Zur Arbeit - Christoph Martens
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Zur Arbeit - Christoph Martens
UNFEHLBARKEIT TROTZ WERTEWANDELS Ist die Einstellung der Kirche zur Homosexualität noch zeitgemäß? Julius-Motteler-Gymnasium Schuljahr 2013/14 Fach Ethik Christoph Martens Klasse 10c Inhaltsverzeichnis 1. Homosexualität in der heutigen Zeit ................................................................................................... 2 1.1 Wandel im Umgang mit Homosexuellen ...................................................................................... 2 1.2 Das „Outing“ als tiefgreifende Änderung ..................................................................................... 3 1.3 Probleme im Miteinander .............................................................................................................. 4 2. Die Kirche und ihre Vorstellung der Unfehlbarkeit ............................................................................ 6 2.1 Das katholische Unfehlbarkeitsdogma .......................................................................................... 6 2.1.1 Inhalt....................................................................................................................................... 6 2.1.2 Bedeutung bis heute ............................................................................................................... 7 2.2 Sieht sich die protestantische Kirche als unfehlbar? ..................................................................... 8 3. Positionen der Kirche zur Homosexualität ........................................................................................ 10 3.1 Aussagen der Bibel ...................................................................................................................... 10 3.2 Differenzierung zwischen Katholiken und Protestanten ............................................................. 11 3.2.1 Grundsätzliche Positionierung der katholischen Kirche....................................................... 11 3.2.2 Sichtweise der evangelischen Kirchen ................................................................................. 13 3.3 Umgang der Gläubigen mit Homosexualität im Alltag ............................................................... 14 3.3.1 Christliche Homosexuelle .................................................................................................... 14 3.3.2 Bedeutung des Glaubens für die Akzeptanz von Homosexuellen ........................................ 15 4. Perspektiven für ein gemeinsames Miteinander ................................................................................ 17 4.1 Schlussfolgerung: Inwieweit ist die Homosexualität in der Kirche bereits jetzt toleriert? ......... 17 4.2 Papst Franziskus: Ein neuer Hoffnungsträger? ........................................................................... 18 4.3 Ermöglicht die Bibel eine völlige Gleichstellung verschiedener Sexualitäten? .......................... 19 5. Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................................... 21 6. Literatur- und Quellenverzeichnis ..................................................................................................... 22 7. Selbstständigkeitserklärung ............................................................................................................... 23 1 1. Homosexualität in der heutigen Zeit 1.1 Wandel im Umgang mit Homosexuellen Die Homosexualität ist keineswegs ein Phänomen unserer heutigen, offenen Gesellschaft. Durch alle Epochen der Geschichte hinweg sind Fälle von gleichgeschlechtlicher Liebe überliefert. Seit dem Mittelalter wurden Homosexuelle jedoch bewusst ausgegrenzt und ihre Form der Sexualität unter Strafe gestellt. Darüber hinaus wurde die Homosexualität bekannter Herrscher und Staatsmänner vertuscht, wie dies beispielsweise im Fall des Bayernkönigs Ludwig II. der Fall war. Im Zuge des geistigen Fortschritts, beginnend mit der Aufklärung, suchte man nach Ursachen für dieses Phänomen. Über Jahrhunderte war die gängige Theorie, dass die Homosexualität eine geistige Störung sei. Als solche konnte man Homosexuelle weiter bekämpfen, zum Teil durch heute unsinnig anmutende Therapieversuche, größtenteils aber weiter durch Ausgrenzung. Bis 1969 stand die Homosexualität in Deutschland unter Strafe. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der 1960er/1970er Jahre versuchten nun auch die wegen ihrer Sexualität ausgegrenzten, verstärkt für ihre Rechte zu kämpfen. Es bildete sich eine weltweite Schwulenbewegung, die die Streichung ihrer Form der Liebe von der Liste der psychischen Störungen forderte. Eine in dieser Bewegung gängige Argumentation lautete sinngemäß: „Wenn […] so über Schwarze gesprochen würde wie über Homosexuelle“1, dann sei der Sinn der gesamten Bürgerrechtsbewegung in Frage zu stellen, denn mittlerweile waren in den USA Schwarze gesetzlich gleichgestellt worden. Seither setzte ein neues, fortschrittliches Denken gegenüber verschiedener Sexualität ein. Während die biologische Forschung die Ursache in einem Defekt der Geschlechtschromosome sieht, geht gerade die Ethik noch einen Schritt weiter. Man sieht Homosexualität mittlerweile als Teil der menschlichen Identität, nicht mehr als bloße Verhaltensstörung an. Über ein solches, aus ethischer Sicht, unabänderliches Merkmal an sich verbietet sich eine Diskussion. Eine Diskussion sollte lediglich zu der Frage geführt werden, inwiefern Homosexuelle mit Heterosexuellen gleichzustellen sind. Hier hat die Gesellschaft einen großen Fortschritt erzielt. Unter der sozialliberalen Koalition Willy Brandts wurde die Strafbarkeit der Homosexualität 1969 abgeschafft. Mit den „Outings“ 1 (Vonholdt, 2013) 2 prominenter Persönlichkeiten, insbesondere von Politikern wie Klaus Wowereit, Guido Westerwelle oder Ole von Beust stieg auch die Akzeptanz für homosexuelle Leistungsträger in unserer pluralistischen Gesellschaft. Während 2002 und 2006 die „Homo-Ehe“ sowie das Gleichbehandlungsgesetz beschlossen wurden, brauchte es zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 2013, um eine steuerliche Gleichstellung (Ehegattensplitting) und eine Gleichstellung im Adoptionsrecht zu schaffen. 