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Nützliche Nachrichten 4-5 / 2015 Dialog-Kreis „Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden“ Postfach 90 31 70 · D-51124 Köln · Tel. 0 22 03.126 76 · Fax 0 22 03.126 77 Spendenkonto Dialog-Kreis · IBAN DE55 3705 0198 0009 1525 39 · BIC COLSDE33XXX Redaktion Andreas Buro, Memo Şahin, Luise Schatz und Mani Stenner † Redaktionsschluss: 10. Mai 2015 [email protected] · www.dialogkreis.de Leben in der zerstörten Stadt Kobanê Inhalt Der Kommentar: Der 7. Juni – Tag der Machtergreifung Zwanzig Jahre Dialog-Kreis Wiederaufbaukonferenz zu Kobanê »Brot für Kobanê« 150 Tonnen Mehl für Rückkehrer Nach Erklärung von PKK Neue Verantwortung für Deutschland Freispruch für 236 Putsch-Offiziere Filmfestival überschattet von Zensur Einbrechen der Türkischen Lira Hundert Jahre Völkermord an den Armeniern Aufruf zur Wahlbeobachterdelegation 2015 Kunst begegnet Kriegsdienstverweigerung Hinweis auf sonstige Infostellen 2 2 3 5 7 8 8 9 9 10 11 11 150 Tonnen Mehl »Brot für Kobanê« D er K ommentar Der 7. Juni – Tag der Machtergreifung? Von Andreas Buro Am 7. Juni wird in der Türkei die Große Nationalversammlung, das Parlament, neu gewählt. Dabei geht es nicht um dies oder das, sondern um das große Ziel des Präsidenten Erdogan, der Türkei eine Verfassung geben zu können, nach der alle Macht beim Präsidenten, also bei ihm, Erdogan, angesiedelt sein wird. Bisher hatte der Präsident mehr oder weniger nur repräsentative Aufgaben und die Regierung und ihr Ministerpräsident bestimmten die Richtlinien der Politik. Um diesen Macht- und Strukturwechsel zu erreichen, benötigt die Regierungspartei AKP eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die ist nicht leicht zu erreichen, zumal der jetzige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und seine Regierung Erdogans Zielsetzung nur halbherzig unterstützen. Erdogan würde im Falle eines Sieges die Ergebensten der Ergebensten um sich scharen. Die Mannschaft der jetzigen Regierung würde nach einem solchen Wechsel kaum mehr benötigt. Die AKP ist so innerlich gespalten, aber tritt nicht getrennt in den Wahlen in Erscheinung. Die Kurden spielen für den Ausgang der Wahlen eine entscheidende Rolle. Sie haben sich mit ihrer Partei HDP kühn und gleichzeitig höchst risikoreich vorgewagt. Sie wollen diesmal als Partei kandidieren. Das bedeutet für sie, sie müssen die 10-prozentige-Hürde überspringen. Gelingt dieses nicht, verfallen ihre gesamten Stimmen. Das würde das Wahlergebnis zugunsten der AKP wesentlich verbessern. Rechnet die HDP auf Stimmen aus dem Umfeld der Gezi-Protestler und linker Splittergruppen? Rechnen sie etwa mit einer Unterstützung aus der EU und aus Deutschland? Dafür ein Beispiel: Der Dialogkreishattean die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses des Bundestag de ausführlich begründete Bitte gerichtet, die PKK und ihr Umfeld in Deutschland von der Liste der Terrororganisationen zu streichen. Die CSU antwortete ablehnend und außer den Grünen meldete sich niemand. Ihr außenpolitischer Sprecher Omid Nouripour zeigte sich dialogbereit. Er schrieb u.a.: „Ein intensiver Dialog muss die offenen Fragen, die Grundlage des PKK Verbotes sind, thematisieren. Dazu gehört u.a. die Unabhängigkeit hiesiger Strukturen von der PKK in der Türkei, die Verbindlichkeit der friedlichen Streitbeilegung im türkisch-kurdischenFriedensprozess, Aufklärung der Vorwürfe der schweren Menschenrechtsverletzungen in den von der PYD regierten Gebieten.