: «Morgens und abends können Schüsse fallen.»
Im Jahr 2013, als die ersten Häuser des «Wohnparks» fertiggestellt wurden, hatten 674 000
Ungarn einen Fremdwährungskredit mit einer Hypothek auf Wohnung oder Haus. 115 000 von
ihnen waren nicht mehr in der Lage, Rückzahlungen zu leisten. Zwei Jahre danach erzwang die
Budapester Regierung per Gesetz die Umwandlung aller Fremdwährungskredite in Forint. Zu
einem Kurs, der Kreditnehmer ent- und Banken belastete. Zudem kaufte die staatliche
Immobilienagentur fast 20 000 Wohnungen, damit die Bewohner dort bleiben. Siedlungen wie
Ocsa werden nicht mehr gebaut.
Von anderen Armensiedlungen in Ungarn unterscheidet sich der Wohnpark für die Opfer des
starken Frankens vor allem durch seine isolierte Lage. Und dass die Bewohner vom Staat zur
Sparsamkeit gezwungen werden: Damit sie sich nicht wieder verschulden, müssen die
Bewohner Strom und Gasflaschen für den Herd im Voraus bezahlen. Wer kein Geld hat,
bekommt auch kein Licht. Wütend sind die Menschen im Wohnpark Ocsa deswegen nicht: Sie
haben resigniert. Gutes könne sie über die Siedlung nicht sagen, «Schlechtes will ich nicht
sagen», meint eine junge Frau und schliesst die Haustür.
«Aus der Schweiz kommen Sie? Und mitfahren wollen Sie?» Die Kondukteurin im
tannengrünen Waggon blickt die Besucher ungläubig an. Dann bittet sie einzusteigen. Der Zug
setzt sich in Bewegung. Für die sechs Kilometer lange Strecke benötigt die Lokomotive mit
ihrem einzigen Wagen 40Minuten, nach der ersten Hälfte der Fahrt wird eine 20-minütige
Pause im einzigen Bahnhof mit Buffet eingelegt.
Die einzigen Attraktionen
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Auch die «Kleinbahn im Valtal» ist ein Prestigeprojekt Viktor Orbans. Schweizer Franken sind
hier kein Thema. Die Schmalspurbahn wurde mit 2 Millionen Euro aus Brüssel finanziert. Als
Touristenattraktion verkauften die Ungarn ihre Bahn den Eurokraten, mit bis zu 7000
Fahrgästen. Pro Tag.
Am 1. Mai nahm die Nostalgiebahn den Betrieb auf. Bis Ende Mai wurden 1800Billette verkauft.
Insgesamt. Dennoch verkehren weiterhin sechs Züge täglich, mit zwei Lokführern und zwei
Kondukteurinnen. Ausser ihnen fährt kaum jemand im einzigen Waggon. Kein Wunder: Die
Bahn führt nirgendwo hin und macht noch dazu einen grossen Bogen um die einzigen
Attraktionen von Felcsut: das riesige Fussballstadion und das Elternhaus von Viktor Orban.
Ungarns Ministerpräsident wuchs in Felcsut auf, kickte hier zum ersten Mal einen Ball. Jetzt
will er das verschlafene Dorf 30Kilometer westlich von Budapest zum Zentrum des ungarischen
Fussballs und des ungarischen Tourismus machen. Erst liess er hier eine Fussballakademie
errichten, dann die «Pancho-Arena», benannt nach dem Spitznamen des ungarischen
Fussballgotts Ferenc Puskas.
Auch Sepp Blatter hat die Akademie in Felcsut besucht. Das Stadion in der «organischen
Architektur» des Stararchitekten Imre Makovecz hat doppelt so viele Sitzplätze wie der Ort
Einwohner: 3500. Und nun verkehrt auch noch ein Nostalgiezug auf dem Trassee einer in den
1970er-Jahren stillgelegten Regionalbahn.
Stadion, Akademie und Bahn gehören einer Stiftung, die von Orban und Vertrauten gesteuert
wird. Finanziert worden sei alles von privater Hand, behauptet der Regierungschef. Allerdings
können Unternehmen ihre Spenden an die Stiftung von der Steuer absetzen. Zudem können die
Spender mit lukrativen Staatsaufträgen rechnen. Die Liste der Sponsoren reicht von der
österreichischen Strabag über die Schweizer Stadler Rail bis zur örtlichen Firma Meszaros &
Meszaros.
Der Aufstieg von Lörinc Meszaros ist eines der grössten Wunder in Orbans Wunderwelt.
Meszaros, ein einfacher Installateur, wurde innerhalb weniger Jahre Bürgermeister,
Grossunternehmer, Grossgrund- und Schlossbesitzer. Heute ist Meszaros einer der reichsten
Ungarn. Die Opposition vermutet, dass der ehemalige Handwerker ein Strohmann sei. Er selbst
sagte einmal, dass er seine Karriere «Gott, Glück und Viktor Orban» verdanke. Heute redet er
nicht mehr mit der ausländischen Presse.
So tuckert der menschenleere Nostalgiezug langsam durch ein Märchen der Brüder Grimm.
Wem gehört das schöne Dorf? Wem gehören diese saftig-grünen Wiesen? Sie gehören aber
nicht dem König Drosselbart, sondern Bürgermeister Meszaros. Ihm gehören auch das
Bahnhofbuffet, der Baumarkt neben dem Bahnhof und das Hotel mit Restaurant an der
Endstation im Wald.
«Was machen wir jetzt?»
Vergangene Woche verzeigte ein Abgeordneter der grünen Oppositionspartei LMP das Projekt
Nostalgiebahn bei der EU-Betrugsbekämpfungsstelle Olaf. Viktor Orban will noch mehr Geld in
sein Lieblingsprojekt investieren und die Strecke verlängern. Die Kritik sei unfair, findet auch
die Kondukteurin. Dann beschwert sie sich beim Lokführer, dass der Zug zu früh angekommen
sei: «Warum bist du so schnell gefahren? Was machen wir jetzt mit der vielen Zeit?»
323
«Wir sind oft zu technikgläubig»
Immer mehr Schmelzwasser der Alpengletscher wird mit dem Klimawandel im Frühling
abfliessen und im Sommer fehlen. Der Hydrologe Daniel Farinotti erklärt, wie wir das
verhindern könnten.
Mit Daniel Farinotti sprach Martin Läubli, TA vom MO 6. Juni 2016
Der Rhonegletscher im Jahr 1900 (im Vordergrund Gletsch).
In der Schweiz ist es seit der vorindustriellen Zeit vor rund 150 Jahren mehr als 1,5 Grad
wärmer geworden. Selbst wenn das Ziel des Pariser Klimaabkommens erreicht würde, eine
durchschnittliche globale Erderwärmung über 2 Grad zu verhindern: In den vergletscherten
Gebieten der Alpen würde vermutlich die durchschnittliche Jahrestemperatur um etwa 2,5 Grad
ansteigen. Rund 4000 Gletscher in den Alpen sind heute schon vom Klimawandel betroffen.
Forschende des Forschungsinstituts WSL in Birmensdorf und der ETH Zürich machen deshalb
ein Gedankenspiel, wie künftig das im Sommer fehlende Schmelzwasser kompensiert werden
könnte.
Was würde eine Erwärmung um 2,5 Grad für die Alpengletscher bedeuten?
Es würde bis Ende des Jahrhunderts so gut wie keine Gletscher mehr geben.
324
Wie viel Wasser ist heute in den Gletschern der Schweiz gespeichert?
Etwa 60 Kubikkilometer Wasser. Zum Vergleich: Die Schweiz verbraucht etwa einen
Kubikkilometer pro Jahr.
Und wie gross ist heute der durchschnittliche jährliche Anteil an
Gletscherschmelze in den Flüssen?
Das kommt auf die Region an. Der Po zum Beispiel führt an seiner Mündung in die Adria im
Jahresdurchschnitt zwischen 1 und 5 Prozent Gletscherwasser. In der Rhone beim Einfluss in
den Genfersee ist der Anteil hingegen 15 Prozent und mehr. Im Sommer ist der Beitrag
natürlich wesentlich höher. Für die Rhone kann der Gletscherwasseranteil dann bis zu über 40
Prozent ausmachen.
Das heisst, starke Abschmelzraten im Frühling werden wir spüren?
In der Landwirtschaft kann dann in stark vergletscherten Regionen bei einem heissen Sommer
durchaus Wasser für die Bewässerung fehlen. Fliesst im Sommer weniger Gletscherwasser ins
Tal, wird auch das Grundwasserreservoir zum Beispiel für die Trinkwasserversorgung weniger
aufgeladen. In Flüssen wie dem Hochrhein wird der Wasserpegel im Sommer tiefer liegen, was
Folgen für die Schifffahrt hat. Natürlich spielen dabei nicht nur Gletscher eine Rolle, sondern
auch der Niederschlag.
Die Idee ist nun, Wasser, das wegen der Erwärmung bereits im Frühling abfliesst,
in den Sommer hinüberzuretten. Das soll mithilfe von Staumauern geschehen.
Das klingt sehr theoretisch.
Am Anfang war das sicher eine wissenschaftliche, theoretische Überlegung. Wir wollten wissen,
wie viel Wasser man überhaupt auffangen könnte und in welchem Verhältnis dies zu der
fehlenden Wassermenge im Sommer steht. So gingen wir von einer Erwärmung von 2,5 Grad
aus bis zum Ende des Jahrhunderts. Wir setzten in unserem numerischen Gletschermodell
virtuelle Staudämme an die Standorte der schrumpfenden Gletscher und berechneten das
Volumen der dadurch gebildeten Seen. Das Überraschende für uns war, dass wir mit diesem
Konzept etwa zwei Drittel der erwarteten Wasserdefizite im Sommer kompensieren könnten.
Gemäss den Berechnungen müsste man dazu 1 Kubikkilometer Wasser zwischenspeichern,
während die simulierten Dämme mehr als 10-mal so viel speichern konnten.
Lässt sich das so genau sagen?
Die Unsicherheit ist tatsächlich noch gross, weil wir auch nicht genau wissen, wie sich der
Wasserhaushalt durch den Klimawandel verändert. Die Klimamodelle sind noch sehr ungenau,
wenn es darum geht, den zukünftigen Niederschlag abzuschätzen.
Nehmen wir trotzdem an, dass rund 1 Kubikkilometer Wasser kompensiert
werden muss. Wie viele Staudämme brauchte man in diesem Fall?
Das wäre mit rund einem Dutzend zentralisierten Dämmen in der Grössenordnung des Grande
Dixence machbar. Die Modellrechnungen suggerieren, dass es sich lohnen könnte, solche
Überlegungen weiterzuführen.
Zentralisierte Dämme hiesse aber, das Einzugsgebiet zu vergrössern. Es müssten
also Verbindungskanäle zwischen den einzelnen Gletschern gebaut werden. Das
ist doch völlig unrealistisch.
Das mag sein. Es ging uns ja auch darum, zu zeigen, dass wir allein mit technischen Lösungen
irgendwann an eine Grenze stossen. In der industrialisierten Welt sind wir oft zu sehr
technikgläubig. Ein Umdenken in unseren Ansprüchen, eine effizientere Energienutzung oder
das Reduzieren unseres Konsums wären eine effizientere und nachhaltigere Lösung. Das wird
aber oft im Namen des Wirtschaftswachstums einfach ausgeblendet.
Wo würden Sie denn den ersten Staudamm bauen?
Das kann ich so nicht sagen. Dazu müsste man erst eine Reihe von weiteren Faktoren in
Betracht ziehen, nicht zuletzt den Umweltschutz und die Wirtschaftlichkeit.
Der Faktor Umweltschutz ist also in Ihren Modellen nicht berücksichtigt?
Nein, bis jetzt nicht. Eine unserer Annahmen war, dass der Umweltschutz für die frei
werdenden Gletscherflächen eine kleinere Rolle spielt. Dort, wo die Gletscher abschmelzen, gibt
es praktisch keine Pflanzen und Tiere. Der See, der sich hinter der Staumauer bilden würde, ist
hingegen ein grösserer Eingriff in die Landschaft.
325
Der Glaziologe Wilfried Häberli hat vor wenigen Jahren aufgezeigt, dass sich mit
der Abschmelzung ohnehin natürliche Stauseen bilden werden. Es braucht
vielleicht gar nicht so viele Staumauern.
Das könnte in der Tat so sein. Man muss aber bedenken, dass die Voraussagen über die
Entstehung eines neuen Sees sehr unsicher sind. Zum Teil sind es ja sehr kleine topografische
Gegebenheiten, die über eine solche Entstehung entscheiden, und so gut sind unsere Modelle
leider nicht.
Wie gross ist das Problem in anderen Regionen der Welt?
Es gibt Regionen, in denen die Problematik viel grösser ist als in der Schweiz. In Zentralasien
zum Beispiel, wo es im Sommer sehr trocken ist, ist Wasser aus der Schnee- und
Gletscherschmelze für den Wasserhaushalt zentral. Wenn diese Wasserressource verschwindet,
kann es zum Teil zu einer ausgesprochenen Trockenheit kommen. Für uns wäre es spannend,
die verwendeten Modelle auch für solche Regionen laufen zu lassen. Bei den Stauseen würde es
sich zudem lohnen, zu berechnen, wie viel Strom man aus dieser Wasserkraft gewinnen könnte.
Daniel Farinotti
Der Gebirgshydrologe arbeitet am Institut für Wald, Schnee und Landschaft WSL in
Birmensdorf.
„Die Schweiz ist todlangweilig“
Ein Gespräch mit Edi Rama, dem schlagkräftigen Premierminister von Albanien.
Von Bruno Ziauddin und Mikael Krogerus, Das Magazin vom SA 5. Juni 2016
Zum Glück haben die albanischen Fussballer nicht dieselbe Statur wie ihr Premierminister. Sonst
müsste man sich noch mehr Sorgen um die Schweizer Mannschaft machen als ohnehin schon. Edi
Rama, 51 Jahre alt, vormals semiprofessioneller Basketballer, international anerkannter Künstler
(Ausstellungen in Paris, New York, Venedig, São Paulo), während elf Jahren Bürgermeister von
Tirana und seit September 2013 Ministerpräsident der Republik Albanien, misst zwei Meter und
einen Zentimeter. Okay, als er an diesem milden Frühlingsmorgen durch das turnhallengrosse
Konferenzzimmer im Regierungsgebäude schlurft, um sich vor der Nationalflagge mit schwarzem
Doppeladler an einen massiven Holztisch zu setzen, sind es ein paar Zentimeter weniger. Vielleicht
hat Edi Rama Rückenschmerzen (Sport) oder einen Hangover (Kunst) oder eine depressive
Verstimmung (Politik). Auf alle Fälle hält sich seine Vorfreude auf das Interview in Grenzen.
Dies sei hier erwähnt, weil die Berichte über ihn in der Weltpresse («Financial Times», «New
Yorker», «Süddeutsche Zeitung») den Eindruck eines stets zu Scherzen aufgelegten Politexzentrikers
vermitteln. Einer, der im Vorzimmer seines Büros einen Basketballkorb installiert hat und sich die
Langeweile während Regierungssitzungen zeichnend vertreibt (auf seinem Pult liegen Dutzende
Buntstifte). Einer, der die trostlosen Fassaden Tiranas mit leuchtenden Farben anmalen liess – er
nennt seine Landsleute «ästhetisch herausgefordert» – und dem auch heute noch, als Amtskollege
von Angela Merkel und François Hollande, der Sinn nach anarchischen «Interventionen» steht. Vor
dem Regierungsgebäude steht ein «Giant Triple Mushroom» des belgischen Installationskünstlers
Carsten Höller. Der überdimensionierte Dreifachpilz sei ein Kommentar zur albanischen Politik,
brummt Rama in der Tonlage einer Harley-Davidson auf Spazierfahrt. «Ein Teil ist bekömmlich, ein
Teil halluzinogen und einer giftig.»
326
Das Magazin —Welche Mannschaft unterstützen Sie am Samstag an der Europameisterschaft –
Albanien I oder Albanien II?
Edi Rama — Albanien I, keine Frage. Sogar zwei Brüder werden sich gegenüberstehen, das ist
ziemlich bizarr. (Granit Xhaka spielt für die Schweiz, sein Bruder Taulant für Albanien;
Anm. d. Red.) Die Situation spiegelt ein wenig die jüngere Geschichte der beiden Länder. Ich
erinnere mich an ein Spiel in der Schweiz, das wegen der vielen Albaner im Stadion praktisch zum
Heimmatch für uns wurde.
Wer gewinnt?
Nun, die Qualifikation zur Euro haben wir dank unserer Erfolge in den Auswärtsspielen geschafft. In
der Fremde sind wir sehr, sehr stark. Aber klar: Die Schweiz hat das erfahrenere Team. Mit einem
1:1 wären wir zufrieden.
Von den zahlreichen Fussballern mit albanischen Wurzeln aufseiten der Schweizer: Wen hätten Sie
am liebsten in Ihrer Mannschaft?
Ich würde die beiden Brüder gern gemeinsam für Albanien spielen sehen. Sie erinnern mich an den
Doppeladler in unserer Flagge: Einer blickt nach Albanien, der andere zur Schweiz.
Die besten Spieler albanischer Herkunft stammen fast alle aus Kosovo. Woran liegt das?
Vielleicht hatten sie einfach die besseren Möglichkeiten, um sich zu entwickeln. Die Menschen aus
Kosovo haben eine viel längere Geschichte der Emigration: Generationen, die im Ausland leben und
sich in die jeweiligen Gesellschaften integriert haben. Jene, die in der Schweiz oder Deutschland zu
Fussballern wurden, haben die Sportart unter den bestmöglichen professionellen Bedingungen
erlernt. Die Auswanderung aus Albanien hingegen hat viel später eingesetzt.
