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Basil Kerski | Polenbilder
In der Vierten lebt sich’s besser
Welche Republik soll es sein? Polens Intellektuelle streiten über
Vergangenheit und Gegenwart
BASIL KERSKI,
geb. 1969
in Danzig, ist
Chefredakteur des
zweisprachigen
deutsch-polnischen
Magazins DIALOG.
Władysław Bartoszewski, der Nestor
der deutsch-polnischen Aussöhnung,
meidet es für gewöhnlich, aktuelle innenpolitische Auseinandersetzungen
in Polen zu kommentieren. Der 85jährige Historiker und Zeuge des
„Zeitalters der Extreme“ hat eine eher
distanzierte Haltung zu den Aufgeregtheiten der polnischen Mediendemokratie. Vor rund zwei Jahren verteidigte der Auschwitz-Überlebende
die Kaczyński-Zwillinge gegen den
besonders in deutschen Zeitungen erhobenen Vorwurf, sie seien antisemitische Nationalisten mit diktatorischem Charakter. Es war daher ein
besonderes Ereignis, als Bartoszewski
wenige Tage vor seinem 85. Geburtstag in einem Interview mit dem Spiegel (12. Februar 2007) den Kaczyńskis
die Leviten las. Darin bezeichnet er
Premierminister Jarosław Kaczyński
als arrogant und egozentrisch, die PiSZwillinge als straff organisierten und
relativ autoritären Familien-Clan. Mit
Ironie kommentiert Bartoszewski den
Anspruch der Kaczyńskis, ihre Amtszeit werde eine gerechtere und mora-
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lisch bessere Demokratie, eine „Vierte
Republik“ begründen: „Als Historiker
weigere ich mich“, so Bartoszewski,
„eine Epochengrenze ante factum anzuerkennen. Die Erste Republik ist
mit den polnischen Teilungen Ende
des 18. Jahrhunderts zu Ende gegangen, die Zweite Republik 1939 durch
den deutschen Überfall. Die Dritte
Republik hat mit dem Ende des Kommunismus begonnen. Man kann nicht
nach der Auszählung der Stimmen in
den Wahlurnen einfach erklären: Wir
leben in der Vierten Republik. (…)
Das größte Verdienst der Dritten Republik ist es, Polen wieder in Europa
etabliert zu haben, durch den Beitritt
zur NATO und zur Europäischen
Union. Dazu gehört das Zusammenwirken mit Deutschland; dazu gab
und gibt es gar keine Alternative.“
Doch so scharf der Konflikt zwischen den Kaczyńskis und Bartoszewski um Polens Außenpolitik auch
geführt wird: Im Vergleich zu den Angriffen der Zwillingsbrüder auf den
legendären Gewerkschaftsführer Lech
Wałęsa bleibt er durchaus zahm.
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In einem Interview mit der populistischen Wochenzeitschrift Wprost
lässt sich Staatspräsident Kaczyński
zu einer Generalabrechung mit Wałęsa
unter dem Titel „Lech gegen Lech“
hinreißen (18. März 2007). Kaczyński
wirft Wałesa vor, nach 1989 die Zerschlagung alter kommunistischer Seilschaften verhindert zu haben, indem
er seine Machtbasis nicht mit Hilfe
von Solidarność-Gefährten, sondern
mit Unterstützung alter Kader gesichert habe. Der Präsidentschaftswahlkampf 1995 zwischen Wałęsa und
dem Chef der Postkommunisten,
Aleksander Kwaśniewski, sei nichts
anderes als eine Auseinandersetzung
zwischen zwei Elementen desselben
alten Systems gewesen, dem Parteiapparat und dem Geheimdienst.
Nach Ansicht des Staatspräsidenten sind alte Seilschaften auch eine
Belastung für Polens diplomatischen
Dienst. Die große Mehrzahl der Beamten des Außenministeriums seien
loyale Mitarbeiter der Exaußenminister Bronisław Geremek und Krzysztof
Skubiszewski, zum Teil gewiss hervorragende Diplomaten, jedoch mit
problematischen außenpolitischen
Ansichten. So trete die Geremek-Fraktion für eine tiefgehende europäische
Integration ein, die die Souveränität
des polnischen Staates in Frage stelle.
Er, Kaczyński, halte eine solche Haltung für völlig falsch.