1.2 Das „Outing“ als tiefgreifende Änderung Trotz aller erreichten Fortschritte haben insbesondere Jugendliche noch große Hemmungen davor, sich als Homosexuell zu „outen“. Einer Befragung der FRA aus dem Jahr 2013 zufolge hätten 68% der Homo- und Bisexuellen ihre sexuelle Orientierung während der Schulzeit versteckt. 2 Worin können die Ursachen dafür liegen? Von Kind an wird einem das heile Familienbild von Vater, Mutter und Kind suggeriert. Auch später, mit Beginn der Pubertät, ist die „erste Liebe“ verständlicherweise meist die zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Stellt der pubertierende Homosexuelle nun inmitten einer schon komplizierten Phase seines Lebens fest, dass er auf sein Geschlecht orientiert ist, stürzt dies viele in emotionale Schwierigkeiten. Die Folge ist, dass offensichtlich Homosexuelle eher zu Depressionen neigen, stellen sie doch fest, dass sie „anders“ sind als Gleichaltrige. Auch ohne die bewusste Ausgrenzung durch andere fühlen sie sich bereits ausgeschlossen. Hinzu kommen natürlich gesellschaftliche Begebenheiten, die nicht mal zwingend bewusst gegen Homosexualität gerichtet sein müssen, es einem Homosexuellen aber durchaus schwerer machen. Hierzu zählen Beleidigungen unter Heterosexuellen wie „Schwuchtel“ oder „Schwule Sau“ genauso wie die gerade unter Pubertierenden stark verbreitete Ansicht „Jungs sollen Jungs sein“, also möglichst männlich und kraftstrotzend. Natürlich gibt es auch Hindernisse, die bewusst gegen Homosexuelle gerichtet sind. So ist es erwiesen, dass es Schwule oder Lesben auf dem Land deutlich schwerer haben als in der Stadt. Das konservative Lebensbild, welches zur Verleugnung der sexuellen Orientierung bis ins Erwachsenenalter führt, steht hier im krassen Gegensatz zur eher linken oder liberalen Stadtbevölkerung, welche oftmals offener lebt oder eher Bereitschaft für neue oder andere 2 (Homosexualität in Deutschland, 2013) 3 Formen des Zusammenlebens zeigt. Auch ist in vielen Großstädten eine Schwulenszene bereits vorhanden, während auf dem Dorf der Homosexuelle mit seiner Lebensweise meist allein dasteht. Dieser Unterschied wird auch in Sachen Bildung deutlich. Als bislang einziges Land hat Berlin das Thema Homosexualität in den Grundschulunterricht aufgenommen. In anderen Bundesländern, wie hier in Sachsen, wird das Thema gar nicht, zu spät (Vorurteile sind in der neunten Klasse schon vorhanden) oder unzulänglich im Unterricht behandelt. Durch das Outing Klaus Wowereits hat sich Berlin noch einmal als am fortschrittlichsten in Deutschland erwiesen, denn ein Satz hilft mit Sicherheit vielen, gerade pubertierenden Homosexuellen: „Ich bin schwul und das ist auch gut so!“ 1.3 Probleme im Miteinander Eine von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) auf ihrer Homepage veröffentliche repräsentative Umfrage ergab, dass etwa die Hälfte der Deutschen Homosexualität in Teilen negativ gegenüberstehen.3 Stichproben mit psychologischen Verfahren ergaben sogar, dass unterbewusst eine weit größere Gruppe dazu negativ eingestellt ist, ihre Toleranz also nur unter gesellschaftlichem Druck zustande kommt. Hierfür werden von der bpb im Wesentlichen drei Ursachen genannt. Zunächst einmal die politische Orientierung. Das konservative Lebensbild, verkörpert durch die CDU/CSU, steht dem freien Lebensideal liberaler und linker Parteien gegenüber. Derzeit gibt es eine in unserer Gesellschaft wahrnehmbare, beinahe biedere Strömung hin zum Konservativen, da es Deutschland vergleichsweise sehr gut geht und dieser Wohlstand nach Ansicht vieler durch die Unionsparteien geschaffen wurde. Auch sind die beiden Schwesterparteien die einzigen, die sich schwertun, Homosexuelle rechtlich völlig gleich zu stellen. Gesetze wie die Abschaffung der Strafbarkeit oder die Einführung der „Homo-Ehe“ wurden stets von Koalitionen jenseits der Union verabschiedet, also SPD-FDP (1969) und SPD-Grüne (2002). Der zweite, beinahe noch wichtigere Punkt, ist der Kontakt zu Homosexuellen. Generell haben diejenigen Befragten mehr Verständnis und Toleranz für sexuelle Minderheiten, die diese in 3 (Steffens, 2013) 4 ihrem unmittelbaren Umfeld haben. Ist dies nicht der Fall, wird die Homosexualität nur als Abweichung von der Normalität aus der Distanz betrachtet und somit kritisch gesehen. Der letzte Punkt ist die Religiosität. Religiöse Menschen, egal ob Christen oder Muslime, zeigten sich oftmals weniger tolerant. Worin dies jedoch begründet ist, dem möchte ich in den folgenden Kapiteln auf den Grund gehen. 