Kosovaren versus Albaner im Nationalteam: Ist das ein Thema bei Ihnen?
Ich verstehe die Frage nicht.
Bei uns wird über solche Dinge gesprochen. Von ganz rechts heisst es: zu viele Eingewanderte in der
Mannschaft, zu wenige «Eidgenossen» – «echte» Schweizer.
Vielleicht sind Uhren und Rechtsextreme das einzig Echte an der Schweiz? Ich hoffe es nicht für Sie.
Ist Fussball völkerverbindend?
Oh, Fussball kann beides sein: eine fantastische Brücke, aber auch ein übler Spaltpilz. Nehmen Sie
das, was im Herbst 2014 beim Spiel zwischen Serbien und Albanien passiert ist: Mein serbischer
Amtskollege und ich hatten mit grösster Sorgfalt einen Prozess der Annäherung in die Wege geleitet.
Ich hätte der erste albanische Premier nach 68 Jahren sein sollen, der Belgrad besucht! Leider gab es
dort zuerst ein Fussballspiel. Ein Fan unserer Mannschaft steuerte eine Drohne ins Stadion, an der
eine grossalbanische Flagge befestigt war …
… ein wenig subtiler Hinweis auf den albanischen Wunsch nach einer Vereinigung mit dem von
Serbien beanspruchten Kosovo.
327
(Edi Rama brummt ungehalten.)
Volltreffer: Edi Rama war früher mal Basketballnationalspieler. Zur Entspannung wirft er in seinem
Vorzimmer noch immer gern ein paar Körbe.
Es kam zu wüsten Ausschreitungen, die Partie wurde abgebrochen.
Die Aktion drohte all unsere Fortschritte zunichtezumachen.
So doof kann Fussball sein.
Meist jedoch ist er eine tolle Sache. Stellen Sie sich vor, wie öde unser Leben wäre, wenn wir nie ins
Stadion oder ins Kino gingen. Als ob man in einem Haus ohne Fenster und Türen lebte.
Slavoj Žižek sagt: Alle Klischees sind wahr. Welche Klischees über Albaner sind wahr?
Was mit Sicherheit wahr ist: Žižek ist zum lischee seiner selbst geworden.
Und welche Klischees haben Albaner von der Schweiz?
Im Allgemeinen hegen sie nur positive Gefühle für das Land. Jene, die es kennen, weil ihre
Lebensgeschichten mit der Schweiz verbunden sind. Und jene, die das Land nicht kennen, weil sie
keine Ahnung haben, wie weit rechts ihr seid.(Zum ersten Mal an diesem Morgen huscht ein Grinsen
über sein Gesicht.)
Sie sagten mal, die Schweiz sei ein langweiliges Land.
Verglichen mit unserer Region, ist die Schweiz langweilig. Todlangweilig. Als Bürgermeister von
Tirana war ich mal auf Durchreise, und ich dachte: Hier würde ich nie Bürgermeister sein wollen.
Gibt nix zu tun.
328
Menschen leben gern an langweiligen Orten. Die bieten Sicherheit, Verlässlichkeit und Arbeit.
Einverstanden. In diesem Sinn muss es unser Ziel sein, ein langweiliges Albanien zu schaffen. Einen
guten Ort, um seine Kinder grosszuziehen.
Die Schweiz: gut für Familien, schlecht für Edi Rama.
Wahnsinn! Für jede Idee, die du hast, musst du eine Volksabstimmung durchführen.
Sind sich die Menschen in Albanien eigentlich bewusst, dass ihre Landsleute in der Schweiz keinen
besonders guten Ruf geniessen?
Aber sicher. Nicht nur in der Schweiz, auch anderswo. Der schlechte Ruf verfolgt uns seit vielen
Jahren. Kennen Sie «Wag the Dog» mit Robert De Niro? In diesem Film sind alle Albaner verrückt
und kriminell.
Was lässt sich gegen das schlechte Image tun?
Wer sein Image ändern will, muss sich selbst ändern. Wir müssen das Land, die Region entwickeln.
Daran arbeiten wir. Es geht voran, langsam, aber stetig. Die tüchtigen Albaner und Kosovaren, die
im Ausland leben, leisten täglich ihren Beitrag. Die Situation ist nicht mehr dieselbe wie in den
Neunzigern, als sich viele danebenbenahmen und so die Grundlage für diese schrecklichen
Vorurteile über Albaner schufen.
Žižek hat also doch ein bisschen recht. Zumindest dieses Klischee beruht auf einem wahren Kern.
Absolut. Wir haben zum negativen Image beigetragen. Diesen Job haben wir gründlich erledigt.
Sie sagen, das Image der Auslandalbaner ändere sich, Albanien ändere sich. Was das Land betrifft,
sind die Statistiken allerdings nicht ermutigend: 18 Prozent Arbeitslosigkeit, die tiefsten Löhne
Europas, eine hohe Staatsverschuldung, schlechte Infrastruktur, Platz 88 auf der
Korruptionsrangliste von Transparency International …
Arbeitslosigkeit ist auf dem ganzen Balkan ein Problem. Immerhin haben wir eine der tiefsten
Arbeitslosenquoten der Region. Korruption wiederum ist ein Merkmal von Ländern mit schwachen
Institutionen. Albanien wurde mehr als vier Jahrzehnte von einem Diktator regiert. Wir mussten von
null auf funktionierende staatliche Institutionen aufbauen. Korruption ist keine Frage der Menschen,
sondern des Systems. Sie ist eine Alternative zu einem ineffizienten Staat, der seine Aufgaben nicht
erfüllt. Wenn der Staat die Dienstleistungen, die du von ihm erwartest, nicht erbringt, schmierst du
eben jemanden. Auch in diesem Bereich machen wir Fortschritte. Auf der Korruptionsrangliste
haben wir dreissig Plätze gutgemacht. Bis vor zweieinhalb Jahren war es hier beispielsweise normal,
Polizisten zu schmieren. Das haben wir abgestellt.
Bleiben oder auswandern: Was raten Sie gewöhnlichen Albanerinnen und Albanern?
Polen, Rumänen oder Ungarn verlassen ihre Heimat ebenfalls zu Hunderttausenden. Es zieht sie nach
Westeuropa, weil die Perspektiven, etwas aus ihrem Leben zu machen, dort besser sind. Das ist ein
normaler Vorgang, der mir keine Sorgen macht. Schliesslich kehren viele wieder heim, auch nach
Albanien. Von diesem Austausch können wir nur profitieren.
Sie möchten Albanien als europäische Feriendestination etablieren. Ist Ihr Land einem verwöhnten
Schweizer Touristen bereits zuzumuten?
329
Kommt drauf an, was der verwöhnte Schweizer Tourist sucht. Sucht er dieselbe Langweile, die er
von zu Hause kennt? Dann bleibt er besser weg. Wenn er aber etwas völlig anderes erleben möchte –
eine Zeitreise in die Welt seiner Grosseltern –, dann könnte es eine gute Wahl sein. Und wir haben
schöne Küsten und Strände. Jene mit mehr Betrieb liegen an der Adria, die abgelegenen am
Ionischen Meer.
Sie sind der zweitmächtigste Mann Albaniens – nach dem US-Botschafter. Korrekt?
Was reden Sie da? Ich überrage ihn bei weitem. Jedenfalls was die Körpergrösse betrifft.
Können wir uns darauf einigen: Die USA sind ein nicht ganz unwichtiger Verbündeter Albaniens?
Ja, ja. Sehr wichtig. Wir lieben die Amerikaner! Zumindest heute ist das so. Enver Hoxha, unser
gewesener Diktator, hat während eines halben Jahrhunderts Gratiswerbung für die USA gemacht,
indem er sie jeden Tag verteufelte. Sogar Saxofonspielen war verboten. Und was ist attraktiver, als
sich mit dem Teufel einzulassen?
Als Premierminister sind Sie angetreten, Ihr Land zu reformieren und zu modernisieren. Welche
Note geben Sie sich nach knapp drei Jahren?
Meiner bescheidenen Meinung nach gibt es zwei Möglichkeiten, ein hohes Amt zu bekleiden:
Entweder du benutzt die Macht, oder die Macht benutzt dich. Es gibt zu viele Politiker, die sich von
der Macht verschlingen lassen. Sie haben Angst, die nächsten Wahlen zu verlieren, und richten ihr
Handeln danach aus. Mein Credo war immer: Du wirst gewählt, übst Macht aus, versuchst etwas zu
bewirken, dann trittst du ab. Ich habe noch keinen Tag an meine Wiederwahl gedacht. Darauf bin ich
stolz.
Kritiker sagen, Sie seien ein guter Bürgermeister gewesen. Als Premier hingegen falle Ihre Bilanz
schlechter aus. Was konkret haben Sie erreicht?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben eine Energiereform durchgebracht. Davor wurden 42 Prozent
der Elektrizität des Landes verbraucht, ohne dass jemand dafür bezahlte. 42 Prozent! Geklaut!
Unsere Reform hat dem ein Ende bereitet. Das ist nicht nur aus ökonomischer Sicht ein gewaltiger
Fortschritt, sondern auch hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit. War das eine populäre Reform? Nicht
unbedingt. Denn die Leute waren es gewohnt, Strom gratis zu beziehen. Den Nutzen einer solchen
Massnahme wird man vielleicht in zehn, fünfzehn Jahren sehen. Inwieweit das mir persönlich als
Politiker nützt oder schadet, ist mir egal.
Wo steht denn Albanien in zehn, fünfzehn Jahren?
Ich bin keiner, der besonders viele Visionen hat. Für diese Region habe ich nur eine: dass sie dereinst
in der Europäischen Union integriert ist.
Als Vollmitglied oder in Form einer Assoziierung?
Vollmitgliedschaft. Aber man weiss nie: Es geht nicht mehr nur um uns, ob wir die Voraussetzungen
für einen Beitritt erfüllen. Es geht darum, ob die Union überhaupt fähig ist, neue Länder
aufzunehmen. Ja sogar darum, ob sie in fünfzehn Jahren überhaupt noch in dieser Form existiert.
«Angela Merkel ist die Einzige, die das Richtige tut.»
330
Die Krise der EU wurde durch die Flüchtlingskrise noch verschärft. Sie sind nahe dran, aber nicht
involviert. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der letzten zwölf Monate?
Was jetzt passiert, droht zur Tragödie Europas zu werden. Das ist ein Lackmustest, bei dem die
Schwachstellen der Union auf dem Prüfstand stehen.
Hat Angela Merkel richtig gehandelt?
Sie ist die Einzige, die das Richtige tut.
Was kann Albanien zu einer Linderung der Flüchtlingskrise beitragen?
Wir sind bereit, in einem gesamteuropäisch definierten Rahmen unseren Teil beizutragen und
Flüchtlinge aufzunehmen. Aber wenn Europa als Ganzes dazu nicht bereit ist: Was kann ein Land
wie Albanien ausrichten? Ich sehe keinen Plan, ausser dass es heisst: Wir überlassen das Problem
den Griechen oder den Türken. Das ist nicht meine Vorstellung eines geeinten Europas. Das ist ein
Albtraum.
Sie haben den Balkan die proeuropäischste Region des Kontinents genannt. Die Schweiz hingegen ist
ein überaus antieuropäisches oder zumindest EU-skeptisches Land. Was raten Sie den Schweizern …
… ich werde mich hüten, den Schweizern irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Ich beneide sie, das
ist alles.
Beneiden?
Klar. Weil sie ein einmaliges politisches System geschaffen haben. Die Schweiz ist der Beweis, dass
es auch ohne EU geht. Allerdings glaube ich nicht, dass das Land ein Vorbild für andere sein kann.
Das Schweizer Modell ist nicht kopierbar.
In Albanien sind rund 60 Prozent der Bevölkerung Muslime. Christen bilden mit knapp 20 Prozent
die grösste Minderheit. Die verschiedenen Religionsgruppen leben ohne Probleme zusammen. Was
kann das von Islamängsten heimgesuchte Europa von Ihrem Land lernen?
Eine der grössten Gefahren für Europa ist die Ignoranz gegenüber Muslimen. Wir sollten diese
Ignoranz so entschieden wie möglich bekämpfen, denn sie spielt den Extremisten auf beiden Seiten
in die Hände – der extremen Rechten wie auch den Islamisten. Ohne vertiefte Kenntnisse der
Religion fehlt den Jugendlichen in Europa die Fähigkeit, die Flut an widersprüchlichen Aussagen
über den Islam, all die Behauptungen und Fehlinformationen, richtig einzuschätzen. Deshalb sind wir
daran, an unseren Schulen einen Religionsunterricht einzuführen. Es soll dabei nicht um Ausübung
des Glaubens gehen, sondern um Vermittlung von religiösem Wissen. Jugendliche dürfen dem nicht
wehrlos ausgeliefert sein, wenn sie die Propaganda irgendwelcher Idioten zu hören bekommen.
Klingt einleuchtend. Aber auch ein bisschen simpel.
Schauen Sie nach Amerika. Donald Trump ist ein höchst alarmierendes Beispiel dafür, was Ignoranz
anrichten kann. Sein Erfolg beruht nicht zuletzt auf der Ausschlachtung von völlig irrationalen
antimuslimischen Gefühlen seiner Wähler. Es gibt 1,5 Milliarden Muslime auf der Welt. Davon sind
gerade
mal
150 000
in
gefährlichen
Gruppierungen
aktiv.
Das
sind
0,01 Prozent. Zahlen und Fakten können überzeugend sein. Aber zuerst muss man sie zur enntnis
nehmen. Der Leerraum, der durch Unwissen geschaffen wird: Das ist der Ort, wo Hass gedeiht.
331
Vor zehn Jahren sagte ein enger Freund über Sie: «Edi hat sich in die Politik verliebt. Er spricht mit
demselben Enthusiasmus über sie, mit dem er über eine Frau spricht, in die er verliebt ist.» Wie geht
es Ihrer Beziehung zur Politik heute? Getrennte Schlafzimmer? Scheidung eingereicht?
Nein, nein, Politik ist fantastisch. Sie ist ein Instrument, um das Leben der Menschen zu verbessern.
Der Umstand, dass sie auch viel Unheil anrichtet, ändert daran nichts. Klar, Politik ist nicht zuletzt
deshalb gefährlich, weil sie Illusionen schaffen kann. Gerade die Politiker selber sind dafür
empfänglich. Für meinen Teil hoffe ich einfach, dass ich noch bei Verstand bin, wenn ich abtrete.
Der Zeitschrift «New Yorker» sagten Sie, von der Kunst in die Politik umzusteigen sei, «wie das
Geschlecht zu wechseln». Was hat der Politiker Edi Rama von der Kunst gelernt?
Sie hat mir geholfen zu verstehen, wie viel Kraft von Bildern ausgeht, von der Kultur generell. Und
ich weiss, dass es ganz verschiedene Arten gibt, mit Menschen zu kommunizieren. Umgekehrt hoffe
ich nicht, dass ich als Künstler von der Politik profitiert habe. Das wäre ein Desaster.
Bezeichnen Sie sich eigentlich als Künstler oder als Ex-Künstler?
Das Leben hat mich in einer Art und Weise umarmt, die es mir unmöglich macht, eine eindeutige
Etikette zu finden für den, der ich bin. Ich befinde mich in einem schizophrenen Zustand zwischen
Kunst und Politik und hoffe fest, dass noch ein drittes Leben auf mich wartet. Eines, in dem es
keinen Widerspruch zwischen den beiden Polen zu geben braucht. Aber dafür muss ich mich erst mal
aus der Politik verabschieden.
Es heisst, Macht verändere einen Menschen. Trifft das auf Sie zu?
Schauen Sie sich Bilder von meinem Wahlkampf an. Und jetzt mich. Sie sehen eine Person, die rasch
gealtert ist. Dies wiederum ist ein Abbild dessen, was in mir drinnen geschehen ist. Hat die Politik
aus mir einen schlechten Menschen gemacht? Es liegt nicht an mir, das zu beurteilen. Ich hoffe nicht.
Sie waren Mitglied der albanischen Basketballnationalmannschaft und sind eine physisch imposante
Erscheinung. Das hat Sie nicht davor bewahrt, zu Zeiten der Demokratiebewegung aufs Schwerste
verprügelt zu werden. Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht?
Eine schreckliche Erfahrung. Man verliert ein Stück Autonomie. Das Vertrauen in den eigenen
Körper wird erschüttert.
Niklaus Meienberg, der wichtigste Schweizer Journalist der Siebziger- und Achtzigerjahre, ebenfalls
ein Hüne von Mann, hat die Folgen eines Überfalls ganz ähnlich beschrieben. Er hat sich nie mehr
richtig davon erholt und sich später das Leben genommen.
Das kann ich verstehen … Ich hoffe bloss, dass ich mich nicht auch eines Tages umbringe. (Er blickt
auf die Uhr und erhebt sich vom Tisch.) Jetzt muss ich Sie leider rausschmeissen.
Pharaonen und Raumfahrt
Tutanchamun Die Hoffnung auf weitere Kammern im Grab zerschlug sich, dafür fand man
ausserirdische Gegenstände.
332
Von Constantin Seibt, TA vom SA 4. Juni 2016
Lichtenberg schrieb einmal: «Es wurde ein Blumenkörbchen angekündigt, und siehe da, es
erschien ein Kartoffelsäckchen.» Und so ist es.
Das Kartoffelsäckchen der Woche kommt aus Ägypten. Dort hatte der Archäologe Nicholas
Reeves eine sensationelle Entdeckung gemacht: Hinter zwei Wänden des Grabs von
Tutanchamun hatte er mit Scannern neue Räume entdeckt. Seine Vermutung war, dass
dahinter das Grab von dessen Stiefmutter Nofretete liegen könnte.
