Türkische Armee verkündet Machtübernahme

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Türkische Armee verkündet Machtübernahme
N E W S VON INTERNATIONAL BIS SPORT
November und Dezember 2016
Der Albtraum aller Staatsschützer
Ein Polizist sichert am Tatort den LKW: In der Führerkabine wurde später der Ausländerausweis von Anis
A. gefunden. Foto: Getty Imges
Der mutmassliche Attentäter von Berlin, Anis A., ist den Behörden bekannt. Anfang des Jahres
wurde der 24-jährige Tunesier vom Staatsschutz als «Gefährder» eingestuft: als Person, der man
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zutraut, jederzeit andere töten zu können. Er soll bereits im Juli davon gesprochen haben, Anschläge
zu verüben.
Von Hans Leyendecker, Georg Mascolo, Nicolas Richter und Ronen Steinke, TA vom DO 22.12.2016
Der Lastwagen sieht von vorne aus wie eine dicke, schwarze Maske, feindselig,
undurchdringlich. Am Montagabend mäht er mit seiner Mordskraft aus Hunderten PS
Dutzende Menschen nieder, Weihnachtsbuden, Tannenbäume aus Kunststoff. Als er nach
rund 80Metern zum Stehen kommt, stecken Teile des Weihnachtsmarktes in der Frontscheibe.
Das Fahrzeug ist beschädigt, und doch wirkt es noch immer so kalt, feindselig und
undurchdringlich wie zuvor.
Als die Ermittler in das Fahrerhäuschen blicken, entdecken sie die Spuren eines heftigen
Kampfes. Überall ist Blut. Auf dem Beifahrersitz ein toter Mann, erschossen. Es ist der
ursprüngliche Fahrer, ermordet von seinem Entführer. Die Leiche, das Blut, all das böte der
Polizei eine Fülle von Indizien, um das schwerste terroristische Verbrechen der jüngeren
deutschen Geschichte aufzuklären. Wie sich aber herausstellt, brauchen die Ermittler all das
gar nicht, um dem mutmasslichen Täter auf die Spur zu kommen, dem Mann, der eben noch
am Steuer sass, als der Lastwagen durch die Weihnachtsbuden pflügte.
Wie man inzwischen weiss, hat der mutmassliche Täter seinen Namen schlicht liegen lassen.
Ob aus Versehen oder aus Absicht, um sich selbst eines Massenmordes zu bezichtigen, weiss
man nicht. Was die Polizisten jedenfalls bald in den Händen halten, ist ein Ausländerausweis.
Ausgestellt auf einen Mann namens Anis A. aus Tunesien. Geboren am 22. 12. 1992. Für die
Ermittler ist das nur auf den allerersten Blick eine gute Nachricht. Gut, sie wissen jetzt, nach
wem sie suchen. Aber sie stellen bald fest, dass sie es mit einem alten Bekannten zu tun haben.
Die Staatsschützer kennen Anis A., und sie kennen ihn sogar so gut, dass sie ihn im Februar
2016, also vor mehr als einem halben Jahr, als «Gefährder» eingestuft haben. Als einen Mann,
der nicht nur wegen seiner radikalen, islamistischen Ansichten aufgefallen ist; sondern auch,
weil man ihm zutraut, jederzeit andere töten zu können.
Der tunesische Radiosender Mosaique FM berichtete gestern Abend unter Berufung auf Anis
Vater, dass sein Sohn seine Heimat vor sieben Jahren verlassen habe und vier Jahre davon in
einem Gefängnis in Italien sass. Er soll in einer Schule einen Brand gelegt haben. Und auch in
Tunesien habe eine Haftstrafe gedroht: Anis A. sei dort in Abwesenheit wegen schweren
Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.
Das Verfahren lief
Anis A. ist im Juni 2015 nach Deutschland eingereist, er lebte zunächst in Freiburg, dann in
Nordrhein-Westfalen, seit Februar 2016 soll er sich vor allem in Berlin aufgehalten haben. Der
Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Rolf Jäger, sagt, auf Betreiben seines Bundeslandes
sei ein Verfahren nach Paragraf89a (Vorbereitung einer schweren, staatsgefährdenden
Gewalttat) in Gang gebracht worden. Der Generalbundesanwalt habe das Verfahren an den
Generalstaatsanwalt in Berlin weitergereicht. Und jetzt hat Anis A. wohl genau das getan, was
man ihm zutraute. Warum konnte man das nicht verhindern?
Seit fünfzehn Jahren ist das der Albtraum aller Staatsschützer: Es passiert etwas, und dann ist
der mutmassliche Täter jemand, den man schon auf der Liste hatte. Seit den Anschlägen vom
11.September 2001 in den USA, seit man sich im Westen also intensiv mit islamistischen
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Terroristen beschäftigt, gilt ein Fall wie der in Berlin als Worst Case: Der Staat hat einen
«Gefährder» zwar erkannt, scheitert aber daran, ihn vom Schlimmsten abzuhalten.
Es ist keine gute Woche für den deutschen Sicherheitsapparat. Wenige Stunden nach der Tat
meldet die Polizei, dass sie einen mutmasslichen Täter gestellt habe; ein Zeuge will ihn vom
Tatort aus quer durch die Innenstadt verfolgt haben. Die Behörden scheinen sich sofort sicher
zu sein, dass sie den Richtigen gefasst haben, einen jungen Mann aus Pakistan. Ist das der
Grund dafür, dass die Fahrerkabine nicht sofort durchsucht wird? Jedenfalls wäre es
naheliegend, die Kabine schleunigst zu durchsuchen, denn immerhin haben islamistische
Attentäter ja schon öfter ihre Papiere am Tatort hinterlassen.
Stattdessen wird der schwarze Lastwagen erst einmal abgeschleppt, weg vom Tatort, hinein in
eine Halle der Polizei. Dort schicken die Beamten zunächst Hunde in die Kabine, um den
Geruch des Verdächtigen aufzunehmen. Um diesen Geruch nicht zu verderben, haben die
Ermittler erst davon abgesehen, die Kabine gründlich zu durchsuchen. Erst später finden sie
eine Brieftasche, aus der sie dann sehr langsam und vorsichtig die Papiere von Anis A. ziehen.
Da erst dämmert es ihnen, dass ein ganz anderer Mann der Hauptverdächtige sein könnte als
der, den sie bereits festgenommen haben.
Noch ist nicht klar, ob dies eine Geschichte darüber ist, dass der Staat versagt hat. Oder eine
Geschichte darüber, wie schwierig es für den Staat ist, die wachsende Szene der Gefährder im
Blick zu behalten. Es liegt nicht nur an der grossen Zahl der Gefährder, sondern auch daran,
dass der Staat immer mehr Aufwand betreiben muss, um sie zu überwachen. Lange Zeit schien
es ja so, als hätten die deutschen Staatsschützer die Gefährder sehr gut im Blick. Deutschland
war als eines der wenigen grossen Länder in Europa lange Zeit einem Anschlag entgangen;
immer wieder entdeckten die Fahnder Terrorzellen und konnten sie rechtzeitig ausheben. Aber
das Jahr 2016 zeigt, dass dies leider nicht mehr immer gelingt.
Ist diese Szene gewaltbereiter Islamisten undurchdringlich geworden? Oder hat man nicht
richtig hingesehen? Rückblickend jedenfalls offenbart sich jetzt, dass Anis A. gleich mehrmals
aufgefallen ist. Oder hätte auffallen können. Der Tunesier hatte Asyl beantragt, was im Juli
2016 abgelehnt wurde. In Nordrhein-Westfalen bewegte er sich im Umfeld des Predigers
Ahamad Abdula-ziz AbdullahA., genannt Abu Walaa. Der Prediger gilt als so radikal, dass die
Polizei ihn erst kürzlich verhaftet hat. Seine Waffen waren Youtube-Videos, die mit
sphärischen Klängen unterlegt waren und in denen er sich geheimnisvoll inszenierte, als Imam
ohne Gesicht, von der Kamera stets geschickt ins Off gerückt. In der Morgendämmerung des
8.November wurde er festgenommen. Generalbundesanwalt Peter Frank nannte ihn einen
«geistigen Wegbereiter» des Jihadismus.
Der mutmassliche Berliner Täter Anis A. war mit dieser Gruppe ziemlich eng verbunden. Er
fiel durch verdächtige Chats im Internet auf. Zeitweise soll A. bei einem Dortmunder Mann
namens Boban S. gewohnt haben. Im November hat die Polizei auch Boban S. verhaftet,
gleichzeitig mit dem Prediger Abu Walaa. Die Ermittler werfen BobanS. vor, er habe für den
Jihad geworben und sich zum Islamischen Staat bekannt, jener Terrororganisation, die in
Syrien und im Irak wucherte und nun Anschläge auf der ganzen Welt für sich beansprucht.
Während der Prediger Abu Walaa und sein Bekannter Boban S. verhaftet wurden, kam Anis. A.
davon, er war eine von 25Personen, die dem Prediger nahestanden, bei denen es aber nicht für
einen Haftbefehl reichte.
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Bis hier lässt sich das Versäumnis der Sicherheitsbehörden noch relativ leicht verteidigen:
Manchmal ist es eben schwierig, zu beurteilen, was daraus folgt, dass einer wie der Tunesier
Anis A. zum «Umfeld» einer Terrorgruppe gehört. Reicht es, einen Verdächtigen zu kennen,
um selbst verdächtig zu sein? Reicht es, bei einem Verdächtigen zu übernachten, um selbst
verdächtig zu sein? Die Justizakten sind voller Grenzfälle; manchmal ist es unmöglich, zu
wissen, wo die Wahrheit liegt.
Es gibt da ein paar Zahlen, sie legen nahe, dass es beim Umgang mit Gefährdern so etwas wie
Präzision gibt. 549 islamistische Gefährder zählt das Bundeskriminalamt derzeit in
Deutschland. Die allermeisten stammen aus Grossstädten, 97 sind Konvertiten. Aber was
heisst es schon, dass die Behörden jemandem Terrorakte zutrauen? Anders als bei
Vergewaltigern oder Schlägern, die in Sicherungsverwahrung sitzen, weil sie ein Verbrechen
begangen haben und ihnen von Psychologen nach eingehender Untersuchung eine
Wiederholungsgefahr attestiert worden ist, haben Gefährder oft noch nichts Strafbares getan.
Vielleicht sind sie in Internetforen aufgefallen. Vielleicht haben sie auffällige Reiserouten
hinter sich. Sie sind keine Straftäter, sind frei, verhalten sich legal. Gefährder sind mutmasslich - künftige Straftäter. Wenn überhaupt. Präzis ist daran nichts, und was für einen
Aufschrei gäbe es, wenn sich die Polizei über die Unschuldsvermutung hinwegsetzte und
solchen Leuten Fesseln anlegte?
Ganz grosses Besteck
Vorschläge, wie sie zuletzt aus der Partei CSU kamen, man solle pauschal allen Gefährdern
elektronische Peilsen-der umschnallen, fanden sie sogar im Bundeskriminalamt befremdlich.
«Auf welcher rechtsstaatlichen Grundlage denn?», fragte ein hochrangiger Sicherheitsexperte.
Wie viele Personen die Polizei als Gefährder zählt, das ist auch ein Gradmesser dafür, wie
nervös die Zeiten sind, denn natürlich könnte man den Kreis auch weiter ziehen, natürlich ist
die Definition nicht scharf. Es geht um eine reine Prognose.
Aber selbst wenn man sich einig ist, dass jemand ein Gefährder ist - was folgt dann daraus?
Für eine Observation rund um die Uhr bräuchte man vier oder fünf Teams, die sich in
Schichten abwechseln. Wenn der Beobachtete in ein Auto steigt und davonfährt, muss das
ganze Team hinterher. Wie soll man das leisten, bei 549Zielpersonen landesweit? Tag und
Nacht wird meist nur überwacht, wer im Internet Chemikalien bestellt oder ein
Bekennerschreiben formuliert hat. «Und selbst wenn wir mal das ganz grosse Besteck
herausholen», sagt einer, der mit der Überwachung von Gefährdern leidvolle Erfahrungen
gemacht hat, «was erwartet man?»
Selbst bei grösstem Aufwand bleiben bei jeder Observierung Lücken. Nach den Anschlägen
vom 11.September 2001 hatten die Sicherheitsbehörden in Hamburg strikte Anweisungen,
einen Mann aus Saudiarabien nicht aus den Augen zu verlieren. An Kosten und Mühen wurde
nicht gespart. Rund um sein Haus postierten sich Beamte. Tagelang warteten sie darauf, dass
der Mann das Haus verlässt. Bis er plötzlich in ihrem Rücken auftauchte, freundlich grüsste
und ins Haus hineinging. Er war ihnen unbemerkt entwischt. «Das können sie menschlich
nicht verhindern», sagt der erfahrene Ermittler.
Unter den 549 islamistischen Gefährdern, die das Bundeskriminalamt (BKA) derzeit zählt,
sind viele, die ins Ausland gereist sind. Etwa die Hälfte, schätzt das BKA, hat sich zeitweise
dem Kampf in Syrien und im Irak angeschlossen. Viele sind wiedergekommen. Nicht bei allen
ist man sich sicher. Und bei den gewaltbereiten Islamisten, die wieder da sind, ist es nun teils
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so: Man hat Meldeadressen, aber das heisst nichts. Es herrscht Bewegungsfreiheit in
Deutschland.
Was bleibt, ist die Überwachung mit technischen Mitteln. Da ist man auch vom Glück
abhängig. Man kenne das aus dem eigenen Leben, sagt ein Verfassungsschützer aus einem
Bundesland. «Überlegen Sie mal, auf wie vielen Kanälen Sie täglich kommunizieren» - soziale
Netzwerke, Telefon, SMS, vielleicht noch Chats, verschlüsselte Messengers. «Als Verfolger
kommen Sie kaum hinterher bei den ständig neuen Kanälen.»
Ein Ermittler des BKA hat einmal beklagt, die heutigen Verdächtigen gehörten zur «PowerUser-Generation», in der das Verhältnis von Messenger-Diensten zu herkömmlichen
Telefonaten bei 30zu 1 liege. Wo die Polizei früher nur ein Telefonat übersetzen und
interpretieren musste, ist es heute eine Vielzahl davon, ein ständig anschwellender
Datenstrom, den Staatsschützer schlicht nicht mehr bewältigen. Man könnte sagen:
Terroristen schützen sich durch Geschwätzigkeit.
Ins Netz abgewandert
Früher gab es öfter noch Treffen in der «realen Welt», wie ein Verfassungsschützer sagt. Die
sogenannten Islamseminare zum Beispiel. Inzwischen hat das stark abgenommen, sicher auch,
weil die Gefährder wissen, dass sie dort wie auf dem Präsentierteller sitzen. Die
Kommunikation wandert ab ins Netz.
Womöglich aber können all diese Herausforderungen alleine nicht erklären, warum man Anis
A. laufen liess. Womöglich hat der Verdächtige sogar ziemlich deutlich offenbart, dass er
Gewalttaten plante. Anis A. soll bereits im Juli davon gesprochen haben, Anschläge zu
begehen. So steht es jedenfalls in einem Bericht einer Vertrauensperson des
Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen vom 21.Juli 2016. Warum die Staatsschützer diese
Information nicht ernst nahmen, wird man noch herausfinden müssen.
Weil der Umgang mit Gefährdern so kompliziert und aufwendig ist, haben Politiker immer
wieder vorgeschlagen, die Regeln zu verschärfen. In Frankreich hat man einmal über ein
Internierungslager wie in Guantánamo diskutiert. Wolfgang Schäuble hat als Innenminister
einmal vorgeschlagen, Gefährdern das Handy wegzunehmen. Meistens versuchen die
Behörden allerdings, die Gefährder, die ja in der Regel aus dem Ausland stammen, wieder
abzuschieben. Das Gesetz lässt dies auch dann zu, wenn der Verdächtige noch keine Straftat
begangen hat. Auch im Fall Anis A. sollen die Behörden das versucht haben. Aber sein
Heimatland Tunesien war nicht bereit, ihn zurückzunehmen. Offenbar habe A. keine
tunesischen Ausweispapiere besessen, jedenfalls keine, die von den tunesischen Behörden
akzeptiert wurden. So zog sich die Abschiebung in die Länge. Erst am Mittwoch seien die
Papiere eingetroffen, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Jäger. Da ist es schon zu spät.
Die letzte Gelegenheit, Anis A. zu stoppen, verstreicht im Sommer dieses Jahres. Da wird Anis
A. in Friedrichshafen mit einem gefälschten italienischen Ausweisdokument festgenommen.
Allerdings kommt er bald wieder frei, weil man auch jetzt nicht genug gegen ihn in der Hand
hat. «Das war kein Versagen des Rechtsstaats», sagt ein hochrangiger Beamter, «aber es zeigt,
welche Schwierigkeiten es gibt, solche Leute aus dem Verkehr zu ziehen».
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Im November dann berät - nicht zum ersten Mal - das «Gemeinsame
Terrorismusabwehrzentrum» von Bund und Ländern über den Fall Anis A. Seine
mutmassliche Nähe zum IS, seine Reisen beunruhigen die Experten. Der Staat ist ihm ziemlich
nahe gekommen. Aber nicht nahe genug.
Die raffinierte Strategie der AfD
«Es sind Merkels Tote»: Die AfD provoziert indem sozialen Medien. Und setzt auf die
Empörten.
Dominique EigenmannBerlin
Es klang spontan, tatsächlich folgte es einem durchdachten Drehbuch: Exakt eine Stunde nach
dem Anschlag bei der Berliner Gedächtniskirche twitterte Marcus Pretzell: «Wann hört diese
verfluchte Heuchelei endlich auf? Es sind Merkels Tote!» Der Tweet des scharfzüngigen
Freunds von Frauke Petry, Chefin der Alternative für Deutschland (AfD), verbreitete sich mit
grosser Geschwindigkeit. Nicht nur begeisterte Anhänger der AfD leiteten ihn sogleich an ihre
Freunde weiter, sondern auch all jene, die sich darüber empörten. Die politischen Gegner
schienen dabei häufig noch obsessiver als die Fans.
Das Resultat war eine Empörungsspirale, die Pretzells Provokation maximale Aufmerksamkeit
verschaffte. Folgerichtig figurierte seine Behauptung am nächsten Tag auch in den meisten
etablierten Medien, auch im TA. Pretzell war an diesem Tag nicht der einzige Brandstifter. Der
Chef der Jugendorganisation der AfD, der nebenbei als Petrys Pressesprecher amtiert,
bezeichnete Angela Merkel als «Terrorkanzlerin». Ein baden-württembergischer
Landtagsabgeordneter verbreitete ein manipuliertes Bild der zur Raute geformten Hände
Merkels, an denen Blut klebte, und forderte sie zum Rücktritt auf.
Die Affronts auf den sozialen Netzwerken kontrastierten auffällig mit den offiziellen
Pressemitteilungen der Partei, die zwar kritisch, aber im Ton verhältnismässig moderat
abgefasst waren. Zu Besonnenheit wurde da aufgerufen, und die Reverenz an die Opfer und
ihre Angehörigen fehlte nicht. Diese Rhetorik richtete sich an die bürgerlichen Sympathisanten
der Partei, denen Merkels Christdemokraten zu wenig konservativ sind, die allzu schrille Töne
aber verabscheuen.
Provokation, sorgfältig geplant
Um höchstes Aufsehen zu erregen und neue Wählerschichten anzusprechen, sind indes
Provokationen die bevorzugte Strategie der Partei. So schrieb Petry schon im März in einer
Nachricht an alle Mitglieder: «Um sich medial Gehör zu verschaffen, sind pointierte, teilweise
provokante Aussagen unerlässlich. Sie erst räumen uns die notwendige Aufmerksamkeit und
das mediale Zeitfenster ein, um uns in Folge sachkundig und ausführlicher darzustellen. Oder
um es mit Konrad Adenauer zu sagen: Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie
auch ernst genommen.» Ähnlich steht es in einem Strategiepapier, das der Parteivorstand vor
kurzem abgesegnet hat. «Sorgfältig geplante Provokationen» sollen auch dazu dienen, andere
Parteien zu nervösen und unfairen Reaktionen zu verleiten.
Im September hatte der «Spiegel» bereits berichtet, dass die AfD für den Fall von
islamistischen Attentaten vor der Bundestagswahl 2017 grossformatige Plakate mit dem Satz
vorbereite: «Danke, Frau Merkel!» Ziel sei es, die Kanzlerin «möglichst schnell zum Rücktritt
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zu bewegen». Ob es diese Plakate bereits gibt und ob sie nun in Berlin bald in den
Fussgängerzonen hängen, ist derzeit nicht bekannt.
Vorbild Donald Trump
Die Kommunikationsprofis der AfD haben den Erfolg von Donald Trump im amerikanischen
Wahlkampf intensiv studiert und versuchen, dessen Erfolgsrezepte zu kopieren. Mit
kalkulierten Tabubrüchen erreicht man nicht nur grosse Aufmerksamkeit, sondern erhält auch
die Möglichkeit, die Empörung der politischen Gegner für eigene Zwecke zu bewirtschaften. Je
mehr die Partei stigmatisiert werde, so steht es im eben verabschiedeten Strategiepapier,
«desto positiver ist das für das Profil der Partei». Wer wie die AfD die Gegner als «Altparteien»
schmäht, kann von deren Distanzierung nur profitieren.