“ Offensichtlich ist von den deutschen Parteien keine friedenspolitische Unterstützung zu erwarten. Da nützen auch keine hochrangigen Entschuldigungen für kurdische Krawalle in den 90er Jahren. Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 Öcalan betont den friedenspolitischen Kurs der PKK. Er schlägt ihr vor, einen Kongress abzuhalten, auf dem die Niederlegung der Waffen beschlossen werden soll. Doch kommt das nicht alles viel zu spät? Ich wage die Prognose, kurz vor den Wahlen kommt es zu einem spektakulären gewaltsamen Zwischenfall, der der PKK angelastet wird. Die Zeit vor dem Urnengang wird zu kurz sein, um den Vorfall aufzuklären, die Medien liefern Breitseite auf Breitseite. Potentielle Wähler der HDP gehen nicht zur Wahl oder wenden sich anderen Parteien zu. Sollte man nicht präventiv eine solche Möglichkeit in aller Öffentlichkeit diskutieren? E reignis - K alender 1995–2015 Zwanzig Jahre Dialog-Kreis – Eine Stimme für das Volk ohne Anwalt Von Memo Şahin Die Arbeit des Dialog-Kreises begann mit einem „butterweichen“ Appell aus der Feder und aus dem Schatz der jahrzehntelangen Erfahrung eines der wichtigsten Köpfe der Friedensbewegung, Andreas Buro. Er konnte innerhalb von zwei Wochen über 150 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Kultur sowie Menschenrechts- und Friedensbewegung unter einen Hut bringen und sie zu einem gemeinsamen Ziel, nämlich der friedlichen Lösung der Kurdenfrage, bewegen. „Krieg in der Türkei: Die Zeit ist reif für eine politische Lösung!“ war die Überschrift des Appells, der mit den Unterschriften von Ulrich Albrecht, Franz Alt, Klaus Bednarz, Andreas Buro, Hans-Peter Dürr, Iring Fetscher, Ute Gerhard, Günter Grass, Jürgen Habermas, Inge Jens, Walter Jens, Margarete Mitscherlich, Wolf-Dieter Narr und Horst-Eberhard Richter weitere Persönlichkeiten wie Alfred Biolek, René Böll, Herta Däubler-Gmelin, Katja Ebstein, Erhard Eppler, Gernot Erler, Joschka Fischer, Johan Galtung, Hans W. Geissendörfer, Heiner Geißler, Ulrich Gottstein, Herbert Grönemeyer, Peter Härtling, Dieter Hildebrandt, Joachim Hirsch, Dieter Hooge, Oskar Lafontaine, Peter Maffay, Norman Paech, Peggy Parnass, Erika Pluhar, Claudia Roth, Herbert Schmalstieg, Renate Schmidt, Herbert Schnoor, Johannes Mario Simmel, Heide Simonis, Dorothee Sölle, Klaus Staeck, Udo Steinbach, Manfred Stenner, Wolfgang Thierse, Ludger Vollmer, Martin Walser, Heide Wieczorek-Zeul, Dieter Wunder und Klaus Zwickel erreichte und umfasste. Es war Newroz/März 1995, und der Krieg in der Türkei tobte. 2 „In der Türkei herrscht seit Jahren Krieg unter einst befreundeten Völkern. Hunderttausende, ja, Millionen Kurden wurden aus ihren Lebensgebieten vertrieben, Dörfer und Landstriche zerstört. Folter und Mord sind an der Tagesordnung. Menschen sterben auf beiden Seiten. Auch Wirtschaft, Recht, Liberalität und Kultur fallen dem Krieg zum Opfer. Eine Gesellschaft zerstört sich selbst, statt die Vielfalt der in ihr lebenden Völker und Kulturen als unschätzbare Bereicherung anzunehmen und alle Kräfte für ein freundschaftlich gleichberechtigtes Zusammenleben zu mobilisieren. Freundschaft zur Türkei kann in dieser historischen Situation nur heißen, ihrer großen Gesellschaft aus Türken, Kurden, Armeniern, aus Moslems, Christen