Es war eine der Nachrichten, bei denen man das Kinderglück spürte, zu leben - und noch lang
genug zu leben, um das Geheimnis gelüftet zu sehen: ein unversehrtes Grab von vor 3300
Jahren, so wie 1922 Howard Carter die Grabstätte Tutanchamuns entdeckt hatte.
Zwar war Tutanchamun kein bedeutender Pharao gewesen. Er war mit 19 gestorben, nach
einem wahrscheinlich qualvollen Leben: Als Sohn von Pharao Echnaton und seiner Schwester
hatte er Klumpfuss, Hasenzähne, schmerzhafte Knochenkrankheiten. Im Grab fand man auch
zwei winzige mumifizierte Körper: seine beiden totgeborenen Töchter.
Und trotzdem verbreitete Tutanchamun im Tod Pracht und Träume, weil sein Grab über die
Jahrtausende ungeplündert blieb - und wer als Kind Archäologiebücher gelesen hat, träumte
von mehr. Bis diese Woche Tests mit besseren Scannern gemacht wurden. Und die fanden:
nichts. Keine Hohlräume, keine Geheimtüren, nichts.
Es war die gleiche Enttäuschung wie mit anderen Kinderträumen: Marsraumschiffe oder
Unterwasserstädte. Je älter man wird, desto mehr versteht man den Satz von William S.
Bourroughs: «Wo sind die Individualhelikopter geblieben, die einem immer versprochen
wurden?»
Bis . . . bis gestern Nachmittag, als die Meldung kam, dass ein Dolch, den man neben
Tutanchamuns Mumie fand, wegen seines Nickel- und Kobaltanteils keinesfalls irdischer
Herkunft ist: Er wurde aus dem Eisenerz eines Meteoriten geschmiedet.
Das war ein Trost. Das Blumenkörbchen blieb zwar aus, aber siehe da, es erschien ein Kartoffelsäckchen ausserirdischer Herkunft.
Führt sie Rom auf den rechten Weg?
333
Betrug, Bankrott und Berge von Abfall: Virginia Raggi sagt, sie könne nicht länger zuschauen.
Foto: Antonio Masiello (NurPhoto)
Zum ersten Mal könnte die Ewige Stadt eine Bürgermeisterin bekommen. Unterwegs mit
Virginia Raggi, die aus dem Nichts kommt und Rom eine Renaissance verspricht.
Eine Reportage von Oliver Meiler, TA vom SA 4. Juni 2016
Da vorn steht sie, die Handtasche zwischen die Füsse geklemmt, und drückt alle Hände, die sich
ihr entgegenstrecken. Über die Köpfe hinweg, hinter den Rücken hindurch, vorbei an Bäuchen.
Es ist ein fester Händedruck, ein Pressen. «Forza! Lassen Sie sich nicht unterkriegen.» Virginia
Raggi nickt verlegen und drängt sich durch die Menge vor dem Mercato Tuscolano, einer
Markthalle ohne Charme in einem Aussenviertel von Rom. Flugzeuge im Landeanflug dröhnen
über den Dächern, blassbraune Sonnenschirme hängen im Wind. «Ist das diese Raggi?», fragt
eine ältere Frau in die Runde, «etwas jung und zerbrechlich, nicht? Wenn das nur gut geht!»
Die Römer wählen einen neuen Bürgermeister. Und es kann gut sein, dass «la Raggi», die vor
einigen Wochen noch kaum jemand kannte, die Wahl gewinnt. Alle Umfrageinstitute sehen die
37-jährige Anwältin vorn. Sie wäre die erste Frau im Amt - in der ganzen langen Geschichte
dieser grossen, schönen, schwierigen Stadt. Und ihr Sieg wäre die bisher grösste Trophäe des
Movimento Cinque Stelle, einer jungen Protestpartei, die ihre Stimmen aus dem Verdruss der
Italiener über ihre politische Klasse fischt, in der Wut über das korrupte Establishment.
«Questa gente», sagt Raggi abschätzig, wenn sie von den Politikern der alten Parteien spricht,
diese Leute. «Tutti uguali», sagt sie auch oft, alle gleich. Die Formel ist ihr Mantra und ein
schöner Teil ihres Programms.
334
Die grotesken Leiden
In Rom ist der Zorn über die Kaste besonders gross. Das ist Raggis Chance. Die etablierten
Parteien, linke wie rechte, haben sich in jüngerer Vergangenheit so unmöglich aufgeführt, dass
die Stadt unter die Kuratel eines Sonderkommissars gestellt werden musste. Das passiert sonst
vor allem in Sizilien und Kalabrien, wo das organisierte Verbrechen die Stadthäuser
unterwandert. Aber Rom? Draussen, im Gefängnis von Rebibbia, läuft der Prozess gegen
«Mafia Capitale», die Mafia der Hauptstadt. Aus den vermischten Meldungen in den Zeitungen
erfahren die Römer in kleinen Verabreichungen, wie sich Politiker, Beamte und Unternehmer
zu Dutzenden an den öffentlichen Töpfen bedient haben, sich Jobs und Aufträge zuspielten,
Rechnungen überteuerten, während die städtischen Dienste dahindämmerten, dahinsiechten.
Die Stadt hat nun 13 Milliarden Euro Schulden. Ein grotesker Berg. Unlängst appellierte der
Beauftragte für die Kulturgüter, Superintendant Claudio Parisi Presicce, an Firmen und Bürger,
sie möchten doch spenden, damit 500 Millionen Euro zusammenkämen. Ohne dieses Geld lasse
sich der Kulturschatz nicht konservieren. Schon jetzt sind es grosse Modehäuser, die als Mäzene
auftreten: Fendi lässt die Brunnen restaurieren, Bulgari die Spanische Treppe, Tods das
Kolosseum. Rom ist pleite. Der Bankrott starrt einem allenthalben ins Gesicht, vor allem
jenseits der antiken Mauern. Man hat selten das Gefühl, die Stadt werde ordentlich verwaltet.
Zum Beispiel der Verkehr: In keiner Kapitale Europas fahren mehr Bewohner mit dem eigenen
Auto zur Arbeit als in Rom, nämlich 70 Prozent. Das hat damit zu tun, dass die öffentlichen
Verkehrsmittel wenig taugen. Atac, der städtische Verkehrsbetrieb, beschäftigt
12 000 Angestellte, schafft es aber nicht, mehr als die Hälfte seiner Autobusse wirklich zu
betreiben. Und da aus Wut am miesen Service fast niemand zahlt, denkt man nun wieder
darüber nach, ob nicht Ticketverkäufer mitfahren sollten, und zwar in jedem Bus, jedem Tram,
jeder Metro. Ein Römer verbringt dreimal mehr Zeit im Auto, gefangen im Verkehr, als ein
Mailänder. Und dann sind da noch die «buche», die Löcher in den Strassen. Auf
6500 Kilometer Strasse zählt Rom alle 15 Meter ein Loch. Manchmal sind es kleine Krater. Es
klingt wie ein Witz, würden nicht ständig Motorradfahrer tödlich verunglücken.
Nichts spiegelt den Niedergang der Stadt so plastisch wie die Geschichte mit dem Abfall. In
Rom bezahlt man die höchste Abfallsteuer im Land, sie liegt 50 Prozent über dem nationalen
Durchschnitt. Doch selbst im historischen Zentrum, dem Schaufenster, schafft es die städtische
Müllabfuhr AMA mit ihren 8000 Mitarbeitern nicht, die Gassen und Piazze sauber zu halten.
Da türmen sich jeden Abend Abfallberge neben den Terrassen der Restaurants, umschwirrt von
Möwen, Tauben und Ratten. Keinen Betrieb hassen die Römer mehr als die AMA. 91 Prozent, so
ergab die jüngste Erhebung, halten ihre Stadt für dreckig. «Ich will, dass Rom aufersteht», sagt
Virginia Raggi, «die Stadt ist in einem schrecklichen Zustand.» Sie könne dabei nicht mehr
länger zuschauen.
Man schiebt Raggi jetzt zu Stefano und Duilio vom Angolo del Pane, einem Stand mit
Backwaren. Die beiden Herren sind aufgeregt, die ganzen Kameras! Über den Dreien prangt ein
grosses Wappen der AS Roma, dem grösseren der beiden Fussballvereine der Stadt. Und so
entstehen lustige Fotos. Raggi hängt nämlich Lazio Rom an, sagt das aber lieber nicht so
eindeutig, weil sie das einige Zehntausend Stimmen kosten könnte: Die Roma hat nun mal viel
mehr Fans als Lazio.
Katzen gegen Ratten
Auch das war ein Thema in diesem Wahlkampf, von dem die Nachwelt, sofern sie sich denn
daran erinnern möchte, einmal sagen wird, dass er frivol war. Statt der grossen Probleme der
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Stadt wurden Bagatellen verhandelt, etwa der Bau einer Seilbahn von einem Viertel zum
anderen oder die Bekämpfung von neun Millionen Ratten mit der Ansiedlung von einer halben
Million Katzen. Ist es Resignation? Rom gilt als schier unrettbar.
Raggi hat doppelt Glück. Ihre Gegner sind nicht nur diskreditiert, deren politische Lager sind
auch noch gespalten. Die Linke und die Rechte treten je mit zwei Kandidaten an, die sich
gegenseitig Stimmen rauben. Chancen auf den Wahlsieg haben neben Raggi wohl nur zwei von
ihnen. Roberto Giachetti vom Partito Democratico, Vizepräsident der italienischen
Abgeordnetenkammer, 55 Jahre alt, ständiger Dreitagebart, hat in den Neunzigern schon
einmal im Rathaus gearbeitet. Er sagte einmal, er habe schon ein bisschen Angst vor der
Herausforderung. Und Giorgia Meloni (39), früher Sportministerin, Chefin der
postfaschistischen Partei Fratelli dItalia, machte vor allem von sich reden, weil sie gerade
schwanger ist und eigentlich gar nicht kandidieren wollte.
Und so kommt es also, dass diese junge, grazile Frau mit dem verbindlich festen Händedruck
und ohne jede Exekutiverfahrung, die vor einigen Wochen noch keiner kannte und die von ihrer
Partei bei einer Onlineumfrage mit 1764 Stimmen gewählt wurde - dass diese Virginia Raggi
also bald Bürgermeisterin von Rom werden könnte. Ihr Regierungsteam hat sie noch nicht
vorgestellt. Zehn Kaderleute soll es dann mal umfassen. Vor einigen Tagen hiess es, sie suche
noch nach passenden Persönlichkeiten.
Drehscheibe für salafistische Imame
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«Wer im Kampf fürs Vaterland stirbt, ist ein Märtyrer»: Der Wetziker Imam Bashkim Aliu.
Foto: Doris Fanconi
Viele der hiesigen albanischen Imame haben in Saudiarabien studiert. Auch die Imame von
Regensdorf, Zürich-Altstetten und Wetzikon laden gerne radikale Prediger aus Kosovo und
Mazedonien ein.
Von Michael Meier, TA vom SA 4. Juni 2016
Die bärtigen albanischen Imame in der Schweiz kultivieren einen virilen Islam. Mit meist
beschwörender Gestik und ernstem bis martialischem Tonfall rufen sie zum grossen Jihad auf,
dem moralischen Kampf gegen Laster und Sünde. Die Prediger warnen vor Satan und dem
Feuer der Hölle. Oder glorifizieren das politische Martyrium. So der Wetziker Imam Bashkim
Aliu in einem Referat über den wahren Patriotismus: Wer im Kampf fürs Vaterland sterbe, sei
ein Märtyrer - wie die Helden der UCK, die ihr Leben für Kosovo hingegeben hätten. An seinem
letztjährigen Terrorismus-Seminar in der Moschee Wetzikon stellten er und der Regensdorfer
Imam Ferit Zekiri den Islam als Opfer dar. Bei Terroranschlägen Einzelner werde stets der
ganze Islam angeklagt. Dabei sei das Wort «islamischer Terrorismus» Unsinn. Sonst müsste
man auch vom christlichen oder jüdischen Terrorismus sprechen. Der Serbenführer Slobodan
Milosevic habe zur Zeit des Kosovo-Krieges, bevor er mit seiner Horde in den Krieg gezogen sei,
in der Kirche den Segen des Priesters eingeholt. Muslime indessen gingen vor Kriegszügen nie
zum Imam.
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Die beiden aus Mazedonien stammenden Imame Aliu und Zeriki haben zusammen an der
Universität Medina in Saudiarabien studiert, einer Brutstätte des wahabitischen Staatsislams.
Beide gehören zum Kreis von hiesigen Albaner-Imamen, die salafistische Kollegen aus
Mazedonien und Kosovo zu Seminaren in die Schweiz einladen. Organisator von solchen
Konferenzen ist auch Nebi Rexhepi, Imam der Moschee an der Rautistrasse in ZürichAltstetten. Sein Verhältnis zu Saudiarabien ist besonders eng. Er hat dort studiert und ist
Inhaber eines Reisebüros, das Pilgereisen zu den heiligen Stätten in Saudiarabien organisiert.
Disziplinierung der Frau
Rexhepi hat unlängst den aus Skopje stammenden Imam Omer Berisha in seine Zürcher
Moschee eingeladen. Der Absolvent der Universität Medina ist heute Imam in Linz und hat eine
eigene deutschsprachige Website. Das unterscheidet ihn von den Imamen in der Schweiz mit
ihren ausschliesslich albanischen Sites und Seminaren. Aus Berishas Website geht hervor, was
der salafistische Islam von Europa wünscht: die Erlaubnis für den öffentlichen Gebetsruf, für
das fünfmalige Gebet an Schulen, für gesetzliche muslimische Feiertage und Konversionen zum
Islam.
Auf Berishas Plattform ist auch die Hetzrede seines mazedonischen Kollegen Irfan Jahiu gegen
Homosexuelle aufgeschaltet, in der es darum geht, warum man ihre naturwidrigen Beziehungen
(gesetzlich) nicht anerkennen könne. Jahiu, in Riad ausgebildet, beklagte sich im Mai in der
Moschee Meshira in Brig, dass heute viele Muslime weder ihre Augen vor dem bösen Blick
schützten noch ihre Organe vor Hurerei.
Zur konservativen Agenda der Salafisten gehört die Disziplinierung der Frau. Gegen Frauen, die
nicht nach der Scharia leben, wettert der berühmte Youtube-Imam Irfan Salihu von Prizren.
2013 predigte er in der albanischen Zürcher Moschee bei Rexhepi: «Frauen, die kein Kopftuch
tragen, begehen eine grössere Sünde als Männer, die Schnaps saufen.» Inzwischen haben
kosovarische Politikerinnen dafür gesorgt, dass er als Imam von Prizren entlassen wurde. In
einem Youtube-Vortrag über Jungfräulichkeit hatte Salihu unverheiratete, aber sexuell aktive
Frauen als Huren beschimpft. Männer sollten sie «wegwerfen wie gebrauchte Taschentücher».
Schweiz ist besonders attraktiv
Seit dem Balkankrieg finanzieren saudische Stiftungen in Bosnien, Kosovo und Mazedonien den
Bau von Moscheen. In Kosovo sind seit dem Krieg 240 neue Moscheen entstanden, in
Mazedonien 300. Gleichzeitig haben sich dort unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe
salafistische Gruppierungen formiert. Sie werben fromme Männer an und lassen sie in
Saudiarabien studieren. Eine Reportage der «New York Times» hat eben aufgezeigt, wie Geld
und Einfluss der Saudis die tolerante muslimische Gesellschaft Kosovos «in eine Quelle für
islamischen Extremismus und eine Pipeline für Jihadisten verwandelt». Allein in den letzten
zwei Jahren seien in Kosovo 314 Männer für den Kampf des IS in Syrien und im Irak
angeworben worden.
Die Fundamentalisten mit ihren schwarzen Bärten versuchen, auf dem Balkan den
angestammten moderaten Islam mit der wahabitischen Doktrin zu unterwandern. Seit Jahren
tragen sie den von Saudiarabien gesteuerten Kampf gegen den gemässigten Islam auch in
die Schweiz hinein. Mit ihrer grossen Diaspora von 200 000 albanischen Muslimen ist die
Schweiz für die Salafisten attraktiv. Ihre Protagonisten erscheinen so häufig in hiesigen
Moscheen, dass man diese als Drehscheibe verstehen kann. Schätzungsweise 30 salafistische
Prediger aus Mazedonien und Kosovo, deren Namen auf Listen radikaler Imame figurieren,
haben einmal oder mehrmals in hiesigen albanischen Moscheen gepredigt: in Luzern, Brig,
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Visp, Liestal, Romanshorn, Wallisellen, Bülach, Basel, St. Gallen, Wetzikon, besonders häufig
in Altstetten, Regensdorf und Aarburg.
Just die Vorsteher dieser Moscheen hatten sich 2012 in der Union Albanischer Imame in der
Schweiz (UAIS) zusammengeschlossen, angeblich um den moderaten Muslimen eine Stimme zu
geben und dem religiösem Fanatismus entgegenzutreten. Ihr Präsident, der aus dem
mazedonischen Kumanovo stammende Imam Nehat Ismaili, ist Imam der Weissen Moschee in
Aarburg. Anfragen des TA lässt er unbeantwortet. Der Absolvent der Universität Medina
übersetzt und rezensiert Werke berühmter Islamisten, etwa von Muhammad Mursi und Yusuf
Qaradawi, dem äusserst umstrittenen Vordenker der Muslim-Brüder. Er hat sogar eine FatwaKommission initiiert, welche die Imame der Union bei der religiösen Rechtsprechung leiten
soll.