5 2. Die Kirche und ihre Vorstellung der Unfehlbarkeit 2.1 Das katholische Unfehlbarkeitsdogma 2.1.1 Inhalt Inerrantia et Indefectibilitas, Unfehlbarkeit und Irrtumsfreiheit, sind seit jeher Bestandteil des christlichen Glaubens. Zunächst sah man diese jedoch nur bei Gott und den Evangelien, das Wort Gottes war Gesetz, er als über allem stehende Institution konnte sich, nach kirchlicher Ansicht, nicht irren. Diese Denkweise ist in vielen Religionen üblich, braucht man doch ein festes Fundament, auf welches man sich stützen kann. Seit dem Mittelalter wurde die Unfehlbarkeit Gottes zunehmend auf die Kirche als Ganzes übertragen. Da Päpste immer mehr weltliche Machtansprüche erheben, bilden sich ernstzunehmende Widerstände innerhalb der Kirche, die schließlich im 16. Jahrhundert in der Reformation gipfelten. Rom als ehemaliges Zentrum des Abendlandes stand nun „in permanenter Konkurrenz zu Wittenberg und Genf, Zürich und Canterbury.“4 Viele katholische Kleriker suchten im Gegensatz dazu nach einem festen Punkt, um sich von diesen protestantischen Strömungen distanzieren zu können. Es wurde innerhalb der katholischen Kirche als notwendig angesehen, die päpstliche Autorität zu stärken. Zusätzlich änderte sich die weltliche Gesellschaft im Zuge der Aufklärung. Gerade seit der Französischen Revolution suchten viele Konservative nach Ordnung und Sittlichkeit. Als letzter Garant wird auch hier der Papst gesehen. Dies alles passte ganz in die „Pianische Epoche“, einer Reihe von Päpsten im 19./20. Jahrhundert, welche sich die Wahrung kirchlicher Traditionen als oberstes Ziel gesetzt hatte. Papst Pius IX. (1846-1878) kann als durchweg konservativ, sogar reaktionär, bezeichnet werden. Er kritisierte die „Irrtümer“ der Moderne und polemisierte gegen die Wissenschaft. Jedoch gab es damals in der katholischen Kirche einen Konflikt zwischen liberalen Katholiken und eben jenen reaktionären, welche auch als Ultramontane bezeichnet werden. Zur Lösung dieses Konfliktes berief Papst Pius IX. 1867 das sogenannte 1. Vatikanische Konzil ein. Was dieses Konzil am 18.07.1871 verabschiedet, ist die Niederschrift dessen, was sich in der katholischen Kirche seit Jahrhunderten herausgebildet hatte. Es heißt: 4 (Graf, An Gottes Stelle, 2012) 6 „Wenn der Römische Papst in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, […] eine Lehre über Glauben oder Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, so genießt er Kraft des göttlichen Beistandes […] jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehre ausgerüstet haben wollte.“5 Der Papst ist also unfehlbar und er allein besitzt diese Irrtumsfreiheit. Wer sie nicht anerkenne, so heißt es weiter, sei exkommuniziert. 2.1.2 Bedeutung bis heute Mit seiner Unfehlbarkeit darf der Vatikan nun bindende Entscheidungen treffen, welche auch die Sitten, also die Lebensführung betreffen. Ein gläubiger Katholik muss sich nicht mehr seinem Glauben, sondern einer einzigen Person in Glaubens- und Sittenfragen unterordnen. Durch diese Bevormundung besitzen die Stellvertreter Gottes ein ungeheuerliches Machtpotential gegenüber allen Katholiken, denn als gläubiger Mensch möchte man schließlich nicht aus der Kirche ausgeschlossen werden. Die Glaubensfreiheit des Einzelnen wird abgelehnt zugunsten der päpstlichen Autorität, der Gläubige darf Gott nicht auf seine Weise näherkommen, sondern nur durch den Weg, den Rom vorgibt. Insofern lässt sich von einer Untergrabung der Würde des einzelnen Gläubigen sprechen. Was aber noch unglaublicher erscheint, ist die Begründung der päpstlichen Unfehlbarkeit: Sie kommt nicht etwa daher, dass die Kirche selbst unfehlbar sei, sondern sie wird mit dem Amtscharisma des Papstes begründet. Nicht der Glaube steht von nun an an erster Stelle, sondern der Papst, dem man bedingungslos zu folgen hat. Inwieweit dies noch im Sinne des ursprünglichen Christentums ist, darf bezweifelt werden. Ganz abgesehen davon ist dieses Dogma natürlich wider der menschlichen Vernunft. Hatten die Aufklärer doch in den Jahrhunderten zuvor erwiesen, dass niemand unfehlbar sei, dass der Mensch eigenständig handeln solle (Kant: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!), verschließt sich die katholischen Kirche diesem Wandel. 5 (Graf, An Gottes Stelle, 2012) 7 Der 1988 verstorbene Kardinal Hans Urs von Balthasar spricht daher in Bezug auf das 1. Vatikanische Konzil davon, dass es für die katholische Kirche eine „ausweglose Sackgasse“6 gewesen sei. Denn diese hat sich endgültig als Gegeninstanz zu den Werten der Aufklärung profiliert, welche in der menschlichen Vernunft begründet sind. Damit hat man sich den Weg zu jedem Fortschritt zunächst einmal verbaut. 2.2 Sieht sich die protestantische Kirche als unfehlbar? Der Protestantismus ist ein nur schwer einzugrenzender Begriff für eine Reihe kirchlicher Strömungen, die sich in der Reformationszeit (16. Jahrhundert) aus unterschiedlichen Gründen gegen die katholische Übermacht gewandt haben. Seit dem 17./18. Jahrhundert gibt es ein Bestreben, „den“ Protestantismus, das heißt „den“ protestantischen Glauben, zu finden. Eine Definition einer protestantischen Identität ist also vonnöten. Doch dieses Zusammenwachsen einzelner Glaubensrichtungen ist nicht zwingend durch Toleranz und Akzeptanz erreichbar, behaupten zumindest einzelne Protestanten. Der 1926 – 1984 lebende französische Philosoph Michel Foucault spricht sogar davon, dass sich ein protestantisches Gemeinschaftsbewusstsein nur durch „immer neu zu vollziehende Ausschließungsprozeduren stabilisieren“7 kann. Im 19. Jahrhundert aufkommende Judenkritik sowie der vom protestantischen Preußen zeitweise betriebene Kulturkampf sind Belege dafür, dass genau dieses Denken schon in den Jahrhunderten zuvor wichtig für das Gemeinschaftsbewusstsein waren. Doch das Wesen des Protestantismus ist deutlich weitreichender und der von Goethe geprägte Begriff der „Weltfrömmigkeit“ beschreibt es treffend. Die ideale Lebensführung liegt im religiösen Verpflichtungscharakter des Einzelnen. Im Unterschied zum Katholizismus gibt es keine Institution, die das Leben eines Gläubigen bis in alle Einzelheiten bestimmen will, vielmehr ist die Frömigkeit des Protestanten selbst gefragt. Er ist befreit von kirchlicher Fremdbestimmung und verpflichtet sich selbst zu einem religiösen Leben, frei nach seiner Interpretation dieses Begriffs. So ist für den Protestantimus entscheidend, die Unterschiede zwischen Klerikern und Gläubigen aufzuheben, ein „Priestertum aller Gläubigen“8 zu schaffen. Die Folge sind eine aktive Weltgestaltung und Beteiligung des Einzelnen, der Protestant ist deutlich leistungs- und aufstiegsorientierter als andere Gläubige, allen voran die Katholiken. 