Die Provokation erlaubt zudem, den Gegner auf ein Terrain zu locken, auf dem man sich
rhetorische Vorteile verspricht. Framing nennt man in der politischen Kommunikation die
Fähigkeit, ein Problem in einer Weise sprachlich zu fassen, die den eigenen Zielen am besten
dient. Provokationen sind auch deswegen raffiniert, weil sie den Gegner häufig zwingen, in den
Deutungsrahmen des Provokateurs einzutreten. Der amerikanische Neurolinguist und TrumpGegner George Lakoff hat kürzlich in seinem Blog darauf aufmerksam gemacht: Wer eine
Behauptung wiederhole, um sie zu negieren, so Lakoff, bestätige damit primär die
Behauptung.
Auf die AfD gedreht: Wer Pretzell antworte: «Nein, es sind nicht Merkels Tote», werde im
Wesentlichen den öffentlichen Eindruck verfestigen, dass es eben doch um «Merkels Tote»
gehe - das heisst, um ihre persönliche Verantwortung. Ein typisches Beispiel war in dieser
Hinsicht Pretzells Tweet vom Mittwoch, in dem er auf die Ankündigung der Polizei München,
seine Provokation auf Twitter strafrechtlich zu prüfen, mit einer kühlen Wiederholung
reagierte: «Wegen Majestätsbeleidigung? Weil es Merkels Tote sind?»
Neurolinguist Lakoff empfiehlt den politischen Widersachern deshalb, die Provokationen auf
keinen Fall weiterzuverbreiten oder zu wiederholen. Wolle man der Aussage widersprechen,
solle man es in eigenen Worten tun, um das Kampffeld in die eigene Hälfte zu verschieben. Der
Internetexperte Simon Hurtz von der «Süddeutschen Zeitung» rät zu «souveränem
Ignorieren» und «ausgeruhter Erwiderung» statt zu kurzfristiger Empörung: «Im deutschen
Presserecht gibt es keinen Absatz, der vorschreibt, über jedes Stöckchen zu springen, das die
AfD hinhält.»
Hat ein Tippfehler die US-Wahl beeinflusst?
Einem IT-Mitarbeiter aus dem Stab Hillary Clintons ist ein Missgeschick passiert. Damit
öffnete er wohl den russischen Hackern die Tür.
Von Christian Gschwendtner, TA vom DO 15. Dezember 2016
Am 19. März bekommt John Podesta, der Wahlkampfmanager von Hillary Clinton, ein E-Mail.
Es wird in die US-Wahlkampfgeschichte eingehen. «Hi John», ist darin zu lesen, «jemand hat
dein Passwort gestohlen.» Das Mail ist als offizielle Benachrichtigung von Google getarnt, in
Wahrheit stecken offenbar russische Hacker dahinter. Die Angreifer wollen Podesta
weismachen, er müsse dringend sein Passwort ändern. So wollen sie an seine Daten kommen.
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Der Vorwand der Hacker: Jemand wollte sich von der Ukraine aus in Podestas E-Mail-Account
einloggen. Deswegen solle er sein Passwort ändern. In Podestas Team wird man zu Recht
misstrauisch und holt sich Rat bei der IT, den Computerspezialisten. Ist das E-Mail echt, oder
handelt es sich um eine fingierte Nachricht? Was folgt, ist die wohl grösste Panne in der
jüngeren US-Wahlkampfgeschichte. Nachzulesen ist sie noch heute auf der
Enthüllungsplattform Wikileaks, wo die E-Mails inzwischen zu finden sind.
Vorschnelle Entwarnung
Es dauert am 19. März nur eine halbe Stunde, dann antwortet Charles Delavan, ein junger ITMitarbeiter im Clinton-Stab. Er gibt Entwarnung. «Es handelt sich um ein seriöses E-Mail (a
legitimate Email)», schreibt Delavan an die Podesta-Mitarbeiter. Doch er hat sich - nach
eigener Darstellung - vertippt. Eigentlich habe er «unseriöses E-Mail» («an illegitimate
Email») schreiben wollen, wie er nun der «New York Times» verriet.
Die bittere Konsequenz: Die Podesta-Mitarbeiter glauben, es handle sich um eine echte
Google-Benachrichtigung. Sie ändern das Passwort. Die russischen Hacker lesen mit und
haben plötzlich Zugriff auf 60 000 sensible Clinton-Mails. Ein Leak, das Clinton im
Wahlkampf arg in Bedrängnis bringt. Die Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlicht das
Material. Und seither plagen Delavan Gewissensbisse.
Wahlen in Florida beeinflusst
In den USA hat sich nun eine Diskussion darüber entwickelt, wie glaubwürdig die Darstellung
des IT-Mitarbeiters Delavan ist. Hat er sich wirklich nur vertippt? Oder hat er den Cyberangriff
in Wahrheit übersehen und will sich nun im Nachhinein rechtfertigen? Die Zeitschrift «The
Atlantic» hat jedenfalls ihre Zweifel an seiner Darstellung. Sie mutmasst, wenn Delavan
wirklich geahnt hätte, dass es sich um ein Fake-E-Mail handelte, dann hätte er wohl nicht
gefordert, das Passwort müsse so schnell wie möglich («ASAP») geändert werden. Und
ausserdem: Im Englischen liegen drei Buchstaben zwischen «an illegitimate» und «a
legitimate Email». Das spreche gegen einen simplen Tippfehler.
Stück für Stück werden nun immer mehr Details des Hackerangriffs auf die Demokratische
Partei bekannt. Wie die «New York Times» berichtet, waren viele Anti-Viren- und PhisingProgramme der Demokratischen Partei veraltet. Ausserdem berichtete die Zeitung, dass
russische Hacker offenbar auch die Wahl von Abgeordneten in mehreren US-Bundesstaaten
beeinflusst hatten. So spielten die Eindringlinge Dokumente, die sie in der nationalen Zentrale
der Demokratischen Partei gestohlen haben, Reportern und Bloggern in Florida zu.
Auch die amerikanische Bundespolizei FBI soll eine unrühmliche Rolle gespielt haben: Sie
wusste offenbar schon früh von den Angriffen, warnte allerdings nicht mit dem nötigen
Nachdruck davor. Nur der Enthüllungsjournalist Glenn Greenwald konnte der TippfehlerAffäre bisher etwas Positives abgewinnen. Sie zeige, dass es sich bei dem Angriff der russischen
Hacker um keine Meisterleistung gehandelt habe. Die Hacker hatten nur pures Glück, schrieb
Greenwald auf Twitter.
Immer noch Kampfzone
In Ost-Aleppo fallen weiterhin Bomben. Die Hoffnung auf die Rettung der Menschen aus der
Stadt ist zerstört. Offenbar hat der Iran einen Waffenstillstand verhindert.
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Von Moritz Baumstieger, TA vom DO 15. Dezember 2016
Der von der Türkei und Russland vermittelte Waffenstillstand für Aleppo zwischen dem
syrischen Regime und den in den letzten Rebellengebieten eingeschlossenen Aufständischen
ist gescheitert, ehe Ost-Aleppos Evakuierung beginnen konnte. In der Folge flammten im Lauf
des Mittwochvormittags die Kämpfe wieder auf. Die von Rebellen gehaltenen Teile der Stadt
wurden erneut Ziel heftiger Luftangriffe, wie Hilfsorganisationen und Oppositionsaktivisten
berichteten.
Wer für den Zusammenbruch der Waffenruhe verantwortlich ist, liess sich zunächst nicht
eindeutig feststellen. Die Bürgerkriegsparteien beschuldigen sich gegenseitig: Russland und
die syrische Regierung des Machthabers Bashar al-Assad werfen den Rebellen vor, den
Westteil bei einem versuchten Ausbruch aus dem Belagerungsring beschossen zu haben. Nach
Schilderungen von Osama Abu Zayd, Rechtsberater der syrischen Opposition, waren es für
Assad kämpfende iranische Milizen, die das Feuer wieder aufnahmen. «Russland bringt den
Iran nicht dazu, den Deal einzuhalten», sagte er in einem von Rebellen gehaltenen Vorort
Aleppos der Agentur AP. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen konnten keine Version
bestätigen, sie schilderten die Lage im Gespräch mit dem TA als «völlig unübersichtlich und
chaotisch».
Am frühen Mittwochmorgen warteten bereits viele Zivilisten aus den Rebellengebieten an den
Sammelpunkten für den Abtransport, darunter zahlreiche Familien und Verletzte. In
Sichtweite warteten grüne Reisebusse, mit denen die Menschen in das andere Rebellengebiet
gebracht werden sollten. Zunächst hiess es, der Transport verzögere sich, weil Rebellen und
Regierung weiter über Details stritten: So hätten deutlich mehr Menschen den Transfer in
Anspruch nehmen wollen, als zuvor bekannt war. Auch habe die Regierung die Menschen
registrieren und durchsuchen wollen, was die Rebellen nicht erlaubten, nachdem ihnen freies
Geleit zugesichert worden war. Aus dem Umfeld der UNO hiess es dagegen, Assads
Verbündeter Iran habe plötzlich mit neuen Forderungen den Ablauf blockiert. Schliesslich
fuhren die Busse leer ab, die Kämpfe flammten wieder auf.
Erdogan telefoniert Putin
Bei vielen Menschen herrschten Ungewissheit und Angst, wie sie von den Regierungstruppen
behandelt würden. Es gab Erzählungen, dass die Soldaten Familienangehörige von Rebellen
erschiessen würden. Der UNO lägen Berichte vor, nach denen Fliehende auf den Strassen und
andere Menschen in ihren Wohnungen erschossen worden seien, sagte UNO-Sprecher Rupert
Colville. Die syrische Regierung sei dafür verantwortlich, dass solche Übergriffe und Racheakte
unterbunden würden, erklärte die UNO. Die syrische Armee wies die Vorwürfe zurück.
Welche Rolle der Iran beim Scheitern des Abkommens gespielt haben mag - aus Teheran
kamen selbstbewusste Töne: «Die Amerikaner mussten realisieren, dass die Islamische
Republik Iran die stärkste Macht im Südwesten Asiens ist», sagte General Rahim Safavi,
Berater von Revolutionsführer Khamenei. Am Abend meldete sich der iranische Präsident
Hassan Ruhani. «Iran bleibt auf Syriens Seite bis zum finalen Sturz der Terroristen», sagte er
laut Webportal des Präsidialamts in einem Telefonat mit Assad.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lehnt Sanktionen gegen Russland wegen des
Vorgehens im Syrien-Konflikts ab. «Das wird Russland nicht beeindrucken», sagte er am
Mittwoch bei der Aufzeichnung der ZDF-Sendung «Was nun, Herr Juncker?». Solche
Forderungen zeugten von «Naivität». Europa könne letztlich nur versuchen, «mit den Mitteln
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der Diplomatie Einfluss zu nehmen». Juncker wandte sich gegen Kritik, dass Europa im
Syrien-Konflikt nicht genug getan habe. (Ergänzt: SDA)
Siegbringender Urin aus Cola-Flaschen
Richard McLaren legte gestern seinen zweiten Bericht zu Doping in Russland vor. Der
Sonderermittler der Welt-Anti-Doping-Agentur zeigt: Rund 1000 Russen aus über 30
Sportarten waren ins Staatsdoping involviert.
Von Christian Brüngger, TA vom SA 10. Dezember 2016
Richard McLaren ist ein mutiger Mann. Schliesslich hat ihn manches Hassmail erreicht. Er
provozierte mit seinen Recherchen nämlich ein Land im Dauerangriff: Russland. Gestern
präsentierte der Jura-Professor unbeeindruckt davon seinen zweiten Bericht zur Situation im
russischen Spitzensport. Er war von Whistleblowern und Medien ausgelöst worden. Rund
1000 Athleten konnten McLaren und sein Team aus mehr als 30 Sportarten aufspüren. Sie
waren in ein systematisches Dopingsystem involviert. Der russische Staat hatte es 2011
eingerichtet und bis 2015 laufen lassen.
Arbeiteten Coachs und Athleten zu Beginn eher eigenständig, aber unter Beratung der Politik,
brachte sich das Sportministerium samt Geheimdienst immer stärker ein: Zu salopp betrieben
die Aktiven und Betreuer ihre Betrügereien, was zu manch positivem Fall und Ärger in der
Heimat führte. Also zentralisierte die Politik dieses illegale Gebaren, um maximale Effizienz
und Sicherheit zu erreichen.
Diese Befunde zählen zu den zentralen Darstellungen des zweiten McLaren-Berichts sowie die
Aussagen des Sonderermittlers, dass «internationale Wettbewerbe von den Russen jahrelang
gekapert und andere Sportler, Fans und Zuschauer betrogen wurden.» McLaren nannte diese
grösste Form des Staatsdopings seit Ende des Kalten Kriegs «beispiellos», obschon man ihn
danach an die Taten der DDR erinnerte. Trotzdem sagte er: «Man müsste die Zahlen einmal
vergleichen und sehen, was herauskommt.» Diese Einschätzung offenbart, für wie gravierend
McLaren die Vorkommnisse im russischen Sport hält.
Schlüsseldaten online gestellt
Um möglichst grosse Transparenz zu schaffen, stellte er 1166 Dokumente ins Netz. Unter
www.ipevidencedisclosurepackage.net sind sie für jeden einsehbar. Zugleich kann McLaren
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damit die Argumente seiner (russischen) Kritiker entkräften, er behaupte bloss und liefere
keine Fakten. Wer die Website besucht, erkennt rasch: Russland wird eine neue Strategie
finden müssen, will es seine Arbeit weiter diskreditieren.
Zumal es in den kommenden Monaten die geballten Erkenntnisse seiner Recherchen zu
spüren bekommen wird: Knapp 700 Athletennamen, die McLaren und sein Team aufspüren
konnten, haben sie den internationalen Sportverbänden weitergeleitet. Es wird nun an ihnen
sein, jeden Fall auf eine mögliche Strafe hin abzuklären.
Unter Druck wird damit das Internationale Olympische Komitee geraten, hatte es einen
Ausschluss Russlands von den Sommerspielen 2016 nach dem ersten McLaren-Bericht doch
noch abgelehnt. Obschon McLaren keine direkte Verbindung ins Russische Olympische
Komitee fand, ist anhand der Daten belegt: Es handelt sich in dieser Causa nicht um
Einzelfälle, sondern um flächendeckenden Betrug über viele olympische Sportarten hinweg.
Damit wird die Diskussion weitergehen, wie man mit Russland umgehen soll: Mit den
Winterspielen von 2018 und der Fussball-WM von 2018 in Russland stehen bald die nächsten
Grossanlässe an. Denn auch der russische Fussball ist betroffen, wie aus den McLaren-Daten
sichtbar wird. Im Vergleich zu anderen Sportarten scheint die Fallzahl jedoch deutlich geringer
zu sein.
Die kurioseste Fussnote betrifft trotzdem den Fussball: 19 ausländische Profis, die im
russischen Sport engagiert sind, wurden ebenfalls vor positiven Proben bewahrt. Gemäss
McLaren stammt die Mehrheit von ihnen aus dem Fussball.
Wie schlampig bis dreist der Betrug mitunter ablief, zeigt McLaren auch. So gaben zwei
Eishockeyspielerinnen während der Winterspiele von Sotschi Proben ab, die von Männern
stammten - und waren weitere Tests russischer Athleten so stark mit Salz manipuliert worden,
dass sie mit diesen Werten niemals hätten leben können. Solche Details kamen ans Licht,
obschon das offizielle Russland jede Zusammenarbeit mit McLaren ablehnte und damit wohl
nur ein Bruchteil des Skandals publik wurde:
Dopingbekämpfer - oder nicht?
Pikant ist auch: Ausgerechnet in Cola-Flaschen, also dem Erfolgsgetränk des Urfeindes USA,
lieferten die Besten des Landes ihren sauberen Urin ans Staatsministerium. Dieses führte im
Moskauer Anti-Doping-Labor, das primär ein Dopinglabor war, eine Urinbank. Die dreckigen
Wässerchen, etwa in Sotschi, wurden dann von Geheimdienstmännern und
«Dopingkämpfern» durch sauberen Urin ersetzt. Mindestens 15Russen kamen dank dieser
Manipulationen zu Medaillen, wie der McLaren-Bericht zeigt. 10 von ihnen sind mittlerweile
überführt.
Russische Reaktionen
Der «Bla-bla-bla-Bericht»
Von Zita Affentranger
Russland zeigt sich unbeeindruckt vom zweiten Teil des McLaren-Berichts: Es stehe nichts
Neues darin, und es gebe keine Belege für die Vorwürfe.
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Die Schlagzeile der russischen Version von «Russia Today» fasste die Befindlichkeit des
Landes in einem Begriff zusammen: «Bla-bla-bla-Bericht» titelte der Sender mit einem Zitat
des Chefs der Sportkommission des russischen Parlaments. Der Abgeordnete Dmitri
Swischtschew doppelte nach und erklärte, es sei ja nichts anderes zu erwarten gewesen:
«Wenn man Russe ist, werden einem alle möglichen Dinge unterstellt.» Der Vizesprecher der
Duma, Igor Lebedew, sagte rundheraus, der Bericht sei bedeutungslos. «Das ist ein ganzer
Strom von Lügen, Desinformation, Gerüchten und Geschwätz», erklärte Lebedew russischen
Nachrichtenagenturen. «Es gibt nicht einen einzigen Fakt, nicht ein einziges Dokument oder
einen konkreten Fall, der den Bericht stützen würde.»
Die Chefin der Rodler, Natalija Gart, beklagte ebenfalls mangelnde Fakten. «Das sind
Hirngespinste. Ich bin überzeugt, dass alle unsere Athleten sauber und die Silbermedaillen, die
wir in Sotschi gewonnen haben, wohl verdient sind.» Der frühere Judo-Olympiasportler
Dmitri Nossow bezeichnet die Vorwürfe als politisch motiviert. «Die Wada, das ist ein
zentrales Instrument in der Weltpolitik.» Im Russischen gebe es dafür ein unanständiges
Wort, das er aber nicht aussprechen wolle.
«Was uns betrifft, wir haben mit Doping überhaupt nichts zu tun - wir wissen nicht einmal,
was das ist», beteuerte der Präsident der russischen Snowboarder, Denis Tichomirow. Ihm
widerspricht Alexander Koslowski vom Russischen Olympischen Komitee diametral. «Alle
Sportler nehmen Doping», kommentierte er. «Vielleicht irgendwelche Inselstaaten nicht, aber
die haben eben kein Geld für Doping.»
Die offiziellen Reaktionen waren zurückhaltender. Ein Kreml-Sprecher erklärte, man werde
den Bericht sorgfältig prüfen. Russland betont immer wieder, es gehe um Einzelfälle, und man
sei an sauberem Sport interessiert. Sportminister Pawel Kolobkow wies die Beschuldigung,
Russland habe «Staatsdoping» betrieben, gestern kategorisch zurück.
2000 zusätzliche Syrien-Flüchtlinge
Die Schweiz nimmt weitere Kriegsvertriebene aus den Nachbarländern Syriens auf. Es handelt
sich dabei vor allem um Familien sowie betagte und kranke Menschen.
Von Markus Brotschi, Bern, TA vom 10. Dezember 2016
Im Frühling 2015 beschloss der Bundesrat, 3000 syrische Kriegsflüchtlinge ausserhalb des
normalen Asylverfahrens aufzunehmen. Die Hälfte dieses Kontingents ist für Asylsuchende
reserviert, welche die Schweiz von EU-Ländern übernimmt. Zusätzlich ist ein Teil des
Kontingents zur Erteilung humanitärer Visa vorgesehen. Schliesslich sind 1000 Plätze für
sogenannte Resettlement-Flüchtlinge reserviert, also Menschen, welche die Schweiz von den
Nachbarländern Syriens übernimmt. Im Libanon leben über 1 Million Kriegsvertriebene aus
Syrien - in Jordanien rund 650 000. Beide Länder sind von der grossen Zahl syrischer
Flüchtlinge überfordert. Diese leben häufig in prekären Verhältnissen ohne jede Perspektive.
Gestern hat nun der Bundesrat beschlossen, in den nächsten zwei Jahren weitere 2000
Kriegsvertriebene aus den Nachbarländern Syriens aufzunehmen. Denn das bisherige
Kontingent für Resettlement-Flüchtlinge wird Anfang Januar 2017 ausgeschöpft sein.
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Resettlement-Flüchtlinge sind bereits durch das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR als
Flüchtlinge anerkannt und müssen in der Schweiz kein Asylverfahren durchlaufen. Wie üblich
würden die Flüchtlinge vor der Einreise angehört, und jedes Dossier werde zur Prüfung dem
Nachrichtendienst des Bundes (NDB) unterbreitet, teilte das Staatssekretariat für Migration
(SEM) gestern mit.