Das Bedauern der Liberalen
Über die Union nicht glücklich ist der populäre liberale Albaner-Imam Mustafa Mehmeti von
Bern. Er amtiert seit 2012 als Präsident des offiziellen albanisch-islamischen Dachverbands in
der Schweiz, der rund 30 Vereine mit einem weltoffenen Islam vertrete. Mehmeti bedauert,
dass sich die UAIS als ultrakonservativer Ableger abgespalten hat. Für ihn ist die Union kein
offizieller Verband, sondern ein stark von Arabien beeinflusster Clan. Dessen Imame seien in
Saudiarabien, Jordanien oder Ägypten ausgebildet worden. Sie verträten einen politischen
Islam, seien salafistisch orientiert, geschäftstüchtig und mit extremistischen Kreisen in
Mazedonien vernetzt. Der Wiler Imam Bekim Alimi, bis vor kurzem Vizepräsident der Union,
bestreitet dies. Von den 35 Imamen der Union seien keineswegs alle konservativ und einige
auch - wie er selber - in Kairo oder der Türkei ausgebildet worden. Die Union habe sich nicht
nur aus theologischen, sondern auch aus strukturellen Gründen von Mehmetis Verband
abgespalten.
In den Krieg reisen
Die Moscheen und Imame der Union erhielten keinerlei Finanzen von Saudiarabien, versichert
der Wetziker Imam Aliu. Präsident Nehat Ismaili sagte dem Portal albinfo.ch, die Union wolle
mit verstärkter Bildung der Imame «einzelnen Fällen des Extremismus» entgegentreten.
Deshalb organisiere man in der Schweiz «Seminare mit hervorragenden Professoren aus den
Herkunftsländern». Allerdings gehen gerade in Ismailis Moschee in Aarburg ultrakonservative
Muslime ein und aus. 2014 etwa der islamistische Politiker Gezim Kelmendi aus Kosovo, der
das Bildungsengagement der Imame in der Diaspora würdigte. In Aarburg waren auch Prediger
zu Gast, denen Radikalisierung vorgeworfen wird. Bekir Halimi aus Mazedonien zum Beispiel,
der mit Predigten junge Albaner motiviert haben soll, nach Syrien und in den Irak in den Krieg
zu reisen.
Wiederholt hat der Aarburger Imam den wohl umstrittensten kosovarischen Salafisten in die
Schweiz eingeladen, den in Medina ausgebildeten Shefqet Krasniqi, der vor einem Jahr als
Imam der grossen Moschee in Pristina entlassen wurde. Im September 2014 war er mit anderen
Imamen in Kosovo verhaftet worden. Den 15 Festgenommenen warf die Justiz Gefährdung der
Verfassungsordnung, Aufruhr und religiöse Hasspredigten vor. Sie hätten IS-Terroristen im
Nahen Osten unterstützt. Krasniqi soll den ersten in Syrien umgebrachten Jihadisten aus
Kosovo gesegnet haben. Überhaupt galt der Hassprediger als Strippenzieher der Radikalen. Die
Behörden gingen 2014 zweimal mit Verhaftungswellen gegen sie vor. Schliesslich hat Kosovo
von allen westliche-K Ländern die höchste Dichte an Jihad-Kämpfern.
Abgeschirmt und unbeobachtet
339
In der Schweiz nahm Krasniqi 2011 und 2013 an der Jahreskonferenz des Islamischen
Zentralrats teil. Im gleichen Jahr sprach er in Rexhepis Zürcher Moschee über den Aufstieg des
Islam nach der Befreiung des kommunistischen Kosovo. In der Schweiz trat er wiederholt mit
dem berüchtigten Imam Mazllam Mazllami von Prizren auf, der zusammen mit ihm verhaftet
worden war.
Beide referierten etwa in der Moschee Regensdorf bei Imam Ferit Zekiri, einem emsigen
Organisator von Seminaren. Im März letzten Jahres hatte er den bekannten wahabitischen
Imam von Medveda, Ulvi Fejzullahu, eingeladen, der wie er selber in Medina ausgebildet
worden war. Bei der Verhaftung von Krasniqi hatte er Kosovos Politiker als Höllenhunde
beschimpft. In Regensdorf sprach er darüber, wie man sich vor bösen Geistern schützen kann.
Begleitet wurde er vom mazedonischen Imam Ramadan Ramadani, auch dieser kein
unbeschriebenes Blatt. Dank Ramadani erfuhr die Bevölkerung von Mazedonien 2010 von der
wahabitischen Unterwanderung der Moscheen. Ramadani wurde beschuldigt, seine Isa-BeyMoschee in Skopje sei das Flaggschiff des Wahabismus. Obwohl er Verbindungen zum
radikalen Islam stets leugnete, wurde er des Amtes enthoben.
Islam-Expertin Sada Keller-Messahli fragt sich, weshalb die UAIS offiziell 50 albanische
Moscheen in der Schweiz unterhalte, wo doch nur rund zehn Prozent der Muslime eine
Moschee besuchten. «Wozu dient dieses Netzwerk? Bräuchte es nicht dringend eine Obergrenze
und klare Rahmenbedingungen?» Stossend ist für sie vor allem die Segregation der
Geschlechter. In den Moschen seien die Männer stets unter sich - beim Gebet, bei Vorträgen,
beim Essen. Da dort immer nur Albanisch gesprochen werde, glaubten sie sich in ihrer
Parallelwelt - abgeschirmt und unbeobachtet von der Aussenwelt.
Sterben im 15-Sekunden-Takt
340
Der Zürcher Schlachthof verarbeitet pro Jahr 270 000 Tiere zu Fleisch. Tierarzt Clemens Bauer
sorgt dafür, dass die Schweine und Kühe dabei möglichst wenig leiden. Das ist gar nicht so
einfach.
Von Beat Metzler Text und Doris Fanconi Fotos, TA vom SA 4. Juni 2016
Der Tod ist Frühaufsteher. Montagnacht, zwei Uhr: Beim Zürcher Schlachthof fahren erste
Tiertransporter vor. Während die Stadt rundherum schläft, trotten Schweine aus den
Lastwagen, Metzger binden sich Lederschürzen um, wetzen ihre Messer. Bald summt der erste
Elektroschock. Bis Mittag werden bis zu 2000 Tiere ausgeweidet und halbiert in Kühlräumen
baumeln.
Schlachthöfe sind ausgeklügelte Industrieanlagen, jeder Arbeitsgang wird auf Tempo getrimmt.
Die Margen sind eng, stockt ein Arbeitsgang, drohen schnell Verluste. Und doch gibt es
jemanden, der die Maschinerie jederzeit stoppen kann: Clemens Bauer, ein Tierarzt mit
zackigem Schritt, weissem Kittel und dichtem Bart.
Seit mittlerweile acht Jahren leitet Bauer die Veterinärdienste des städtischen Umweltamts. Er
und sein elfköpfiges Team überwachen den Zürcher Schlachthof, sortieren kranke Tiere aus,
verzeigen Züchter, deren Vieh misshandelt oder unterernährt ankommt. Sie prüfen das Fleisch
auf Krankheiten und sorgen dafür, dass die Herkunft jedes Stücks Fleisch nachverfolgbar bleibt.
Ausserdem achten sie darauf, dass die rund 70Angestellten korrekt handeln. Bauer: «Ob ein
Schlachthof tierfreundlich funktioniert, hängt vor allem von der Sorgfalt der Angestellten ab.»
Clemens Bauer selber kann es gut mit seinen Leuten. Er begrüsst sie mit Vornamen, stellt
Fragen, macht Witzlein, plaudert mit ihnen im Pausenraum, während er an einer filterlosen
Zigarette zieht. Doch trotz aller Kollegialität - auf seinen Rundgängen entgeht Bauer nicht die
kleinste Nachlässigkeit.
Mitleid mit den Kälblein
Sein Gegenspieler und Partner zugleich heisst Hans Rudolf Hofer. Der gelernte Metzger leitet
seit 15 Jahren die Schlachtbetrieb Zürich AG (SBZ). Hofers Geschäft läuft besser, je mehr Tiere
sein Betrieb zu «Lebensmitteln verarbeitet», wie er es nennt. «Maschinen und Löhne bringen
hohe Fixkosten. Deshalb brauchen wir eine gute Auslastung.» Logisch, dass Bauers
Kontrollauftrag und Hofers Effizienz-Wünsche manchmal schlecht zusammenpassen.
Aussenstehende finden selten Gefallen an Bauers Arbeitsplatz. Maschinen dröhnen, Dampf füllt
die Hallen, Blut spritzt, es riecht nach Metall und Mist. 250 bis 300 Tiere sterben hier pro
Stunde, der Tod kommt im 15-Sekunden-Takt. Nicht alle Besucher des Schlachthofs können
damit umgehen. «Es wurde schon einigen schwarz vor den Augen. Vor allem, wenn Kälblein
sterben, haben viele Mitleid», erzählt Clemens Bauer.
Der Tierarzt mag die Arbeit zwischen Tierhälften, Kuhköpfen und Schlachtabfällen. Anatomie
fasziniere ihn. Er weist auf die frisch herausgeschnittenen Innereien einer Kuh, im Darm zuckt
und blubbert es. «Das autonome Nervensystem arbeitet bis zu einer halben Stunde nach dem
Tod weiter.» Er hat sich schon früh an solche Anblicke gewöhnt; aufgewachsen zwischen
Bauernhöfen, arbeitete er nach dem Staatsexamen als Grosstierarzt. Später wurde er Leiter der
Fleischkontrolle im Schlachthof Hinwil.
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Aus Grosstieren Fleisch zu machen, ist eine physische Gewaltleistung - besonders, wenn man
nur wenige Minuten dafür hat. Der städtische Schlachthof besteht aus zwei Schlachtstrassen,
eine für Schweine, die andere für Kühe, Schafe und Ziegen. Zuerst läuft die Schweine-Linie,
nach bis zu fünf Stunden Arbeit und einer Pause wechseln die Metzger an die Grosstierstrasse.
Eine Linie besteht aus rund 25Arbeitsschritten. An den zentralen Positionen stehen
ausgebildete Metzger, sie betäuben die Tiere, entfernen die Haut am Hals und stechen die
Arterien auf, setzen die entscheidenden Schnitte, bei denen Fleisch verloren gehen oder
verschmutzt werden könnte. Präzision zahlt sich aus: Für genaues, sauberes Schneiden, das
essbare Teile schont, bekommen die Metzger einen Bonus.
Alle anderen Aufgaben erledigen Hilfsarbeiter: das Wegbrennen der Borsten, das Aufhaken der
Tiere, das Absägen der Füsse, das Abziehen der Haut, das Putzen der Hälse, das Verschliessen
des Darmausgangs mit einem Plastiksack.
Es sind anstrengende, monotone Jobs, stundenlang die gleiche Bewegung, Arm rauf, Schnitt,
Tierhälfte weiterschieben. Kurzes Ausruhen liegt nicht drin, das Förderband bringt Nachschub,
unerbittlich. Blutspritzer sprenkeln Haarnetze, Gesichter und Hände. Frauen gibt es wenige, die
meisten Arbeiter sind starke, schwere Männer. Schwingertypen, nennt sie Clemens Bauer.
Der Betrieb versuche die Leute dazu zu bewegen, ihre Positionen öfter zu tauschen, sagt Bauer.
Aber die meisten zögen es vor, stets das Gleiche zu tun. Derzeit wechseln sich die Angestellten
im Wochentakt ab. «Alles andere führt zu einseitigen körperlichen Belastungen», sagt
Schlachthof-Chef Hans Rudolf Hofer. Ausserdem müssten mehrere Mitarbeiter die gleiche
Aufgabe beherrschen, sonst stocke bei Ausfällen das Fliessband.
Durchschnittlich zehn Jahre bleibe man im Schlachthof, Bauer spricht von einer «tollen, treuen
Belegschaft». Man habe auch keine Mühe, neues Personal zu finden, sagt Hofer. Weil Schweizer
Metzgerlehrlinge heute den Beruf aber meist ohne Schlachtung erlernen, stammen viele neue
Metzger aus Deutschland. Die Hilfsarbeiter holt Hofer oft aus dem Osten der EU, Menschen aus
16Ländern beschäftigt der Schlachthof.
Dass Angestellte wegen des ständigen Tötens unter psychischen Problemen litten, habe er noch
nie erlebt, sagt Hofer, der früher selber an der Schlachtstrasse arbeitete. «Für uns ist das
normale Arbeit. Wir versuchen, sie so gut wie möglich zu erledigen. Mit Skrupeln ginge das
nicht.» Einer seiner Mitarbeiter schlachte seit 36Jahren Schweine, ohne deswegen schlecht zu
schlafen.
Die Probleme begännen eher ausserhalb der Schlachthofmauern, sagt Clemens Hofer. Wenn
ihn Fremde nach seinem Beruf fragten, antworte er oft ausweichend. «Einige Menschen werden
sonst ausfällig, beschimpfen uns als Mörder.» Die Vermenschlichung der Tiere habe das
Schlachten in Verruf gebracht. «Doch solange die Leute Fleisch essen, braucht es uns», sagt
Hofer. Er hat keine Mühe mit Vegetariern, fordert umgekehrt aber die gleiche Toleranz.
In Frankreich hat ein Schlachthofmetzger namens Stéphane Geffroy gerade ein viel beachtetes
Buch veröffentlicht. Noch mehr als unter dem körperlichen Verschleiss und den harten
Arbeitsbedingungen leidet der 46-Jährige an der Behandlung durch die Aussenwelt. «Man will
nichts über unsere Arbeit wissen, verurteilt sie als dreckig. Dabei ist es eine noble, uralte
Aufgabe.»
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Warum Elektroschocks statt CO2?
Das Töten läuft auf den zwei Bahnen unterschiedlich ab. Die Kühe werden in eine schmale Box
getrieben, um den Hals schliesst sich ein Plastikkragen, der den Kopf ruhig stellt. Von vorne
hält ein Metzger das Bolzenschussgerät auf die Kuhstirn, drückt ab. Ein etwa zehn Zentimeter
langer Metallstift durchbricht den Schädel, sticht ins Gehirn. Betäubt fällt die Kuh zur Seite,
ihre Hinterfüsse werden an Ketten gehängt, welche das Tier kopfvoran in die Höhe ziehen. Mit
zwei Schnitten sticht ein weiterer Metzger die Kehle auf, das Blut spritzt wie aus einem
Feuerwehrschlauch auf den Boden; um nicht nass zu werden, muss der Metzger ein paar
Schritte zurückspringen. An der «Entblutung» stirbt das Tier. Währenddessen wird schon die
nächste Kuh bewusstlos gebolzt.
Bei Schweinen funktioniert ein Bolzenschuss weniger gut, ihr Hirn ist klein und liegt unter
grossen Stirnhöhlenknochen. Der Zürcher Schlachthof verwendet deshalb Elektroschocks. Die
Schweine werden in eine schmale Bahn geleitet, wo sie ein gepolstertes Förderband am Bauch
erfasst, sie vom Boden hebt und nach vorne schiebt. Ein Computer vermisst den Kopf, drückt
eine kopfhörerartige Klammer an beide Schläfen. Dann fliesst Strom, er betäubt das Tier. Das
Töten erfolgt auch hier durch Aufschneiden der Halsschlagader.
Die SBZ würde gerne auf die CO2-Methode umstellen, sagt Clemens Bauer. Bei dieser werden
die Schweine in eine Kammer voller CO2 geführt. Das Gas raubt ihnen das Bewusstsein.
«Danach lassen sich die Schweine besser entbluten, weil die Muskeln nicht verkrampfen.» Bei
der Strombetäubung platzten manchmal ein paar Kapillaren, die roten Punkte mindern den
Wert des Fleisches, obwohl sie dessen Qualität nicht beeinträchtigen.
Doch Bauer wehrt sich gegen die Umstellung auf CO2. «Die Tiere schnappen nach Luft,
merken, dass sie das giftige Kohlendioxid einatmen.» Die Betäubung durch Strom laufe rascher
und unter weniger Qualen ab. Entscheidend ist auch die Fehlerquote bei Betäubung und
Entblutung: In Deutschland beträgt sie laut Untersuchungen zwischen drei und neun Prozent.
Das heisst, dass Tausende Tiere bei Bewusstsein aufgeschlitzt, gebrüht oder zersägt werden. In
Zürich passierten viel weniger Fehler, sagt Bauer. Bei der Elektrobetäubung registriert und
speichert ein Computer Länge und Heftigkeit jedes Stromschlags. «Wenn zu wenig Strom
fliesst, leuchtet eine Warnlampe auf. Dann kann der Mitarbeitende nachbetäuben.» Das sei in
weniger als einem Prozent aller Fälle nötig, was ein gutes Resultat sei. Beim Bolzenschuss
erreiche der Zürcher Schlachthof eine Fehlerquote von «nahe null». Die starke Fixierung der
Kuhhälse vereinfache das Zielen.
Auch zum Ausbluten lasse man immer ausreichend Zeit. «Bei uns werden nur tote Tiere
zerteilt», sagt Bauer. Szenen wie in Frankreich, wo Tierschützer kürzlich Schafe filmten, die
halb lebendig an den Haken zappelten, könnten hier nicht vorkommen. Alle zuständigen
Mitarbeiter hätten eine spezielle Schulung durchlaufen. Auch der Schweizer Tierschutz (STS)
betont die Wichtigkeit der Angestellten. Die Bolzenschiesser müssten eine sehr hohe
Treffsicherheit mitbringen und erkennen, wenn ein Tier zu schnell wieder das Bewusstsein
erlangt, sagt Cesare Sciarra, der die Schlachthauskontrollen des STS leitet. «Dafür braucht es
eine gute Ausbildung. Und die Angestellten dürfen nicht wie Handlanger behandelt werden. Sie
müssen das Gefühl haben, eine wichtige Aufgabe zu erledigen.»
