Update sexueller Missbrauch (Herrmann)

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Update sexueller Missbrauch (Herrmann)
Diagnostik von sexuellem
Kindesmissbrauch
– ein Update
Bernd Herrmann
Ärztliche Kinderschutzambulanz
Klinikum Kassel
Nach wie vor gilt die
Problematik der Diagnose:
Es gibt kein spezifisches,
charakteristisches oder eindeutiges
Missbrauchssymptom oder –syndrom
und nur selten einige stark hinweisende
und noch seltener beweisende Befunde.
Verhalten
Medizin
Medizinische Beobachtung
Befunde
Diagnostik
Beweismittel,
Zeugen
Aussage
des
Kindes
Penible
Polizei
Dokumentation !
Ermittlung
Anamnese
Aufdeckungsgespräche
Hilfsmittel
Puppen, Bilder u.a.
Glaubwürdigkeit
kindlicher
Aussagen?
Sjöberg 2002, Am J Psychiatry
•
•
•
•
Befragung von 10 Opfern eines Täters (Alters-ø: 6,9 Jahre)
Missbrauch dokumentiert: 4700 Fotos und 800 Filme!
Keine undokumentierte sexuelle Handlung angegeben
Mehrzahl der Handlungen nicht angegeben oder minimiert
Besonderheiten medizinischer
Befunderhebung
Die Mehrheit der Opfer
sexuellen Kindesmissbrauchs
haben körperliche Normalbefunde
“It´s normal to be normal”
Adams 1994
Trend:
Häufigkeit von Normalbefunden hoch!

Bowen 1999
95% Normal- oder unspezifisch
(n = 393)

Heger 2002
96 (-92) % Normal- oder unspezifisch
(n = 2384)

Berenson 2000
(n = 192)

Kelly 2006
(n = 2134)
98% Bei digitaler oder peniler Penetration
2% diagnostisch
90% Normal- oder unspezifisch
5% diagnostisch
Generelle Trends

Restriktive(re) Bewertung von Befunden fortgesetzt:
Adams Klassifikation 2005, AAP Guidelines 2005




Weite des Introitus „out“, Hymenalsaum< 1mm „out“
Posteriore Kerben im Hymen nicht immer diagnostisch!!!
Einschätzung Heilungsverläufe akuter Verletzungen durch
große Multicenterstudien bestätigt: McCann 2007, Heger 2003
STDs selten diagnostisch bedeutsam, dennoch:
Komplexe Materie, differenzierte Betrachtung; Rolle der NAATs?
Trends
Enorme Bedeutung der multiprofessionellen
Kooperation, Betreuung und Kommunikation bestätigt
 Begrenzter Stellenwert medizinischer Diagnostik zur
Diagnosefindung („Virgo intacta“, „bloody sheet“,..)
 Dennoch große Bedeutung einzelner Befunde und
Wichtigkeit schonender und qualifizierter medizinischer
Untersuchung für das Körperselbstbild der Opfer

Bekannt: Hymen Typologie
semilunär
Berenson 1992
anulär
östrogenisiert
Hymen altus
Bekannt: Hymen Entwicklung
Neonatal
wulstig
Anulär
östrogenisiert
Östrogenverlauf
Transitionell
Semilunär
Pubertär
wulstig
östrogenisiert
Bekannt: Normvarianten
Linea vestibularis
Vorwölbung
„projection“
Periurethrale/perivestibuläre Bänder
„Mound“, Wulst
Berenson 1992
Bekannt: Untersuchungstechniken
„Frog leg position“
Separation
Knie-Brust-Lage
Trend: signifikante Befunde
erfordern Bestätigung in allen
Untersuchungspositionen !
Labiale Traktion
Adams 2005
Trend: Multimethodenansatz
bei Untersuchung deutlich überlegen
Signifikante Befunde
Präpubertär
Pubertär
20 %
24%
60 %
65%
100 %
90%
Separation
Labiale Traktion
Knie-Brust-Lage
Boyle 2008
Bekannt: Relevanz korrekter
Untersuchungstechniken
1 Woche Abstand !!!
Traktion
(Tag 3)
Separation
(Tag 10)
Traktion
Knie-Brust-Lage
(Tag 10)
(Tag 10)
Bekannt:
Stellenwert Kolposkop