und vielen anderen Völkern und Religionen beizustehen, um Gespräche und Verhandlungen für das zukünftige friedliche Zusammenleben endlich beginnen zu lassen. Helfen wir alle mit, damit die Vernunft siegt, damit die seit Jahrhunderten bestehende Freundschaftsbrücke zwischen Kurden und Türken nicht weiter zerstört wird, die zivilen Kräfte sich stärken und Frieden, der Wunsch der großen Mehrheit dieser Völker, Wirklichkeit werden kann. Im türkisch-kurdischen Krieg ist es höchste Zeit für eine politische Lösung!“ In diesen drei kurz und bündig verfassten Absätzen wurden Ziele und Aufgaben des Dialog-Kreises wiedergegeben. Seit der Veröffentlichung dieses Appells sind inzwischen 20 Jahre vergangen. Auf der Basis dieses Textes konnten zahlreiche Symposien und Konferenzen sowie Gespräche mit Politikern aus Deutschland und der Türkei organisiert, etwa zehn Bücher und Broschüren herausgegeben und Dutzende von Stellungnahmen und Memoranden veröffentlicht werden. Regelmäßige Delegationsbesuche zur Zivilgesellschaft in der Türkei und in Kurdistan konnten zusammen mit der IPPNW stattfinden. Erhebliche humanitäre Hilfe, insbesondere für aus ihren Siedlungen vertriebene Kurden in Türkisch-Kurdistan sowie seit dem letzten Jahr für die Kriegsflüchtlinge aus Kobanê/Rojava/Syrien und aus Sindchar/Irak, wurde zusammen mit Pro Humanitate verwirklicht. Dem heutigen Premierminister Erdogan konnte ein Memorandum zum Zusammenhang von Menschenrechten und Kurdenfrage in Ankara vorgestellt werden. Ein Periodikum, die „Nützlichen Nachrichten«, begleiten seit 1996 mit ihren zum Teil brisanten Informationen wegweisend und dokumentarisch die Reise des Dialog-Kreises. Vieles konnte der Dialog-Kreis nicht in die Tat umsetzen. Ein Dialog kann stattfinden, wenn mindestens zwei der Parteien sich bereiterklären, mitzuwirken. Bei unserem Beispiel waren die türkischen Persönlichkeiten und Migrantenverbände nicht willig mitzuwirken. Das jahrzehntelan- Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 ge Tabu über die Existenz und Anerkennung der Kurden wurde von ihnen auch in Europa hartnäckig fortgesetzt. Für diese Kreise galt: Alle weiter reichenden Dialoge mit politisch engagierten Kurden und ihren Freunden sollten vermieden werden. Das kurdische Volk aber hat mit seinem Widerstand das Tabu über die Kurdenfrage zerbrochen. Der türkische Staat sendet heute in der Sprache der bis vor kurzem als „Bergtürken“ bezeichneten Menschen. Seit 2007 führt die Regierung in Ankara mit Unterbrechung Gespräche auch mit der von ihr als „terroristisch“ benannten PKK. Ein Sprichwort besagt: „Eine weiche und sensible Sprache kann eine Schlange aus dem Loch holen.“ Der Dialog-Kreis führt seine Aktivitäten fort, meist unter schwierigen Bedingungen und gegen Widerstände. Die Verfasser und Befürworter der kämpferischen Texte sind aber inzwischen aus dem politischen Leben längst verschwunden. Der Dialog-Kreis wollte dem „Volk ohne Anwalt“ eine Stimme geben und zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage aus Deutschland beitragen. Inwieweit ihm dies gelungen ist, mögen andere beurteilen. Wiederaufbaukonferenz zu Kobanê Von Memo Şahin Am 2. und 3. Mai 2015 fand in Amed/Diyarbakir eine Konferenz zum Wiederaubau von Kobanê statt. Die Veranstalter der Konferenz waren neben der Stadtverwaltung von Amed auch die Handels- und Industriekammer von Diyarbakir sowie weitere