Mehr Strom kann die Qualität mindern
Laut Sciarra lässt sich nicht allgemein sagen, welche Betäubungsmethode sich bei Schweinen
besser eigne: CO2 oder Strom. «Das hängt von Details ab.» Mittlerweile gebe es ziemlich gute
CO2-Anlagen, welche die Phase bis zur Bewusstlosigkeit deutlich verkürzten. Ausserdem
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würden die Schweine nicht vereinzelt, sondern gruppenweise betäubt, was für die Tiere
angenehmer sei.
Bei der Elektrobetäubung kann sich die Fleischqualität verschlechtern, wenn mehr Strom
fliesst. Das könne Schlachthöfe verleiten, die Voltzahl eher zu tief einzustellen, sagt Sciarra. Von
Hand bediente Elektrobetäubungsanlagen laufen ausserdem oft mit einer Stromstärke, die nur
knapp zur Betäubung ausreicht. Ab einer höheren Voltzahl würde der Stromschlag auch die
Metzger gefährden. Durch automatisierte Anlagen wie jener in Zürich kann dagegen mehr
Strom fliessen. «Hier liegt das Problem bei der Treffsicherheit», sagt Sciarra. Die Maschinen
müssen die Zange exakt am richtigen Punkt ansetzen, sodass der Strom direkt durchs Gehirn
schiesst. «Wenn sich Tiere stark bewegen, kann das schnell misslingen. Oft bemerken die
Sensoren solche Ungenauigkeiten nicht», sagt Sciarra. Dazu komme, dass manche Hersteller
ungenügende Betäubungsanlagen verkauften. Ein Ersatz kostet oft Hunderttausende Franken.
Ein schmerzfreies, sicheres Betäubungsverfahren lasse sich nicht so einfach erreichen, sagt
Sciarra. «Heute geben sich die Schlachthöfe recht offen für Verbesserungen.» Weil der Erfolg
von technischen Kleinigkeiten abhänge, müsse man sich aber oft lange bis zur besten Lösung
herantasten.
Ob die Tiere leiden, hängt auch von der Anfahrt ab; davon, wie viel Zeit sie in den rumpelnden
Lastwagen verbringen, zusammengepfercht, getrennt von ihrer Herde. Auf den Papieren der
Händler können Clemens Bauer und seine Mitarbeiter nachverfolgen, wie lange die Transporter
unterwegs waren. Die EU hat die Grenze bei 36 Stunden angesetzt, das Schweizer Gesetz
erlaubt deutlich weniger. Die maximale Gesamttransportzeit mit Pausen und Aufladen liegt hier
bei 10 Stunden.
Bei Kontrollen in der ganzen Schweiz stelle der Schweizer Tierschutz regelmässig
Überschreitungen der Transportzeiten fest, sagt Cesare Sciarra. In Zürich erlebe er das sehr
selten, sagt Clemens Bauer. «Sechs Stunden fährt kaum einer bis zu uns, bei den meisten sind
es zwei bis drei.» Die Zürcher Schlachttiere stammen aus Zuchtbetrieben im Kanton, der Ostund der Zentralschweiz.
Das Anstehen vor der Schlachtung dauere maximal vier Stunden, sagt Bauer. Man takte die
Anlieferung so, dass die Tiere relativ rasch an die Reihe kämen. In den Gattern sorge man stets
für genügend Platz und Wasser. «Die Tiere sollen es noch einmal ruhig haben nach dem
stressigen Transport.» SBZ-Chef Hofer fügt an, dass Stress vor der Schlachtung die
Fleischqualität mindere. Auch deshalb sorge man für eine grosszügige Einstallung.
Umstritten ist, ob die wartenden Tiere den nahenden Tod ahnen. Nein, sagt Clemens Bauer.
Schweine assoziierten den Geruch von Blut mit Nahrung. Tiere könnten keinen Zusammenhang
herstellen zwischen dem eigenen Schicksal und dem, was den Artgenossen vor ihnen zustösst.
Die Kühe in den Gattern wirken nicht so, als ob Todesangst sie schrecke. Relativ bereitwillig
gehen sie ihrem Ende entgegen.
In Sachen Tierschutz gehöre der Zürcher Schlachthof europaweit zu den besten, sagt Bauer.
Dafür setze er sich ein. Kürzlich habe er sogar einer Delegation aus der EU die hiesigen Abläufe
erläutert. Trotzdem: Bauers Verständnis für Tierschützer hat Grenzen. Argumente machten ihm
keine Mühe, persönliche Angriffe dagegen schon. «Bei Führungen hab ich auch mal Leute
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hinausgeschickt, die mich als schlechten Menschen beschimpften.» Solange das Töten korrekt
ablaufe, könne er es verantworten. Er selber achte beim Fleischkauf genau auf die Herkunft.
Der Schweizer Tierschutz schätzt den Zürcher Schlachthof deutlich weniger optimistisch ein.
Cesare Sciarra sagt: «Vieles läuft gut, aber längst nicht alles ist perfekt.» Ein Überblick über alle
Arbeitsgänge fehlt dem STS. Sciarra und sein Team dürfen sich Schlachtbetriebe nur ansehen,
wenn Detaillisten und Produzentenorganisationen wie Coop, Migros oder IP-Suisse sie damit
beauftragen.
Lokale Schlachthöfe rentieren selten
Der Schlachthof, so blutig es darin zugeht, ist eine Hochhygiene-Zone. Rasch fliessen die
Körpersäfte ab, eine eigene Kläranlage reinigt das Abwasser. Ständig wird geputzt. Kurz
nachdem die Produktion gestoppt hat, erinnert die Schweinestrasse an einen Operationssaal,
Chromstahlgeräte glänzen, der Geruch von Desinfektionsmitteln hat den von Fleisch verdrängt.
«Das Putzen ist aufwendig und teuer. Man muss sich vor Resistenzbildungen hüten. Die
Anforderungen steigen, auch deshalb haben kleinere Schlachtbetriebe Mühe, sich zu
behaupten», sagt Bauer. Tierschützer setzen sich zwar für lokale Schlachthöfe ein, damit die
Tiere kürzer unterwegs sind und in einem freundlicheren Umfeld sterben. Aber solche Betriebe
rentieren selten.
Lange sah es so aus, als ob sich auch der Zürcher Schlachthof nicht halten würde. Der
denkmalgeschützte Backsteinbau, der einer Bahnhofshalle ähnelt, liegt als einziger Schweizer
Schlachthof mitten in einer Stadt. Bei seiner Eröffnung im Jahr 1909 stand er allein auf
sumpfigen Wiesen. Doch Zürich wuchs, bald grenzten Häuser an das abgezäunte Areal. In den
90er-Jahren begannen deren Bewohner, sich zu beschweren. Auf dem Areal wurden
Schlachtabfälle verarbeitet, Verwesungsgeruch überzog die Nachbarschaft, Vögel kreisten über
den Containern.
Die Stadt, als Besitzerin der Anlage, gab den Schlachthof dann doch nicht auf. Dafür kam die
Verwertung der Abfälle weg, die Container wurden ins Innere verlegt, die Reinigung der
Lastwagen ruhiger gemacht. «Heute haben wir kaum noch Reklamationen», sagt Bauer. Er hält
die zentrale Lage für wertvoll. Sie verkürze den Transport der Tiere und die Verteilwege des
Fleisches. Dazu ermögliche sie eine enge Zusammenarbeit mit den Hochschulen. Die VeterinärFakultät schickt regelmässig Praktikanten, der Schlachthof liefert Material für Studium und
Forschung; Kuhgebisse, an denen angehende Zahnärzte üben; Hirne, Hoden, Gebärmütter oder
Augen zum Sezieren.
Auch sonst versucht der Schlachthof seinen Rohstoff möglichst gut zu nutzen. Heute gebe es
wieder einen Markt für Kutteln oder Fleisch für den Ochsenmaulsalat, sagt Bauer. Aus übrig
gebliebenem Fett werde Biodiesel gewonnen.
Die Wirkung des Einkaufstourismus
Gerade hat die SBZ AG von der Stadt das Versprechen erhalten, dass sie den Schlachthof sicher
bis 2029 weiterbetreiben kann. Seit längerem läuft das Geschäft etwa gleich gut, rund 270 000
Tiere verwandelt die SBZ in 27 bis 28Millionen Kilo Fleisch im Jahr. 2015 fiel mit 26,5Millionen
Kilo unterdurchschnittlich aus. «30Millionen wäre für uns ideal», sagt Hofer. Aber vor allem
der Einkaufstourismus drücke die Menge des verkauften Schweizer Fleisches.
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Wenn nicht gerade Hochsaison herrscht - vor Ostern zum Beispiel, in der Weihnachtszeit oder
während der Grillsaison -, dann endet das Schlachten kurz vor Mittag. Die Metzger fahren nach
Hause, Clemens Bauer analysiert in seinem Büro die Daten, die seine Mitarbeiter gesammelt
haben, Hans Rudolf Hofer prüft die Abrechnungen. Die Gatter vor dem Schlachthof stehen leer,
in den Kühlhallen hängen Hunderte Tierhälften, abholbereit für die Metzgereien.
Die Probleme beginnen ausserhalb der Schlachthofmauern.
Kinder der Landstrasse, TA vom FR 3. Juni 2016
Wendepunktvor 30 Jahren
Am 3. Juni 1986 ereignete sich im Nationalratssaal Denkwürdiges. Es kam zu einer Debatte
über Bundesgelder für die Pro Juventute, die in die Schlagzeilen geraten war, weil Opfer ihres
früheren «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» die Herausgabe ihrer Akten forderten.
CVP-Innenminister Alphons Egli sagte ins Mikrofon, es stimme, dass den Fahrenden mit
Unterstützung des Bundes die Kinder weggenommen worden seien. Und er entschuldigte sich
dafür, «dass dies passieren konnte».
Heute, 30 Jahre später, treffen Vertreter von Jenischen-Organisationen im Bundeshaus die
Nationalratspräsidentin Christa Markwalder (FDP) zu einem Austausch. Zudem will der Bund
in diesem Sommer seinen Aktionsplan zur Verbesserung der Situation der Jenischen, Sinti und
Roma in der Schweiz verabschieden. Doch die Arbeiten gestalten sich schwierig. Die Bewegung
der Schweizer Reisenden hatte die Taskforce, bestehend aus Vertretern von Bund, Kantonen,
Gemeinden, Betroffenen und NGOs, schon nach der zweiten Sitzung verlassen. Der Aktionsplan
sei schlecht für die Schweizer Jenischen, sagt Mike Gerzner, Präsident der Bewegung. Der Bund
sei nur für die Standplätze der ausländischen Transitfahrenden zuständig, nicht aber für die der
Schweizer Fahrenden. Diese würden ausserdem zu einem Intelligenztest verpflichtet, falls sie
ihre Kinder selber unterrichteten.
Angela Mattli von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GFBV), die sich an der Taskforce
beteiligt, lobt zwar das Engagement des Bundes. Sie sagt aber: «Die Erfahrungen zeigen, dass es
der Schweiz schwerfällt, diesem Teil der Bevölkerung seinen Platz in der Gesellschaft
einzugestehen.» Am Geld kann es nicht liegen, das Budget für die Minderheiten beträgt rund
700 000 Franken pro Jahr. Doch es fehlten laut Mattli ein Konzept für den Einsatz der Mittel
sowie fundiertes Wissen über die Geschichte und Kultur der drei Minderheiten. (bl)
Ein Frieden, der Krieg gebar
346
Truppen von Emir Faisal im Jahr 1917: Nach der Niederlage des Osmanischen Reichs zogen Frankreich und
England
neue
Grenzen,
Faisal
wurde
König
des
neu
gegründeten
Irak.
Foto: The Granger Collection
Im Mai 1916 teilten Frankreich und England den Nahen Osten in einem geheimen Pakt unter
sich auf. Die willkürliche Grenzziehung führt bis heute zu Gewalt und Krieg. Davon profitiert
auch die Terrormiliz IS.
Von Florian Stark, TA vom DI 31. Mai 2016
Geheimdiplomatie kann leicht ausser Kontrolle geraten, vor allem dann, wenn sie plötzlich
nicht mehr geheim ist und dem Spiel der politischen Kräfte unterworfen wird. Ein
abschreckendes Beispiel bietet ein Abkommen, das die Regierungen Englands und Frankreichs
am 16. Mai 1916 unterschrieben. Heute dient dieses Sykes-Picot-Abkommen den Kämpfern des
Islamischen Staats (IS) als Begründung für ihre Terrorherrschaft.
Ende 1915 sah es so aus, als würde das Osmanische Reich kurz vor dem Fall stehen. Eine
britische Armee rückte in Mesopotamien auf Bagdad vor. Zwar wurde die Expedition unweit der
Stadt zurückgeschlagen, konnte sich aber in Kut al-Amara verschanzen. Im südlich gelegenen
Basra sammelten sich Empire-Truppen zu ihrem Entsatz.
Zur gleichen Zeit stellte der konservative Abgeordnete Mark Sykes der britischen Regierung
seine Vision von der Zukunft des Nahen Ostens vor. Sykes, von hochadliger Geburt und Erbe
eines grossen Vermögens, hatte sich dank mehrerer Bücher über seine Reisen in die arabische
Welt den Ruf als Kenner der Region erworben. Nach Kriegsausbruch hatte er zum Arab Bureau
in Kairo gewechselt. Dort tüftelte man an Konzepten, um die arabischen Stämme gegen die
Osmanen zu mobilisieren.
347
Sykes erhielt grünes Licht und nahm mit dem französischen Diplomaten Franois Georges-Picot
Kontakt auf. Dieser vertrat eine Gruppe in der französischen Politik, die Frankreich im Fall
eines Sieges grosse Beute im Orient sichern wollte. Bereits am 3. Januar 1916 waren sich die
beiden Männer einig. Frankreich sollte den Südosten Kleinasiens, die syrische Küste, den
Libanon sowie Einflussrechte bis zu den Ölfeldern von Mosul erhalten, Grossbritannien die
Region vom Jordan bis zum Persischen Golf sowie einige Mittelmeerstützpunkte. Da sich beide
nicht über Palästina einigen konnten, legten sie seine Internationalisierung fest und beliessen es
bei wolkigen Formulierungen.
Die Kurden wurden gar nicht angehört
Die Art und Weise, mit der Sykes und Picot Weltpolitik betrieben, hat der Historiker James
Barr mit einem Stock verglichen, der leichtfertig durch Sand gezogen wird und damit über das
Schicksal von Millionen entscheidet. Denn das Abkommen schuf Fakten. Auch wenn die
tatsächlichen Grenzen der späteren Staaten erst im Laufe der kommenden Jahre festgelegt
wurden, gingen aus dem französischen Gebiet der Libanon und Syrien hervor, aus dem
britischen Jordanien und der Irak. Nicht nur für viele Araber gilt das Sykes-Picot-Abkommen
bis heute als ein Beispiel rücksichtsloser Machtpolitik, die allein den Egoismen der
Kolonialmächte diente.
Noch immer leiden die Nachfolgestaaten unter ihrer Entstehungsgeschichte. Sie ringen um eine
nationale Identität, Syrien und dem Irak droht sogar der Zerfall. Hinzu kommt, dass die Kurden
von Sykes und Picot gar nicht bedacht worden waren. Ihre Stämme, deren Siedlungsgebiete
zwischen der Osttürkei, Syrien und dem Nordirak lagen und liegen, hatten noch kein nationales
Bewusstsein und damit keine Stimme entwickelt, mit der sie ihre Interessen hätten zu Gehör
bringen können.
Zwei Wochen nachdem die Briten eine schwere Niederlage gegen die Osmanen erlitten hatten,
besiegelten das britische Aussenministerium und der französische Botschafter in London das
Sykes-Picot-Abkommen. Um den Bündnispartner Russland einzubinden, wurde der
Geheimvertrag auch in Petrograd bekannt gemacht, mit der Versicherung, dass damit die
Kriegsziele des Zaren am Schwarzen Meer und in der Türkei nicht tangiert würden. Eine Kopie
des Geheimpapiers wanderte ins Archiv des russischen Aussenministeriums.
Nicht nur die Kurden sahen und sehen ihre Forderungen nach Selbstbestimmung durch das
Sykes-Picot-Abkommen mit Füssen getreten. Auch die Araber fühlen sich als Opfer eines
Verrats. Denn die Übereinkunft stand im krassen Widerspruch zu Zusagen, die London dem
Scherifen Hussein, Herrscher von Mekka, gegeben hatte.
Um diesen zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen, hatte ihm der britische
Hochkommissar in Ägypten, Sir Henry McMahon, in einem Briefwechsel 1915 und 1916 einen
unabhängigen arabischen Staat versprochen. Der Brite versuchte zwar, die Grenzen vage zu
halten. Nach arabischer Lesart aber sollten auch Gebiete zu diesem Reich gehören, die laut
Londons Vertrag mit Paris Frankreich zufielen. Als Georges-Picot von diesen Zusagen erfuhr,
reagierte er ungläubig: «Was die Briten wollen, ist einzig und allein, die Araber zu täuschen.»
Die britische Diplomatie ging noch weiter. Nachdem im Oktober 1917 englische Truppen in
Palästina vorgerückt waren, warb der britische Aussenminister Arthur James Balfour bei einer
anderen Gruppe für seine Zukunftspläne. Wieder unter Beteiligung von Mark Sykes entstand
eine Deklaration, die sich an die Zionistische Weltorganisation richtete, die 1897 in Basel
348
gegründet worden war. Darin erklärte Grossbritannien seine «Sympathie mit den jüdischzionistischen Bestrebungen», dass es «mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen
Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina» begleiten und «sein Bestes tun» werde, die
«Erreichung dieses Zieles zu erleichtern».