Abstand
Vergrößerung, Lichtquelle &
gerichtsrelevante Dokumentation
Vermeidet Zweituntersuchungen
Zweite Meinung, Peer review
Lehre, Ausbildung, Forschung
Trefferquote leicht erhöht
Neu/Trend: International Standard;
Qualitätsmerkmal der Untersuchungsgüte
und Nachvollziehbarkeit der Befunde
Adams 2005, McCann 2007, Herrmann 2008
Dokumentation
konventionell vs. kolposkopisch
Kolposkopie
Erhöht Sicherheit der
Beurteilung, Befunde
nachvollziehbar und
überprüfbar!
Neu/Trend:
Digitale Dokumentationssysteme *
* hier: Leisecap, Fa. Leisegang
Mythos
Hymen
??
„Virgo intacta“
versus
„Bloody Sheet Konzept“
Normalbefund bei 13-jähriger Schwangerer!
Nur 2 von 36 schwangeren
Adoleszenten hatten Evidenz
einer Penetration –
der Rest: Virgo intacta !?!
Terminologisch
ungeeignet !
Kellog ND (2004) Genital anatomy in pregnant adolescents:
"Normal" does not mean "Nothing happened". Pediatrics 113: e67
Biggs M (1998): nur 9% bei Vergewaltigung erstmals penetrierter erwachsener Virgines wiesen
Penetrationsverletzungen auf
DuMont (2007): WHO Metaanalyse – kein ano-genitales Trauma in 33-91%, kein Spermanachweis
in 41-99%
Bekannt und neu:
Forensische Befunde

Daumenregel 72 h für Erwachsene /Adoleszente

Für präpubertäre Kinder nicht übertragbar

Empfehlung bis 24 Stunden

Christian 2000: n=273: nach 9 Stunden kein Spermanachweis,
90% aller Befunde < 24h, 64% aller Befunde auf Kleidung/Bettwäsche, nach 24h Befunde nur noch auf Kleidung/Bettwäsche
Young KL (2006) Arch Ped Adolesc Med 160:585-588
Palusci VJ (2006) Child Abuse Negl 30:367-380
Alte Klassifikation
medizinischer Befunde nach Adams
1. Normal, Normvarianten
Normal findings or unrelated to abuse
2. Unspezifisch
Non-specific findings
3. Verdächtig
Concerning for abuse
4. Beweisend
Clear evidence of blunt force or penetrating trauma
Adams 2001
Neu: Revision 2005

Adams Klassifikationsschema von 2001 als
Konsensuspapier revidiert

Dreistufiges Schema mit Unterteilungen:
  - Befunde bei Neugeborenen oder nichtmissbrauchten Kindern
  - Unbestimmte Befunde oder widersprüchliche Daten
  - Diagnostische Befunde für Trauma bzw. sexuellen Kontakt
Adams (2005): APSAC Advisor 17-3 7-13
Übersetzung und Kommentar unter: kindesmisshandlung.de
Neu: Revision 2005
Keine Inkludierung anamnestischer Angaben
 Befundbewertung noch restriktiver gefasst
 Hymenalkerben neu bewertet!
 Klasse 3 Befunde erfordern Bestätigung in allen
Untersuchungspositionen, fotografische
Dokumentation und Befunddiskussion mit
erfahrenem zweiten Untersucher

Adams (2005): APSAC Advisor 17: 7-13
Übersetzung und Kommentar unter: kindesmisshandlung.de
Akuter Befund (Adoleszente):
Hymenaleinriss
Nach 7 Mon: Kondylome
nach 4 Std
13 Jahre, akute Vergewaltigung
durch Fremdtäter
F.Navratil, Zürich
Studien zu akuten anogenitalen
Verletzungen & Heilungsverläufen:




Finkel 1989 n=31
McCann 1992: n=3
Heppenstall-Heger 2003 n=94
McCann 2007 n=239
„Nahezu alle nichthymenalen und die überwiegende Mehrzahl
hymenaler Verletzungen heilen rasch und meist vollständig.
Der zeitliche Verlauf hängt von Art, Schwere und Lokalisation
der Verletzung ab.“
Multicenterstudie
McCann et al. 2007
239 Akute Verläufe 0,3 – 18 J.;
47% präpubertär, 53% Adoleszente
Follow-up präpubertär ø 10 Mon., Adoleszente ø 2 Mon.
70% <24h, knapp 90% <48h untersucht, max. 72h
 Petechien präpubertär <48, pubertär < 72h resorbiert
 Abrasionen, Mucosablutungen <3-4 Tage geheilt
 „Blutblasen“ bis max. 34 Tg. nachgewiesen
 75% der präpubertären, knapp 90% der pubertären
Hymenaleinrisse heilten ad integrum
 Nur in 18/239 (7%) Narbenbildung erfolgt
Bekannt: Nomenklatur von
Hymenalunterbrechungen
Partielle, tiefe
V-förmige
Kerbe
Partielle
U-förmige
Kerbe
Komplette
Kerbe
(Transection)
Akute Verletzung des Hymens
Heilungsverlauf