Die Schweiz will besonders verletzliche Personen aufnehmen. Als solche gelten Familien,
Frauen und Kinder sowie alte und kranke Menschen. Sie werden in der Schweiz von Beginn an
eine B-Bewilligung als anerkannte Flüchtlinge erhalten. Weil die Integration dieser häufig
kriegstraumatisierten Menschen eine grosse Herausforderung sei, zahle der Bund den
Kantonen zusätzlich zur ordentlichen Integrationspauschale 12 000 Franken Sonderpauschale.
Im Vergleich wenig Asylgesuche
Der Bundesrat sieht die Aufnahme von bereits anerkannten Flüchtlingen als Teil der
humanitären Tradition der Schweiz. Gleichzeitig betont er, dass im normalen Verfahren
offensichtlich unbegründete Asylgesuche weiterhin rasch behandelt werden. Schwach
begründete Gesuche und Asylbewerber aus verfolgungssicheren Drittstaaten würden prioritär
behandelt. Gleichzeitig betont der Bundesrat, dass der Anteil der Schweiz an allen in Europa
gestellten Asylgesuchen mit 2 Prozent den tiefsten Wert seit 20 Jahren erreicht habe. In
diesem Jahr erwartet das SEM in der Schweiz etwas weniger als 30 000 Asylgesuche. 2015
waren es rund 40 000 gewesen, und noch Anfang 2016 ging das SEM davon aus, dass auch in
diesem Jahr mindestens 40 000 Menschen in der Schweiz um Asyl nachsuchen. Der
Nationalrat will wegen des Rückgangs der Gesuche das Asylbudget für 2017 um 344 Millionen
Franken kürzen.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst die weitere Aufnahme von 2000
anerkannten Flüchtlingen in den nächsten zwei Jahren. Dies ermögliche es den Flüchtlingen,
auf legalen Fluchtwegen nach Europa zu gelangen statt auf lebensgefährlichen Routen.
Allerdings genüge dieses Engagement nicht. Die SFH fordert von der Schweiz ein
längerfristiges Bekenntnis zur Aufnahme solcher Flüchtlinge. Die Schweiz müsse ein
deutlicheres Signal zur Öffnung legaler Fluchtrouten geben.
Schleppende Umverteilung
Schleppend kommt die vereinbarte Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb von Europa
voran. Die Schweiz hat sich gegenüber der EU bereit erklärt, 1500 Asylsuchende von Italien
und Griechenland zu übernehmen. Dafür ist die Hälfte des 2015 vom Bundesrat beschlossenen
Kontingents von 3000 Flüchtlingen vorgesehen. Laut SEM sind so erst 243 Asylbewerber in
die Schweiz gekommen. Diese müssen wie andere Asylsuchende ein Aufnahmeverfahren
durchlaufen und können auch abgelehnt werden, wenn keine Asylgründe vorhanden sind.
Die Schweiz will zudem die humanitäre Hilfe vor Ort weiterführen. Bisher hat sie 250
Millionen Franken dafür eingesetzt - für 2017 hat der Bundesrat weitere 66 Millionen
bewilligt. Das Aussendepartement prüft die Eröffnung eines humanitären Büros in Damaskus.
Geste der Versöhnung
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Shinzo Abe.
1941 hatte Japan die pazifische Flotte der US-Marine in Hawaii überfallen. Shinzo Abe ist der
erste japanische Premier, der nun nach Pearl Harbor reist.
Von Christoph Neidhart, Tokio, TA vom MI 7. Dezember 2016
Shinzo Abe will noch im Dezember Pearl Harbor besuchen, um der Opfer des japanischen
Überfalls im Dezember 1941 zu gedenken - und aller «Militärpersonen, die im Zweiten
Weltkrieg auf beiden Seiten des Pazifiks gefallen sind», wie er am Montag sagte. Er ist der
erste Premier Japans, der diese Versöhnungsgeste macht. 1994 hatte der Kaiser nahe Pearl
Harbor einen Kranz niedergelegt, vergangenen August betete Abes Frau Akiean an der
Gedenkstätte in Pearl Harbor, «inoffiziell» jedoch. Der Premier erwidert mit seiner Reise nun
Barack Obamas Besuch in Hiroshima im Mai, auf Hawaii wird es das letzte Mal sein, dass er
ihn als Präsidenten trifft.
Was zum Trauma der USA wurde und ihren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg bewirkte,
begann im Morgengrauen des 7. Dezember 1941. An diesem Sonntag überfiel Japan ohne
Kriegserklärung die pazifische Flotte der US-Marine im Hafen von Pearl Harbor. 353
japanische Jagdflugzeuge und Kampfbomber versenkten sechs US-Schiffe und zerstörten mehr
als ein Dutzend, sie töteten 2403 Amerikaner, verwundeten 1178. Präsident Franklin D.
Roosevelt nannte den 7. Dezember den «Tag, der als Infamie in die Geschichte eingeht».
Zugleich griff Japan Hongkong und die malaysische Halbinsel an, die beide noch zum
britischen Empire gehörten, und auch die Philippinen, damals eine US-Kolonie. In grandioser
Selbstüberschätzung trat die Armee des Kaisers, die bereits in China Krieg führte, einen
Grosskrieg gegen die USA und Grossbritannien los. Roosevelt, der bis dahin gezögert hatte,
erklärte am folgenden Tag den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg.
Die Regierung in Tokio rechtfertigte Pearl Harbor damals als «Präventivschlag». Die
nationalistische Geschichtsschreibung Japans, der Abe zuneigt, behauptet bis heute,
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Washington habe Tokio provoziert. Viele Japaner, vor allem ältere Männer, erkennen zwar das
Unrecht daran, bewundern den Überfall aber als militärischen Geniestreich.
Und China und Korea?
Abe besucht Pearl Harbor am 26.Dezember, dem Jahrestag seiner Visite am Yasukuni-Schrein
2013, mit dem Japan seine Gefallenen ehrt, auch seine Kriegsverbrecher und die Strategen, die
den Überfall auf Pearl Harbor ausgeheckt hatten. Obama pfiff Abe damals scharf zurück.
Seither verzichtet der Premier gegen seine persönlichen Überzeugungen weitgehend darauf,
Tokios Aggressionen zu verharmlosen und zu beschönigen.
Unter Obamas Druck hat er sogar halbherzig anerkannt, dass Japans Armee Hunderttausende
Südkoreanerinnen in Kriegsbordellen versklavte. Mit seinem Besuch provoziert Abe allerdings
die Frage, wann er der Opfer der kaiserlichen Armee in China, Korea und anderswo in Asien
gedenken wird oder ob er seine Reue den USA vorbehält. In Peking und Seoul wird man genau
hinhören, was er in Pearl Harbor sagt.
Sicher ist seine Geste auch ein Dank an Obama. Und nach seinem übereilten Blitzbesuch in
New York sein nächster Versuch, Donald Trump Tokios Gefügigkeit gegenüber Washington zu
demonstrieren. Abe braucht trotz hoher Popularitätswerte dringend Erfolge. Gerüchten
zufolge möchte er im Januar, solange die Opposition noch schwach ist, neu wählen lassen, um
seine Herrschaft auf vier Jahre zu sichern.
Aber die Wirtschaft stagniert, in Japan herrscht wieder Deflation, ernsthafte Strukturreformen
hat Abe gescheut. Trump ist ihm mit der Ankündigung in den Rücken gefallen, das
Freihandelsabkommen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP) platzen zu lassen. Verpufft
ist Abes irrationale Hoffnung, er könne Russlands Präsident Wladimir Putin bei dessen Besuch
Mitte Dezember das Versprechen abringen, Japan im Konflikt um die Südkurilen
entgegenzukommen. Und angesichts der Proteste gegen Präsidentin Park Geun-hye in
Südkorea wackelt auch der für kurz vor Weihnachten anberaumte Dreiergipfel mit China und
Südkorea. Also besucht Abe Pearl Harbor. Das bringt zwar seine nationalistischen Freunde
gegen ihn auf, aber die Mehrheit der Japaner wird diese Geste der Versöhnung begrüssen.
Das weitreichende Machtnetz von Goldman Sachs
In der Regierung von Donald Trump nehmen Ex-Mitarbeiter der Bank führende Positionen
ein. Auch sonst finden sie sich an den Schalthebeln der Macht.
Hans-Jürgen Maurus, TA vom FR 2. Dezember 2016
Im Wahlkampf hatte sich Donald Trump als vermeintlich harter Wallstreet-Kritiker
präsentiert und seiner Kontrahentin Hillary Clinton allzu grosse Nähe zu jenen
Grosskonzernen und Finanzunternehmen unterstellt, die «die arbeitende Klasse ausrauben».
Jetzt hievt Trump zwei ehemalige Manager der Investmentbank Goldman Sachs in führende
Positionen, nach Chefstratege Stephen Bannon nun auch Steven Mnuchin als neuen USFinanzminister. Dass Donald Trump sich die Unterstützung von smarten und cleveren
Finanzkünstlern von Goldman Sachs und der Hedgefondsbranche sichert, sollte niemanden
verwundern. Trump umgibt sich gerne mit Milliardären und Multimillionären, die alle als
«Selfmademen», Glücksritter, Corporate Raiders und Spekulanten dieselbe Sprache sprechen,
eine ähnliche Philosophie pflegen und selbstbewusst auftreten. Wenn Trump das System - die
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«Classe politique» - umkrempeln will, sind diese Mitstreiter die richtigen Leute: hart,
erfolgreich, rücksichtslos und aus demselben Holz geschnitzt. Ihr Lebensmotto könnte lauten:
«Lets make more money».
An allen wichtigen Positionen
Die Goldmänner im Kabinett Trump sind zweifelsohne erfahrene Finanzprofis, besitzen
ausserordentliches Fachwissen und jahrzehntelange Erfahrung, die ihresgleichen suchen.
Mehr noch: Sie können auf das beste Netzwerk der Welt zurückgreifen. Goldmänner finden
sich weltweit auf Spitzenposten. Sei es Mario Draghi als Präsident der Europäischen
Zentralbank oder der frühere EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der im
vergangenen September bei Goldman Sachs als Berater anheuerte. Auch Topmanager wie
Alexander Dibelius, der als Deutschland-Chef jahrelang die deutsche Kanzlerin Angela Merkel
beriet, Megadeals wie die gefloppte Hochzeit im Himmel zwischen Daimler und Chrysler
eintütete und als Strippenzieher der Nation verschrien war. Auch Paul Achleitner,
Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, oder der ehemalige Weltbank-Präsident Robert
Zoellick gehören zum erweiterten Kader von Goldman Sachs. Und zwei ehemalige italienische
Ministerpräsidenten (Mario Monti und Romano Prodi) arbeiteten als Berater von Goldman
Sachs. Ein solches Beziehungsgeflecht ist einmalig. Es muss keine Verschwörungstheorien
begründen, ist aber hilfreich, wenn man eigene Ziele verfolgen will.
Trumps Vorliebe für Wallstreet-Veteranen hat Tradition. Ehemalige Goldmänner haben
immer wieder in US-Administrationen gedient, auch als Finanzminister. So diente der frühere
Goldman-Sachs-Topmanager Henry (Hank) Paulson unter US-Präsident George W. Bush in
dieser Funktion. Der Finanzminister unter Bill Clinton in den 90er-Jahren hiess Robert Rubin,
der immerhin 26 Jahre bei Goldman Sachs arbeitete, ehe er hoch dotierter Chairman von
Citigroup wurde. Es war Rubin, der den Glass Steagall Act und damit das Trennbankensystem
aufhob und sich weigerte, den Derivatemarkt zu regulieren. Damit legte der Harvard-Mann
den Grundstein für die kommenden Exzesse und die Finanzkrise 2008. Ex-Goldman-SachsChef Jon Corzine konnte es sich angesichts eines vergoldeten Abgangs von 320 Millionen
Dollar sogar leisten, einen eigenen Wahlkampf um den Senatsposten für den US-Bundesstaat
New Jersey zu finanzieren, den er 2000 prompt gewann. 2006 wurde er Gouverneur von New
Jersey.
Umstrittenes Erbe
Dass Finanzmanager sich politisch engagieren, ist per se nicht verwerflich. Bei Goldman Sachs
kommt aber hinzu, dass die Firma seit Jahren umstritten ist. Man muss die Investmentbank
nicht gleich wie 2009 das Magazin «Rolling Stone» mit einem Vampirkraken vergleichen, der
gnadenlos alles aufsaugt, was nach Geld riecht, oder wie 2012 das Nachrichtenmagazin
«Time» das Geldhaus als habgierigen Angreifer bezeichnen.
Doch der ehemalige Goldman-Exekutivdirektor Greg Smith kritisierte in einem Artikel in der
«New York Times» 2012 die Goldman-Kultur als «toxisch und destruktiv». Goldman Sachs
stelle zudem die eigenen Interessen über alles und die seiner Kunden ins Abseits. Goldman
Sachs wurde mehrfach von Kunden und 2010 sogar von der US-Börsenaufsicht SEC wegen
dubioser Geschäftspraktiken verklagt und steht wie kein anderes Finanzinstitut für
Turbokapitalismus, Raffgier und Einfluss. Insofern dürfte Trump schon bald mit der Frage
konfrontiert werden, welche Kultur sein Kabinett des Geldadels pflegen will. Und ob er gar der
verlängerte Arm der Wallstreet wird.
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Nach Fidel Castros Tod
Die Feinde freuten sich stets zu früh
Sein Gewand war die Uniform, sein Geist immer im Kriegszustand, sein Kampf nie zu Ende.
Man sagte, Fidel Castro fürchte nichts ausser dem Frieden. Nun war die Zeit stärker als er.
Ein Nachruf von Oscar Alba, Havanna, TA vom MO 28. November 2016
Es war einmal ein grosser, stattlicher Mann mit Bart, dunklen Augen und gutem Mundwerk.
Er sah sich als Krieger für eine bessere Welt. Seine stärkste Waffe war das Wort. Mit seinen
Worten weckte er Träume und säte Hoffnung, brachte aber auch Tod und Verderben. Er wurde
als Befreier und Prophet verehrt, als Tyrann und Teufel verflucht. Er lebte lange und überlebte
viele. Sein Name war der eines Heiligen: Fidel.
Das Licht der Welt erblickte er an einem Freitag dem 13. auf einer grünen Insel im Ozean,
neunzig Seemeilen von Amerika entfernt. Sein Vater, Don Ángel, besass ein Gut, war ein
reicher Mann, ein Patriarch und Patron. Auf dessen Zuckerrohrfeldern arbeiteten viele Männer
und Frauen für kargen Lohn. Seine Eltern schickten ihn früh in die Stadt in eine Ordensschule
für Töchter und Söhne feiner Leute. Seine Lehrer waren strenge Jesuiten. Von ihnen lernte er,
wo Gott hockt, von seinem Vater, wie man als Herr über Haus und Hof herrscht. Man sagte,
der Junge sei schwierig, aufbrausend, wolle immer das letzte Wort haben. Aber er sei auch
überaus wissbegierig und intelligent. Ein Pater schrieb zum Schulabschluss: «Wir haben keine
Zweifel, dass er das Buch seines Lebens mit brillanten Seiten ausfüllen wird.»
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An der Universität studierte er Recht, in der Freizeit die Geschichte seines Landes und die
Werke bedeutender Denker und Aufklärer aus der Zeit vor seiner Zeit. Ihre Gedanken, Ideen
und Worte vermischten sich in seinem Kopf zu einem explosiven Gemisch, das den Mächtigen
auf der Insel Angst, den Armen und Unterdrückten Mut machte. An der Alma Mater scharten
sie sich wie Jünger um den Furchtlosen. In Nadelstreifen, mit geöltem Haar und Pistolen
führte er die Proteste gegen die an, die das Land mit harter Hand und schmutzigem Geld
regierten. Seine dunklen Augen sahen überall Ungerechtigkeit: Mächtige, die das Volk
unterdrückten und sich gleichzeitig in den Dienst von noch Mächtigeren stellten, von Fremden
auf der anderen Seite des Wassers, den Vereinigten Staaten von Amerika. Er sah es als seinen
Auftrag, das Inselvolk von diesem Joch zu befreien.
Rein in den Krieg
So wurde er zum Krieger. Die Mächtigen massakrierten viele seiner Verbündeten. Ihn sperrten
sie ein - und machten ihn dadurch nur noch grösser. Er schrieb seine Kampfansage gegen die
herrschenden Verhältnisse auf Papier. Sein Versprechen: keine fremden Herren mehr im
Haus, alle Macht dem Volk, jeder Mensch wird frei sein, darf frei reden, muss keine Angst
mehr haben, gerechter Besitz von Grund und Boden. Sein letzter Satz lautete: «Die Geschichte
wird mich freisprechen.» Nach eineinhalb Jahren zeigten sich die Mächtigen gnädig und
entliessen ihn frühzeitig in die Freiheit. Und unterschrieben damit ihr politisches Todesurteil.
Er ging nach Mexiko ins Exil und kehrte später mit achtzig Männern in einem kaputten
Holzkahn auf die Insel zurück. Sie wurden mit Kugeln und Brandbomben empfangen und
tagelang durch Wälder gejagt. Nach fünfhundert Tagen und Nächten im Wald zählte er
dreihundert Mann. Der Tyrann schickte zehntausend Soldaten, Panzer, Kanonen und
Kriegsflugzeuge los. Sie feuerten gegen einen unsichtbaren Feind. Fielen einmal keine Bomben
vom Himmel, schrieb er Manifeste. Er rief das Volk zu Ungehorsam und Gewalt gegen die
Mächtigen auf. Er riss immer mehr Männer und Frauen mit sich. Seine Revolution ergoss sich
wie brennende Lava ins Land und in die Städte. Am ersten Tag im Jahr 1959 floh der Tyrann
mit Koffern voller Geld nach Amerika. Das Inselvolk trug die siegreichen Helden auf Händen
bis in die Hauptstadt. Eine Million Menschen feierten ihre Erlöser: Fidel, Che, Camilo, Ral und
wie sie alle hiessen. Einer redete für alle und, wie er sagte, im Namen des Volkes.
Er redete stundenlang. Seine Worte entflammten das Feuer in den Herzen der Menschen. Das
Feuer der Freiheit oder das Feuer des Hasses. Wer ihn verehrte, blieb auf der Insel. Wer ihn
fürchtete, flüchtete nach Amerika oder bekämpfte ihn. Der Revolutionsführer und seine
Männer übernahmen die Macht zu einer Zeit, als die Welt zweigeteilt war, in Ost und West,
links und rechts, sich im Kalten Krieg zweier Ideen befand, Kapitalismus gegen
Kommunismus.
In dieser Welt machten er und seine Männer sich daran, auf ihrer Insel aufzuräumen. Sie taten
es schnell und radikal, nahmen denen, die viel besassen und das Sagen hatten, alles weg. Die
Enteigneten und Entrechteten versammelten sich auf der anderen Seite des Wassers, in
Amerika. Sie waren sehr erzürnt und rachsüchtig. Sie wollten seinen Tod. Er sagte: «Niemand
kann mich töten.» Wer es trotzdem versuchte, den machte er zum Gespött, liess er einsperren oder zum Tode verurteilen.
Wer mit ihm und seiner Revolution war, den machte er rasch glücklich. Er gab ihnen Land,
genügend Geld und zu essen. Er sorgte dafür, dass alle lesen und schreiben lernten, die Alten
und Kranken gepflegt wurden. Alles neu zu ordnen und zu organisieren, war aber schwierig. Er
und seine Männer verstanden das Kriegshandwerk, nicht aber das Wirtschaften und
Haushalten. Sie hatten Träume und grosse Pläne. Sie wollten die Insel in ein Paradies
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verwandeln und aus deren Bewohnern «neue Menschen» machen. Er, der Máximo Lder,
glaubte zu wissen, was für sein Volk gut war.
Denker, Lenker und Völker der linken Hälfte der zweigeteilten Welt bewunderten den
Revolutionsführer und seine Genossen, ihren Mut und Kampf gegen «das Imperium». Auf der
anderen Seite der Erdkugel war der grösste Feind der Vereinigten Staaten: die Sowjetunion.
Sie schickte dem Revolutionär von der Insel keine Mörder und Bomben, sondern Wodka und
Kaviar. Der junge Revolutionsführer, der sich die Freiheit und Unabhängigkeit auf seine Fahne
geschrieben und sein Land soeben aus den Fängen einer Grossmacht befreit hatte, reichte der
anderen Grossmacht die Hand - und wurde von ihr abhängig.
Zorn und Rachsucht der Gegner wurden zur Seelenkrankheit. Doch sie kriegten ihn nicht. Er
war überall und nirgends, schlief heute da, morgen dort. Jede Giftpille, jede Gewehrkugel
machte ihn noch unsterblicher. Er raubte nicht nur seinen Feinden, sondern auch seinen
neuen Freunden den Schlaf. Sie sagten, er sei fanatisch, heissblütig und unberechenbar.
Trotzdem stellten sie ihre Raketen auf seine Insel und richteten diese auf den gemeinsamen
Gegner. Die Grossmächte spielten mit dem Feuer, er war bereit, es zu zünden, und löste
beinahe einen Weltenbrand aus.