Das eigentliche Ziel der Balfour-Deklaration war ein anderes. Anfang 1917 hatte die
Februarrevolution die Herrschaft des Zaren beendet. Dessen Regime hatte vielen Juden als
Feindbild gegolten. Um die Juden Russlands für den immer unpopulärer werdenden Krieg zu
gewinnen, erdachte man in London also eine grosse Geste. Einmal mehr fühlten sich die Araber
düpiert.
Das erhoffte arabische Grossreich sollte nie Wirklichkeit werden. Faisal, der Sohn Husseins von
Mekka, reiste nach dem Ersten Weltkrieg zur Pariser Friedenskonferenz, fand dort aber kein
Gehör. Die Briten waren jetzt in einer so starken Position, dass sie die Ansprüche Husseins
ignorieren konnten. Zum Trost erhielt Faisal den Thron des neu geschaffenen Irak, sein Bruder
Abdullah den des Königreichs Jordanien. Die Macht und die Kontrolle über die Bodenschätze
behielten Frankreich und England, die sich ihren Zugriff durch Mandate des Völkerbundes
legitimieren liessen.
Russland veröffentlichte den Vertrag
Wenn heute die Terrormiliz Islamischer Staat den vom Westen geschaffenen Grenzen den Krieg
erklärt, verweist sie auf das Abkommen von 1916. 2014 tauchte im Internet ein Video der
Extremisten mit dem Titel «Das Ende von Sykes-Picot» auf. Darin prahlt ein bärtiger ISKämpfer: «Wir werden die Grenze (zwischen Syrien und dem Irak) niemals anerkennen.» Das
haben die Jihadisten mit dem 2014 ausgerufenen Kalifat in die Tat umgesetzt, wobei ihnen die
antiimperialistische Begleitrhetorik durchaus Sympathien einbrachte.
Denn das Geheimabkommen von Sykes und Picot blieb nicht lange geheim. Nach ihrer
siegreichen Revolution im November 1917 entdeckten die Bolschewiki die Kopie im Archiv. Sie
bot ihnen die Chance, ihrer antiimperialistischen Rhetorik, zu der auch die Abschaffung der
Geheimdiplomatie zählte, populäre Taten folgen zu lassen.
Am 23. November 1917 druckten zwei russische Zeitungen den Text ab. Damit sollte die
Doppelzüngigkeit der Zarenpartner entlarvt und zugleich ein weiterer Anschub zur
sozialistischen Weltrevolution gegeben werden. Dass diese umgehend ausbrechen werde, war
sich Lenin sicher.
Die Veröffentlichung der englischen und französischen Kriegsziele im Nahen Osten empörte die
Araber. Das wiederum brachte die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn) und das
Osmanenreich dazu, mit geradezu fantastischen Projekten die Herrschaft der Entente im Orient
zu unterminieren. Sehr zum Leidwesen der Bolschewiki übrigens. Der Vormarsch deutscher
Truppen 1918 bis in den Kaukasus zielte nicht zuletzt auf die britischen Positionen in
Mesopotamien und im Iran.
So hat sich früh gezeigt: Das Sykes-Picot-Abkommen begründete «einen Frieden, um jeden
Frieden zu beenden», wie es der amerikanische Historiker David Fromkin treffend formuliert
hat.
349
Der Chronist des Sieges
Keiner ging näher ran, keiner war länger dabei: Wassili Grossman begleitete als
Kriegsberichterstatter die Rote Armee 1000 Tage lang von Moskau bis nach Berlin.
Von Christof Münger, TA vom 8. Mai 2015
Wassili Grossman wird bei der militärischen Musterung beschieden, er sei völlig untauglich für
den Krieg. Dann verbringt er über tausend Tage an der Front. Und jetzt will Grossman
miterleben, wie Berlin fällt. Ende April 1945 kommt er in die «Höhle der Bestie», wie Stalin
sagte. Der Kriegsberichterstatter notiert:
Wir fahren über die Spree. Tausende Begegnungen. Unzählige Berliner auf den Strassen. Eine
Dame im Karakulmantel, der ich offenbar sympathisch bin, vermutet: «Aber Sie sind doch kein
jüdischer Kommissar?»
Grossman hat sich noch einmal der 8. Gardearmee angeschlossen, die er aus Stalingrad kennt,
wo sie noch 62. Armee hiess. Grossman ist den ganzen langen Weg gegangen von Moskau über
Kursk vorbei an den deutschen Vernichtungslagern in Polen bis hierher. «Die Strassen, die zur
der gewaltigen Flut unseres Angriffs zusammenlaufen, sind gesäumt von Hügeln, gross und
klein, den Gräbern unserer gefallen Soldaten, markiert von Sperrholztäfelchen mit verblassten
Aufschriften.» 28 Millionen Sowjetbürger sind umgekommen. Wer nicht gefallen ist, erobert
nun Berlin.
350
Ich habe die letzten Schüsse von Berlin erlebt. Trupps von SS-Leuten hatten sich in einem Haus
an der Spree unweit vom Reichstag verschanzt und wollten sich nicht ergeben. Schwere
Kanonen feuerten Salven wie Dolche auf das Gebäude. Alles versank in Staub und schwarzem
Rauch.
Sechs Tage vor dem Dritten Reich kapituliert die Reichshauptstadt. Am 2. Mai notiert
Grossmann:
Gigantische Massen von Gefangenen. Gesichter voller Tragik und Trauer. Dieser trübe, kalte,
regnerische Tag ist zweifellos Deutschlands Untergang. Inmitten von noch brennenden,
rauchenden Ruinen, inmitten von Hunderten Leichen auf der Strasse. Ein kolossaler Sieg. An
einem Obelisken wird spontan gefeiert. Die Panzer versinken in einem Meer von Blumen und
roten Fahnen. Blüten wachsen selbst aus den Rohren der Geschütze wie auf Bäumen im
Frühling. Alle tanzen, singen und lachen. Freudenschüsse.
Grossman ist seit vier Jahren bei der Roten Armee, so lange, wie dieser Krieg gedauert hat. Er
ist in Moskau, als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt und
ihren Vernichtungskrieg beginnt. Grossman hat mehrere Romane geschrieben. Wie die meisten
Schriftstellerkollegen hat er sich sofort freiwillig gemeldet. Ungeeignet als Soldat, wird er zum
Schreiber in Uniform für «Krassnaja Swesda». Der Chefredaktor des «Roten Sterns», der
offiziellen Armeezeitung, schickt ihn Anfang August 1941 an die Front, obwohl er befürchtet,
dass Grossman nicht lange überleben wird. Er gibt ihm kriegstüchtigere Begleiter mit.
Grossmann ist ein russischer Jude aus der Ukraine, er ist 35, hat rundliche 91 Kilo, hängende
Schultern und trägt eine dicke Brille. Über seine mangelnde Fitness und seine militärische
Ahnungslosigkeit macht er sich selber lustig.
Das ändert sich nun, bald schiesst er mit der Pistole besser als seine Begleiter. Im Februar 1942
schreibt er an seinen Vater: «Ich bin jetzt ein erfahrener Frontsoldat: Jedes Geräusch sagt mir
sofort, was passiert und wo.» Und er ist schlank geworden, wie er berichtet. Kampfgewicht
74 Kilogramm. Grossman lernt schnell, er beschäftigt sich mit militärischer Taktik, Ausrüstung,
Bewaffnung und der Soldatensprache. Er gewinnt das Vertrauen der einfachen Rotarmisten,
obwohl er unverkennbar ein jüdischer Intellektueller aus der Hauptstadt ist. Er nimmt sich Zeit
für die Soldaten, zeigt Verständnis. Am liebsten spricht er mit ihnen, wenn sie für eine kurze
Verschnaufpause aus dem Gefecht kommen. «In dieser Lage sagt dir der Soldat alles, was ihm
auf der Seele liegt. Du musst gar keine Fragen stellen.» Soldaten wie Zivilisten lieben seine
Geschichten. Grossmans treuster Leser ist Josef Stalin. Er kontrolliert jede Seite, bevor sie in
Druck gegeben wird.
Wenn er mit jemandem spricht, schreibt Grossman nichts auf. Notizen zu machen, ist streng
verboten die Furcht vor Spionen grenzt an Paranoia. Dafür wird ihm vertraut: Soldaten und
fliehende Zivilisten geben dem Mann ohne Block arglos Auskunft. Was er hört, notiert er erst
später, wenn er erschöpft zurückgekehrt ist in einen Schuppen, in dem die Korrespondenten
untergebracht sind. Grossman riskiert sein Leben also auch hinter der Front: Findet der
Inlandgeheimdienst NKWD die Notizbücher, verschwindet er im Gulag, zumal er nicht in der
Partei ist. Stalin misstraut er, obwohl er zunächst überzeugt war, dass nur das kommunistische
Regime die Gefahr von Faschismus und Antisemitismus stoppen kann.
Heute, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, liegen Grossmans Notiz- und
Tagebücher im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst. Der britische Militärhistoriker
351
Antony Beevor und seine russischen Co-Autorin Luba Vinogradova haben den Schriftsteller
Grossman auch als Kriegsberichterstatter bekannt gemacht. (Die deutsche Ausgabe «Ein
Schriftsteller im Krieg» ist vergriffen.) Beevor wertete auch in seinen anderen Büchern über den
Zweiten Weltkrieg Grossmans Aufzeichnung aus. Sie seien «mit Abstand die besten
Augenzeugenberichte von der schrecklichen Ostfront».
Grossman ist immer vorne anzutreffen, Beevor schreibt von «ungewöhnlichem Mut». Auch in
Stalingrad, das ihn prägt. «Wir haben unser Leben nach Stunden, ja nach Minuten gemessen.
Du wartest darauf, dass es hell wird. Jetzt geht es los. Dann, am Abend: Gott sei Dank, wieder
ein Tag vorbei, wie erstaunlich.» Die Aufzeichnungen aus der Schlacht an der Wolga sind das
Rohmaterial für seinen grossen Roman «Leben und Schicksal», dem «Krieg und Frieden» des
20. Jahrhunderts.
Nach dem Sieg in Stalingrad begleitet er die sowjetischen Truppen nach Westen. In der Ukraine
kommt er in seine Geburtsstadt Berditschew. Er sucht seine Mutter und findet seine
schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Nazis haben sie 1941 bei einem der ersten grossen
Massaker an den Juden getötet. Er hört sich um und notiert:
Deutsche Soldaten jagten eine Gruppe Einwohner aus ihren Häusern, in deren Nähe sich eine
Lederfabrik befand. Sie wurden in die Gerberei gebracht und gezwungen, in grosse Gruben mit
ätzender Katechu-Flüssigkeit zu springen, die zum Gerben verwendet wird. (Katechu ist Tannin
aus einer indischen Akazie, Red.) Wer sich weigerte, wurde erschossen und danach ebenfalls in
diese Gruben geworfen. Die Deutschen fanden diese Hinrichtung lustig: Sie gerbten den Juden
das Fell.
Grossman fühlt sich schuldig: Er hat seine Mutter nach dem deutschen Überfall nicht nach
Moskau geholt. Er vermutet, dass sie bei einer Massenerschiessung am 15. September 1941
ermordet wurde. Bis zu seinem Tod macht er sich Vorwürfe, es ist das Trauma seines Lebens.
Nach dem Krieg schreibt er einen Brief an die tote Mutter:
Ich habe mir Dutzende Male vorzustellen versucht, wie du gestorben bist, wie du dem Tod
entgegengesehen hast. Ich wollte mir den vorstellen, der dich erschossen hat. Er war der Letzte,
der dich lebend sah. Ich weiss, dass du in dieser Zeit viel an mich gedacht hast.
Auf dem Weg nach Westen will Grossman alles über die Verbrechen, die später Holocaust
genannt werden, ans Licht bringen. Doch die Behörden wollen das Thema unterdrücken, die
sowjetische Propaganda akzeptiert kein verschiedenes Leid. Alle Opfer des Naziterrors auf
sowjetischem Boden müssen als «Bürger der Sowjetunion» bezeichnet werden. Selbst in
offiziellen Berichten, in denen Leichen mit dem gelben Stern vorkommen, ist nicht die Rede von
«Juden».
Grossman hält sich nicht daran, er ist einer der ersten Reporter im Lager Majdanek, als die
Sowjettruppen nach Polen vorstossen. Danach sieht er Treblinka. Sein Aufsatz «Die Hölle von
Treblinka» sei eine der bedeutendsten Arbeiten über den Holocaust, schrieb Historiker Beevor.
Bei den Nürnberger Prozessen wird daraus zitiert, der Bericht bleibt erschütternd. «Dies alles
nur zu lesen, ist ungeheuer schwer», wendet sich Grossman direkt an den Leser. Er möge ihm
aber glauben, «dass darüber zu schreiben nicht minder schwer ist».
352
Allmählich begannen sich die SS-Leute in Treblinka zu langweilen. Der Marsch der
Todgeweihten zu den Gaskammern verlor seinen Reiz, wurde zur Gewohnheit. Der Lagerchef
wählte aus einer Gruppe mehrere Kinder aus, deren Eltern umgebracht wurden. Er steckte sie
in hübsche Kleider, gab ihnen Süssigkeiten und spielte mit ihnen. Als er sie nach einigen Tagen
satt hatte, wurden auch sie vergast. Die beste Unterhaltung aber hatten die Männer, wenn sie
nachts junge hübsche Mädchen und Frauen quälen und vergewaltigen konnten, die aus jeder
eintreffenden Gruppe ausgewählt wurden. Am Morgen führten die Täter sie dann persönlich zur
Gaskammer.
Dem russischen Patrioten Grossman haben die orthodoxen Riten nie etwas bedeutet. Jetzt aber
identifiziert er sich mit dem Schicksal aller Juden. Der «Rote Stern» aber will die Artikel dazu
nicht drucken. Ab Ende der 1940er-Jahre werden die Juden auch in der Sowjetunion verfolgt,
wobei Stalins Antisemitismus eher auf Misstrauen gegenüber Fremden beruht als auf
Rassenhass. Der KGB konfisziert das Manuskript von Grossmans grossem Epos «Leben und
Schicksal». Ein solches Buch werde erst in 200 Jahren erscheinen dürfen, sagt man dem Autor.
Die erste russische Ausgabe kommt 1980 in Lausanne heraus, da ist Grossman schon 16 Jahre
tot. Freunde haben das Manuskript abfotografiert und in den Westen geschmuggelt.
Aus dem beliebten Reporter wird nach Krieg ein zensierter Autor. Grossman fällt schon kurz
nach dem Sieg in Ungnade beim kommunistischen Regime. Auch weil er sich nicht scheut, auf
die Verbrechen der Roten Armee im eroberten Deutschland hinzuweisen, vor allem auf die
Vergewaltigung Hunderttausender Frauen:
Entsetzliche Dinge passieren deutschen Frauen. Uns wird berichtet, wie eine stillende Mutter in
einer Scheune vergewaltigt wurde. Die Verwandten kommen und bitten darum, sie zeitweilig
freizugeben, weil das hungrige Baby schreit.
Am 9. Mai 1945 aber überwiegt die Freude. «Ich denke, wer nicht das ganze Leid des Sommers
1941 erlebt hat, wird niemals das ganze Glück unseres Sieges ermessen können.» Wassili
Grossman geht zur Reichskanzlei und betritt Hitlers Arbeitszimmer. Da steht ein riesiger
metallener Globus, umgestürzt und verbeult, Stuck liegt herum. Grossman öffnet eine
Schublade von Hitlers Schreibtisch. Darin findet er einen Stempel mit den Worten «Der Führer
bestätigt».
Der treuste Leser ist Josef Stalin. Er kontrolliert jede Zeitungsseite.
«Das ist ein Schuss in die Dunkelheit mit
verbundenen Augen»
Daniel Leupi, Präsident der städtischen Finanzdirektoren, warnt vor den finanziellen Folgen der
Unternehmenssteuerreform III.
Mit Daniel Leupi sprach Markus Häfliger, TA vom SA 28. Mai 2016
353
Das Ringen um die Unternehmenssteuerreform (USR) III geht in die Endrunde.
Wie beobachten Sie als Präsident der städtischen Finanzdirektoren die letzten
Entwicklungen?
Mit sehr gemischten Gefühlen. Die Städte sind sehr besorgt, dass das Parlament das Fuder
überladen könnte.
Lehnen Sie die Reform ganz ab?
Im Prinzip nicht. Für die Städte ist unbestritten, dass es eine Reform braucht. Der Bund hat sich
dafür drei Ziele gegeben: Das neue Steuerregime muss international anerkannt sein, die
Schweiz muss für Firmen attraktiv bleiben, und die Steuern sollen weiterhin ergiebig sein. Das
dritte Ziel droht derzeit völlig unterzugehen. Die Leidtragenden sind dann vor allem Gemeinden
und Städte.
Warum?
Der Bund wird die Firmengewinne weiterhin mit 8,5 Prozent besteuern - seine Einnahmen
bleiben gesichert. Die grossen Steuerausfälle drohen den Kantonen und Gemeinden. Dabei
erhalten die Kantone vom Bund immerhin eine Gegenfinanzierung. Am Ende der Schlange
stehen aber die Gemeinden. Den Letzten beissen die Hunde.
Inwiefern?
Nach Verabschiedung der Reform beim Bund werden viele Kantone ihre allgemeinen
Gewinnsteuersätze senken, um steuerlich attraktiv zu bleiben. Das wird die Städte und
Gemeinden ebenfalls stark treffen. Für jeden Franken Steuereinnahmen, den der Kanton Zürich
verliert, verlieren die Stadt und die anderen Zürcher Gemeinden grob gesagt nochmals einen
Franken.