6 (Denzler, 1997) (Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart., 2006) 8 (Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart., 2006) 7 8 Ein Beleg hierfür ist die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Englische Pilger, Puritaner (also „Protestanten“), kamen im 17. Jahrhundert auf den neu entdeckten Kontinent, um hier frei zu leben. Ihr Glaube gab ihnen eine solch große Motivation, dass sie bald den halben Kontinent bis zur Westküste hin besiedelt und sich vom Vereinigten Königreich abgespalten hatten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, also keine dreihundert Jahre nach der ersten Besiedlung, waren die USA das wirtschaftsstärkste Land der Welt. Auch anhand dieses Beispiels lässt sich schlussfolgern, dass sich der protestantische Glaube nicht für unfehlbar hält. Vielmehr darf der Einzelne ihn nach seiner Frömmigkeit interpretieren und sein Leben selbst gestalten. Der gläubige Protestant ist deshalb geprägt von starker Selbstdisziplinierung und einem Bewusstsein für seine Verantwortung. Dies alles ist die Ursache dafür, dass sich der Protestantismus, im Unterschied zum Katholizismus, nie von vornherein einem gesellschaftlichen Wandel verschließt und immer wieder offen für Veränderungen ist. 9 3. Positionen der Kirche zur Homosexualität 3.1 Aussagen der Bibel Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln erwähnt, geben viele Christen als Grund für ihre Abneigung gegen Homosexuelle ihren Glauben an. Das natürliche, von Gott erschaffene Bild sei Mann und Frau, alles andere komme nicht in Frage. Doch welche konkreten Belege gibt es hierfür in der Bibel? Schreibt die Bibel eine heterosexuelle Beziehung vor? Bei der Interpretation dieser muss berücksichtigt werden, dass die Bibel vor mindestens zweitausend Jahren geschrieben wurde. Das Werteverständnis war ein komplett anderes. Jedoch gab es in der damaligen römischen Gesellschaft die Praxis der sogenannten Knabenliebe. Die freien männlichen Einwohner der römischen Provinzen konnten hierbei den sexuellen Verkehr mit Sklavenjungen, sogenannten Lustknaben, ausüben, wenn sie dabei den aktiveren Teil des homosexuellen Aktes übernahmen. Die neu aufkommende, im Judentum ihren Ursprung habende, monotheistische Religion um Jesus Christus verurteilt die Praxis der Knabenliebe. Im Römerbrief heißt es dazu: „Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung.“ (Röm 1,25-27)9. Bei genauerer Betrachtung dieser Verszeilen fällt jedoch auf, dass die Homosexualität hierbei eine Folge der Ungläubigkeit und Blasphemie ist, nicht jedoch ein Beleg für selbige. Wer also nicht fromm an Gott glaube, sei zur Strafe homosexuell. Dass dies jedoch eine harte Strafe sei, beweist der Korintherbrief: „Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber weder das Reich Gottes erben.“ (1 Kor 6,9).10 Die Knabenliebe wird darin also gleichgestellt mit kriminellen Akten und dementsprechend verurteilt. In den Evangelien wird die Homosexualität kaum erwähnt. Dies bietet idealen Spielraum für Interpretationen, sowohl der liberaleren Christen, aber auch der konservativeren. So argumentiert die liberale Seite, dass die Nicht-Erwähnung die Irrelevanz der Homosexualität 9 (Homosexualität im Neuen Testament, 2013) (Homosexualität im Neuen Testament, 2013) 10 10 belegt. Zwar ist diese Form der Liebe und Zuneigung nicht ideal, aber eben auch nicht heilsrelevant. Im heutigen Sprachgebrauch kann man wohl von einer „Grauzone“ sprechen. Die heterosexuelle Ehe werde zwar gelobt und über alles gestellt, deshalb sei aber das Gegenteil nicht zwingend schlecht, man lehnt also die automatische Negierung ab. Genau entgegengesetzt argumentieren jetzt die Konservativen. Die Heterosexualität sei wertvoll, und dies impliziere eine Ablehnung der Homosexualität. Außerdem sei diese Ablehnung schon damals so selbstverständlich gewesen, dass die Verfasser der Evangelien und letztlich auch Jesus selbst keinerlei Anlass gehabt hätten, sich damit zu beschäftigen. Eine Differenzierung zwischen Altem und Neuem Testament ist dennoch möglich. Während nämlich das Alte Testament die Homosexualität als Verunreinigung eines Menschen ansieht, wird das Gefühl der Homosexualität im Neuen Testament tief im Inneren des Menschen, vielleicht sogar im Herzen, lokalisiert. Dies ist insoweit eine Radikalisierung, als dass aus dem Herzen andere, „böse“ Gefühle kommen wie Mord, Habgier, Diebstahl oder Unzucht. Die homosexuelle Praxis widerspricht also letztlich dem Willen Gottes. Doch ein wesentlicher Punkt wird an dieser Stelle meist vergessen: Das Liebesgebot Gottes gilt ausnahmslos und umfassend, es schließt also die homosexuelle Liebe an sich nicht aus, denn eine Liebesbeziehung wird in der Bibel nie thematisiert, es geht nur um „Handlungen“. Während die Bibel also den gleichgeschlechtlich sexuellen Kontakt ablehnt, schließt sie eine verantwortungsvolle, aufopfernde Beziehung zweier Männer oder zweier Frauen, die einander zugeneigt sind, nicht aus. 3.2 Differenzierung zwischen Katholiken und Protestanten 