Gestrenger Vater der Revolution
Man sagte, er fürchte nichts ausser den Frieden. Sein Gewand war die Uniform, sein Geist
immer im Kriegszustand, sein Kampf nie zu Ende. Wer die Revolution infrage stellte, den
erklärte er zum Feind. Hunderttausende verliessen ihre Heimat, die zu «seiner Insel»
geworden war. Viele starben, bevor sie das andere Land, sein Feindesland, erreichten.
Je länger die Zukunft dauerte, umso mehr Feinde sah er um sich herum. Aus Angst vor ihm
und seinen Revolutionswächtern fragten sich die kritischen Geister flüsternd: Weshalb liess er
seinen Worten andere Taten folgen? Wo sind all die Rechte, die er uns einst versprochen hat?
Warum dürfen wir nicht frei reden und schreiben, was wir denken? Den Auserwählten, die er
mochte und die ihn mochten, sagte er, sein Land sei das demokratischste auf der Welt. Die
grundlegendsten Rechte seien garantiert wie nirgendwo, das Recht auf Nahrung, Bildung und
Gesundheit. Andere Rechte müsse er streng kontrollieren, sonst würden die Feinde der
Revolution sie missbrauchen. Der Vater der Revolution war strenger als sein Vater und die
Jesuiten, bei denen er zur Schule gegangen war. Er kontrollierte Land und Volk, die Waffen
und das Wort. Er klagte an, urteilte und verurteilte.
Für seinen Kampf schickte er Heere von Soldaten in alle Herren Länder, damit sie für seine
Ideale Kriege führten und starben. Er entsandte auch Ärzte und Alphabetisierer, um den
Bedürftigsten auf dieser Welt zu helfen. Wer ihn bewunderte, sagte: Er dachte im Grossen und
glaubte an seinen Traum von einer besseren Welt. Wer ihn verabscheute, sagte: Er dachte und
glaubte immer nur an sich und seine Macht. Dafür erzwang er von seinem Volk Opfer, die es
freiwillig nie erbracht hätte.
Plötzlich war die Welt eine andere. Die Sowjetunion zerfiel. Der Kalte Krieg endete. Er kämpfte
weiter. «Wir werden uns allein, ganz allein verteidigen, umgeben von einem Ozean des
Kapitalismus.» Auf der Insel brachen magere und dunkle Jahre an. Mensch und Natur
verwilderten. Seine Revolution war am Ende, aber nicht tot. Die Menschen warteten auf die
Zukunft. Er wurde krank -und wie früher immer wieder totgesagt. Doch seine Feinde freuten
sich stets zu früh. Nur die Zeit war stärker als er.
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Der Krieger legte seine Uniform ab. Er befahl dem einzigen Menschen, der immer an seiner
Seite und in seinem Schatten war und ihm nie Wort und Rang streitig gemacht hatte:
«Übernimm, Bruder!» Er legte sich hin und wachte noch zehn Jahre darüber, was sein kleiner
Bruder mit seiner Revolution anstellte. Im Alter von 90 schloss er dann für immer die Augen.
Blumen für die Seele
Uli Hoeness kehrt offiziell als Präsident zum FC Bayern München zurück - er verspricht wieder
klare Worte.
Uli Hoeness, neuer und alter Präsident von FC Bayern München
Von Thomas Schifferle, TA vom SA 26. November 2016
Uli Hoeness ist noch nicht wieder im Amt, als er schon einwirken muss. Draussen, vor dem
Audi Dome, regt sich der Unmut der Mitglieder des FC Bayern München. Sie alle möchten zu
der Jahreshauptversammlung, die eine ist wie keine sonst, sie möchten live dabei sein, wenn er
zurückkehrt, er: ihr Uli.
Die 6000 Plätze in der Halle und die weiteren 2000 im Zelt daneben reichen dafür nicht aus.
Dass im Freien eine Video-Leinwand aufgestellt wird, reicht den Unzufriedenen nicht aus.
Hoeness erscheint, um zu beruhigen. Vielleicht hilft auch, dass die Verpflegung gratis ist. Und
die Aussicht auf Freibier.
Als Hoeness in die Halle kommt, johlt, pfeift und applaudiert die Menge ein erstes Mal. Es ist
25 Minuten später als geplant. Und entsprechend später, bis er kurz vor elf Uhr gewählt ist bei rund 7850 Ja- und exakt 108 Nein-Sstimmen. Er sagt: «Ich verspreche euch: Ich werde
euch nicht enttäuschen.»
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Kürzlich hat er sich einen Fernseher gekauft. Eine tolle Sache, hat er erzählt, man erkenne den
Schweiss auf der Stirn von Fussball- oder Tennisspielern. Seine Krönung an diesem späten
Freitagabend ist nicht per HD zu verfolgen, nur im Internet, auf fcbayern.tv. Die Qualität
reicht auch so, um einen Mann zu sehen, der bewegt ist.
938 Tage ist es her, dass sich Hoeness von Öffentlichkeit und Verein verabschiedete und in die
Halle donnerte: «Ich werde für alles gerade stehen! Und dann, wenn ich zurück bin, werde ich
mich nicht zur Ruhe setzen! Das war es noch nicht!» Danach ging er als reuiger Steuersünder
für 21 Monate ins Gefängnis.
«Er würde nur die Möbel fressen»
Jüngst hat er, der einst krankhaft an der Börse spekuliert hatte, an einem Investmentkongress
von seiner Zeit in der Haft erzählt. «Freitagmittag gehen die Türen zu. Dann ist man 35
Stunden eingesperrt. Kleiner Fernseher, kein Teletext. Ich habe viel nachgedacht, wenig
geschlafen. Nachts habe ich mir Talkshows angeschaut und Notizen gemacht.»
Im Audi Dome berichtet er von der Liebe zu seiner eigenen Familie und der Familie des FC
Bayern, die ihm geholfen habe, um wieder hier zu stehen. Von den 5500 Briefen, die er im
Gefängnis gelesen habe, wenn er gar nicht mehr weiter gewusst habe: Und wie «ich geheult
habe wie ein Schlosshund, dass mir Menschen, die ich nicht kannte, die Kraft gaben, es wieder
zu packen».
Bis vor zwei Jahren hatte es noch in der Satzung des FC Bayern geheissen, dass nur
«unbescholtene Personen» als Mitglieder in Frage kämen. Dann wurde das abgeändert:
«Mitglied kann jede natürliche Person werden, welche die Ziele des Vereins unterstützt.»
Und wer, wenn nicht dieser Uli Hoeness, unterstützt diesen Verein mehr? Dieser Uli H., der
seit 1970 bei Bayern ist, acht Jahre als Spieler, bis 2009 als Manager und danach als Präsident.
Der sechs europäische Titel, 22 Meisterschaften und 13 nationale Cups gewann.
Viele haben sich zu seiner Rückkehr geäussert, auch Pep Guardiola. Und er sagt: «Gibt es eine
Essenz, eine Seele des Vereins: Dann ist das Uli.» Guardiola, im Sommer nach drei
Meisterschaften zu Manchester City weitergezogen, ist glücklich über Hoeness Rückkehr «allein schon, weil ich weiss, zu Hause würde Uli nur die Möbel auffressen». Auch so ist
Hoeness wieder besser in Form als im Februar, als er das Gefängnis verliess.
Aber was ist das für ein Hoeness, der jetzt wieder zurück ist? Kann er es sich leisten, wieder so
zu poltern wie früher, als er noch ein moralisches Gewissen des Landes war? Er selbst hat diese
Woche im «Kicker» angekündigt: «Das deutliche Wort wird weiter mein Markenzeichen sein,
das wird sich nicht ändern. Ich werde sicher nicht herumeiern.»
Bayerns Rekordzahlen
Neun Jahre liegt zurück, dass Hoeness an einer Versammlung den eigenen Fans entgegen
schleuderte: «Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid? Es kann doch nicht sein, dass wir hier
kritisiert werden dafür, dass wir uns seit vielen Jahren den Arsch aufreissen, dass wir das
Stadion hingestellt haben!» Sprachlich nicht einwandfrei, aber deutlich in der Aussage. Bayern
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wies damals diese Kennzahlen aus: 267 Millionen Euro Umsatz, 135 752 Mitglieder, 2329
Fanclubs.
Seit Hoeness Gepolter ist der Verein gewachsen und gewachsen. Seine neuesten Zahlen sagen
alles. Umsatz: 626,8 Millionen; Eigenkapital: 424 Millionen; Gewinn vor Steuern und
Abschreibungen: 142 Millionen; Mitglieder: 284 041; Fanclubs: 4209. Er kann sich 260
Millionen für sein Personal leisten.
Die «Süddeutsche Zeitung» schreibt nun von einem Hoeness, der den FC Bayern «gezeugt,
ausgetragen und geboren hat und für den Verein seit Jahrzehnten Vater, Mutter und Onkel
ist». Das ist gar viel, vor allem schwülstig. Falsch ist es nicht. Nur eines trifft auch zu: Bayern
ist aktuell sportlich verwundbar. Während die Veranstaltung im Audi Dome läuft und sich
Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge in Lobhuldigungen ergeht, gewinnt
RB Leipzig auch in Freiburg und baut den Vorsprung in der Bundesliga auf den
Zweitplatzierten auf sechs Punkte aus. Bayern Zweiter: was für ein Bild.
Gegen Ende kommt Rummenigge auf Hoeness zu sprechen. «Ich bin neugierig auf die
neuerliche Zusammenarbeit mit dir», sagt er. Das ist nicht nur er, das sind alle: «Wie können
zwei solche Alphatiere zusammenarbeiten?», zitiert er gleich selbst die meistgestellte Frage
rund um den Verein. Und sagt dann: «Die Antwort müssen wir geben. Mit Loyalität,
Harmonie, Vertrauen, Respekt.»
Er rückt seine Brille zurecht und sagt: «Lieber Uli, ich heisse dich herzlich zurück und
wünsche dir alles Gute.» Er bittet ihn zu sich auf die Bühne, um ihm einen Blumenstrauss zu
übergeben.
Drei Viertelder Firmengewinne fliessen ins Ausland
Jacqueline Badran, Nationalrätin SP Zürich
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Ein Grossteil der Dividenden bleibt nicht in der Schweiz. Dies ärgert Gegner der
Gewinnsteuerreform.
Von Andreas Valda, TA vom DO 24. November 2016
Mit diesen Zahlen wird der Bundesrat zum unfreiwilligen Helfer der Linken in der Kampagne
gegen die geplante Unternehmenssteuerreform (USR III). Das Volk stimmt am 12. Februar
darüber ab, nachdem SP, Grüne und der Gewerkschaftsbund das Referendum ergriffen hatten.
Die Zürcher SP-Nationalrätin und Reformgegnerin Jacqueline Badran wollte im September in
einer Anfrage im Parlament wissen, wie hoch die Dividendenausschüttungen in der Schweiz
sind und welcher Anteil ins Ausland fliesst.
Letzte Woche publizierte der Bundesrat eine detaillierte Aufstellung. Sie zeigt, dass im Schnitt
der letzten fünf Jahre 74 Prozent der Dividenden ins Ausland abfliessen. 2014 wurden deshalb
211 Milliarden Franken ins Ausland überwiesen. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre (2010
bis 2015) waren es jährlich 182 Milliarden.
Privathaushalte als Verlierer
IT-Unternehmerin Badran sagt, dass mit der geplanten Steuerreform diese
Dividendenabflüsse steigen und so vor allem ausländische Aktionäre profitieren würden: «Die
USR III wird, sofern sie in Kraft tritt, die Gewinne und damit die Dividenden erhöhen. Als
Resultat werden geschätzte drei Viertel dieser Gewinne ins Ausland abfliessen.» Die Schweizer
Wirtschaft werde nicht der Hauptgewinner der Steuerreform sein, sondern «die Aktionäre der
Konzerne im Ausland». Diese zusätzlichen Gewinne entsprächen eins zu eins den Verlusten
von Bund, Kantonen und Gemeinden in Höhe von mindestens 3 Milliarden Franken. «Die
höheren Konzerngewinne fallen nicht vom Himmel, sondern sie werden von den
Privathaushalten bezahlt, entweder direkt über höhere kantonale Einkommenssteuern oder
indirekt über tiefere staatliche Leistungen» kritisiert Badran.
Der Verband der Konzerne, Swissholdings, entgegnet, dass ein Teil der Firmengewinne in der
Praxis oft nicht als Dividenden ausbezahlt werde und so «den Unternehmen für Investitionen
zur Verfügung» stehe. Auch sei häufig der Fall, dass Dividenden zwar zuerst ins Ausland
ausbezahlt würden und dann, zwecks Investitionen, wieder in die Schweiz flössen, etwa in
Form «einer Kapitalerhöhung in einer Schweizer Tochterfirma». Mit diesem frischen Eigenund Fremdkapital erstelle die Tochterfirma dann «in der Schweiz eine neue Fabrik
beispielsweise zur Herstellung von Medikamenten», sagt der Dossierverantwortliche Martin
Hess. Die von Badran angerufene Statistik sei deshalb «absolut untauglich» zur Interpretation,
wer profitiere. Sie zeige nicht, in welchem Umfange in der Schweiz Gewinne reinvestiert
würden, so Hess.
Geringere Reinvestitionen
Tatsächlich fliessen jährlich auch Milliarden Investorengelder in die Schweiz. Dies geht aus der
entsprechende Statistik der Nationalbank (SNB) hervor. Der Transfer der Direktinvestitionen
aus dem Ausland betrug zuletzt 6 Milliarden Franken (2014), die reinvestierten Erträge der
Firmen rund 9 Milliarden, davon 4 Milliarden in der Industrie.
Betrachtet man die SNB-Kapitalbilanz, so erhöhten sich die Guthaben an Direktinvestitionen
2015 um netto 1,3 Milliarden (netto heisst Guthaben minus Verpflichtungen). Für weitere 52
Milliarden netto wurden vom Ausland Finanzanlagen in der Schweiz gekauft. In der Summe
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erhöhten sich die investierten ausländischen Guthaben um rund 53 Milliarden Franken in der
Schweiz. Dieser Wert schwankt aber im Verlauf der Jahre stark. Im Schnitt der letzten fünf
Jahre erhöhten sich die Guthaben an Direktinvestitionen um jährlich 14 Milliarden und
weitere 14 Milliarden in Wertschriften.
Fazit: Die durchschnittlichen jährlichen Investitionen aus dem Ausland sind viel kleiner als die
jährlichen Dividendenabflüsse ins Ausland. Economiesuisse entgegnet, auch dies belege
Badrans Kritik noch nicht. «Wer hohe Dividenden ins Ausland abführt, zahlt hier zuerst hohe
Gewinnsteuern», sagt Dossierführer Frank Marty. Hinzu komme die vom Bund kassierte
Verrechnungssteuer von 35 Prozent. Im Jahr 2015 betrug sie 6,6 Milliarden Franken. «Viele
ausländische Investoren erhalten diese Steuer nicht oder nur teilweise zurück», je nach
anwendbarem Doppelbesteuerungsabkommen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Belegt ist, dass
ausländischen Investoren 2012 mindestens 2 Milliarden Franken wegen einer nicht
rückforderbaren Sockelsteuer nicht zurückerhalten haben. Sie fordern eine Reform der
Verrechnungssteuer. Die Linken wollen sie aus Furcht vor weiteren Steuerausfällen
verhindern.
Die 20-Millionen-Fahrt
Sauber vor Manor: In der Konstrukteurswertung zog das Schweizer Team dank zwei Punkten von Nasr
vorbei. Foto: Imago
Felipe Nasr wird im Chaosrennen von Brasilien Neunter, holt die ersten zwei Punkte für das
Sauber-Team und sorgt auch dank Regen für einen Geldsegen.
Von René Hauri, TA vom MO 14. November 2016
Es war die einzige Hoffnung des Sauber-Teams. Und diese ging gestern beim Grand Prix von
Brasilien in Erfüllung. Ein Chaosrennen war es, ganz nach dem Geschmack der Schweizer. Wie
auch das, was dabei für sie herausschaute: ein 9. Platz für Felipe Nasr in seinem Heimrennen,
die ersten zwei Punkte, Rang 10 statt 11 in der Konstrukteurswertung - ein Segen für den
Traditionsrennstall. Vor allem finanziell: Damit nämlich wird Geld nach Hinwil fliessen für die
WM-Klassierung, wenn Manor nicht wider Erwarten beim Finale in zwei Wochen in Abu
Dhabi punkten und Sauber wieder überholen sollte. Plötzlich also sind die Schweizer in diesen
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Top 10, die von Chefvermarkter Bernie Ecclestone bei der Ausschüttung berücksichtigt
werden. Zwar hätten die Schweizer wegen ihrer Geschichte und der Resultate in der
Vergangenheit auch sonst Geld bekommen, bei weitem aber nicht so viel wie jetzt. Sie erhalten
knapp 50 Millionen Franken und damit rund 20 Millionen mehr.
Sie haben also ihre kleine Chance gepackt, im 20. und vorletzten Rennen doch noch den ersten
Punkt der Saison zu holen. Bei normalen Bedingungen und einigermassen normalem
Rennverlauf wäre das mit diesem Sauber C35 nicht möglich gewesen. Das Glück des
Rennstalls: Es war so gar nichts normal in So Paolo.
Es regnete in Strömen über dem Autdromo José Carlos Pace. Das Rennen wurde verspätet und
hinter dem Safety-Car gestartet. Sieben Runden lang führten drei Mercedes das Feld an, Bernd
Mayländer hielt mit seinem Strassenauto das ganze Feld auf, eben auch die um die WM
kämpfenden Lewis Hamilton und Nico Rosberg. Danach ging es vier Runden lang
einigermassen gut, dann drehte sich Vettel im Ferrari, kam an die Box und wechselte von den
Regen- auf die Intermediate-Reifen - waghalsig. Aber Ansporn für mehrere Teams, dasselbe zu
tun. Auch Marcus Ericsson versuchte es damit, der andere Sauber-Fahrer. Nicht viele Meter
konnte er mit diesen weniger gerillten Reifen zurücklegen, ehe er in die Wand krachte und
funkte: «Game over!»
Nasr, der stille Zuschauer
Für einen anderen begann da das Spiel erst: Felipe Nasr, der so talentierte Brasilianer bei
Sauber, der in dieser Saison Katastrophenwochenende um Katastrophenwochenende erlebte.
Der nun aber den grossen Coup vor Augen sah. Nichts anderes ist ein Punktgewinn für das
Team zu diesem Zeitpunkt der Saison.
Fahrer für Fahrer war vor ihm in die Box abgebogen, um das gleiche Wagnis einzugehen wie
Ericsson. Bei Sauber sah man dem gelassen zu, behielt Nasr draussen, auf Rang 8 war dieser
mittlerweile nach vorne gespült worden.
Als das Rennen nach weiteren sieben Runden wieder freigegeben wurde und die Piloten
beschleunigten, da schepperte es schon wieder. Diesmal war es Räikkönen, der sich
verabschiedete - rote Flagge, Unterbruch. Nasr: auf Rang 7.
Als es wieder weiterging, konnte selbst das Sicherheitsauto, hinter dem der Pulk wieder einmal
hinterherschlich, nicht verhindern, dass Hülkenberg einen Reifenschaden erlitt - Nasr neu
Sechster - und Palmer mit seinem Renault in den Toro Rosso von Kwjat schlitterte. Nach
weiteren sieben Runden hinter Mayländer: der nächste Rennunterbruch. Über zwei Stunden
nach der eigentlichen Startzeit: der nächste Versuch. Auftritt: Mayländer. Diesmal allerdings
nur für drei Runden.
Danach stand der Mann im Fokus, der immer wieder für Wirbel sorgt in der Formel 1:
Teenager Max Verstappen. Der 19-jährige Holländer fuhr als Einziger des Feldes nicht auf der
Ideallinie und hatte damit einmal mehr seine gute Nase bewiesen - er war damit der
Schnellste, löste gar Rosberg als Zweiter ab und rettete sich wenig später auf spektakuläre
Weise vor einem Abflug in die Mauern. Das gelang Felipe Massa nicht, der sich bei seinem
letzten Heimrennen mit einem Crash und vielen Tränen verabschiedete.
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Ganz anders als Landsmann Nasr. Der sorgte an diesem tristen Tag für ganz viel Heiterkeit in
der Sauber-Box.
First Family
Im Januar wird ja nicht nur Donald Trump ins Weisse Haus ziehen. Sondern mit ihm seine
ganze schrecklich nette Familie. Sie hat jetzt plötzlich weltpolitisches Gewicht. Wer sind
eigentlich diese sehr weissen, sehr blonden Trumps, deren Religion die Arbeit ist?
Ein Porträt von Sacha Batthyany und Peter Richter, New York, TA vom SA 12.11.2016
Wer 10 Jahre alt ist und um 3 Uhr nachts auf einer Bühne herumstehen muss, der wird ja wohl
mal gähnen dürfen. War das rührend, wie der kleine Sohn von Donald Trump bei dessen
Siegesrede Dienstagnacht gegen die Reflexe seines Kiefers ankämpfte. Für viele, die sich
seitdem im Internet nicht wieder einkriegen darüber, war es offensichtlich das einzig
Tröstliche an diesem Abend, der Amerika verändern wird. Oder war auch das unheimlich?