Ohne allgemeine Steuersenkung könnten die Holdings und anderen
Statusgesellschaften, die ihre bisherigen Steuerprivilegien verlieren, ganz
wegziehen.
In der Stadt Zürich stammen nur etwa 8 Prozent der Firmensteuern von solchen
Statusgesellschaften, vor allem aus den Kapitalsteuern der grossen Holdings aus dem Bankenund Versicherungsbereich. Diese Holdings haben kein Interesse daran wegzugehen, selbst wenn
sie hier ein bisschen mehr bezahlen müssen als anderswo. Das weiss ich aus Rückmeldungen
dieser Firmen und deren Investitionen in ihre Hauptsitze in letzter Zeit.
In Kantonen wie Zug oder Waadt sieht es anders aus. Wenn solche Kantone
deshalb ihre Steuern senken, entsteht Druck auf den Kanton Zürich,
nachzuziehen.
Das ist so, und ich fürchte, dass die Hüter der reinen Steuersenkungslehre dann nicht
differenzieren werden, dass sich Zürich in einer ganz anderen Situation befindet als etwa Zug
oder Waadt.
Was wären die Folgen für die Stadt Zürich in Zahlen?
Insgesamt nimmt die Stadt Zürich rund 900 Millionen aus Firmensteuern ein, das sind rund 35
Prozent unserer gesamten Steuereinnahmen. Von diesen 900 Millionen stammen wie gesagt
nur rund 8 Prozent von Statusgesellschaften. Wenn die Gewinnsteuern sinken, zahlen aber alle
anderen 92 Prozent der Firmen weniger. Wenn der Gewinnsteuersatz auch nur um einen
einzigen Prozentpunkt sinkt, verliert die Stadt 90 Millionen Franken pro Jahr. Das ist aber nur
eines der Probleme der USR III.
Welches sind die anderen?
Vor allem der Nationalrat hat die Bundesratsvorlage um weitere Elemente ausgeweitet, die sehr
unerwünschte Effekte haben können. So soll die sogenannte Patentbox jetzt auch Steuerabzüge
für Software und «nicht patentgeschützte Erfindungen» umfassen. Was die Firmen dank dieser
gummigen Formulierung alles in die Patentbox pressen werden und welche Steuerausfälle dies
zur Folge hat, ist unabsehbar.
354
Die zinsbereinigte Gewinnsteuer steht ebenfalls noch zur Debatte.
Die zinsbereinigte Gewinnsteuer ist ein Schuss in die Dunkelheit mit verbundenen Augen. Sie
kann - wie seinerseits die Unternehmenssteuerreform II - unabsehbare Ausfälle zur Folge
haben. Die Forderung der Kantone, dass die Gesamtsteuerentlastung bei einer Firma 80
Prozent nicht übersteigen darf, ist für die Städte deshalb das absolute Minimum. Dass der
Nationalrat keine solche Grenze will, ist unverständlich. Schon das ist eine sehr tiefe Limite:
Nur 20 Prozent der Gewinne würden besteuert und das zu immer tieferen Ansätzen.
Der Bund wird die Kantone für ihre Ausfälle mit etwa 900 Millionen Franken pro
Jahr kompensieren.
Das ist ein Tropfen auf einen heissen Stein. Der Anteil des Kantons Zürich wird ein tiefer
dreistelliger Millionenbetrag sein - für die Zürcher Städte und Gemeinden bleibt entsprechend
noch viel weniger. In der ursprünglichen Gesetzesvorlage zur USR III kamen die Gemeinden
nicht einmal vor. Immerhin hat der Nationalrat nun einen zusätzlichen Paragrafen eingefügt.
Dieser verlangt, dass die Kantone bei der Umsetzung der USR III die Situation der Gemeinden
und Städte ebenfalls berücksichtigen.
Wie hoch schätzt die Stadt Zürich die Steuerausfälle, die die Reform bringen
wird?
Das ist sehr schwierig zu beziffern. Es hängt von der Ausgestaltung der Patentbox ab und der
Frage, ob die zinsbereinigte Gewinnsteuer kommt oder nicht und von einer allfälligen Senkung
der kantonalen Gewinnsteuern.
Ihre Kritik beruht auf einer rein statischen Betrachtung. Die USR III macht die Schweiz für
Firmen steuerlich attraktiv; so könnten die momentanen Ausfälle eventuell längerfristig
kompensiert werden.
Daran glaube ich nicht. In Luzern, das seine Firmensteuer auf ein rekordtiefes Niveau gesenkt
hat, kann man derzeit live beobachten, dass tiefe Steuern nicht der entscheidende
Standortfaktor sind. In Zürich würden allfällige Firmenzuzüge die Ausfälle bei den paar ganz
Grossen nicht ansatzweise ersetzen.
Dann muss die Stadt halt sparen.
Zürich ist in einer Wachstumsphase. Ein Beispiel: Alleine 2015 hatten wir 1000 zusätzliche
Schulkinder. Dafür braucht es neue Schulhäuser, neue Lehrpersonen. Solches Wachstum kann
man mit weniger Geld nicht finanzieren. Bei einem Ausfall von 90 Millionen, der durch die
Senkung um ein Steuerprozent entsteht, reden wir von einem Leistungsabbau, den Zürich
schmerzlich spüren würde: bei der Tramdichte, der Kinderbetreuung oder Ähnlichem. Ganz zu
schweigen, wenn die Steuerausfälle noch viel grösser würden, was wahrscheinlich ist, denn eine
Steuersenkung um ein Prozent macht keinen Sinn. Dann sind es schnell Ausfälle von 180 oder
270 Millionen.
Die Alternative wäre . . .
. . . eine Steuererhöhung bei den natürlichen Personen. Um ein Prozent Firmensteuersenkung
zu kompensieren, müsste die Stadt den Steuerfuss um sechs Prozentpunkte erhöhen.
Was verlangen Sie vom Parlament?
Es darf das Fuder nicht überladen. Wenn die Bevölkerung das Gefühl bekommt, sie bezahle die
Rechnung der Unternehmenssteuerreform III in Form eines starken Leistungsabbaus oder in
Form höherer Steuern für Privatpersonen, hat die Reform keine Chance.
Stellen Sie diese Forderungen als Mitglied der grünen Partei auf oder reden Sie im
Namen aller städtischen Finanzdirektoren?
Ich spreche als Finanzdirektor der Stadt Zürich und als Präsident der städtischen
Finanzdirektoren. An deren Mitgliederversammlung vom 20. Mai wurden diese Forderungen
einstimmig verabschiedet - und zwar von städtischen Finanzdirektoren jeglicher ParteiCouleur.
Unterstützen die Städte notfalls das Referendum gegen die USR III?
355
Das entscheiden die Gremien des Städteverbands und die Regierungen der einzelnen Städte,
sobald die Vorlage fertig auf dem Tisch liegt. Aber es ist klar: Die Frage des Referendums stellt
sich.
«Dann reden wir von einem Leistungsabbau, den Zürich schmerzlich spüren würde.»
«Die Frage des Referendums stellt sich»: Daniel Leupi. Foto: Ennio Leanza (Keystone)
«Der neue Kalif könnte aus Europa kommen»
Der algerische Autor Boualem Sansal, Friedenspreisträger 2011, glaubt nicht an einen
friedfertigen Islam. Nach der Zeit der Spaltungen und Kriege werde sich ein Führer aller
Muslime zu installieren versuchen.
Mit Boualem Sansal sprach Michael Meier, TA vom FR 27. Mai 2016
Der Warner Boualem Sansal wird gehört, und Sie bekommen einen Preis nach
dem anderen.
Na ja. Gehört, mag sein. Aber man zieht keine Konsequenzen daraus.
Sind Ihre Bücher in Algerien verboten?
Früher waren sie verboten. Seit einigen Jahren sind sie es nicht mehr. Präsident Bouteflika sagt:
Algerien ist eine richtige Demokratie, die Schriftsteller dürfen uns sogar beschimpfen. Das ist
Koketterie. Das algerische Regime ist eine Diktatur, die sich als Demokratie verkleidet.
In Ihrem neuen Roman «2084» beschwören Sie den Albtraum einer
islamistischen Diktatur. Könnte dieser Realität werden? Und wo?
Es ist eine seriöse Hypothese. Und bereits Realität. An vielen Orten ist der Anfang des
Albtraums gemacht: nicht nur in Algerien, in fast allen arabischen Ländern - selbst dort, wo
man die Situation unter Kontrolle hat, wie in Marokko, wo hinter der Postkartenidylle dieses
System bereits installiert ist. Es herrscht dort ein künstlicher Frieden.
Im Vergleich zu Ihrem düsteren Buch stimmt Michel Houellebecqs Roman
«Unterwerfung» direkt versöhnlich. Wie stehen Sie zu ihm?
Er wirft eine fundamentale Frage auf: Wie kann der Islam, der seit zwei Jahrzehnten die Nahda,
also eine Renaissance erlebt, wie kann der von der Kolonisation und Moderne beschädigte und
wieder erwachte Islam sich an die Macht bringen? Houellebecq glaubt, der Islam könnte sich in
Europa anpassen und auf demokratischem Weg die Macht übernehmen. Er glaubt an einen
verwestlichten Islam. Da bin ich ganz anderer Meinung. Der politische Islam weigert sich, sich
anzupassen, er will nur die Ordnung Gottes umsetzen. Demokratie, Gleichberechtigung oder
Homosexualität kann er nicht akzeptieren.
Gehen Islam und Demokratie auch in Europa nicht zusammen?
Man muss die verschiedenen Richtungen im Auge haben. Es gibt viele offene Muslime, die sich
anpassen. Letztlich aber kollidieren die Werte des Islam mit der Demokratie. Die islamisch
verstandene Demokratie ist oft eine wie in der Zeit des Propheten, der nicht allein, sondern
kollektiv mit Beratern entschied. Dann gibt es heute die andere starke Richtung der Salafisten,
die zum Ur-Islam zurückwollen. Wieder eine andere Richtung, die mächtigen Muslimbrüder,
wollen mit dem Volk arbeiten. Schliesslich die jihadistische Richtung, die sagt, man müsse den
356
Okzident zerstören. Sie alle wollen nicht über Religion diskutieren, sondern Gott gehorchen und
dem Kalifen, seinem Repräsentanten.
Und in Syrien, im Irak oder in Libyen? Wird es dort einen säkularen
demokratischen Staat geben?
Das glaube ich nicht. Die Religion ist das Haupthindernis der Demokratie. Und der Araber kann
seiner Geschichte nicht entrinnen. Der Glaube ist unglaublich wichtig. Die Macht des Islam
beherrscht das Individuum. Dieser existiert nur als Gläubiger mit seinen Brüdern in der Umma.
Selbst wenn ein Muslim alleine in New York lebte, würde er sich nicht anpassen. Der genetischkulturelle Code ist zu stark. Dazu kommt die patriarchale Stammeskultur. Die tribale
Organisation gründet auf den religiösen Schismen, die den Islam so stark fragmentieren. Der
Irak etwa ist nicht nur schiitisch oder sunnitisch. Und in Algerien gibt es unzählige Spaltungen die Sunniten, die Malakiten und so weiter, aber auch ethnische Stämme wie die Kabylen oder
Tuareg. Selbst der Sufismus geht transversal durch alle Strömungen und Unterströmungen
hindurch.
Gibt der mystisch-friedliche Sufismus nicht Anlass zur Hoffnung?
Der sufistische Islam, wunderschön besungen von Dichtern wie Rumi und Ibn Arabi, ist die
einzige Spielart im Islam, die individuell ist. Es gibt aber auch einen sehr strukturierten
Sufismus: den bruderschaftlichen Sufismus. Allein in Algerien haben wir 15 verschiedene
sufisch geprägte Bruderschaften. Auch dort hat das Individuum nur die Wahl zwischen
Unterwerfung und Revolte.
Ist der Islamismus in Algerien nach wie vor stark?
Ja. Aber er wandelt sich. Nach der Unabhängigkeit von 1962 war Algerien auf eine laizistischatheistische Linie eingeschwenkt. Dann kamen die Islamisten, übrigens alles
Universitätsabgänger, und haben die Kommunisten rausgeworfen. Sie haben einen algerischnationalistischen Islam entworfen, der den Hass etwa auf den wahhabitischen Islam in
Saudiarabien predigte. Die nationalen Islamismen passten sich den Eigenheiten des jeweiligen
Landes an.
Und jetzt kommt der transnationale Islam?
Ja. In Algerien hat man die lokalen Chefs der Islamisten getötet, um den Islam zu
vereinheitlichen. Überall aber stellt sich die Frage: Wer wird Kalif, wer ist dazu legitimiert? Es
gibt bereits einen Krieg ums Kalifat. Alle spielen Poker und geben sich transnationale
Ehrentitel. Der saudische König nennt sich König von Arabien und Hüter der heiligen Stätten.
Die marokkanischen Könige proklamieren sich als Sultan und Kommandant aller Gläubigen.
Ayatollah Khamenei, der oberste Führer im Iran, fühlt sich als Vertreter des reinen Islam.
Zurzeit überlappen sich die Spaltungen und die Tendenzen zur Vereinheitlichung. Es braucht
Zeit, bis der Kalif kommt.
Vielleicht in der Person Erdogans?
Die Türkei ist schon jetzt ein muslimischer Staat. Auch Erdogan bringt sich in Position für das
Kalifat. Er fühlt sich dazu legitimiert, weil er an das letzte, bis 1924 in der Türkei bestehende
osmanische Kalifat anknüpfen will.
Kann es einen Kalifen geben, der von allen akzeptiert wird?
Wenn die Zeit der Spaltung vorbei ist, ja. Im Moment aber ist noch die Periode der Spaltungen
und Kriege. Die Kalifen selber sind früher ja praktisch alle umgebracht worden. Die Familie des
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Propheten um seinen Cousin Ali wurde umgebracht. Später sind die Kalifen Staatsstreichen
zum Opfer gefallen.
Inzwischen wird der Islamische Staat weiterwüten. Sie prophezeien, der
Terrorismus werde sich zum urbanen Guerillakrieg ausweiten.
Der IS wird noch eine Weile bleiben. Dann wird er wie andere Terrororganisationen
verschwinden, aber es werden neue Instrumente des Terrors geschaffen. In Algerien sind die
Bewaffneten Islamistengruppen entstanden und wieder verschwunden. In Nigeria wird Boko
Haram verschwinden und durch neue Bewegungen ersetzt werden.
Der Terrorismus, sagen Sie, sei nur ein Instrument der Islamisierung.
Kriegerisch und ökonomisch ist der Okzident heute kaum zu schlagen. Also besinnt sich der
Islamismus auf neue Arten des Krieges, auf den Terrorismus zum Beispiel. Aber nicht nur. Die
Islamisten missionieren mit verschiedensten Mitteln: Sie gründen politische Organisationen,
predigen in Moscheen und im Internet. Sie islamisieren das jeweilige Umfeld. Die erste
Generation in Frankreich hatte sich noch angepasst, trank Wein, hatte amouröse Abenteuer.
Die zweite Generation wird auf die Gebote des Korans getrimmt, um die islamische Identität zu
wahren. Dabei hilft ihnen etwa die potente Organisation Amicale des Algériens, die, ähnlich wie
die Muslimbrüder, tentakelartig in allen französischen Städten Niederlassungen hat.
Wie wird sich der Islam in Europa entwickeln?
In Europa entsteht eine neue starke Richtung des Islam, die noch keinen Namen hat. Die
modernen Islamisten glauben je länger, desto mehr, dass sogar der künftige Kalif aus Europa
kommen soll. Das sei besser als einer aus dem Iran. Es gibt bereits Leute, die sich in Position
bringen: Die Gebrüder Hani oder Tariq Ramadan etwa sind als Enkel von Hassan al-Banna,
dem Gründer der Muslimbrüder, prädestiniert. Sie arbeiten mit den Islamisten zusammen. Und
Tariq Ramadan, dessen Lehrstuhl in Oxford von Katar finanziert wird, rekrutiert bei jedem
Vortrag tausend Personen. Auch der in Wien lebende charismatische Palästinenser Adnan
Ibrahim, der einen friedlichen Islam predigt, ist ein Kandidat.
Sind das nicht Verschwörungstheorien? Man wirft Ihnen Alarmismus vor.
Es gibt viele Alarmisten - andere verharmlosen alles. Mit der freien Meinungsäusserung ist es in
Europa nicht weit her. Die blosse Erwähnung des Begriffs «Islam» würgt jede Diskussion ab
oder lässt sie auf Phrasen und Gemeinplätze des politisch Korrekten hinauslaufen.
Sind Ihre Prognosen nicht Wasser auf die Mühlen rechtsextremer Bewegungen
wie Pegida oder Front National?
Das wirft man mir vor. Ich werde aber nie an Veranstaltungen des Front National eingeladen,
weil ich als Intellektueller seine Positionen nicht teile. Ich sage nur, man solle genau hinsehen.
Der Islam hat in Europa Fuss gefasst, und muslimische Organisationen sind wichtig geworden,
sie haben nicht etwa mit ihren Herkunftsländern gebrochen. Darum ist die Integration
schwierig.
Sie sagen, die angegriffene Gesellschaft entwickle sogar Verständnis für die
Islamisten, ein kollektives Stockholm-Syndrom. Wie meinen Sie das?