3.2.1 Grundsätzliche Positionierung der katholischen Kirche Die Haltung vieler katholischer Würdenträger gegenüber der Homosexualität basiert auf der Ansicht, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen veränderbar sei. Als Grundlage hierfür werden empirische Forschungen aus längst vergangenen Tagen angeführt, beispielsweise die des Anthropologen Joseph D. Unwin (1895 – 1936). Man argumentiert, dass diese und andere Studien nie widerlegt wurden und so Psychotherapeuten Homosexualität „heilen“ könnten. Die 11 seit 1973 von Forschern abgelehnte Aufführung der Homosexualität auf der Liste emotionaler Störungen ist für die katholische Kirche weiterhin Tatsache. Darauf baut ein Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre von 1986 auf, welches wesentliche Positionen der katholischen Kirche darlegt. So heißt es unter Punkt 7: „Deshalb handelt eine Person, die sich homosexuell verhält, unmoralisch.“11 Diese ja durchaus noch diskussionswürdige These wird ergänzt und erweitert durch zahlreiche Anschuldigungen und Unterstellungen gegenüber Homosexuellen. So seien diese von Selbstgefälligkeit geprägt und stünden der schöpferischen Weisheit Gottes entgegen. Jedoch wird in keiner einzigen Zeile erwähnt, warum ein Homosexueller pauschal als selbstgefällig bezeichnet wird. Die katholische Kirche beansprucht zudem in diesem Schreiben, die „Wahrheit über die menschliche Person“12 zu kennen, indem sie nämlich behauptet, Homosexuelle laufen dieser zuwider. Aus ethischer Sicht ist es mehr als fragwürdig, ob es überhaupt „die“ Wahrheit über „die“ menschliche Person gibt. Nun muss natürlich beachtet werden, dass seit 1986 eine Veränderung in unserer Gesellschaft dahingehend stattgefunden hat, dass Homosexualität mehr als toleriert, eher schon integriert wird (vgl.: 1.1 Wandel im Umgang mit Homosexuellen). Hat die katholische Kirche sich diesem vollständig verschlossen? Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man neuere Quellen heranzieht. Bereits im oben genannten Schreiben von 1986 heißt es, ein Dialogversuch sei der „Versuch der Manipulation der Kirche“13. Das unbegründete, sture Beharren auf uralten Dogmen wird in aktuelleren Äußerungen aufgegriffen und erweitert. So rät das Portal zur katholischen Geisteswelt auf seiner Webseite, die „klare Position […] weder durch den Druck staatlicher Gesetzgebung noch durch den gegenwärtigen Trend“14 aufzugeben. Man spricht sich also im Zweifelsfall gegen die alleinige Gesetzgebungsbefugnis eines Staates aus, wenn dieser beispielsweise Homo-Ehen legalisiert. In einer Verlautbarung der Glaubenskongregation von 2003 wird der katholische Parlamentarier dazu aufgerufen, jeglichen Gesetzentwurf „zu Gunsten der rechtlichen Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften“15 abzulehnen. Die katholische Kirche stellt sich also in jeglicher Hinsicht stur. Besonders haarsträubend erscheint dem objektiven Leser eine Formulierung, die aus dem Jahr 2009 stammt. Hierbei werden Schulen als „eine letzte heterosexuelle Bastion“16 bezeichnet. Die Aufklärung zum 11-16 (Die Haltung der Kirche zur Homosexualität, 2013) 12 Thema in der Schule wird von katholischer Seite demnach befürwortet, aber eben die Aufklärung aus einem anti-homosexuellen, fast homophoben Blickwinkel. Diese, wenngleich extremen, Äußerungen verdeutlichen, dass hier beinahe jedes Mittel im Kampf gegen die Homosexualität recht ist. Der Gipfel des Ganzen ist der Kommentar des Weihbischofs Andreas Laun aus dem Mai 2009. Er spricht vom Kampf um die Freiheit, wobei er die Freiheit für seine Seite beansprucht. Denn frei ist aus katholischer Sicht nicht, wer homosexuell ist, sondern derjenige, der von seiner Homosexualität „geheilt“, quasi „befreit“ ist. Widerspruch gegen die gewagte Behauptung, dass die sexuelle Orientierung geändert werden kann, duldet Laun nicht. Denn seine Widersacher wenden seiner Meinung nach „Methoden von Talibans“17 an. Auch diese These begründet Laun nicht, weshalb seine Äußerungen als undurchdachte Polemik eingeordnet werden können, die einen Dialog innerhalb der katholischen Kirche beinahe unmöglich macht. Doch ob diese überhaupt daran interessiert ist, darf begründeterweise bezweifelt werden. 3.2.2 Sichtweise der evangelischen Kirchen In den evangelischen Kirchen hat im Gegensatz zur katholischen Kirche seit Beginn der 1990er Jahre ein Umdenken stattgefunden. Die Diskussion zum Thema Homosexualität ist im vollen Gange, es treten unterschiedliche Interpretationen der Bibel auf, die zwischen der Einordnung als Sünde und der absoluten Gleichrangigkeit mit der heterosexuellen Ehe schwanken. Im Jahr 1996 gab der Rat der EKD die Schrift „Mit Spannungen leben“ heraus, die ein erstes Umdenken dokumentiert. Darin wird dazu aufgerufen, biblische Aussagen zum Thema (Homo) Sexualität noch einmal gründlich zu prüfen und die gleichgeschlechtliche Liebe nicht von vornherein zu verurteilen. Desweiteren empfiehlt die Schrift, „Spannungen nicht zu beseitigen, sondern auszuhalten“18. Gott sei barmherzig, auch gegenüber homosexuell veranlagten, und so sei Gottes Geleit und Beistand auch denjenigen Menschen garantiert, die sich nicht nach katholischer Lehre „heilen“ lassen wollen, sondern ihre Homosexualität offen leben. Jedoch wird zu diesem Zeitpunkt die seelische Begleitung sowie die Segnung von geistlichen Würdenträgern für Homosexuelle in der Öffentlichkeit, also vor allem bei öffentlichen Gottesdiensten, ausgeschlossen. Die Homosexualität wird also toleriert, aber vor einem offenem Umgang scheut die evangelische Kirche. 