Die ganze Diskussion hat in den
vergangenen Monaten zu einem starken Ansehensverlust des Präsidenten
und des Premierministers in Polen
geführt. Nach Ansicht der Redakteure der angesehenen Wochenzeitung
Polityka, Mariusz Janicki und Wiesław
Władyka (17. März 2007), hat kaum
eine Regierung zuvor ihre Machtbasis
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so sehr auf gesellschaftliche Konfrontation aufgebaut wie die Kaczyńskis.
Nach 1989 sei sich die polnische Gesellschaft trotz aller Spaltungen über
die Grundzüge der demokratischen
und marktwirtschaftlichen Reformen
sowie der Außenpolitik einig gewesen. Heute sei dieser Konsens zerstört. In derselben Warschauer Zeitschrift kritisieren die angesehenen
Soziologen und Publizisten Sergusz
Kowalski, Nina Kraśko und Jan
Wołenski in einem gemeinsamen Text
Kaczyńskis Geschichtsinterpretation
scharf (31. März 2007). Die Vorwürfe
der Kaczyński-Anhänger, Wałesa oder
Geremek hätten die Solidarność-Ideale am Runden Tisch verraten, seien
absurd, die Ergebnisse der Wende
sprächen eine andere Sprache. Damals habe eine politische Kultur die
Politik bestimmt, die vor allem durch
einen Kompromiss kluger politischer
Eliten geprägt gewesen sei.
Die kritische Haltung der Polityka
oder von Adam Michniks Gazeta Wyborcza gegenüber den Kaczyńskis
überrascht kaum, denn beide Blätter
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stehen der von der Regierungskoalition durchgesetzten Verschärfung des
Durchleuchtungsgesetzes grundsätzlich kritisch gegenüber. Seit Mitte
März dieses Jahres müssen nicht nur
alle Staatsbeamten und Sicherheitsdienstmitarbeiter,
Das Projekt „moralische
sondern auch alle
Erneuerung“ soll dem Aufbau Hochschulangestellten sowie Joureiner unbelasteten Vierten
Republik dienen.
nalisten in einer
„Lustrationserklärung“ mitteilen, ob
sie zu Zeiten des Kommunismus mit
der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. Das Lustrationsgesetz ist
neben der Einführung einer Zentralen Behörde zum Kampf gegen die
Korruption das zweite wichtige Element der „moralischen Erneuerung“,
dem Aufbau einer unbelasteten Vierten Republik.
Nun ist die Idee des Aufbaus einer
Vierten Republik durchaus keine spezifische Obsession der Kaczyńskis.
Auch unter den ehemaligen Solidarność-Eliten herrscht Konsens darüber, dass man nach 1989 die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit vernachlässigt
und dass die Korruption die Autorität
des Staates untergraben habe. Der
Machtmissbrauch durch postkommunistische Kader unter der Regierung
von Leszek Miller hatte in weiten Teilen des liberalen und konservativen
Lagers den Wunsch geweckt, den
EU-Beitritt als Chance zu einer Erneuerung des Staates zu nutzen.
Streit herrscht indes weiterhin über
den Umgang mit dem Erbe der kommunistischen Herrschaft, über die
Bewertung des Runden Tisches und
schließlich über die Ausgestaltung
der neuen Republik.
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Anhänger und Gegner des neuen
Durchleuchtungsgesetzes kamen in
einem Redaktionsgespräch der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita zu Wort, das in der Ausgabe vom
17./18. März 2007 dokumentiert ist.
Nach Ansicht des Rundfunkjournalisten Krzysztof Skowroński stärkt die
Überprüfung der Journalisten die
Glaubwürdigkeit der Medien und
damit die Demokratie. Wprost-Chef
Stanisław Janecki kritisiert die Initiative einiger Kollegen, die Durchleuchtung zu boykottieren, da ein solches
Verhalten dazu beitragen könne, die
Gesellschaft zu demoralisieren. Der
prominente Fernsehjournalist Tomasz
Lis hingegen bezeichnet die Lustrationsgesetzgebung als moralische Erpressung der Bürger durch den Staat.
Sogar diejenigen, die sich nichts vorzuwerfen hätten, würden unter Druck
gesetzt, da sie befürchten müssten,
dass sich belastendes Material in den
Stasi-Archiven finden könnte.
Die Mehrheit der Journalisten äußert sich kritisch über die Aussagekraft der Stasi-Akten und befürchtet,
dass die Mitarbeiter des Instituts für
Nationales Gedenken mit der Interpretation der Unterlagen überfordert
sein könnten. „Wir wissen“, schreibt
die Polityka (31. März 2007), „wie
kompliziert das Leben vor 1989 war.