NGOs, wie der Menschenrechtsverein IHD, in Zusammenarbeit mit der Kantonalregierung von Kobanê. An der Mammut-Konferenz nahmen etwa 350 eingeladene Gäste, Vertreter der politischen Parteien und NGOs 3 aus vier Teilen Kurdistans teil. Am ersten Tag folgten die inhaltlich ähnlichen Statements der Dutzenden Vertreter der Parteien und Gäste in fünfminütiger Takt, sodass mit der konkreten Arbeit erst am zweiten Tag begonnen werden konnte. Unter den RednerInnen war auch eine Frau aus Halabja, wo am 16. März 1988 durch den Giftgasangriff der Saddam-Diktatur über 5000 Menschen ermordet und weitere 10.000 verletzt wurden. Sie sagte, dass Kobanê aus den Fehlern der Vergangenheit, vor allem aber von den Fehlern der Menschen in Halabja lernen soll. Sie sagte: „Nach etwa 30 Jahren wissen wir nicht, wo die Hilfsgelder geblieben und was damit gemacht worden sind. Wir haben nicht einmal einen Saal, eine Gedenkstätte, wo wir in Ruhe trauern können. Halabja sieht immer noch wie ein Dorf aus. Unsere Jugendlichen haben keine Lebensperspektive, weil es in der Stadt keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.“ Die Konferenz, die als eine Geberkonferenz agieren sollte, hat ihr Ziel auch am zweiten Tag verfehlt. Nur einige NGOs machten konkrete Vorschläge, in dem sie sagten, dass sie eine kleine Gesundheitsstation oder eine Schule bauen möchten. Kobanê ist seit dem 26. Januar wieder frei. Kobanê ist frei, aber fast total zerstört und vom Osten, Süden und Westen in Umkreis von 30-40 km von den islamistischen IS-Banden umzingelt. Solange die Grenze zum Norden, zur Türkei für Waren- und Personenverkehr dicht bleibt, kann in Kobanê im Sinne des Wortes keinen Wiederaufbau erfolgen. Konkret wurde der Ausmaß der Zerstörung der Stadt durch ein Video, das zum Weinen der Delegierten beitrug. Der Vertreter der Kirchen in der Türkei sagte: „ich bin weder Kurde noch Moslem. Ich bin ein Armenier, ein Christ. Ich habe wie ihr beim Zuschauen des Videos geweint. Wir helfen nach unseren Möglichkeiten den jesidischen Flüchtlingen aus Sindchar/Shengal. Jede Woche verteilen wir dort Gemüse und Obst in Wert von 35.000 Türkische Lira. Außerdem helfen wir den kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak mit Grundnahrungsmittel. Jede muss das leisten, was er kann.“ Die Architekten- und Ingenieurkammer von Amed/ Diyarbakir hat im Auftrage der Kantonalregierung eine professionelle Bestandaufnahme, ein Röntgenbild der Zerstörung gemacht. Sie hat jede Viertel der Stadt durchleuchtet, durch alte Pläne verglichen und das Ausmaß der Zerstörung dokumentiert. Das Stadtzentrum und Basar der Stadt, d.h. das Herz von Kobanê ist bis zu 100 Prozent zerstört. Die Wohnviertel sind zum Teil bis zu 50 Prozent erhalten geblieben. Wasser- und Stromversorgung der Stadt ist seit 2-3 Jahren von dem IS zum Erliegen gebracht worden. Einige Brunnen und Generatoren in der Stadt reichen nicht aus, den Bedarf der Bevölkerung zu decken. Die Haupteinnahme der Bevölkerung basierte sich auf landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Mit insgesamt 164.000 Hektar Ackerflächen hat Kobanê etwa 40% der Getreide in Syrien produziert, die für mindestens ein Jahr verloren gegangen ist. Achtzig Prozent der landwirtschaftlichen Maschinen, wie Traktoren, wurden entweder mitgenommen oder zerstört. Von 340.000 Viehbeständen ist fast nichts übrig geblieben. Es wurde vereinbart, dass eine Wiederaufbaukonferenz auch in Europa stattfinden soll. Außerdem wurde beschlossen, eine Stiftung zum Wiederaufbau von Kobanê zu gründen und alle Spendengelder dort zu sammeln. Ferner wurde eine Koordination aus 15 Personen gebildet, in der auch zwei Personen aus Europa Platz nehmen sollen. Da die Delegierten aus Europa sich über die Namen der zu entsendenden Delegierten nicht einigten, blieben diese Plätze unbesetzt. Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 4 Anstatt eine weitere Mammut-Konferenz mit 350 Menschen zu veranstalten, konnte man mit etwa 50-100 Experten effektiver arbeiten und handfeste Ergebnisse erzielen. Der Bericht und die Bestandaufnahme der Architekten- und Ingenieurkammer von Diyarbakir zeigten, dass genügend Spezialisten auch in Kurdistan vorhanden sind. Mit Arbeitsgruppen und Workshops konnte man in einigen Bereichen, wie Wiederaufbau, Infrastruktur, Erziehung, Gesundheit, Ackerbau, diplomatische und politische Druckmechanismen, gute und anschauliche Ergebnisse erzielen. Solange aber die Grenze über die Türkei nach Kobanê für Waren- und Personenverkehr nicht freigegeben wird, wird es fast unmöglich sein, Kobanê wiederaufzubauen und europäische NGOs zu gewinnen. Um diese Grenze zu öffnen, muss eine effektive politische und diplomatische Arbeit geleistet und der Druck auf die Regierung in Ankara erhöht werden. Die Öffentlichkeit in Deutschland und Europa ist gefordert, die Sensibilität, die sie während der Kämpfe und Belagerung in Kobanê zeigte, auch zum Bewegen der politischen Mechanismen zum Öffnen der Grenze und zum Wiederaufbau von Kobanê an den Tag zu legen. Ohne Öffnung der Grenze, ohne Sicherheit und ohne Erwerbund Einkommensmöglichkeiten haben die Menschen in Kobanê keine Zukunft! » B rot für K oban ê « 150 Tonnen Mehl für Rückkehrer Von Memo Şahin Seit der Befreiung von Kobanê aus den Händen des Islamischen Staates (IS) am 26. Januar 2015 sind von etwa 200.000 geflüchteten Menschen 90.000 wieder nach Kobanê und den umliegenden Dörfer zurückgekehrt. Sie möchten dort ein neues Leben beginnen. Im April zu Ostern 2015 war Pro Humanitate wieder an Ort und Stelle, um die Rückkehrer konkret mit Brot zu unterstützen. Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 Das Bild der kleinen Grenzstadt Pirsûs/Suruc ist diesmal total anders. Vorher war eine Unmenge von Menschen auf den Straßen. Mit der Rückkehr der Kriegsflüchtlinge aus Kobanê hat diese kleine Stadt fast die Hälfte ihrer „Bevölkerung“ verloren. Von den in den fünf Zeltlagern lebenden etwa 6.000 Familien ist etwa ein Zehntel übrig geblieben und die Zeltlager wurden zusammengelegt, um die Versorgung der Flüchtlinge zu erleichtern. Auch von den in den Dörfern aufgenommenen Flüchtlingen sind viele wieder zurückgekehrt, mit der Hoffnung ihre zerstörten Häuser wiederaufzubauen, ihre Felder zu bestellen und ihre Olivenoder Obstgärten zu pflegen. Diesmal waren wir mit der ganzen Familie unterwegs, ich, Gulê und unsere Kinder Rênas und Zana. Die Kinder haben von ihrer „Schatzkammer“ die besten Spielzeuge aussortiert, sie poliert, in zwei Taschen eingepackt und mitgenommen, für ihre Brüder und Schwester, die alles verloren haben. Gepackt wurden auch Schokolade und Gummibärchen. Außerdem wollten sie ein paar Tage im Hilfslager bei der Verpackung der Hilfsgüter arbeiten, also etwas Praktisches für ihre Geschwister tun. Als