17 18 (Die Haltung der Kirche zur Homosexualität, 2013) (Homosexualität und Kirche, 2013) 13 Diese Position wird in dem Papier „Verlässlichkeit und Verantwortung“ aus dem Jahr 2000 unterstrichen. Eine verantwortungsvolle homosexuelle Beziehung wird befürwortet und soll unterstützt werden, da „die Lebensform der [klassischen] Ehe nicht gewählt werden kann“19. Diese Stärkung dürfe jedoch nicht auf Kosten der rechtlichen Stellung der Ehe geschehen. Zwar soll eine ethisch/moralisch und eine rechtlich/materielle Gleichstellung, wie etwa im Mietrecht, der bald darauf eingeführten eingetragenen Lebenspartnerschaft geschaffen werden, dagegen solle trotzdem keine Verwechselbarkeit mit der Ehe zwischen Mann und Frau entstehen. Die Diskussion innerhalb der evangelischen Kirchen ist damit keinesfalls abgeschlossen. Noch im Jahr 2002 sprach man sich für die geistliche Begleitung von Homosexuellen, zumindest im „geschützten“, also intimen, Raum aus. Daraufhin erklärten vier Gliedkirchen, unter anderem die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, dass sie diese Begleitung auch im offenen Raum, also während der Gottesdienste, durchführen wollen. Bis heute hat sich das Bild noch mehr gewandelt: Sogar die Segnung von Homosexuellen wird von neun Gliedkirchen öffentlich durchgeführt, immerhin fünf, darunter die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen, führen die Segnung im geschützten Raum durch. Eine kontroverse Diskussion findet zum Thema Adoptionsrecht von Homosexuellen statt. Zwar befürwortet die evangelische Kirche im Einzelfall die Stiefkindadoption eines homosexuellen, eingetragenen Lebenspartners, doch einer grundsätzlichen Öffnung des Adoptionsrechts steht man noch kritisch gegenüber. Man befürchtet, dass Homosexuelle über diese Stiefkindadoption auch Gemeinschaftsadoptionen durchführen können, und so das klassische Bild „Mutter-VaterKind“ faktisch nicht mehr existiere. So sprach man sich gegen das Adoptionsrecht für Homosexuelle aus. Das Bundesverfassungsgericht entschied jedoch, dass das allgemeine Adoptionsrecht auch für eingetragene Lebenspartnerschaften gälte. 3.3 Umgang der Gläubigen mit Homosexualität im Alltag 3.3.1 Christliche Homosexuelle Als in den letzten Jahren die Diskussion um die Position der Kirche zur Homosexualität zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geriet, wurden immer wieder Einzelfälle von 19 (Homosexualität und Kirche, 2013) 14 Christen, die sich offen zu ihrer sexuellen Orientierung bekannten, einbezogen. Die Kirche, egal welche, bemühte sich in diesen Einzelfällen immer um Zurückhaltung. Fakt ist jedoch: Es gibt trotz der teilweise kritischen Positionierung der Kirchenobersten durchaus homosexuelle Christen, und die jeweiligen Kirchen vor Ort stehen im Zweifelsfall ihren Gläubigen zur Seite, egal ob sie katholisch oder evangelisch, egal ob sie heterosexuell oder eben homosexuell sind. Und auch die Missbrauchsfälle in katholischen Internaten zeigen, dass Homosexualität unter geistlichen durchaus keine Einzelfälle sind, wenngleich diese Missbrauchsfälle kein Musterbeispiel für christliche Homosexuelle sein sollen. Der Pfarrer Donald Cozzens geht sogar davon aus, dass die Quote an Homosexuellen in der katholischen Kirche über dem Durchschnitt liegt. Dies mag vielleicht auch am Zölibat der katholischen Würdenträger liegen, die ja ein Leben lang den Frauen entsagen. Zudem bildeten sich eigene Kirchen für Homosexuelle. Ein Beispiel hierfür ist Metropolitan Community Church, die Troy Perry 1968 in Los Angeles gründete. Hier wird die gesamte Sexualmoral der bisherigen Kirchen angeprangert, egal ob Monogamie, Heterosexualität oder die Ablehnung von Abtreibung und Verhütung. Dies zeigt, dass viele Homosexuelle weiterhin gläubig sind und eben nicht, wie die katholische Kirche behauptet, ungläubig. Auch in Deutschland bildeten sich Verbände christlicher Homosexueller, die offen auf dem Christopher-Street-Day auftreten und sich für AIDS-Prävention einsetzen. Mittlerweile hat sich ein pluralistisches Bild herausgebildet, unabhängig von Sexualität und Religiösität. 3.3.2 Bedeutung des Glaubens für die Akzeptanz von Homosexuellen Die Feststellung, dass viele Gläubige anders als „ihre“ Kirche denken, wurde im Juni 2013 besonders deutlich. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hatte damals das Abrücken von der Ansicht, dass die heterosexuelle Ehe die alleinige Norm sei, gefordert. Viele Gläubige waren damals irritiert, hatte doch bis dahin die Kirche, wenn überhaupt, nur kleine, unbeholfene Schritte zur Integration Homosexueller getan. Die katholische Kirche überhaupt war entzürnt. Im Dezember 2013 veröffentlichte der Bund der Deutschen Katholischen Jugend das Ergebnis einer Umfrage unter 10.000 katholischen Jugendlichen, wonach die Sexualmoral ihrer Kirche, also die Ablehnung der Homosexualität, für sie unverständlich sei und daher für 90 % keine Rolle spiele. 15 Egal ob sich die Kirche abrupt öffnet oder dogmatisch verschließt – Die Gläubigen sind verwirrt und nehmen sich die Sexuallehre ihrer Kirche immer seltener an. Predigen die Kirchen also an ihren Anhängern vorbei? Bei meinen Recherchen sprach ich mit einigen gläubigen Jugendlichen, zwei evangelischen und einem katholischen. Alle drei versuchten mich unabhängig voneinander davon zu überzeugen, dass sie die Argumentation ihrer Kirche zwar teilweise nachvollziehen können, beim Thema Homosexualität haben sie sich jedoch jeder eine eigene Meinung gebildet. Diese ist teilweise ähnlich der ihrer eigenen Kirche, zum Großteil jedoch offener und toleranter. Viele Gläubige nehmen die Lebenswirklichkeit, nämlich dass sich die Gesellschaft den Homosexuellen immer mehr öffnet, wahr, und stellen sich nicht grundsätzlich dagegen. Sie urteilen über Menschen nicht nach ihrer Sexualität, sondern nach ihrem Verhalten. Was die Kirche vorgibt, ist für viele, besonders Katholiken, beim Thema Homosexualität nebensächlich geworden. 