Die Debatten um Islam und Islamismus, die jetzt in Europa geführt werden, hatten wir eins zu
eins in Algerien vor dem Bürgerkrieg. Als es zu Beginn der 90er- Jahre zu Attentaten von
Islamisten kam, regierte man heftig und forderte, sie zu liquidieren. Der Terrorismus
provozierte den Antiterrorismus, der noch viel schlimmer war. Man gab der Armee Aufgaben
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der Polizei. Diese folterte, tötete, sperrte ein. Während des Bürgerkriegs in den 90ern
verwandelte sich Algerien in eine Folterkammer. Die Armee war überall, man hatte nicht mehr
das Recht auszugehen. Die Menschen hatten mehr Angst vor dem Militär als vor den
Terroristen. Das meine ich mit dem Stockholm-Syndrom.
«Die Religion ist das Haupthindernis der Demokratie. Der Araber kann seiner Geschichte nicht
entrinnen.» Boualem Sansal
Preisgekrönter Dissident
Der Algerier Boualem Sansal (66) ist sowohl als Sachbuchautor wie als Romancier erfolgreich.
Eben hat er für seinen Roman «2084. La fin du monde» den grossen Preis der Académie
Franaise erhalten. 2011 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
ausgezeichnet. Auf Deutsch ist vor kurzem im Merlin-Verlag sein Sachbuch «Allahs Narren:
Wie der Islamismus die Welt erobert» erschienen. Sansal lebt in Algerien. (mm)
Essen für eine bessere Welt
Würden sich im Jahr 2050 alle Menschen vegetarisch ernähren, liessen sich knapp zwei Drittel
der Treibhausgas-Emissionen einsparen - und weltweit Milliarden im Gesundheitswesen. Doch
laut Experten brächte schon ein geringerer Fleischkonsum viel.
Von Barbara Reye, TA vom MI 25. Mai 2016
In Zeiten der industriellen Nahrungsmittelproduktion geht es um einen möglichst hohen Ertrag
vor allem bei Nutztieren. So wächst ein Küken von 40Gramm in fünf Wochen zu einem zwei
Kilo schweren Poulet heran. Ein Kalb von 45Kilo wird innerhalb von sieben Monaten auf das
Sechsfache aufgepäppelt. Und ein Ferkel von 1,5Kilo bringt bereits nach einem halben Jahr fast
das Siebzigfache auf die Waage. Mit Kraftfutter lässt sich das gewünschte Schlachtgewicht
schnell erreichen.
Doch je mehr Steaks, Würstchen oder Burger auf unseren Tellern landen, umso schädlicher ist
es für die Umwelt, das Klima, aber auch unsere eigene Gesundheit. Gemäss einem vor kurzem
veröffentlichten Fachartikel in den «Proceedings of the National Academy of Sciences» gäbe es
bei einer weltweit vegetarischen Ernährung gut sieben Millionen weniger Tote im Jahr 2050.
Die Sterberate würde um etwa neun Prozent sinken im Vergleich zu Ernährungsweisen, die
gegenwärtige Trends widerspiegeln.
«Wenn wir kein Fleisch mehr essen, dafür aber mehr Obst und Gemüse, leiden wir weniger
häufig unter Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs», sagt der Studienautor
Marco Springmann von der Universität Oxford, der die Auswirkung verschiedener
Ernährungsszenarios mithilfe von Computermodellen berechnet hat. Wären demnach alle
Menschen auf der Welt Vegetarier, liessen sich der britischen Studie zufolge jedes Jahr im
Gesundheitswesen Kosten von ungefähr 1000Milliarden USDollar einsparen.
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Gleichzeitig gelangen bei einem solchen radikalen Wechsel hin zu einer konsequenten
vegetarischen Ernährung im Jahr 2050 fast zwei Drittel weniger Treibhausgas-Emissionen in
die Atmosphäre. Derzeit ist die Produktion unserer Nahrungsmittel nach den klassischen
Berechnungsmethoden für ein Viertel des gesamten weltweiten Treibhausgas-Ausstosses
verantwortlich. Im Jahr 2050 könnte es jedoch bereits das Doppelte sein, wenn sich an der
gegenwärtigen Situation in den Industrieländern nichts ändert und die Entwicklungsländer
aufholen.
Düstere Prognose
Bisher hätten Politiker vor allem die Emissionen aus Energieproduktion, Verkehr und
Gebäuden als Motoren der globalen Klimaerwärmung angesehen, gibt Springmann zu
bedenken. Experten gehen aber davon aus, dass der Konsum von Fleisch weltweit zunimmt,
weil es sich immer mehr Menschen leisten können und es speziell in wirtschaftlich
aufstrebenden Ländern auch eine Art Statussymbol darstellt. In China ist dieses Phänomen
bereits zu beobachten.
Muss nun jeder auf ein saftiges Entrecôte oder einen knusprig gebratenen Pouletschenkel ganz
verzichten? «Es bringt schon viel, wenn beispielsweise der Fleischkonsum von Schwein, Rind
und Schaf nur noch rund 300Gramm statt fast 500Gramm pro Woche beträgt», erklärt
Springmann. Denn dann gäbe es in Kombination mit einer ausgewogenen Ernährung unter
anderem ein Drittel weniger Treibhausgas-Emissionen, 5Millionen weniger Tote im Jahr 2050
und circa 700Milliarden US-Dollar weniger Gesundheitskosten.
Nach Angaben der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) wurden
weltweit im Jahr 2014 insgesamt 68,1Millionen Tonnen Rind, 110,5Millionen Tonnen Geflügel,
117,3 Millionen Tonnen Schwein und 13,9Millionen Tonnen Schaf verzehrt. Pro Kopf liegt somit
der jährliche Verbrauch bei 43,3Kilogramm. Zum Vergleich: In der Schweiz lag er 2015 bei
51,35Kilogramm.
Um den immensen Hunger nach Fleisch zu stillen, werden heutzutage bereits 70Prozent aller
agrarischen Nutzflächen in irgendeiner Art und Weise für die Tierfütterung beansprucht.
«Effizienter wären sie für die Produktion menschlicher Nahrungsmittel zu verwenden», sagt
der Wiener Lebensmittelwissenschaftler Kurt Schmidinger von der Initiative Future Food. 2012
kam er im Rahmen seiner Dissertation über Klimabilanzen zum Ergebnis, dass ein Kilogramm
brasilianisches Rindfleisch genauso viel TreibhausgasEmissionen verursache wie eine Autofahrt
von 1600Kilometern in einem Mittelklassewagen. Das entspricht in etwa der Strecke von Berlin
nach Rom.
Konkurrenz um Nahrung
«Ein gravierendes Problem ist, dass die meisten Nutztiere Kraftfutter wie etwa Soja erhalten,
sodass auch ein ansonsten grasfressendes Rind plötzlich zu unserem Nahrungskonkurrenten
wird», sagt Schmidinger, der bei seiner Studie auch die Auswirkung der Abholzung des
Amazonas-Regenwaldes und die Umnutzung zur Agrarfläche berücksichtigt hat. Dies schlägt in
der Klimabilanz deutlich zu Buche und erhöht den früher konventionell ermittelten Wert für
brasilianisches Rindfleisch auf etwa das Sechsfache. Denn ein Sojafeld hat im Vergleich zu
einem intakten, tropischen Primärwald ein viel geringeres Potenzial, das klimawirksame
Kohlenstoffdioxid aus der Luft zu speichern.
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Um zu bestimmen, wie viel klimaschädliches Gas etwa bei der Herstellung eines Schnitzels vom
Schwein entsteht, werden in der Regel alle direkten und indirekten Emissionen vom Futter über
die Haltung, den Transport zum Schlachthof bis hin zum Endverbrauch berechnet. Aber auch
die körpereigenen Verdauungsgase des Tiers fallen vor allem bei Wiederkäuern stark ins
Gewicht, da zum Beispiel eine typische Schweizer Milchkuh alle paar Minuten rülpst und dabei
das sehr potente Treibhausgas Methan ausstösst. Am Tag produziert sie bis zu 500Liter
Methan, ein Mastrind dagegen drei- bis viermal weniger.
Wichtig: Aufzucht und Futter
Der Ökobilanz-Forscher Thomas Nemecek von Agroscope hat in einer Studie vor vier Jahren
unter anderem importiertes Fleisch aus Europa und Übersee mit Schweizer Fleisch aus
verschiedenen Produktionssystemen verglichen. Das Resultat: Die Herkunft fällt weniger ins
Gewicht als die Art und Weise der Aufzucht der Tiere und die Produktion ihres Futters.
Zwischen verschiedenen Tierarten bestehen grosse Unterschiede. Rindfleisch hat zum Beispiel
höhere Umweltwirkungen als Geflügelfleisch, aber zur Nutzung der grossen Graslandflächen
braucht es Rinder und andere Wiederkäuer. Zudem lässt sich auf dem Grasland Milch deutlich
effizienter als Rindfleisch produzieren.
«Industrielle Tierhaltung ist eine Sackgasse», sagt Schmidinger. Die gängige Form der
Fleischproduktion sei extrem ineffizient, was die Kalorienausbeute betreffe. Im Schnitt brauche
man mindestens sieben pflanzliche Kalorien, um eine Kalorie Fleisch zu produzieren. Fünf
Kalorien gingen nur für den Stoffwechsel der Tiere drauf. «Das bedeutet, dass wir 40Prozent
der Weltgetreideernte und 85Prozent der Sojaernte an Nutztiere verfüttern, die daraus vor
allem Unmengen an Exkrementen produzieren.» Angesichts der Welternährungssituation sei
das unverantwortlich.
«Im Schnitt braucht man mindestens sieben pflanzliche Kalorien, um eine Kalorie Fleisch zu
produzieren.»
Kurt Schmidinger, Ernährungsforscher
Die Zürcher Polizei, Polens Freund und Helfer
Ein Toter und ein Schwerverletzter in Stettin: Das Auto war in einen Kandelaber geprallt. Foto: Marcin
Bielecki (Keystone)
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Ein Toter und ein Schwerverletzter in Stettin: Das Auto war in einen Kandelaber geprallt. Foto: Marcin
Bielecki (Keystone)
Der Zürcher Alt-Nationalrat Roland Wiederkehr hat mit einem schweizerisch-polnischen
Austauschprojekt Polens Strassen sicherer gemacht. Und sich einen Orden verdient.
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Von Helene Arnet, TA vom 23. Mai 2016
Der «heilige Zorn» treibt den ehemaligen Nationalrat und WWF-Chef Roland Wiederkehr
immer noch an. Der 73-Jährige sagt von sich: «Ich kann nicht tatenlos zusehen, wenn etwas
notwendig wäre, aber nicht zum Laufen kommt.» Und was ihn schon seit Jahren umtreibt, sind
die Menschen, die im Verkehr schwer verletzt werden oder gar das Leben verlieren. «Es ist
nicht in den Köpfen der Regierenden, dass der Verkehr der grösste Killer der eigenen
Bevölkerung ist», sagt er. «1,3 Millionen Tote, über 50 Millionen Schwerverletzte und horrende
Kosten jedes Jahr. Die Tendenz ist steigend in den Entwicklungs- und Schwellenländern.» In
Polen gab es vor drei Jahren mehr als 4000 Verkehrstote, das war die höchste Zahl im EURaum - in Deutschland waren es damals etwas über 3300, in der Schweiz 257.
Die Schweiz sprach im Rahmen der Unterstützungsbeiträge für die EU-Oststaaten knapp 500
Millionen Franken für Polen. Damit sollten unter anderem auch Projekte unterstützt werden,
welche die Sicherheit erhöhen: Bekämpfung von Terrorismus, Grenzsicherung, Asylzentren
standen
im
Fokus.
Wiederkehr
fragte
bei
der
Deza
(Direktion
für
Entwicklungszusammenarbeit) an, ob auch etwas zur Reduzierung der jährlich mehr als 4000
Strassentoten getan werden könnte.
Denn der aufkeimende Wohlstand in Polen brachte plötzlich auch viel mehr Autos auf die
Strassen - oft waren die Leute in uralten Klapperkisten unterwegs und kaum durch taugliche
Gesetze oder tüchtige Polizisten gebremst. «Dass Autos zur Waffe werden können, war in Polen
im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent», stellt Wiederkehr fest. «Sie bretterten mit 120
durchs Dorf, und es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dass dies sie und andere gefährden
könnte.»
Polnische Polizisten in Zürich
Zwei Jahre lang wartete Wiederkehr auf die Zusage der Deza, doch dann standen vier Millionen
für sein Projekt zur Verfügung: ein Austausch auf vielen Ebenen, zwischen Polizei, Medien,
Fahrlehrern, Staatsanwälten und Richtern, NGOs sowie Politikern, um die Bevölkerung für die
Gefahren zu sensibilisieren, die vom Fehlverhalten im Verkehr ausgehen. Und zwar nicht von
oben herab, sondern auf freundschaftlicher Basis.
Wiederkehr organisierte Experten, Zürich und weitere Kantone stellten Polizeioffiziere frei für
ein schweizerisch-polnisches Austauschprogramm. Sie reisten in die polnische Provinz, hielten
dort vor einheimischen Polizisten und Entscheidungsträgern Vorträge über Verkehrssicherheit
und zeigten auf, wie bei uns gefährliche Strassenabschnitte gesichert und Verkehrsregeln
durchgesetzt werden. Sie erzählten von der Verkehrserziehung in den Schulen und was
Fahrschülerinnen und Fahrschüler in der Schweiz lernen.
Dabei trafen Kulturen aufeinander. Und entstanden gleichzeitig Freundschaften. Christian
Thomas, der als Vertreter des Fussgängervereins Zürich dabei war, sagt: «Das Projekt wurde
sehr gut aufgenommen. Wir wurden oft mit grossem Engagement und liebenswürdiger
Gastfreundschaft empfangen.» Die polnischen Polizisten und Fachleute wurden im Gegenzug in
die Schweiz eingeladen. Man führte sie unter anderem durch das Schwerverkehrszentrum am
Gotthard, wo sie erlebten, wie insbesondere polnische Lastwagenfahrer immer wieder hängen
blieben. Und sie wurden durch Zürich geführt und staunten über das Primat der Fussgänger.
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Delegation in Rümlang
Dazu kam ein politischer Austausch unter Parlamentariern beider Länder. Der Zürcher SPNationalrat und Präsident von Fussverkehr Schweiz, Thomas Hardegger, ist Mitglied der
parlamentarischen Gruppe Schweiz - Polen. Er hat eine polnische Delegation in Rümlang, wo er
Gemeindepräsident ist, empfangen. Dort wurde den Polen gezeigt, wie die kommunale Polizei
in Sachen Verkehrssicherheit vorgeht. Auch konnten die Schweizer im Sejm, der einen der
beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung, das Projekt Via sicura präsentieren.
«Bei solchen Aktionen muss man dranbleiben, bis man an die richtigen Leute gelangt», weiss
der gewiefte Netzwerker Roland Wiederkehr aus Erfahrung. Tatsächlich war es denn wohl auch
eine einzelne Politikerin, die so richtig einhakte: Die Vizepräsidentin des Sejm bat um Einsicht
in die Schweizer Verkehrsgesetzgebung. Im Februar 2015 dann befürwortete das polnische
Parlament ein Paket von Gesetzesanpassungen nach Schweizer Vorbild, und bereits im Mai
desselben Jahres ist das neue Gesetz in Kraft getreten.
Projekt rettet Tausende Leben
Unterdessen sind in Polen die Anforderungen für den Führerausweis vereinheitlicht und
geklärt, es werden neuralgische Unfallschwerpunkte mit Schwellen entschärft, es sind neutrale
Nachfahrautos und fliegende Geschwindigkeitsmessanlagen unterwegs. «In einem haben sie
uns
unterdessen
sogar
überholt»,
erzählt
Wiederkehr:
«Eine
derart
tolle
Verkehrserziehungswoche, wie ich sie in einer polnischen Kleinstadt erlebt habe, gibt es in der
ganzen Schweiz nicht - das war ein wahres Volksfest.»
Die Zahlen sprechen für sich: Seit dem Start des Projekts ist die Anzahl der Verkehrstoten in
Polen von 4200 auf 3000 pro Jahr zurückgegangen. Zudem gibt es viel weniger Schwerverletzte
- und riesige Einsparungen bei der öffentlichen Hand. Da die meisten Polinnen und Polen nur
schlecht versichert sind, bleiben die Spitalkosten nämlich meist am Staat hängen. Thomas
Hardegger macht auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: «Da in Polen dieselbe Person die
Budgets von Polizei und Gesundheit betreut, ist das Interesse gross, mit
Sicherheitsmassnahmen die Gesundheitskosten zu senken.»
Nächstes Ziel: Kroatien
Das Projekt hat mittlerweile weitherum von sich reden gemacht. So verleiht das European
Traffic Police Network Tispol, in dem die 28 EU-Staaten plus Norwegen und die Schweiz
vertreten sind, Roland Wiederkehr am kommenden Mittwoch in Dublin den Tispol President
Award 2016. Die Auszeichnung geht an Personen, die einen substanziellen Beitrag für die
Sicherheit auf Europas Strassen geleistet haben.
Doch allzu lange wird sich der Gründer und einstige Präsident von Green und Road Cross
Schweiz nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Er sagt: «Das Polen-Projekt lässt sich sehr gut auch
auf andere Länder anwenden - zum Beispiel auf Kroatien.» Mit der Deza ist er deshalb schon
seit längerem in Kontakt. Und eine parlamentarische Freundschaftsgruppe Schweiz - Kroatien
hat er bereits ins Leben gerufen. Mit namhaften Mitgliedern: Neben Thomas Hardegger sind
auch die amtierende Nationalratspräsidentin Christa Markwalder (FDP) und mehrere Zürcher
Parlamentarier vertreten. Es ist kaum zu bezweifeln, dass Roland Wiederkehr auch da das
Notwendige zum Laufen bringt.
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