Um die Stasi-Akten richtig bewerten
zu können, müssen wir den Kontext
von Entscheidungen einzelner Menschen kennen, ihr tatsächliches Verhalten, den Inhalt und die Folgen der
Zusammenarbeit mit der Stasi“.
Für ein Ersatzthema hält Andrzej
Skworz, Chefredakteur der Fachzeitschrift Press, die Lustration (zitiert in:
Die Welt, 13. Februar 2007). Es sei
leichter, Akten zu überprüfen als die
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Wirtschaftslage zu verbessern, denn
von letzterem hätten die Kaczyńskis
leider überhaupt keine Ahnung.
Ähnlich wie Skworz argumentiert
der Schriftsteller Andrzej Stasiuk im
Interview mit der Tageszeitung Die
Welt (14. März 2007): „Diese Aufklärung hätte schon vor zehn Jahren
stattfinden müssen, die Kommunisten
hätten ausgeschaltet werden müssen.
(…) Die heutige Aufarbeitung der
polnischen Stasi-Vergangenheit jedenfalls ist, so scheint mir, nur ein Mittel
zur Eroberung und Erhaltung der
Macht. Große Talente, Persönlichkeiten mit Profil gibt es in der regierenden Mannschaft nicht. Vielleicht zieht
sie es deshalb vor, fremde Verfehlungen anzuprangern, statt die eigenen
Verdienste herauszustellen. Aber diese
Mannschaft wird eines Tages wieder
abgewählt werden, basta. Man kann
nicht endlos von negativen Emotionen profitieren. Positive Emotionen
zu wecken, dazu sind die Kaczyńskis
nicht in der Lage.“
Zunehmend wenden sich auch
Kaczyński-Anhänger wie der prominente Publizist Rafał Ziemkiewicz
oder die renommierte Soziologin Jadwiga Staniszkis von der Politik der
Regierung ab. Beide haben ihre massive Kritik an den Kompromissen des
Runden Tisches, an der Politik
Wałęsas oder der Rolle der Gazeta
Wyborcza nach 1989 nicht revidiert,
zeigen sich jedoch enttäuscht über
den Politikstil der PiS. Repräsentativ
für die Enttäuschung der Anhänger
der Vierten Republik ist ein Interview
der Zeitung Rzeczpospolita mit Jadwiga Staniszkis (10./11. März 2007).
Darin kritisiert sie die Führungsquali-
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täten von Premierminister Jarosław
Kaczyński. Seine Fähigkeiten würden
in einem beschleunigten Tempo abnehmen, seine Zeit als politischer Leader neige sich dem Ende zu, weil ihm
die Fähigkeit fehle, Entscheidungen
zu treffen, Risiken einzugehen und
Koalitionen aufzulösen. Er handele in
einem beschränkten Zeithorizont und
habe keinen klaren Kurs.
Interessant ist, dass sich Staniszkis
in dem Rzeczpospolita-Interview für
die Auflösung der jetzigen Koalition
zugunsten eines Bündnisses mit Donald Tusks Bürgerplattform ausspricht. Nur eine solche Regierung
könne wichtige Reformen wie die des
Gesundheitswesens oder des Ren- Eine Koalition der Kaczyńskis
tensystems anpa- mit den Nationalisten aus der
cken. Eine Koaliti- Liga der Polnischen Familien
on der Kaczyńskis führe zur Isolation Polens
mit den Nationa- in Europa.
listen aus der Liga
der Polnischen Familien führe dagegen zur Isolation Polens in Europa.
Die Marginalisierung des Landes sei
im Interesse von Russlands Staatspräsident Putin. Antisemitische Äußerungen von Maciej Giertych im Europäischen Parlament würden westeuropäischen Politikern die Chance
geben, Polen auf Distanz zu halten.
Zurück zu Władysław Bartoszewski. Sein trockener Humor und
sein Optimismus sind mittlerweile legendär. Dem Spiegel gestand er kurz
vor seinem Geburtstag: „Ich bin fast
85 Jahre alt, die Regierung ist aber
höchstens noch zwei Jahre und sieben
Monate im Amt. Ich bin aber sicher,
dass ich – so Gott will – unter einer
anderen Regierung sterben werde.“
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