16 4. Perspektiven für ein gemeinsames Miteinander 4.1 Schlussfolgerung: Inwieweit ist die Homosexualität in der Kirche bereits jetzt toleriert? Beim Lesen verschiedenster Stellungnahmen zum Thema Homosexualität und Kirche wird deutlich, dass die Aussage, die Kirche stünde dem Thema absolut offen und tolerant gegenüber, ebenso falsch ist wie die Aussage, jeder Christ sei homophob. Vielmehr hat zwischen diesen beiden Extremen eine komplexe und zum Teil widersprüchliche Positionierung stattgefunden, die bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Zum einen ist zu differenzieren zwischen katholischer Kirche und protestantischer, hierbei noch einmal zwischen evangelischer Kirche und Freikirchen, da letztere zum Teil eine distanziertere, zum Teil eine tolerantere Einstellung zur Homosexualität haben. Zusammenfassend lässt sich hierzu sagen, dass die evangelische Kirche in ihrem Öffnungsprozess gegenüber der Homosexualität derzeit weiter fortgeschritten ist als die katholische Kirche; in einzelne Aspekte des kirchlichen Lebens konnte sich die Homosexualität vollkommen integrieren. Die katholische Kirche dagegen tut sich weiterhin schwer, Homosexuelle als solche zu akzeptieren und sie bei ihrer Suche nach dem persönlichen Glück zu begleiten. Eine zweite Differenzierung verkompliziert jetzt allerdings dieses Bild von Homosexualität und Kirche und fördert ein zutiefst widersprüchliches Meinungsbild zutage. Denn es gibt nachweislich eine große Distanz, vor allem in Fragen der Sexualethik, zwischen der Kirche als Institution und ihren Gläubigen. Die evangelische Kirche hat hiermit weniger zu kämpfen, da ihre offene Einstellung einen großen Spielraum für persönliche Meinungen bietet - vom quasi Homophoben bis zum Homosexuellen wird größtenteils niemand verurteilt. Die katholische Kirche hat dagegen damit ein riesiges Problem: Denn gerade sie erhob ja nachweislich in der Geschichte (vgl. 2.1 Das katholische Unfehlbarkeitsdogma von 1870) den Anspruch, in höchster Lehrgewalt zu sprechen, quasi unfehlbar zu sein. Jetzt ist es aber gerade die katholische Kirche, der die jugendlichen Gläubigen in ihrer Sexuallehre widersprechen. Im Prozess der Öffnung der Kirche hin zur Homosexualität ist eines deutlich geworden: Die Ablehnung von Homosexualität mag im Glauben begründet sein, nicht jedoch in dem, was die Kirche vorgibt. Vielmehr ist die Zurückhaltung gegenüber Homosexuellen ein Problem der gesamten Gesellschaft – und wer offen gegenüber Homosexualität sein möchte, kann dies auch als Christ. 17 4.2 Papst Franziskus: Ein neuer Hoffnungsträger? „Diese Kirche […] ist das Haus aller.“20 „Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin.“21 Papst Franziskus verkündet seit seinem Amtsantritt 2013 eine neue Auffassung von der Rolle der Kirche in einer immer turbulenteren Gesellschaft. Seine Ansichten tat er zu einem Großteil in einem Interview mit der christlichen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ im September 2013 kund. Er betrachte, so in dem Interview, die Kirche als „Feldlazarett nach einer Schlacht“22. Gemeint ist wohl, dass die Hauptaufgabe der katholischen Kirche längst nicht mehr die Vorgabe von Dogmen zum „richtigen“ Leben ist, sondern vielmehr die Seelsorge. Desweiteren widerspricht er klar dem Unfehlbarkeitsdogma von 1871 (vgl. 2.1), indem er von der Unfehlbarkeit der Gläubigen im Ganzen spricht. Dieser Denkansatz ist interessant: Franziskus meint also, anders als die meisten seiner Amtsvorgänger, dass die Unfehlbarkeit der Kirche nur deshalb besteht, weil viele Menschen gemeinsam nach dem Rechten Weg suchen. Er hält es demzufolge für fatal, die Irrtumsfreiheit bei einem kleinen Kreis an Klerikern oder gar bei nur einer Person, nämlich sich selbst, zu sehen. Mit seiner offenen, barmherzigen Auffassung gibt er wohl auch neuen Spielraum, um über die Haltung der katholischen Kirche bezüglich der Homosexualität nachzudenken. In dem selben Interview bezeichnet er homosexuelle Personen, die in der Vergangenheit Halt in der Kirche gesucht haben und abgewiesen wurden, als „sozial verwundet“23. Keine Rede ist seitens Franziskus von einer Krankheit oder der Möglichkeit der Therapie, vielmehr sollte sich die katholische Kirche um solche Halt-Suchende kümmern, denn „wenn eine homosexuelle Person guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der sie verurteilt“24. Letztendlich werde nur Gott richten, und Gott habe alle Menschen in der Schöpfung frei gemacht. Er richte in erster Linie über die Person, nicht über dessen sexuelle Veranlagung. Die Kirche habe im Diesseits lediglich die Aufgabe, mit Barmherzigkeit zu begleiten. Die Frage, ob ein Christ seine Sexualität jedoch offen ausleben darf und trotzdem mit dem Suchen nach Gott fromm ist, lässt Franziskus, vielleicht bewusst, unbeantwortet. Er spricht nicht vom Ausleben der Homosexualität, sondern vielmehr von der Veranlagung. Zudem betont 20-24 (Das Interview mit Papst Franziskus, 2014) 18 er auch, dass die katholische Kirche nicht nur über aktuelle Fragen der Sexualethik wie Verhütung, Abtreibung oder eben Homosexualität diskutieren sollte – man müsse ja nicht endlos davon sprechen. Trotzdem sind die Positionierungen von Papst Franziskus, gemessen an den Maßstäben katholischer Wandlungsprozesse, revolutionär. Sein Credo lautet: „Wir müssen also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen“.25 4.3 Ermöglicht die Bibel eine völlige