Weil der Kleine neben Trump stand wie sein Doppelgänger, ein Mini-Me, zurechtgemacht, als
hätten seine Eltern ihn verdonnert, in der «Mini Playback Show» Donald Trump zu spielen?
Er heisst übrigens Barron, der Kleine. Solche Dinge muss man jetzt wissen, auch wenn man
sich sonst nicht so sehr für eine Familienberichterstattung interessiert, wie sie in den
Zuständigkeitsbereich von Zahnarzt-Illustrierten fällt.
Die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten aber hat zur Folge,
dass man sich ab nun mit Trumps Kindern und seiner Frau auseinandersetzen muss. Denn sie
alle sind spätestens ab Januar das, was man in Amerika First Family nennt. Und weil sich
«The Donald» im Wahlkampf nun mal als ausgesprochener Familienmensch inszenierte, weil
seine Kinder auch als seine Berater fungierten, hat der Einfluss etwa von Ivanka, Donald
Junior oder Melania plötzlich weltpolitisches Gewicht, auch wenn einem bei diesem Satz etwas
mulmig wird. Sie haben Zugang zum bald mächtigsten Menschen der Welt. Die Frage ist nur,
ob er ihnen auch zuhört.
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Schaut man sich die vielen Fotos der Trumps an, fällt auf, dass es sich zunächst einmal um
eine sehr weisse, eine sehr blonde Familie handelt. Da ist kein Haar an der falschen Stelle, alles
sitzt, kein Hauch von Schwäche oder Selbstzweifel zu erkennen, dafür hohe Schuhe mit
Riemchen und die Gewissheit, alles im Leben erreichen zu können, wenn man nur Trump
heisst.
Sehr viel ist über diese Trump-Kinder allerdings nicht bekannt, sieht man von den ungefähr
350 000 Schlagzeilen ab, welche die New Yorker Boulevardpresse über sie jährlich
verschwendet, die aber insgesamt das Gewicht der Mittagssalate haben, die Ivanka zu sich
nehmen dürfte. Vor allem Ivanka hat früh gelernt, so stromlinienförmig wie möglich durchs
Leben zu gehen. Wie viele Töchter berühmter Männer hat sie eine antrainierte Blasiertheit, die
sie vor den geifernden Journalisten schützt, die jeden ihrer Schritte überwachen.
Einflussreicher Schwiegersohn
Wenn man sie alle nach ihrem politischen Gewicht einordnen wollte, müsste man wohl
zunächst Jared Kushner nennen, Ivankas Ehemann, Trumps Schwiegersohn. Er hat eine
Biografie, wie sie der grosse Tom Wolfe in seinen Büchern nicht hätte besser komponieren
können - und dabei ist Kushner erst 35 Jahre alt. Er hat in Harvard studiert und für 10
Millionen Dollar das etwas verstaubte Wochenblatt «New York Observer» gekauft, da war er
gerade mal 25 Jahre alt. Er soll Trumps Gespräch mit dem mexikanischen Präsidenten Pea
Nieto und später mit Benjamin Netanyahu, Ministerpräsident Israels, eingefädelt haben.
Kushner war ebenfalls dabei, als Trump vor zwei Tagen mit Barack Obama im Weissen Haus
sprach, und er spazierte so beiläufig über den Südrasen, als hätte er nie etwas anderes getan.
«Es würde mich nicht wundern, wenn wir in zehn Jahren nur noch von Kushner sprechen
würden», schrieb Lizzie Widdicombe im «The New Yorker».
Kushner stammt ebenfalls aus einer millionenschweren Immobilienfirma, allerdings aus New
Jersey, dem Staat, den Schweizer, die schon lange in New York leben, gerne als «den Aargau»
bezeichnen. Jared Kushner und die für ihn zum Judentum konvertierte Ivanka bilden «eines
der einflussreichsten amerikanischen Paare der Gegenwart» («Vogue»). Sie sind - oder waren bis vor wenigen Monaten auch mit Chelsea Clinton und ihrem Ehemann Marc Mezvinsky
befreundet. Doch die Freundschaft, so hört man, sei momentan auf Eis.
Von allen Kindern scheint Donald Trump am ehesten auf Ivanka zu hören. Sie durfte im
Wahlkampf die wichtigsten Reden zur besten Sendezeit halten, was ihr Bruder, Donald Jr., auf
Twitter folgendermassen kommentierte: «Ivanka wird die nächste Aussenministerin!»; die
Worte waren bewundernd gemeint, sie waren aber auch triefend nass vor Neid. Wo immer sie
kann, verteidigt Ivanka ihren Vater als Feministen, wobei sie seit der Veröffentlichung des
Pussy-Videos immer seltener vor die Kameras trat. Sie wird stets als die «wahre First Lady»
bezeichnet, denn Melania, Trumps Ehefrau, scheint sich in dieser Rolle nicht gerade
wohlzufühlen.
Ivanka ist das erfolgreichste von Donald Trumps Kindern und hat den Hang ihres Vaters zur
Selbstvermarktung geerbt. So wie Trump seine Häuser mit seinem Namen verziert, so ritzt
auch Ivanka den ihren in jeden Ring und jede Handtasche, die sie herausgibt, und verdient
damit Millionen.
Die beiden Söhne, Donald «Don» Jr. und Eric, waren 12 und 6 Jahre alt, als sich ihr Vater von
seiner ersten Frau Ivana, einer Skirennfahrerin, trennte, was einen langen Rosenkrieg nach
sich zog, den sie am liebsten in den Medien austrugen. In Interviews geben sich die Söhne
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betont bodenständig, die Trumps sind keine Intellektuellen und wollen auch keine sein.
Stattdessen verkünden sie stolz, wie gerne sie jagen, Hotdogs essen und das Yankee-Stadion
besuchen.
Von Don Jr. stammt das arg bodenständige, flüchtlingspolitische «Bonbonschalen-Theorem»,
das Ende September eine kleine Kontroverse in den sozialen Netzwerken auslöste: Wenn in
einer Schale voller Bonbons drei vergiftet sind, würde man trotzdem eine ganze Hand voll
Bonbons aus dieser Schale nehmen? Na also. Dies sei, metaphorisch gesprochen, so Trump Jr.,
«unser syrisches Flüchtlingsproblem». Den Vergleich fanden einige unangemessen, nicht
zuletzt die Herstellerfirma der genannten Bonbons. Man wird künftig trotzdem von einer
grossen Eingebundenheit des ältesten Trump-Sohns in die Regierungsgeschäfte ausgehen
können.
Ganz selten spricht dieser Don Jr. auch von Schwächen und davon, wie sehr ihn die Scheidung
der Eltern prägte und ihm die etwas einsame Jugend in den besten Schulen des Landes zu
schaffen machte. Er habe sich ein paar Jahre lang gehenlassen, erzählte er dem «New York
Magazine», habe zu viel getrunken und gefeiert. Heute aber sei er abstinent, wie sein Vater,
«die Arbeit hat mich vom Absturz gerettet».
«Feind des Erfolgs»
Arbeit, das ist die Religion in der Familie Trump. Andere amerikanische Väter gehen mit ihren
Kindern am Sonntag in die Kirche. Donald Trump nahm sie offenbar mit auf Baustellen und an
Geschäftstermine, so wie das sein Vater schon mit ihm tat. «Es gibt so viele Dinge, die man an
einem Tag erreichen kann», sagt Don Jr., der Alkohol aber sei der «Feind des Erfolgs», weil
man müde werde und launisch, was man sich in der Geschäftswelt natürlich nicht leisten
dürfe.
Von Eric, dem jüngsten Sohn, sind solch entlarvende Sätze nicht bekannt. Er ist unter
anderem verantwortlich für die Geschäfte der Trump Winery in Virginia, und er ist mit einer
TV-Produzentin verheiratet. Im trumpschen Wahlkampf kam ihm vor allem eine
hagiografische Rolle zu; er ist der grosse öffentliche Bewunderer der Leistungen seines Vaters,
und von ihm stammt der Vergleich des Papas mit Martin Luther King.
Bleibt noch Tiffany (23), die jüngste Tochter und das einzige Kind aus der Ehe mit Marla
Maples, Donald Trumps zweiter Frau. Auf Tiffanys Instagram-Account, 156 000 Follower,
wird man Zeuge ihres glamourösen Lebens in Los Angeles. Sie hat, im Vergleich zu ihren
Halbbrüdern, offenbar ein entspannteres Verhältnis zu Freizeitaktivitäten wie
Champagnertrinken und Pool-Partys. Doch jener Account, der Einblick in das Leben einer
Trump gewährte, wurde unlängst «gesäubert», wie einige Medien schrieben, und auf WeissesHaus-Niveau getrimmt. In einem ihrer Interviews sagte Tiffany, dass sie ihre Lebensaufgabe
noch suche, was bei ihrem Alter verständlich ist. Ihre Karriere als Sängerin floppte - der
einzige Song «Like a Bird» fiel bei den Kritikern durch. Interessant ist hingegen, dass sie sich
bei Fototerminen oft an den Rand stellt, während ihre drei Halbgeschwister um den Platz in
der Mitte rangeln. Auf das Verhältnis zu Ivanka, Don und Eric angesprochen, antwortet
Tiffany mit dem typischen Trump-Satz: «Es könnte nicht besser sein.»
Halb nackt und mit Schusswaffe
Kommen wir zum Schluss zu Melania, der neuen First Lady der Vereinigten Staaten, die viel
politischen Einfluss nehmen könnte, doch dazu keinerlei Ambitionen zeigt, und die in diesem
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schrillen Wahlkampf, in dem sich alle anschrien, oft gelangweilt und abwesend im Publikum
sass. Im Sommer, als sich herausstellte, dass sie für ihre Rede am Parteitag Michelle Obamas
Worte benutzte, musste sie sehr viel Spott ertragen. Es war gleichzeitig aber auch eine Vorlage
für einen der wenigen guten Witze Donald Trumps. «Wenn Michelle Obama eine Rede hält,
wird sie von allen geliebt. Wenn meine Frau dieselbe Rede hält, wird sie ausgelacht.» Kurz vor
der Wahl fand die «New York Times» heraus, dass Melania illegal als Fotomodell in Amerika
gearbeitet habe, und nannte die Meldung «Breaking News», was im Rückblick hingegen als
etwas unbeholfener Versuch wirkt, den Trumps auf den letzten Metern zu schaden.
Melania, geborene Knavs, war nicht nur Fotomodell, sondern auch ein klassisches Pin-up-Girl
für Spindtüren und Wandkalender, das Internet platzt vor Nackt- oder Fast-Nackt-Fotos, in
denen sie sich in Handschellen auf Flokatis räkelt oder halb nackt und mit Schusswaffe auf
dem Flügel eines Passagierflugzeugs. Der Beruf des Fotomodells oder eben «Fotomodells»
dürfte sich mit dem einer First Lady in den ganz schlichten Primär-Anforderungen des BellaFigura-Machens zunächst einmal vertragen. Man wird sich dabei nur an den Gedanken
gewöhnen müssen, dass die künftige First Lady Englisch mit osteuropäischem Akzent spricht,
was andererseits aber auch zeigt, wie weit man es als Immigrant in Amerika bringen kann, und
zwar auch in Trumps Amerika, wenn man nämlich erstens legal einreist und zweitens zum
Beispiel klasse aussieht.
Und übrigens sogar mit einem Vater, der Mitglied der Kommunistischen Partei Jugoslawiens
war. Darüber wird sich Melania Trump zu gegebener Zeit mit Wladimir Putin austauschen
können, der an die Kommunistische Partei auch noch Erinnerungen hat. Regelmässige
Subbotniks (das waren im Osten die gefürchteten «freiwilligen» Arbeitseinsätze) in Michelle
Obamas Kräutergarten sind trotzdem schwer vorstellbar. Ihr Rollenvorbild als First Lady ist
mondän: Schon vor Jahren hatte Melania Trump als ihr Hauptidol Jackie Kennedy nominiert,
die sich dagegen jetzt sowieso nicht mehr wehren kann.
Für eine Sache aber will sie kämpfen. Melania liess verkünden, dass sie sich als First Lady
gegen Cyberbullying einsetzen werde, also die Belästigung anderer Menschen im Netz. Um
damit zu beginnen, könnte sie sich als Erstes einmal das Twitter-Konto ihres Mannes
vorknöpfen.
Zurück ins fossile Zeitalter
Der neue US-Präsident will wieder Kohle, Öl und Gas fördern. Trotzdem bleibt man an der
Klimakonferenz in Marrakesch gelassen.
Von Martin Läubli, TA vom SA 12. November 2016
Die Energiepläne des neuen US-Präsidenten Donald Trump lesen sich, als ob es Klimapolitik
und -forschung nie gegeben hätte. Amerika sitze auf einem «Schatz unberührter Energie» und
besitze insgesamt mehr Reserven an Kohle, Öl und Erdgas als irgendein anderes Land auf der
Erde», heisst es auf seiner Website. In diesen fossilen Quellen sieht der neue Präsident einen
ungeheuren Reichtum, der «unzählbare Jobs» bringen wird, besonders für die ärmsten
Amerikaner. Das Dokument scheint die Handschrift von Myron Ebell zu tragen. Der Mann, der
bis heute den vom Menschen gemachten Klimawandel bestreitet, gilt laut dem Politmagazin
«Politico» als Topkandidat für die Leitung der Umweltbehörde EPA. Der Direktor des
Competitive Enterprise Institute lobbyierte jahrelang für die Erdölindustrie und akzeptiert die
Ratifikation des Pariser Klimaabkommens durch die USA nicht, weil sie vom Senat bisher
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nicht gebilligt worden sei. Damit erfüllt Ebell bestens die Vorstellungen von Trump, der
während des Wahlkampfs drohte, das Pariser Abkommen zu kündigen oder neu zu
verhandeln. Und es ist die Linie der Republikaner, die den Klimawandel nach wie vor in ihrem
Grundsatzpapier, der Plattform 2016, kleinreden.
So will Donald Trump die Umweltbehörde EPA ganz im Sinne der Republikanischen Partei
reformieren und die von der EPA eingeführten Vorschriften rückgängig machen. Im Visier
sind unter anderem das Set an Bestimmungen der EPA, die CO2-Emissionen der
Kohlekraftwerke bis zum Jahr 2030 im Vergleich zu 2005 um 32 Prozent zu senken. Zudem
verlangt sie, dass die Energieindustrie den Anteil an erneuerbaren Energien auf 28 Prozent
steigert. Mit diesen Vorschriften soll der «Climate Action Plan» von Barack Obama
verwirklicht werden. Derzeit klagen aber laut «New York Times» 28 Staaten und mehr als 100
Unternehmen gegen das Energieprogramm Obamas. Trump könnte das ändern, indem er den
«Krieg gegen die Kohle» beendet, wie er droht. Dabei wurden zahlreiche USKohleunternehmen nicht nur wegen Obamas Klimaschutz, sondern wegen schwächelnder
Nachfrage aus China und billigem Erdgas in den Konkurs getrieben.
«Es wird immer teurer»
Mit der Wahl von Donald Trump ist mehr denn je fraglich, ob das Versprechen der USA im
Rahmen des Pariser Klimaabkommens - die Reduktion der Treibhausgase um 26 bis 28
Prozent gegenüber 2005 - erreichbar sein wird. Die USA müssen nicht aus dem Pariser
Abkommen aussteigen, das bereits in Kraft ist. Es würde vier Jahre dauern, bis der
Ausstiegsprozess abgeschlossen wäre. Trump kann einfach die Versprechen ignorieren, indem
er im Inland den Klimaschutz bremst. Niklas Höhne vom New Climate Institute schätzt, dass
2030 die US-Emissionen etwa ähnlich hoch sein werden wie heute, falls Trump seine
Energiepläne verwirklichen wird. Das Institut gehört zur Forschergruppe «Climate Action
Tracker», das den Fortschritt der internationalen Klimapolitik misst. «Die Entscheide der
Trump-Administration werden über weit mehr als vier Jahre Auswirkungen haben», sagt
ETH-Klimaforscher und IPCC-Leadautor Reto Knutti. Jedes Kraftwerk, das gebaut werde,
laufe 40 Jahre oder länger.
Ohne eine massive Senkung der Treibhausgase in den USA wird der internationale
Klimaschutz gebremst. Die künftigen Klimaambitionen der einzelnen Vertragsstaaten werden
derzeit an der Klimakonferenz in Marrakesch verhandelt. Was an Versprechen auf dem Tisch
liegt, reicht bei weitem nicht aus, um die kritische Erderwärmung, von mindestens 2 Grad zu
verhindern. «Es wird noch schwieriger und teurer, das Klimaziel zu erreichen», sagt Knutti.
Dennoch haben Delegierte und Umweltorganisationen in Marrakesch gelassen auf den USWahlgang reagiert. Die Verhandlungen sind bisher laut dem Chef der Schweizer Delegation
Franz Perrez nicht durch die US-Wahl geprägt. Der Weg ins postfossile Zeitalter werde
weitergehen, China, die EU oder Indien würden keine Kehrtwendung machen, sagte der
Sprecher der amerikanischen Organisation Climate Action Network.
Es wird grundsätzlich darauf vertraut, dass die Bewegung in Richtung erneuerbare Energie
nicht mehr aufzuhalten ist. Die Internationale Energie-Agentur schreibt, wir seien Zeugen
einer Transformation des globalen Energiemarktes durch Erneuerbare, vor allem in
Schwellenländern. Der Treiber sei dabei nicht nur die Klimapolitik, sondern auch die
zunehmende Luftverschmutzung durch Kohle. Die Datenbank des Global Climate Action Plan
listet derzeit unter anderem mehr als 4000 Unternehmen, Städte, Regionen und Investoren
weltweit auf, die Emissionsziele vorweisen. Die meisten Initiativen findet man in den USA.
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Ein schwarzer Tag für die Kurden
Seit Juli herrscht in der Türkei Ausnahmezustand: Die Polizei geht in Ankara gegen Regierungsgegner
vor. Foto: Getty Images
Nach der Verhaftung von kurdischen Abgeordneten ruft die PKK zum bewaffneten Widerstand
auf.
Von Luisa Seeling, TA vom 6. November 2016
Sie kamen kurz nach Mitternacht. «Die Polizei steht vor meiner Haustür», twittert in
Diyarbakir der Chef der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, dann führten
Antiterroreinheiten ihn ab. Auch zur Wohnung seiner Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdag in
Ankara verschaffen sich die Beamten Zugang. «Sie brechen jetzt die Tür auf», ruft sie, ein
Parteifreund filmt die Szene, später ist sie im Internet zu sehen. Und: «Ihr habt kein Recht,
mein Haus wie Verbrecher zu betreten!»
Elf HDP-Abgeordnete sind in der Nacht zum Freitag bei Polizeirazzien festgenommen worden.
Medienberichten zufolge erliessen Gerichte gegen mindestens fünf von ihnen Haftbefehl, unter
ihnen die beiden Parteivorsitzenden. Andere sind nach einigen Stunden wieder auf freiem
Fuss, dürfen das Land jedoch nicht verlassen. Der türkische Premierminister Binali Yildirim
verteidigt das Vorgehen, die Festnahmen seien rechtens. Die Parlamentarier seien in
Gewahrsam genommen worden, weil sie Vorladungen der Staatsanwaltschaft ignoriert hätten.
Die türkische Regierung wirft der HDP schon lange vor, die verbotene Kurdische
Arbeiterpartei (PKK) zu unterstützen. Im Mai verloren 138Abgeordnete in Ankara ihre
Immunität, darunter ein Grossteil der HDP-Fraktion. Gegen 50 der 59 kurdischen
Parlamentarier laufen seither Ermittlungsverfahren wegen Terrorunterstützung.
Die HDP sieht mit den jüngsten Verhaftungen das «Ende der Demokratie» gekommen, wie es
in einer Erklärung heisst. Dies sei «ein schwarzer Tag, nicht nur für unsere Partei, sondern für
die Region». Seit die HDP im Juni 2015 erstmals ins türkische Parlament einzog, sei die Partei
das Hauptziel der «autoritären Methoden» von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
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Damals errang die HDP einen doppelten Sieg: Sie übersprang mit 13,1Prozent die 10-ProzentHürde - und ihr Erfolg kostete die regierende AKP die absolute Mehrheit.
Erdogan herausgefordert
Erdogan musste sein Ziel, in der Türkei per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem
einzuführen, zurückstellen. Seine AKP kam alleine nicht auf die nötige Zweidrittelmehrheit,
die Opposition versagte ihm die Unterstützung. Vor allem die HDP hatte sich vehement gegen
das Präsidialsystem ausgesprochen und so auch viele Wählerstimmen im nichtkurdischen,
liberalen Milieu gewonnen.