9 Jahre; Penetration 3 Tage vor erster
Untersuchung; Verlauf bis Tag 18
Adams
McCann 1999
Adams
12490056
„Alles Kerbe, oder was?“
Neu: Kerbentiefe Signifikanz-Kriterien
100%
………………
Adams 
Adams
Adams pubert.
Adams
Adams präpubert.
Das heißt: oberflächliche Kerben ≤ 50% sind insignifikant,
auch tiefe Kerben nicht diagnostisch, selbst vollständige
Kerben bei Adoleszenten nicht beweisend (aber hochverdächtig)
100%
100%
50%
Basis
Trend: STDs
STDs generell
Prävalenz gering, Screening nur bei Symptomatik
Differenzierte Betrachtung der NAAT; Akzeptanz tendenziell ( )
Kondylome/HPV
Nachweis auch bei nicht-missbrauchten, asymptomatischen
Kindern; vertikale Transmission selten;
Zurückhaltendere Interpretation als missbrauchsbedingt!
HSV
Datenlage für Assoziation mit SKM dürftig
Screening nicht empfohlen
HIV
Guidelines nichtberufliche HIV-PEP: Fall-zu-Fall-Entscheidung;
restriktiver Einsatz; in der Praxis nicht weit verbreitet
Kondylome
Fazit




Normalbefunde häufig, diagnostische selten
Heilung anogenitaler Verletzungen schnell,
oft vollständig und spurenlos
Geschlechtskrankheiten als Folge selten,
differenzierte Betrachtung erforderlich
Normvarianten, akzidentelle Verletzungen und
andere Differentialdiagnosen ausschließen
Das Fehlen körperlicher Befunde schließt
sexuellen Missbrauch nie aus !
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zu medizinischer Diagnostik
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Literatur
AAP (American Academy of Pediatrics) (2005) Kellogg N and the Committee on Child Abuse and
Neglect The evaluation of sexual abuse in children: American Academy of Pediatrics Clinical
Report. Pediatrics; 116:506-512.
Adams JA (2005) Approach to the interpretation of medical and laboratory findings in suspected
child sexual abuse: a 2005 revision. APSAC Advisor 17(3): 7-13
Kommentierte Übersetzung:
Herrmann B (2006) Interpretationshilfe medizinischer Befunde bei Verdacht auf sexuellen
Kindesmissbrauch. Informationsdienst der DGgKV 2/2006:10-19 – Online unter
www.kindesmisshandlung.de
Adams JA, Harper K, Knudson S, Revilla J (1994) Examination findings in legally confirmed child
sexual abuse: it´s normal to be normal. Pediatrics 94: 310-317
Berenson A, Chacko M, Wiemann C, et al. (2000) A case-control study of anatomic changes
resulting from sexual abuse. Am J Obstet Gynecol 182: 820-824
Biggs M, Stermac LE, Divinsky M (1998) Genital injuries following sexual assault of women with
and without prior sexual intercourse experience. CMAJ 159:33–37
Bowen K, Aldous MB (1999) Medical evaluation of sexual abuse in children without disclosed or
witnessed abuse. Arch Pediatr Adolesc Med; 153:1160-1164.
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the evaluation of prepubertal and pubertal female genitalia:A descriptive study. Child Abuse &
Neglect 32:229–243
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in prepubertal victims of sexual assault. Pediatrics 106: 100-104
Du Mont J, White D (2007) Uses and impacts of medico-legal evidence in sexual assault cases:
A global review. Geneva: World Health Organization
Finkel MA (1989) Anogenital trauma in sexually abused children. Pediatrics 84: 317-322
Heger A, Ticson L, Velasquez O, Bernier R (2002). Children referred for possible sexual abuse:
Medical findings in 2384 children. Child Abuse Negl;26:645-659.
(Heppenstall-) Heger A, McConnell G, Ticson L, et al. (2003) Healing patterns in anogenital
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genital surgery in the preadolescent child. Pediatrics;112:829-837.
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Diagnostik, Intervention und rechtliche Grundlagen. Springer Verlag Heidelberg, Berlin, New
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McCann J, Miyamoto S, Boyle C, Rogers K (2007) Healing of Hymenal Injuries in Prepubertal
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www.pediatrics.org/cgi/content/full/119/5/e1094
McCann J, Miyamoto S, Boyle C, Rogers K (2007) Healing of Nonhymenal Genital Injuries in
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Sjöberg RL, Lindblad F (2002) Limited Disclosure of Sexual Abuse in Children Whose
Experiences Were Documented by Videotape. Am J Psychiatry 159:312–314
Young KL, Jones JG, Worthington T, Simpson P, Casey PH (2006). Forensic laboratory
evidence in sexually abused children and adolescents. Arch Pediatr Adolesc Med:160:585-588.
DGgKV
Deutsche Gesellschaft gegen
Kindesmisshandlung und -vernachlässigung
7. Internationale
Kasseler Fortbildung
zu medizinischer Diagnostik
bei Kindesmisshandlung
13.-14.März 2009
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