Gleichstellung verschiedener Sexualitäten? Für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Homosexualität zur christlichen Weltansicht passt, ist für die meisten Gläubigen die Aussage der Bibel wohl von größerer Bedeutung als die Dogmen ihrer Kirche. Daher soll zuletzt noch einmal geklärt werden, ob die Bibel überhaupt die Toleranz und Integration von Homosexuellen in die Gesellschaft erlaubt. Zunächst einmal lässt sich feststellen: Völlig gleich ist der Bibel die homosexuelle und die heterosexuelle Beziehung nicht. Es wird eindeutig die Ehe von Mann und Frau befürwortet und als etwas Heiliges unter dem Schutz Gottes deklariert. Die heterosexuelle Ehe sorgt für Nachkommen und wird als die natürliche Lebensweise angesehen. Das Leitbild der Kirche ist also durchaus die Liebe und Ehe zwischen Mann und Frau, welche von Gott füreinander geschaffen wurden. Doch die oft angeführte Tatsache, die Bibel spreche sich ausdrücklich gegen Homosexualität aus, wird nirgendwo direkt formuliert. Zwar sprechen sich einzelne Passagen gegen den homosexuellen Verkehr, also gegen gleichgeschlechtlichen Sex aus, doch schließlich verneint die Bibel genauso den außerehelichen, heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Gerade bei letzterem nehmen es viele Christen heutzutage auch nicht mehr wirklich ernst – und das ist auch gut so. Denn eine Religion tut gut daran, in gewissem Maße mit der Zeit zu gehen. Und ist es nicht gerade die Bibel, die von ihren Anhängern verlangt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“? 25 (Das Interview mit Papst Franziskus, 2014) 19 Dieses Liebesgebot, die Nächstenliebe, ist ja quasi das Fundament des Christentums. Für Laien, und sicher auch für viele Gläubige ist es unverständlich, warum es für Menschen anderer Sexualitäten nicht gelten sollte. Niemand verlangt von der Kirche, die Homosexualität auf eine Ebene zu stellen mit der Heterosexualität. Das einzige, worum es geht, und was auch dem Wandel der Gesellschaft entspricht, ist, dass die Kirche ihren jahrhundertelangen Kampf gegen Menschen mit einer anderen Sexualität aufgibt und sie als solche akzeptiert, wie sie geboren wurden. Die These, wonach sich ein Mensch seine Sexualität quasi „heraussuchen“ kann, ist längst widerlegt. Sexualität ist angeboren. Und jeder, egal ob Homosexueller, Transsexueller, Heterosexueller oder welche Orientierung auch immer, hat Nächstenliebe verdient – von Christen genauso wie von Nicht-Christen. Die jahrhundertelang gepredigte Unfehlbarkeit der Kirche, es gibt sie nicht, insbesondere dann nicht, wenn sich die Werte einer Gesellschaft wandeln, hin zu Toleranz und Selbstbestimmung. 20 5. Abkürzungsverzeichnis bpb Bundeszentrale für politische Bildung CDU/CSU Christlich-Demokratische Union / Christlich-Soziale Union EKD Evangelische Kirche in Deutschland FDP Freie Demokratische Partei FRA Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Kor Korintherbrief Röm Römerbrief SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands vgl Vergleiche 21 6. Literatur- und Quellenverzeichnis Das Interview mit Papst Franziskus. (18. Januar 2014). Von http://www.stimmen-derzeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412 abgerufen Denzler, G. (1997). Das Papsttum. Geschichte und Gegenwart. München: Verlag C.H.Beck. Die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität. (20. November 2013). Von http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html abgerufen Die Haltung der Kirche zur Homosexualität. (22. Dezember 2013). Von Das Portal zur katholischen Geisteswelt: http://www.kath-info.de/homo.html abgerufen EKD-Chef verteidigt Familienbild […]. (27. Dezember 2013). Von Der Stern: http://www.stern.de/panorama/synode-der-evangelischen-kirche-ekd-chef-verteidigtfamilienbild-und-staatliche-zahlungen-2070302.html abgerufen Finger, A. (27. Dezember 2013). Homosexualität/en und Religion/en. Von http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/homosexualitaet/38892/homosexualitaet-und-religionen?p=all abgerufen Graf, F. (2006). Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. München: Verlag C.H.Beck. Graf, F. (31. Juli 2012). An Gottes Stelle. Spiegel Geschichte, S. 108-111. Homosexualität im Neuen Testament. (20. November 2013). Von http://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_im_Neuen_Testament abgerufen Homosexualität in Deutschland. (27. Oktober 2013). Von http://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Deutschland#Gesellschaftliche_Situ ation abgerufen Homosexualität und Kirche. (27. Dezember 2013). Von Evangelische Kirche in Deutschland: http://www.ekd.de/homosexualitaet/einfuehrung.html abgerufen Katholische Sexualmoral interessiert Jugendliche nicht. (27. Dezember 2013). Von Der Stern: http://www.stern.de/news2/aktuell/katholische-sexualmoral-interessiert-jugendlichen-nicht2078398.html abgerufen Steffens, M. (27. Oktober 2013). Diskriminierung von Homo- und Bisexuellen. Von http://www.bpb.de/apuz/32828/diskriminierung-von-homo-und-bisexuellen abgerufen Vonholdt, C. (27. Oktober 2013). Homosexualität verstehen. Von http://www.dijg.de/homosexualitaet/verstehen-biblisches-verstaendnis-mann abgerufen Warnecke, T. (27. Oktober 2013). Wie geht es Homosexuellen in Deutschland? Von http://www.tagesspiegel.de/politik/diskriminierung-wie-geht-es-homosexuellen-indeutschland/4324214.html abgerufen Die Datumsangaben bei Internetadressen entsprechen dem Datum der Entnahme. 22 7. Selbstständigkeitserklärung Ich erkläre, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel genutzt habe. ……………………………………. ………………………………............. (Ort und Datum) (Unterschrift) 23