Diese Wahl war ein Wendepunkt. Nach halbherzig geführten und in der Folge ergebnislosen
Koalitionsgesprächen liess der Präsident Neuwahlen ausrufen. Im November 2015 eroberte die
AKP die absolute Mehrheit zurück. Zugleich flammte der Konflikt zwischen PKK und
türkischem Militär wieder auf. Zwei Jahre hatte ein Waffenstillstand gehalten, weil Ankara mit
den Aufständischen Friedensgespräche führte - Erdogan selbst war es, der diesen historischen
Prozess ermöglicht hatte. Der Krieg in den Städten des Südostens, die Gewalt der PKK und die
Hetzkampagne Erdogans setzten der HDP zu. Nicht immer gelang es der Partei, sich
glaubwürdig von den Verbrechen der PKK zu distanzieren. Der türkische Präsident wiederum
liess keine Gelegenheit aus, den politischen Spielraum der kurdischen Volksvertreter
einzuschränken.
Seit dem gescheiterten Putsch vom Juli herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand, kürzlich
wurde er bis Januar verlängert. Ankara nimmt seither nicht nur Anhänger des islamischen
Predigers Fethullah Gülen ins Visier, der Erdogan als Drahtzieher des Putschversuchs gilt. Die
von der Regierung als «Säuberung» bezeichnete Kampagne trifft auch die kurdische
Bewegung. 10 000Lehrer haben die Behörden suspendiert, sie haben kurdische Medien
geschlossen, Journalisten und Lokalpolitiker verhaftet.
Tote bei Attentat
Vor einigen Tagen erst nahm die Polizei 25 kurdische Kommunalpolitiker fest, unter ihnen die
Bürgermeister der 1,6-Millionen-Stadt Diyarbakir. Rund 25Lokalverwaltungen hat Ankara
unter staatliche Verwaltung gestellt. Die Regierung hofft, auf diese Weise die Kontrolle über
die Region zurückzugewinnen. Doch immer wieder kommt es zu Protesten, obwohl die
Sicherheitskräfte versuchen, Kundgebungen zu unterbinden. Die PKK heizt den Konflikt
ihrerseits an und ruft zum bewaffneten Aufstand auf. Worte reichten nicht mehr, teilte sie am
Freitag über die ihr nahestehende Agentur Firat mit, «heute ist der Tag, sich zu erheben gegen
diejenigen, die die Existenz der Kurden auslöschen wollen».
Gestern explodierte in Diyarbakir eine Autobombe, acht Menschen starben. Ein PKKAnschlag, vermutet die Regierung. Unklar ist, ob das Attentat eine Reaktion auf die
Verhaftungen ist. Wohl aus Furcht vor Massenprotesten sperrten die Behörden in der Nacht
zum Freitag in den Kurdengebieten den Zugang zu den sozialen Medien. Eine
«vorübergehende Massnahme», sagte Premier Yildirim, sobald die Gefahr vorbei sei, werde
alles wieder funktionieren.
Mit den Festnahmen ist für die HDP jede normale parlamentarische Arbeit endgültig
unmöglich geworden - in einer Zeit, in der auch andere Oppositionskräfte ausfallen. Etwa
170Medien hat Ankara in diesem Jahr schliessen lassen, zuletzt liess die Regierung mehr als
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ein Dutzend Redakteure der regierungskritischen Zeitung «Cumhuriyet» wegen des Verdachts
auf Terrorunterstützung festnehmen.
In Aleppo hat man die Wahl zwischen Flucht und
Tod
Russland hat Zivilisten und Kämpfern in der belagerten syrischen Stadt Aleppo ein letztes
Ultimatum gestellt, die Stadt zu verlassen.
Von Paul-Anton Krüger, Kairo, TA vom SA 6. November 2016
Der Morgen in Aleppo war ruhig, wie Bewohner der Stadt am Telefon berichteten, doch sie
haben Angst, dass eine Eskalation bevorsteht, die alles Bisherige in den Schatten stellt.
Russland hatte den Rebellen eine Frist gesetzt, durch zwei Korridore die Stadt zu verlassen,
Zivilisten stünden sechs weitere Wege offen, so lange werde Moskau auf Luftangriffe
verzichten. Flugblätter, die über der Stadt abgeworfen wurden, stellten drastisch die
Alternative dar: die grünen Busse, die das Regime von Präsident Bashar al-Assad zum
Abtransport der Menschen auffahren lässt, oder der Tod.
Die Rebellen haben es bereits abgelehnt, die Stadt zu verlassen. Sie sehen darin eine
Aufforderung zur Kapitulation. Von Westen her hatten sie seit Beginn der Woche versucht, den
Belagerungsring um den von ihnen kontrollierten Osten der Stadt zu durchbrechen.
Stellenweise drangen sie bis auf 1,5Kilometer an die Grenzlinie vor. Ein Bündnis islamistischer
Gruppen und der Freien Syrischen Armee attackierte bis in die Nacht zum Freitag Stellungen
im von der Regierung kontrollierten Westteil mit Raketen, Granaten und Autobomben. Fast
70Menschen kamen dabei nach Regierungsangaben seit Montag ums Leben, unter ihnen auch
etliche Zivilisten, hundert wurden verletzt. Die UNO warf den Rebellen wegen der Angriffe auf
bewohnte Gebiete Kriegsverbrechen vor.
Die Menschen bleiben
Russland beschuldigt die Rebellen, Zivilisten daran zu hindern, den Ostteil der Stadt zu
verlassen; laut den UNO-Angaben sind dort etwa 275 000Menschen eingeschlossen. Die Zahl
der Rebellen beziffern sie auf 8000 bis 9000, davon gehören laut dem UNO-Sondergesandten
Staffan de Mistura weniger als 900 zu der als terroristisch eingestuften Fateh al-Sham, der
Nachfolgeorganisation der mit al-Qaida verbundenen Nusra-Front. Die Rebellen beschuldigen
Russland, die Korridore seien eine Finte, das Angebot für freies Geleit nicht glaubwürdig.
Genutzt wurden sie auch gestern kaum. Bewohner der Stadt sagten, die Menschen wollten
nicht in Gebiete gehen, die das Regime kontrolliert, weil sie Rache und Verhaftungen
fürchteten.
Die UNO hat es abgelehnt, über die schon vor zwei Wochen eingerichteten Korridore
Hilfsmittel in die Stadt zu bringen oder Verletzte aus der Stadt herauszubringen. Weder die
Rebellen noch regierungstreue Kräfte könnten für die Sicherheit der UNO-Mitarbeiter
garantieren, teilten sie mit. Seit Juli haben keine Hilfslieferungen mehr den Ostteil von Aleppo
erreicht.
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Schweiz. Sehnsüchtig schauen die Rechtsbürgerlichen auf Donald Trump und wünschen sich
Zustände wie in Amerika. So zeichnen sie die grossen Linien für die Wahlen 2019.
Von Philipp Loser und Alan Cassidy, TA vom SA 6. November 2016
Es soll endlich knallen
Es wird Zeit: Christoph Blocher und Roger Köppel denken heute schon an die nächsten Wahlen. Foto:
Ennio Leanza (Keystone)
So nah war Christoph Blocher dem Bösen noch selten. Während Jahren hat er peinlichst
darauf geachtet, zwischen sich und den europäischen Rechtspopulisten genügend Abstand zu
lassen. Da mögen Marine Le Pen, Nigel Farage oder Geert Wilders noch lange von der SVP und
ihren Erfolgen in der Schweiz schwärmen - Blocher hat ihnen immer die kalte Schulter gezeigt.
Bis gestern Abend. Da musste Blocher gemeinsam mit AfD-Politiker Alexander Gauland in der
«Arena» von SRF erklären, wer das Sagen in der Schweiz hat. Er wollte absagen, als er von der
Teilnahme von Gauland erfuhr, wie es in der «Aargauer Zeitung» hiess. Als Kompromiss bot
ihm die «Arena»-Redaktion an, dass er in der Sendung nicht neben Gauland stehen müsse.
Die SVP und die AfD Seite an Seite - zumindest mit ein paar Metern Sicherheitsabstand.
Blochers Zieren passt eigentlich gar nicht zum Ton, den er und seine rechtsbürgerlichen
Mitstreiter in den vergangenen Tagen und Wochen angeschlagen haben. Die Editorials von
«Weltwoche» und «Basler Zeitung», Blochers Auftritte in den vergangenen Tagen: Fast
verzweifelt versuchen die Rechten, die Schweiz und ihre Mühen mit der
Masseneinwanderungsinitiative in eine Reihe zu stellen mit dem Aufbegehren des «Volkes» in
Europa und vor allem in den USA. «Trump ist ein Vulkanausbruch der Demokratie,
fürchterlich, heilsam und mit Sicherheit ein Vorbote ähnlicher Explosionen, die sich auch in
Europa seit längerem anbahnen», schreibt Roger Köppel. Und weiter: «Die aufgestauten
Spannungen in der EU sind sogar noch grösser als jene in den USA, aber es fehlen die Ventile.
Je früher der Knall kommt, desto besser.»
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Unten gegen oben
Besonders verführerisch scheint für «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel und BaZChefredaktor Markus Somm der Gegensatz zwischen ohnmächtigem «Volk» und regierender
«Elite», den sie beispielhaft in den USA beschreiben und auch in der Schweiz feststellen. «Es
ist heute im Westen ein Klassenkampf von oben im Gange», schrieb Somm kürzlich, «wo die
Oberschicht die Unterschicht hemmungslos beschimpft.»
Mit umso grösserer Freude beschreiben die Leitartikler das Aufbegehren dieser verschmähten
Unterschicht (zu der sie sich merkwürdigerweise auch selber zu zählen scheinen) gegen das
Establishment und schreiben in ihren apokalyptischen Erzählungen Zustände herbei, wie sie
im Ausland herrschen. Die Linie, die sie dabei ziehen, ist ziemlich direkt und gibt einen
Hinweis darauf, wo die SVP den nächsten grossen Konflikt haben möchte. Denn ist das
Problem nicht dasselbe? Geschieht dem Schweizer Bürger, der für die
Masseneinwanderungsinitiative stimmte, nicht das Gleiche wie dem marginalisierten
Bewohner des «weissen Kernlands» (Köppel) von Amerika?
Die direkte Demokratie sei die Perle der Schweiz, schreibt der SVP-Nationalrat in seinem
aktuellsten Editorial über die «menschliche Handgranate» namens Donald Trump. «Trotzdem
schrauben sie in Bern daran herum. Die Politiker wollen den Leuten die Macht wegnehmen,
damit sie selber machen können, was sie wollen. Die autoritären Anwandlungen kommen
zuckersüss daher. Man muss sie stoppen, ehe es menschliche Handgranaten braucht.»
Der Wunsch nach dieser Handgranate, nach einer «Revolution», wie es Blocher vergangene
Woche in Bern gesagt hat, ist bei diesen Projektionen unübersehbar. Die Rechten machen
damit, was sie der Linken während Jahrzehnten vorwarfen: Sie wünschen sich im eigenen
Land jene Kämpfe, die anderswo schon heftig toben.
Dabei verschweigen sie ausgerechnet jenen Sonderfall, den sie sonst so gerne beschwören.
Wohl nirgendwo ist die Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung kleiner als in der Schweiz.
Das weiss jeder, der schon einmal dabei war, wenn irgendwo im Land ein Bundesrat an einer
1.-August-Feier auftrat. Das zeigen aber auch alle Statistiken. 75 Prozent der Schweizer sagten
in einer Erhebung der OECD, sie vertrauten ihrer Regierung - ein Spitzenwert, der seit der
Finanzkrise noch angestiegen ist. In Deutschland sind es 60 Prozent, in Grossbritannien 42, in
den USA nur 35 Prozent.
Ein Land der Eliten
Das gleiche Bild bei den Gerichten: 81 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer vertrauen
ihren Richtern. In Amerika sind es nur 59 Prozent. Gross ist auch das Ansehen der
Verwaltung. Im Index von Transparency International, der misst, wie die Bevölkerung die
Korruption im öffentlichen Sektor einschätzt, erzielt die Schweiz 86 von 100 Punkten - mehr
als fast alle anderen Länder.
Die Schweiz, und das ist der eigentliche Sonderfall, ist ein Land der Eliten. Die Heere von
Arbeitslosen und Abgehängten, die Ausländerghettos: Es gibt sie hier kaum. Der Anteil der
Tieflohnempfänger beträgt in der Schweiz 11,3 Prozent - deutlich weniger als in Deutschland
(18,9 Prozent), Grossbritannien (20,5 Prozent) oder den USA (25,3 Prozent). Das ist auch ein
Verdienst des Berufsbildungssystems, das sich immer mehr Länder zum Vorbild nehmen.
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Wer die Verhältnisse in Amerika und anderswo mit jenen in der Schweiz gleichsetze, greife zu
einem Kampfmittel, das mit der Realität wenig zu tun habe, sagt Georg Kohler, emeritierter
Professor für politische Philosophie der Universität Zürich. «Man kann den Bewohner eines
Motorhomes im Rust Belt, der Trump wählt, schlecht vergleichen mit einem Angestellten in
der Schweiz, der sich um seinen Job sorgt.» Richtig sei aber, dass die Spaltung zwischen
«Volk» und «Elite» in vielen westlichen Ländern rasant an Aktualität gewinne. «Während
diese Spaltung früher eher von links hochgespielt wurde, geschieht es heute von rechts.»
Es sei ja auch gar nicht abzustreiten, dass es so etwas wie eine politische Klasse gebe, sagt
Kohler. «Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft: Da ist es unausweichlich, dass es
Professionelle braucht, die sich in einem hochkomplexen politischen System bewegen. Wer
durchschaut denn schon noch eine Unternehmenssteuerreform?» Trotz aller Angriffe auf diese
politische Klasse: «Gerade die abgelehnte Durchsetzungsinitiative der SVP zeigt aber, dass
Blocher falsch liegt mit seinem Gerede», sagt Kohler. «Es mag Unzufriedenheit geben, aber
eine revolutionäre Stimmung? Herrgott noch mal, wo soll sie denn sein?»
Vielleicht müsste Kohler einmal mit Blocher reden. Denn der spürt die Stimmung,
buchstäblich. «Wir befinden uns auf einem brandgefährlichen Weg», sagt Blocher in seinem
Sitzungszimmer in Männedorf, eingerahmt von Landschaftsbildern von Schweizer Malern und
überdimensionierten Bergkristallen. Vieles erinnere ihn heute an die Zeit nach der EWRAbstimmung, als der Bundesrat entgegen dem Volkswillen in die EU wollte. «Da sprach ich in
Vorträgen vor bis zu 2000 Leuten, die sofort bereit gewesen wären, eine Fackel oder eine
Heugabel in die Hand zu nehmen. Ich musste aufpassen, sonst wären die nach Bern gezogen
und hätten das Bundeshaus angezündet.» Heute spüre er wieder eine ähnliche Stimmung im
Land.
«Verräter an den Pranger»
Blocher verfolgt den Wahlkampf in Amerika nur am Rande, sagt er. «Man kann die Situation
nicht eins zu eins mit den USA vergleichen, weil wir hier die direkte Demokratie haben. Aber:
Das System beginnt auch hier zu wackeln.» Das Vertrauen der Menschen in die politische
Führung schwinde, die Ohnmacht werde wegen des «verächtlichen Verhaltens» der Politiker
immer grösser.
Darauf will Christoph Blocher bei den Wahlen 2019 setzen, das ist der Boden, den auch Köppel
und Somm legen. Dass es dabei auch in der Schweiz martialisch zugehen könnte, sagt Blocher
gleich selbst. «All die Verräter am Volkswillen gehören an den Pranger gestellt.» Damit es
endlich auch hier knallt.
1000 Lawinen, 2000 Tote
In den letzten 80 Jahren starben fast 2000 Menschen in den Schneemassen. In den
gesicherten Gebieten geht die Zahl der Opfer zurück.
Von Michael Soukup, TA vom MI 2. November 2016
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Im Vergleich zu anderen Ländern wurde die Schweiz bisher von verheerenden
Naturkatastrophen verschont. Die grösste Gefahr stellen Lawinen dar: Mit durchschnittlich
25 Lawinentoten pro Jahr fordern sie die meisten Opfer. So starben in den letzten 80 Jahren,
seit die Lawinenopfer systematisch registriert werden, in den Schweizer Bergen fast
2000 Personen in mehr als 1000 Lawinen. Geführt wird die Schadenlawinendatenbank vom
Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF), das zur Eidgenössischen Forschungsanstalt
für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) gehört.
Eine gestern veröffentlichte Auswertung des Davoser Instituts zeigt: Im gesicherten Gelände
nahm die Anzahl Opfer seit 1936 markant ab. Auf Strassen, Bahnschienen, Skipisten und in
Siedlungen starben Ende der 40er-Jahre durchschnittlich noch 15 Personen pro Jahr in
Lawinen, ab 2010 war es jährlich weniger als eine Person. «Die meisten dieser Lawinen lösten
sich spontan, und fast die Hälfte der Opfer auf Verkehrswegen und Skipisten waren in
Arbeitsunfälle verwickelt», stellt Benjamin Zweifel, Lawinenprognostiker beim SLF, fest.
Grosse Investitionen in Lawinenverbauungen, bessere Gefahrenkarten, erfolgreiche
Sperrungen oder künstliche Lawinenauslösungen dürften massgeblich dazu beigetragen
haben.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich abseits von Siedlungsgebieten, Verkehrswegen oder Pisten. Bei
den Unfällen im freien Gelände waren während der letzten 80 Jahre fast immer Personen
involviert, die zum Zeitpunkt des Unfalls in ihrer Freizeit auf Ski-, Snowboard- oder
Schneeschuhtouren oder Variantenfahrten unterwegs waren. In der grossen Mehrheit der
Fälle lösten die Opfer die Lawinen selber aus. Lag das 15-jährige Mittel zu Beginn der 50erJahre teils noch bei weniger als 10 Opfern pro Jahr, stieg es in den 60er- und 70er-Jahren
stark an und erreichte in den 80er-Jahren mit fast 27 Lawinenopfern pro Jahr einen traurigen
Rekord.
Der starke Anstieg der Opferzahlen geschah während einer Phase, in der sich der
Wintertourismus stark entwickelte, der Bau von Skigebieten boomte und die Mobilität der
Bevölkerung zunahm. Dennoch gingen die Opferzahlen in den 90er-Jahren dank verstärkter
Präventionsarbeit, besseren Informationen über die Lawinensituation oder die immer weiter
verbreiteten Lawinennotfallgeräte zurück.
Dabei ist erstaunlich, dass sich laut dem Bundesamt für Sport gleichzeitig die Zahl der aktiven
Tourengeher (also Ski-, Snowboardtouren und Schneeschuhlaufen) zwischen 1999 und 2010
auf rund 200 000 verdreifachte. Zudem nahmen die Tourentage der Schweizer Bevölkerung
von 1999 bis 2013 von 700 000 auf 2,2 Millionen jährlich zu. Angesichts der viel stärkeren
Zunahme der Tourentage im Vergleich zur Anzahl der Lawinenopfer hat sich damit das
Lawinenrisiko pro Tourentag fast halbiert. Grund für die Abnahme des Risikos ist gemäss dem
Institut für Schnee- und Lawinenforschung vor allem der höhere Anteil von
Schneeschuhgehern mit ihrem im Vergleich zu Skitourengehern deutlich geringeren Risiko.
Das höchste Risiko haben Männer auf Skitour: Sie sind für 30 Prozent der Tourentage, aber
70 Prozent der Lawinenopfer verantwortlich.
Der Aufräumer
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2011 verfolgen Obama und die damalige Aussenministerin Hillary Clinton Osama Bin Ladens Tötung.
Foto: Pete Souza (The White House)
Barack Obama geht als erster schwarzer US-Präsident in die Geschichte ein. Aber auch, weil
er für die USA zwei Kriege beendete und zu Hause viel erreichte.
Eine Bilanz von Christof Münger, TA vom 1. November 2016
Amerika atmete auf - und der Rest der Welt mit ihm, unüberhörbar: Die Wahl Barack Obamas
wirkte wie eine Befreiung nach acht Bush-Jahren. Amerika glänzte und strahlte wieder. «Yes,
we can» hatte er versprochen und rund um den Erdball Hoffnung geweckt - und messianische
Erwartungen, also unerfüllbare Erwartungen. Aber im Oval Office machte sich der neue
Präsident der Vereinigten Staaten sofort an die Arbeit. Nur zwei Tage nach seiner
Amtseinführung ordnete Obama an, Guantánamo bis Ende Jahr zu schliessen. Das war im
Januar 2009. Damals waren im Foltergefängnis auf dem US-Marinestützpunkt 227
Terrorverdächtige inhaftiert - ohne Anklage, ohne Anwalt und meistens ohne Schuld, wie sich
herausstellen sollte.
Guantánamo Bay war der Schandfleck, auf ihn hatte sich der weltweite Hass auf Amerika
gebündelt, auf ein Amerika, das seinen Rechtsstaat pries, während es heimlich folterte. Vor
allem aber stand Guantánamo für George W. Bush. Obama war angetreten, dessen Erbe zu
bewältigen. Heute sind immer noch 60 Gefangene in Guantánamo. Und das nach acht Jahren
Obama. Menschenrechtler wie Kenneth Roth, Direktor von Human Rights Watch, sind deshalb
enttäuscht.
Eigentlich sollte ein amerikanischer Präsident ein Gefängnis schliessen können, meint man.
Doch dazu braucht er eben den Kongress. Der stellte sich quer und zeigte dem Präsidenten die
Limiten seiner Macht auf. Guantánamo brachte Obama die erste grosse Niederlage, die
politische Realität in Washington entzauberte ihn. Er aber reagierte uramerikanisch, indem er
nicht aufgab; seit dem Unabhängigkeitskrieg ist Kapitulation keine Option mehr. Obama
schloss zwar nicht Guantánamo, dafür die Geheimgefängnisse der CIA, er verbot «harte
Verhörmethoden», also Folter, und er verfügte, dass Kriegsgefangene wieder gemäss der
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Genfer Konvention behandelt werden. In seiner Regierungszeit sind mehr als 150 Insassen aus
Guantánamo freigekommen, der bisher letzte am 17. Oktober 2016. Obwohl es ihm vor dem
Ende seiner Regierungszeit kaum mehr gelingen wird, das Gefängnis ganz aufzuheben, hat
Obama sein Ziel im Auge behalten und es wenigstens zum Teil erreicht.
Der Präsident agierte radikal pragmatisch, als es darum ging, Bushs Hinterlassenschaft
aufzuräumen. 2011 beendete er das Irak-Abenteuer und korrigierte das kriegerische Image der
USA. Den US-Streitkräften war es während der achtjährigen Besetzung nie gelungen, den Irak
zu stabilisieren. Schiiten, Kurden und Sunniten belauerten und beschossen sich, und die 2003
gegründete Terrororganisation Islamischer Staat (IS) breitete sich aus - eine Folge des
amerikanischen Einmarschs und nicht etwa des Rückzugs. Heute steht die Regierung Obama
den Irakern in ihrem Kampf gegen den IS bei, derzeit mit 5000 US-Militärs.
Der umstrittenste Entscheid
Seine Doktrin der Zurückhaltung wandte Obama auch in Afghanistan an. Seit dem Abzug der
erschöpften Truppen beraten amerikanische Ausbildner die afghanischen Streitkräfte in ihrem
Kampf gegen die Taliban, den IS und al-Qaida. Obwohl die Islamisten auf dem Vormarsch
sind, sollen am Ende von Obamas Regierungszeit nur noch gut 8000 US-Militärs in
Afghanistan stationiert sein, wie der Präsident angekündigt hat. Das müsse reichen.
Die Obama-Doktrin basiert auf der Einsicht, dass nur lokale Sicherheitskräfte die Jihadisten
effizient bekämpfen können, sei es in Somalia, Libyen, im Jemen oder auch in Syrien. Obamas
Amerika ist kriegsmüde, aber bereit, im Hintergrund mit Ausrüstung, Ausbildung und notfalls
mit Luft- und Drohnenangriffen zu helfen. Ausserdem hatte im Irak und in Afghanistan die
sichtbare Präsenz amerikanischer Bodentruppen den Jihadisten jenes Feindbild geliefert, das
die Fanatiker benötigen, um junge Selbstmordattentäter zu rekrutieren. Diesen Gefallen hat
ihnen die Regierung Obama verweigert.
Das ist auch das wichtigste Motiv, weshalb sich der Präsident in Syrien zurückgehalten hat seine umstrittenste aussenpolitische Entscheidung. Für Obama war Syrien eine Falle, um ihn
in einen weiteren muslimischen Bürgerkrieg hineinzuziehen. Ihm wurde, unter anderem von
Hillary Clinton, vorgeworfen, er habe 2013 nach dem Giftgaseinsatz, den er als «rote Linie»
bezeichnet hatte, nichts getan. Was so nicht stimmt: Die Drohung eines Angriffs auf das
Regime veranlasste Diktator Bashar al-Assad, seine Chemiewaffen auszuhändigen, so wie
Obama es Wladimir Putin, Assads Schutzherrn, vorgeschlagen hatte.
Gegenüber dem US-Magazin «Atlantic» begründete Obama seine Entscheidung so: «Mit
einem Raketenangriff hätten wir Assad etwas Schaden zugefügt, aber nicht seine chemischen
Waffen ausgeschaltet.» Assad hätte überlebt und behauptet, er habe den USA standgehalten.
Der Diktator «wäre gestärkt und nicht geschwächt worden», so Obama. Der Entscheid, Assad
nicht anzugreifen, hinterliess jedoch ein Vakuum im syrischen Luftraum, etwa über Aleppo,
das inzwischen Putins Bomber ausfüllen, die Spitäler und Schulen bombardieren. Und die
syrischen Regierungstruppen massakrieren weiterhin ihre Landsleute, auch ohne Sarin und
Senfgas.
Der russische Präsident wurde zu Obamas Nemesis. Als der US-Präsident etwas gar leichtfertig
Russland als «Regionalmacht» bezeichnet hatte, prahlte der gekränkte Kreml-Führer mit
seinem nuklearen Arsenal. Das gemeinsame Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist in weite
Ferne gerückt, seit sich Putin in der Ukraine oder in Syrien wie ein moderner Zar gebärdet.
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Allerdings ist es die US Air-Force, die in Syrien und im Irak den Islamischen Staat in die
Steinzeit zurückbombt, wo er ideologisch ja herkommt.
Obama ist kein Pazifist, das verunmöglicht schon sein Amt. Als er 2009 den
Friedensnobelpreis erhielt - eine vorschnelle Ehrung, die Obama nicht behagte -, sagte der USPräsident in Oslo, dass er sich nicht alleine an Mahatma Gandhi und Martin Luther King
orientieren könne. «Zu sagen, Gewalt sei manchmal nötig, ist nicht zynisch, sondern eine
Anerkennung der Geschichte.» Weder habe eine gewaltlose Bewegung Hitlers Armeen
aufgehalten, noch könne man al-Qaida in Verhandlungen überzeugen, die Waffen
niederzulegen.
Um die Gefahr des islamistischen Terrors einzudämmen, setzt Obama Drohnen ein. Das passt
nicht zum Friedensnobelpreisträger, jedoch zum Dilemma, vor dem er steht. Wenn im Jemen,
in Somalia oder im pakistanischen Swat-Tal Hassprediger zum Krieg gegen Amerika aufrufen,
muss der US-Präsident reagieren. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte George
W. Bush im Irak einen Krieg begonnen, der das Problem des islamistischen Terrors nicht
verkleinerte, sondern verschlimmerte. Obama dagegen versucht, die Feinde Amerikas
punktgenau zu treffen. Spektakulär gelang dies am 2. Mai 2011, als US-Elitetruppen Osama
Bin Laden aufspürten und töteten - Obamas Triumph als Oberkommandierender.
Die Angriffe mit Drohnen sind nicht immer so präzis. Das Weisse Haus räumte ein, dass in den
vergangenen Jahren 116 Zivilisten getötet worden waren, «die nicht getötet werden sollten».
Nichtregierungsorganisationen sprechen von 200 bis 900 zivilen Opfern seit 2009.
Gleichzeitig wurden 2581 Terroristen getötet. Und damit vielleicht Anschläge verhindert, etwa
auf eine Mädchenschule in Kabul, eine Bäckerei in Mogadiscio oder einen Schwulen-Club in
Paris. Wir wissen es nicht. Der Kampf gegen den Terrorismus bleibt Sisyphus-Arbeit; die USA
haben ihn unter Obama nicht gewonnen, aber sie haben gelernt, ihn zu managen.
Neurose behandelt
Aufgeräumt hat er dagegen zwei alte Baustellen der US-Aussenpolitik: Kuba und Iran. Mit der
Annäherung an die Castros hat Obama eine amerikanische Neurose beendet. Mehr als
50 Jahre lang hatten Washington und Havanna ihre Feindschaft gepflegt, bis sie irrationale
Züge annahm, wobei das kubanische Regime nicht trotz, sondern wegen des amerikanischen
Embargos überlebte. Seit Obama mit seiner attraktiven Frau Michelle und den hübschen
Töchtern Malia und Sasha nach Kuba reiste, ist damit Schluss. Den greisen Kommunisten auf
der Insel ist dies nicht geheuer, sie scheinen ihr altes Feindbild schmerzlich zu vermissen offensichtlich lag Obama richtig mit seiner Charme-Strategie.
Auch das Ende des Atomstreits gilt als Erfolg, mit dem die Gefahr eines weiteren Kriegs im
Nahen Osten vermindert werden konnte. Selbst Teile der israelischen Öffentlichkeit loben
inzwischen das Abkommen mit dem Iran. Einer der vehementen Gegner des Atomdeals,
Premier Benjamin Netanyahu, verband mit dem Präsidenten eine Abneigung, die herzhaft und
gegenseitig war. Obama scheiterte, als er den Israeli für einen Nahostfrieden Zugeständnisse
abringen wollte, nachdem er die amerikanische Sicherheitsgarantie erneuert hatte. Und seine
grossartige Kairoer Rede, in der er der islamischen Welt die Hand entgegenstreckte, gilt heute
als grossartige Rede ohne Wirkung. Beim Versuch, zwischen Israel und Palästinensern Frieden
zu stiften, sind allerdings schon andere US-Präsidenten gescheitert.
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Krankenkasse durchgeboxt
Für die Amerikaner wird Nummer 44 nicht wegen seiner Aussenpolitik in Erinnerung bleiben,
sondern weil er nach der Finanzkrise 2008 den ganz grossen Crash abwenden konnte, die
Autoindustrie rettete, die Arbeitslosenrate senkte und endlich eine Krankenversicherung
durchboxte. Seit dem Zweiten Weltkrieg träumten die Demokraten davon, jedem Amerikaner
eine medizinische Versorgung zu ermöglichen. Trotz steigender Prämien ist Obamacare ein
Erfolg: 2009 waren 43,8 Millionen ohne Versicherung, 2015 waren es noch 28,6 Millionen.
Die Republikaner beschimpfen Obama als Sozialisten, Historiker dürften ihn wegen seines
Sozialwerkes bald auf eine Stufe mit Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson stellen.
Jetzt schon eine historische Figur ist Barack Obama als erster schwarzer Präsident. Die
tragische Geschichte mit Sklaverei und Segregation konnte auch Obama nicht einfach
wegräumen. Im Gegenteil: Die Gewalt zwischen schwarzen und weissen Amerikanern hat seine
Präsidentschaft mitgeprägt. Aber die Afroamerikaner haben ein Idol erhalten, das Bestand
haben wird. Die schwarze Schriftstellerin Valerie Wilson Wesley sagte im Interview mit dem
«Tages-Anzeiger», sie sei so stolz, wenn sie Obama sehe, wie «er sich elegant, souverän und
voller Selbstvertrauen auf der Weltbühne» bewege: «Amerika wird erst in 20 Jahren
realisieren, was für ein Geschenk Obama dem Land gemacht hat.»
Als Wilson Wesley von Amerika sprach, meinte sie ganz Amerika. So wie Obama, als er in
Selma, Alabama, der drei Protestmärsche von 1965 gedachte, dem Höhepunkt der
Bürgerrechtsbewegung. «Das mächtigste Wort in unserer Demokratie ist Wir, und niemand
kann dieses Wort für sich in Anspruch nehmen, es gehört allen», sagte der US-Präsident. In
Selma habe «die Idee eines gerechten und fairen Amerikas, eines alle umfassenden und
grosszügigen Amerikas» triumphiert. Kurz: Obama sprach nicht von Afroamerikanern,
sondern von Amerikanern. Die Selma-Rede war eine der eindrücklichsten eines begnadeten
Rhetorikers.
Erstmals war Obamas Talent aufgefallen, als er 2004 auf dem Parteitag in Boston eine
Grundsatzrede hielt, die ihn landesweit bekannt machte. Es war eine Liebeserklärung an die
USA: «Es gibt nicht ein liberales Amerika und ein konservatives Amerika - es gibt die
Vereinigten Staaten von Amerika.» Als Präsident wollte Obama sein gespaltenes Land einen,
die Nation gewährte ihm dafür zwei Amtszeiten. Doch er scheiterte kolossal, wie er selber
eingesteht. Er bereue, dass in seiner Präsidentschaft «Hass und Argwohn zwischen den
Parteien zu- statt abgenommen» hätten, sagte Obama zur «Washington Post».
Wie tief gespalten das Land inzwischen ist, zeigt der Wahlkampf um seine Nachfolge. Dabei
engagiert sich Obama für Hillary Clinton, und zwar mehr, als üblich ist für einen Amtsinhaber.
Er ist jedoch bei mehr als der Hälfte der Amerikaner beliebt - für einen abtretenden
Präsidenten ein hoher Wert. Und das gibt seiner Stimme Gewicht. Vor allem aber kämpft
Obama für sein Erbe, das Donald Trump zerstören möchte.
Nach dem Auszug aus dem Weissen Haus am 20. Januar 2017 plant Familie Obama, in
Washington zu bleiben, bis die jüngere Tochter Sasha die Highschool beendet hat. Dann
jedoch würde Obama angeblich gerne zurück in seine Heimatstadt Chicago. «Ich möchte
wieder das machen, was ich früher tat, versuchen, den Leuten zu helfen, den Jungen bei der
Ausbildung, anderen mit der Jobsuche, und ich möchte helfen, dass sich in Quartieren ohne
Business wieder Geschäfte und Firmen ansiedeln. Das ist die Arbeit, die ich wirklich liebe.»
Chicago kann sich auf den prominentesten Gemeindehelfer der Welt freuen.
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Aber noch ist nicht Schluss. Es ist üblich, dass Präsidenten in den letzten Amtstagen einige
Straftäter begnadigen. Verdient hätte es Edward Snowden, bekanntester Whistleblower und
angeklagt als Spion, weil er die Datensammelwut der National Security Agency publik gemacht
hat. Dafür hasst man ihn bei der NSA: Wegen Snowden ist der US-Geheimdienst gezwungen
worden, transparenter und achtsamer mit der Privatsphäre der Amerikanerinnen und
Amerikaner umzugehen. Snowdens Opfer ist gross: Er hat sein altes Leben, seine Heimat und
seine Familie aufgegeben, um zu tun, was getan werden musste. Nun sitzt er in Moskau fest.
Bislang hat es Barack Obama abgelehnt, Edward Snowden in den USA Straffreiheit zu
gewähren. Ein solcher Gnadenakt würde zu seiner Ära passen. «Yes, he could.»
Vergewaltiger darf nicht verwahrt werden
Die Richter hatten sich mit einem besonders schwierigen Fall auseinanderzusetzen: Verhandlungssaal im
Zürcher Obergericht. Foto: Nicola Pitaro
Das Obergericht hat die Verwahrung eines Vergewaltigers aufgehoben, obwohl alle Fakten
dafür sprachen. Schuld daran ist nach Ansicht der Richter ein «missglückter» Gesetzesartikel.
Von Thomas Hasler, TA vom MI 19. Oktober 2016
Es sei «sehr frustrierend», von Politikern den Vorwurf der Kuscheljustiz zu hören, «wenn von
den gleichen Politikern Gesetze erlassen werden, die uns vor kaum lösbare Probleme stellen»,
sagte Gerichtspräsident Daniel Bussmann. Das kaum lösbare Problem betrifft einen heute 34jährigen Kosovaren, der seit 25 Jahren in der Schweiz lebt.
Der Mann hatte im Oktober 2011 bei der Sportanlage Moos in Affoltern am Albis eine damals
23-jährige Zufallsbekanntschaft vergewaltigt und mehrfach sexuell genötigt. Er hielt ihr ein
Japan- oder Teppichmesser an den Hals, fügte ihr dabei leichte Schnittverletzungen zu. Er
betatschte sie über und unter den Kleidern am ganzen Körper. Während sie ihn oral
befriedigen musste, drehte er sich einen Joint. Als sie später verbal Widerstand leistete, zog er
das inzwischen eingepackte Messer wieder hervor und machte sie mit der Bemerkung «Ich
muss das wohl jetzt doch verwenden» erneut gefügig. Zum Schluss vergewaltigte er sie.
Neun Jahre und Verwahrung
Dies ist die Kürzestfassung eines Geschehens, das in der Anklageschrift eineinhalb dicht
beschriebene Seiten füllt. Vor dem Bezirksgericht Affoltern bestritt der Mann die Vorwürfe.
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«Es war alles ganz normal, ich habe sie zu nichts gezwungen.» Die Anklage basierte im
Wesentlichen auf den Angaben der Frau. Um die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen zu
überprüfen, ordnete das Gericht ein aussagepsychologisches Gutachten an. Dann verurteilte es
den Mann wegen qualifizierter Vergewaltigung und mehrfacher qualifizierter sexueller
Nötigung. Mit einer Freiheitsstrafe von neun Jahren fiel das Urteil deutlich aus.
Nach Verbüssung der Strafe sollte der Täter verwahrt werden. Aufgrund von dissozialen
Persönlichkeitsmerkmalen und weiteren Risikomerkmalen sei ernsthaft zu erwarten, dass der
Mann weitere und auch schwerwiegende Gewaltstraftaten begehen werde. Eine Massnahme
komme nicht infrage, weil keine schwere psychische Störung vorliege. Und für eine Therapie
bestünden keine konkreten Erfolgsaussichten.
Die Staatsanwaltschaft, die zwölf Jahre gefordert hatte, zog das Urteil ebenso ans Obergericht
weiter wie der Beschuldigte, der mitteilen liess, er fordere einen Freispruch. Vor Gericht kam
es dann am Dienstag zu einer Kehrtwende, von der auch die Oberrichter überrascht wurden:
Der 34-Jährige sagte, was die Frau damals gesagt habe, sei alles richtig. Der Staatsanwalt
reduzierte aufgrund des Geständnisses seinen Strafantrag um ein halbes Jahr. Der Verteidiger
des Kosovaren beantragte eine Maximalstrafe von siebeneinhalb Jahren und den Verzicht auf
eine Verwahrung.
Verwahrung wäre «schlüssig»
Am Nachmittag kam es dann zur zweiten Überraschung. Das Obergericht verurteilte den Mann
zwar zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren, von denen er bisher bereits knapp fünf
Jahre abgesessen hat. Dem Opfer wurde eine Genugtuung von 12 000 Franken zugesprochen.
Auf eine Verwahrung verzichtete das Gericht aber - allerdings gegen seinen Willen. Denn nach
Ansicht des Gerichts erfüllt der 34-Jährige alle Voraussetzungen für die Anordnung einer
Verwahrung. In einer Gesamtwürdigung wäre eine Verwahrung «schlüssig und
nachvollziehbar».
Und wo liegt denn das Problem? Der Psychiater war zu seiner Einschätzung, Diagnose und
Prognose gekommen, weil er die Akten aus einem Jugendstrafverfahren des Kosovaren
konsultiert hatte. Der damals 17-Jährige hatte nicht nur an einem Raubüberfall auf eine
Taxifahrerin teilgenommen, sondern auch die Mutter seiner damaligen Freundin mit
Messerstichen in den Hals getötet. Diese und weitere Straftaten liessen den Psychiater von
einer «schon im Jugendalter eindrücklichen und insbesondere auch mit massiver
Gewalttätigkeit verbundenen, verschiedenartigen Delinquenz» sprechen.
So tun, als ob
Nur: Die Gewaltdelikte des 17-Jährigen aus dem Jahre 1999 sind aus seinem Strafregister
entfernt. Sie dürfen ihm deshalb «nicht mehr entgegengehalten werden». So will es das Gesetz.
Konkret: Der Psychiater darf zwar die alten Akten zu seinen Taten studieren und daraus
Schlüsse auf den aktuellen psychischen Zustand des Mannes ziehen. Dieses Wissen aber darf
für die Rückfallprognose nicht verwendet werden.
Es war aber genau dieses Tötungsdelikt, das einen «erheblichen Einfluss» auf die Prognose
hatte - und eine Verwahrung als notwendig erscheinen liess. Doch das Gericht musste so tun,
als habe es das aus dem Strafregister gelöschte Tötungsdelikt nicht gegeben. Damit aber waren
die Voraussetzungen für eine Verwahrung wegen der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung
nicht mehr erfüllt.
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Die Rückeroberung
Kurdische Peshmerga-Kämpfer machen sich mit Pick-ups auf den Weg nach Mosul. Foto: Azad Lashkari
Die irakische Armee hat mit der Offensive gegen die IS-Hochburg Mosul begonnen. Die
Jihadisten verteidigen sich mit Selbstmordattentätern und menschlichen Schutzschilden.
Von Paul-Anton Krüger, Kairo, TA vom DI 18. Oktober 2016
Haidar al-Abadi zog den schwarzen Kampfanzug der Anti-Terror-Einheiten der irakischen
Armee an, bevor er am Montag um zwei Uhr morgens ins Fernsehstudio ging. Umringt von
seinen Generälen verkündete der Premier aus der Kommandozentrale der Armee den lange
erwarteten Beginn der Offensive, mit der Mosul aus den Händen der Terrormiliz Islamischer
Staat (IS) befreit werden soll. «Die irakische Flagge wird in der Mitte von Mosul gehisst
werden, in jedem Dorf und jeder Ecke, und das sehr bald», rief er.
Noch in der Nacht rückten kurdische Peshmerga-Kämpfer im Osten der einst zweitgrössten
Metropole des Landes in eine Handvoll Dörfer vor; von den Amerikanern ausgebildete
irakische Elitesoldaten waren jüngst nach einem Sonderurlaub bei ihren Familien an die Front
im Süden beordert worden, von wo aus der Hauptvorstoss auf die Stadt geführt werden soll.
Auch sie machten sich in langen Kolonnen auf den Weg in die entscheidende Schlacht um die
letzte grosse Bastion des IS im Irak.
In Mosul halten sich laut westlichen Geheimdiensten noch etwa 3000 bis 4500 Kämpfer des IS
verschanzt, in manchen Schätzungen ist auch von 6000 oder 8000 die Rede. Ihnen stehen
mehr als 20 000 irakische Soldaten und Polizisten gegenüber sowie Tausende Kämpfer
verschiedener sunnitischer und schiitischer Milizen. Mehr als 5500 US-Soldaten unterstützen
die Operation. Doch bis die irakischen Eliteeinheiten die schwarze Standarte der Jihadisten
von den Masten reissen, könnte es dauern.
«Massgeblich wird es davon abhängen, ob der IS sich entscheidet zu kämpfen oder ob sie
versuchen, sich aus der Stadt Richtung Syrien abzusetzen», sagt Columb Strack, IS-Experte bei
der Analysefirma IHS. Der IS wisse, dass er die Schlacht nicht gewinnen könne - die Frage sei,
wie viele Ressourcen die Führung zu opfern bereit sei und ob die von ausländischen Kadern
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überwachten Kämpfer, oft zwangsrekrutierte Sunniten, in grosser Zahl desertieren würden. ISKonvois aus Mosul seien vergangene Woche nach Raqqa gefahren, der syrischen Hauptstadt
des Kalifats. Irakische Kommandanten sagen, sie würden ihnen diesen Weg vorerst
offenlassen.
Massenhinrichtungen in Mosul
In der ersten Phase des Angriffs, der einige Wochen dauern könnte, werden die irakischen
Truppen voraussichtich den Ring um die Stadt enger ziehen und die Versorgung abschneiden.
Dann dürften sie versuchen, in Viertel vorzustossen, in denen der IS wenig Unterstützung
geniesst. Es gibt Berichte aus Mosul, dass sich manche Bürger gegen den IS erheben. Die
Jihadisten versuchen, aufkeimenden Widerstand mit Massenhinrichtungen zu brechen.
Zudem haben sie nach Informationen westlicher Geheimdienste in den vergangenen Monaten
Verteidigungsanlagen errichtet, um den irakischen Soldaten den Vormarsch zu erschweren.
Die wiederum verfügen nicht über die Ausrüstung und Logistik einer modernen Armee und
nicht über die Möglichkeit, ihre Verletzten in Spitäler auszufliegen, wie es etwa die USA tun.
Sie müssen deswegen vorsichtiger vorgehen - und langsamer.
«Ein IS-Scharfschütze bindet hundert Soldaten», sagte ein westlicher Geheimdienstler dem
«Tages-Anzeiger». Zudem habe der IS die Zugänge der Stadt mit Tausenden Sprengfallen
vermint, Gräben und Tunnelsysteme angelegt. In ihnen könnten sich die Kämpfer geschützt
vor Luftangriffen bewegen. Selbstmordattentäter sollen sich auf Attacken mit massiven,
fahrenden Autobomben vorbereiten. Die Produktionsstätten des IS für chemische Kampfstoffe
wie Senfgas, liegen in Mosul; einzelne Giftangriffe gegen kurdische und irakische Einheiten hat
es in den vergangenen Wochen schon gegeben.
In der Stadt dürfte sich der IS nach Einschätzung von IHS-Analyst Strack in dicht besiedelte
ärmere Gebiete am westlichen Ufer des Tigris zurückziehen und sich dort in
Regierungsgebäuden verschanzen. Luftangriffe und Artillerie können dort nur unter dem
Risiko eingesetzt werden, Zivilisten zu töten und Infrastruktur sowie Kulturdenkmäler zu
beschädigen - bis zu 1,5 Millionen Menschen sollen sich nach UNO-Schätzungen noch in der
Stadt befinden. Bis vor kurzem konnten zumindest jene Mosul noch verlassen, die den IS dafür
bezahlen konnten. Die Zurückgebliebenen könnte der IS nun als menschliche Schutzschilde
missbrauchen und so den Kampf in die Länge ziehen.
US-Verteidigungsminister Ashton Carter sagte in Washington, der Beginn der Mosul-Offensive
sei «ein entscheidender Moment» bei den Bemühungen, den Islamischen Staat zu besiegen.
US-Truppen sind mit Hunderten Militärberatern in irakische Einheiten eingebettet;
Luftangriffe und Unterstützung durch Apache-Kampfhelikopter haben sich in früheren
Operationen als entscheidend für den Erfolg der Iraker herausgestellt, ebenso wie die
überlegene Aufklärung der Amerikaner durch Drohnen und Satelliten.
Mosul hat für den IS grosse ideologische Bedeutung. In der Grossen Moschee der Stadt hatte
sich Abu Bakr al-Baghdadi 2014 zum Kalifen ausgerufen und seinen Herrschaftsanspruch
formuliert. Mit gerade einmal 1000 Kämpfern hatten der IS zuvor die Stadt übernommen.
Vorbereitet hatte der IS die Aktion allerdings über viele Monate, in denen er die Stadt
unterwanderte und geheimdienstähnliche Strukturen aufbaute - Offiziere aus dem Regime des
gestürzten Diktators Saddam Hussein spielten dabei eine zentrale Rolle.
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Der Feldzugder Helfer
Bis zu einer Million Menschen könnte die Schlacht um Mosul in die Flucht treiben. Die von der
UNO geplanten Lager sind dafür zu klein.
Von Moritz Baumstieger, TA vom DI 18. Oktober 2016
Die Szenarien, die pessimistisch veranlagte Beobachter als Folgen der Schlacht um Mosul
zeichnen, sind düster. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet mit bis zu einer Million
Flüchtlingen. Um der humanitären Krise angemessen zu begegnen, hat das UNHCR einen
Finanzbedarf von 196 Millionen Dollar berechnet. Eingegangen sind bisher 63 Millionen,
gerade mal ein Drittel. Das UNHCR appellierte deshalb gestern an die internationale
Gemeinschaft, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Das Geld werde für Zelte,
Flüchtlingslager, Wintersachen und Öfen benötigt. In Syrien würden Vorbereitungen
getroffen, bis zu 90 000 Menschen unterzubringen. Die Türkei erklärte sich unterdessen
bereit, Hunderttausende Flüchtlinge aus Mosul aufzunehmen.
Wie die Militärstrategen bereiten sich die Helfer seit Monaten auf die Offensive vor. Und wie
die Männer in Uniform haben sie ihre Lehren aus den letzten Schlachten der irakischen Armee
gegen die Terrormiliz IS gezogen: «Der Kampf um Falluja hat gezeigt, dass sich die
Gegebenheiten deutlich rascher ändern können, als wir dachten», sagt Caroline Gluck,
UNHCR-Sprecherin in Bagdad.
Als irakische Kräfte die Stadt in der Provinz Anbar im Juni eroberten, brach der Widerstand
der Terrormiliz schnell zusammen - zuvor aber hatten die heftigen Kämpfe zu
unvorhergesehenen Fluchtbewegungen geführt. Auf bis zu 50 000 Flüchtende war das
UNHCR eingestellt, «tatsächlich flohen mehr als 60 000 Menschen allein in den ersten drei
Tagen der Offensive», so Gluck. Die Helfer waren überfordert, die vorbereiteten Lager
überfüllt. Tausende schliefen ohne Hilfe unter freiem Himmel.
Flüchtlinge als Camper
Eine Lehre aus dem Chaos von Falluja sei nun, dass das UNHCR und seine Partner vor Ort verschiedene NGOs, die Zentralregierung des Irak sowie die Verwaltung der kurdischen
Autonomiegebiete östlich von Mosul - flexiblere Ansätze suchen: «Wir schätzen, dass
höchstens die Hälfte der Menschen in Lagern unterkommen kann», sagt Gluck. Deshalb sollen
zu Beginn der Offensive 80 000 Pakete mit Ausrüstung in den vier erwarteten
Fluchtkorridoren bereitstehen.
Mit den Paketen sollen sich die Fliehenden für einige Zeit selbst helfen können - sie enthalten
eine Art Campingausrüstung für Krisengebiete: Kocher, leichte Zelte, Decken, Planen zum
Abdichten von Räumen in Ruinen. «Wir hoffen, die Menschen so in sicherer Entfernung von
den Frontlinien, aber nahe ihrer Heimat halten zu können», sagt die UNHCR-Sprecherin.
«Das würde auch die Rückkehr erleichtern.» Eine längerfristige Lösung sei das aber nicht:
Besonders im Nordirak kann der Winter sehr hart werden, «aus humanitärer Sicht wird die
Offensive leider zum ungünstigsten Zeitpunkt stattfinden», so Gluck.
Dieser neue Ansatz des geplanten Improvisierens ist jedoch auch der Tatsache geschuldet, dass
sich im Irak mit bereits heute 3,3 Millionen Binnenflüchtlingen nur schwer Orte finden lassen,
an denen sich grössere Menschenmengen problemlos ansiedeln liessen. Zum einen muss auf
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ethnische und religiöse Faktoren Rücksicht genommen werden, Mosuls sunnitische Bewohner
etwa können nur schwer im schiitischen Süden untergebracht werden, und auch in den
Kurdengebieten kennt die Bereitschaft Grenzen, noch mehr arabische Iraker aufzunehmen.
Vier Lager sind bisher errichtet worden, elf befinden sich im Bau oder in der Planung. Drei
Wochen dauert es laut UNHCR etwa, um ein Camp mit einfachsten Unterbringungen und
Gemeinschaftsküchen zu bauen. Vorausgesetzt, die Mittel stehen bereit.
Putin stoppt
Plutonium
Vernichtung
von
waffenfähigem
Wegen zunehmender Spannungen mit den USA setzt Russland die vereinbarte Vernichtung
von atomwaffenfähigem Plutonium aus. Präsident Wladimir Putin fordere die Regierung in
Washington auf, alle Sanktionen gegen sein Land aufzuheben und sich aus den Nato-Staaten
in Osteuropa zurückzuziehen, teilte sein Sprecher am Montag mit. Andernfalls werde Russland
sich nicht mehr an das Abkommen mit den USA zur Beseitigung waffenfähigen Plutoniums
halten. Ein entsprechendes Dekret wurde dem russischen Parlament übergeben. (Reuters)
Syrien
USA beenden Gespräche mit
Waffenstillstand
Russland über
Die USA haben die Gespräche mit Russland über einen Waffenstillstand für Syrien eingestellt.
Dies gab das Aussenministerium in Washington bekannt. Dessen Sprecher John Kirby warf
Moskau und der mit ihm verbündeten Regierung des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad
vor, die Angriffe auf zivile Ziele verstärkt zu haben. (SDA)
Adelines Mörder vor Gericht
Fabrice A., nach der Verhaftung in Polen. Foto: Marcin Bielecki (Keystone)
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Drei Jahre nach dem Mord an der Sozialtherapeutin Adeline M. wird Fabrice A. in Genf der
Prozess gemacht.
Von Philippe Reichen, Genf, TA vom MO 3. Oktober 2016
Fabrice A.s Mord an der 34-jährigen Genfer Sozialtherapeutin Adeline M., Mutter eines acht
Monate alten Mädchens, ist eine der abscheulichsten Taten der jüngeren Schweizer
Kriminalgeschichte. Im Fokus der Kritik steht auch der Genfer Strafvollzug, der sich den
Vorwurf gefallen lassen muss, die Gefährlichkeit des mutmasslichen Täters ignoriert, seine
hinterhältig geplante Tat nicht bemerkt und am Ende sogar begünstigt zu haben. Nur so ist zu
erklären, dass sich der Angeklagte Fabrice A. laut Anklageschrift minutiös vorbereiten und sich
sämtliche Mittel für seine Tat beschaffen konnte. Die Genfer Staatsanwaltschaft schützt in
ihrer Anklageschrift für den heute beginnenden und zwei Wochen dauernden Mordprozess
den Strafvollzug jedenfalls nicht. Den Tathergang zeichnet sie detailreich nach:
Der 42-jährige Frankoschweizer Fabrice A. sass nach zwei Vergewaltigungen in Genf eine 20
Jahre dauernde Haftstrafe ab. Im Zentrum La Pâquerette, einer Abteilung des Gefängnisses
Champ-Dollon, wurde er auf seine Resozialisierung vorbereitet. Es wurde ihm eine
Reittherapie erlaubt. Die Therapie schien er aber nur mit dem Ziel zu machen,
Sozialtherapeutin Adeline M. umzubringen. Das Reitzentrum wählte er selbst aus. Auf einem
Computer studierte er Umrisskarten um den abgelegenen Ort. Als er am 3. September 2012
mit einer von ihm gewählten Sozialtherapeutin das Reitzentrum besuchte, wies er diese an,
beim Zentrum bis ans Ende des Wegs zu fahren, wo ein isoliertes, verlassenes Haus steht. Auf
dem Weg zurück nach La Pâquerette kaufte sich Fabrice A. ein Pornomagazin und eine
Europakarte (zur Vorbereitung für seine spätere Flucht). In dieser Zeit schaute er sich in seiner
Zelle Szenen aus dem Film «Braveheart» an, in denen einer Frau die Kehle durchgeschnitten
wird. Er lebte mit Mordfantasien, ohne dass sie jemandem aufgefallen wären.
Zum Messerladen gefahren
Vor seinem zweiten Freigang am 12. September 2012, diesmal mit Sozialtherapeutin Adeline
M., bekam er die Erlaubnis, sich ein Messer zur Pflege der Pferdehufe zu bestellen. Unter dem
Vorwand, eine Jacke zu kaufen, lieh er sich 800 Franken aus. Auf dem Weg zur Reittherapie
hielt Adeline M. beim Messerladen. Statt eines Hufmessers kaufte Fabrice A. ein Klappmesser
für Jäger mit einer rund zehn Zentimeter langen Klinge. Einmal auf dem Gelände des
Reitzentrums angekommen, bedrohte Fabrice A. Adeline M. mit der Waffe und wies sie an, bis
zum verlassenen Haus zu fahren, wo er sie im nahen Wald an einen Baum fesselte. Dort
brachte er sie dazu, ihm einen Zungenkuss zu geben. Dann schnitt er ihr die Kehle durch und
beobachtete, wie die 34-Jährige verblutete. Er schnappte sich ihre Tasche, setzte sich in ihr
Auto und floh nach Polen, wo eine Ex-Freundin wohnte. Auch für sie entwickelte er eine
Mordfantasie. Er wollte ihr die Augen ausstechen und sie lebendig begraben. Weil er die ExFreundin nicht traf und diese einst in Irland kennen gelernt hatte, wollte er auf die Insel
fliehen, wurde an der deutsch-polnischen Grenze aber verhaftet -drei Tage nach der Tat.
Fabrice A. muss sich vor Gericht nebst Mord für sexuelle Nötigung und Freiheitsberaubung
verantworten. Denkbar wäre, dass die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Verwahrung
fordert. Doch vor Prozessbeginn wurde nun bekannt, dass die psychiatrischen Gutachter keine
solche Massnahme empfehlen.
Nichts geht mehr an Südafrikas Universitäten
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Heftige Studentenproteste stürzen das Bildungssystem des Landes ins Chaos. Die
Studierenden fordern weniger Gebühren - und weniger weisse Professoren.
Von Johannes Dieterich, Johannesburg, TA vom SA 1. Oktober 2016
Als ob eine stagnierende Wirtschaft, eine zerstrittene Regierungspartei und ein der Korruption
bezichtigter Präsident noch nicht genug wären: Jetzt wird Südafrika auch noch von einem
gewalttätigen Studentenstreik heimgesucht. Fast alle elf grossen Universitäten des Landes
haben inzwischen den Lehrbetrieb eingestellt, nachdem Hochschüler Veranstaltungen
sprengten, Gebäude anzündeten und sich teilweise blutige Zusammenstösse mit der Polizei
und privaten Sicherheitskräften lieferten. Der angerichtete Schaden soll sich bereits auf
umgerechnet rund 50 Millionen Euro belaufen. Präsident Jacob Zuma forderte den Polizeiund Justizminister des Landes auf, dem «Chaos» in den Bildungseinrichtungen endlich ein
Ende zu bereiten.
Die Universitäten befänden sich kurz vor einem katastrophalen Kollaps, warnte der Rektor der
Johannesburger Witwatersrand-Universität, Adam Habib. Könnten die Hochschulen in den
nächsten Tagen ihren Betrieb nicht wieder aufnehmen, müssten Jahresabschlussprüfungen
und Examen aufs kommende Jahr verschoben werden. In diesem Fall könnten die
Hochschulen aus Kapazitätsgründen keine neuen Studenten aufnehmen. Ausserdem müsste
Südafrika auf Tausende von jungen Ärzten oder Lehrern verzichten, mit denen im
Gesundheits- oder Bildungsbereich bereits gerechnet werde. «Das ganze System droht
zusammenzubrechen», warnte Habib.
Ausgelöst wurde der Streik von der Forderung der Studenten nach Abschaffung der
Studiengebühren - was der regierende Afrikanische Nationalkongress (ANC) bereits
wiederholt in Aussicht gestellt hatte. Hochschulminister Blade Nzimande, gleichzeitig
Generalsekretär der Kommunistischen Partei, beteuert indessen, dass eine kostenlose
Universitätsausbildung «niemals Politik der Regierung» gewesen sei. Schon im vergangenen
Jahr war es zu landesweiten Protesten gekommen, nachdem die Hochschulen ihre Gebühren
der Inflation von rund sieben Prozent anpassen wollten. Nach wochenlangen Streiks hatte
Präsident Zuma ein Moratorium für die Gebühren verfügt - ohne allerdings dafür zu sorgen,
dass die Universitäten für die ausbleibenden Einnahmen aus dem Staatsbudget vergütet
wurden.
Für dieses Jahr meinte Hochschulminister Nzimande einen Kompromiss gefunden zu haben,
der die Universitäten zu einer Erhöhung ihrer Gebühren um acht Prozent ermächtigte:
allerdings nur für Studenten aus wohlhabenden Familien. Studierende aus armen
Verhältnissen sollten von der Gebührenanpassung ausgenommen werden. Der Kompromiss
wurde zumindest von einem Teil der Studenten nicht akzeptiert - die Proteste gingen weiter.
Hochschulen dekolonialisieren
Während die Aktionen der Hochschüler im vergangenen Jahr in der Öffentlichkeit
überwiegend auf Verständnis stiessen, ist die Reaktion diesmal gespalten. Die Regierung sucht
die anhaltende Krise «Krawallmachern» anzulasten, die den oppositionellen «Economic
Freedom Fighters» (EFF) nahestünden. Die Partei wurde vor drei Jahren von dem aus dem
ANC ausgeschlossenen Populisten Julius Malema gegründet und fordert die Verstaatlichung
von Bergwerken und Banken sowie die entschädigungslose Enteignung weisser Farmer.
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Die EFF ist vor allem unter jungen Schwarzen populär, die von der Transformation der
südafrikanischen Gesellschaft bitter enttäuscht sind. Im vergangenen Jahr richteten sich die
Proteste auch gegen Relikte aus der Apartheid- und Kolonialzeit, die in den Universitäten noch
immer präsent waren - wie das Standbild des britischen Kolonialisten Cecil Rhodes in der
Universität von Kapstadt. Dieses wurde inzwischen entfernt. Die Unzufriedenheit der
mehrheitlich dunkelhäutigen Hochschüler richtet sich auch gegen die noch immer
überwiegend weisse Professorenschaft. Die Universitäten müssten dekolonialisiert werden,
fordern sie. Ein Appell, dem sich auch viele - vor allem schwarze - Hochschullehrer
anschlossen.
Schulausbildung ist in Südafrika bis zum Abitur frei - allerdings nur in Staatsschulen, deren
Niveau als minderwertig gilt. Wohlhabende Südafrikaner schicken ihre Kinder in
Privatschulen, die jährlich bis zu 10 000 Euro kosten. Dagegen sind Hochschulen direkt
preiswert: Der teuerste Studiengang an der renommiertesten Hochschule - Humanmedizin an
der Universität von Kapstadt - kostet im ersten Jahr knapp 5000 Euro. Da diese Summe
jedoch dem durchschnittlichen Einkommen schwarzer Südafrikaner entspricht, ist sie für diese
unerschwinglich. Die meisten dunkelhäutigen Studenten sind deshalb auf Stipendien oder
Jobs während des Studiums angewiesen.
Zumindest theoretisch können sie auch in den Genuss staatlicher Kredite kommen, die nach
Ergreifen eines Berufs zurückzuzahlen sind. Dieses Programm ist allerdings praktisch
bankrott, weil zu viele nach dem Studium keinen Job erhalten oder den Kredit aus anderen
Gründen nicht zurückzahlen wollen oder können.
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