wir in der Grenzstadt Pirsûs/Suruc ankamen, wurden wir von der Gendarmarie kontrolliert. Die Zeltlager waren zum Teil aufgelöst; in den bestehenden Lagern waren nicht so viele Flüchtlinge anwesend. Auch im Hilfslager sah es düster und leer aus, weil viele Flüchtlinge zurückgekehrt waren und der größte Teil der Hilfsgüter direkt nach Kobanê umgeleitet wird. 5 Es war geplant, dass wir mit dem gekauften 150 Tonnen Mehl über die Grenze nach Kobanê fahren. Vorher wurden die Liefertage bestimmt, alle Erlaubnisse eingeholt, die Kopien der Pässe und Ausweise vorgelegt. Als der Liefertermin kam, wurden wir am frühen Morgen unterrichtet, dass die Grenze für mindestens eine Woche für Personenverkehr gesperrt wurde und wir nicht nach Kobanê fahren dürfen. Für den Transport der Hilfsgüter wurde ein großes umzäuntes Lager bestimmt. Vor dem Lager wurden Panzer und Militär- sowie Polizeifahrzeuge platziert. Im Innen des Hofes waren Polizei und Gendarmerie stationiert. Dort erledigen die Beamten vom türkischen Roten Halbmond Kizilay und Katastrophenschutz Afad im Auftrage der türkischen Regierung die Formalitäten der nach Kobanê zu liefernden Hilfsgüter. Die LKWs mit Hilfsgütern kommen hier an. Die Beamten von Kizilay und Afad erhalten Lieferscheine der LKWs, kontrollieren, ob alles in Ordnung ist und bestellen von der Polizei und Militär Kontrollbeamten. Sie durchleuchten die beladenen LKWs mit Metallsensoren, nehmen mit einer Kamera alles auf und abfertigen ein Protokoll. Nach der Erlaubnis dieser Beamten können die Hilfsgüter ihre Fahrt nach Kobanê aufnehmen. Auch unsere Hilfsgüter wurden streng kontrolliert und abgesegnet. So fuhren wir mit sieben mit 150 Tonnen Mehl beladenen LKWs zur Pufferzone zwischen der Türkei und Kobanê. In der Pufferzone sind ein Tisch mit ein paar Stühlen, drei-vier türkische Beamte und genau so viele kurdische Kämpfer aus Kobanê zu sehen. Auf dem Tisch befinden sich Waffen, eine Wasserpfeife (Nargile), die abwechselt geraucht wird, eine Packung Baklava (Süßes Gebäck) und ein paar Teegläser. Die türkischen und kurdischen Beamten sind gut gelaunt und machen gegenseitig Späße. Hier werden die Papiere der LKWs noch einmal kontrolliert und die LKWs passieren über die Grenze nach Kobanê. Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 Wenn man dieses Bild in der Pufferzone sieht, fragt man sich, warum das, was dort abspielt, nicht woanders möglich ist? Das von uns gelieferte Mehl wird in Kobanê in der kommunalen Brotfabrik zum Brot gebacken und kostenlos an die Rückkehrer verteilt. Pro Humanitate war die erste europäische Hilfsorganisation, die von Anfang an die Kriegsflüchtlinge kontinuierlich unterstützt hat. Hier ist die Liste der Hilfsaktionen von Pro Humanitate e.V. und Dialog-Kreis der letzten Monate: » Im November 2014 wurden 6.000 Stück neue Kleider, gespendet von einem europäischen Warenhaus, an jesidische Kurden im Newroz-Camp in Syrisch-Kurdistan verteilt. » Im Dezember 2014 wurden die Flüchtlingskinder aus Kobanê, die in Suruç leben mit 1.200 Packungen Babynahrung, 2.000 Paar Gummistiefeln, 500 Winterjacken, Medikamenten und 3 Tonnen Zucker unterstützt. » Im Februar 2015 wurden an 1.400 kinderreichen Flüchtlingsfamilien 52 Tonnen Grundnahrungsmittel verteilt. Die 37 kg umfassende Familienration bestand aus je 5 kg Speiseöl, Reis, Weizengrütze, Nudeln, Bohnen, Linsen und Zucker sowie 2 kg Tomatenmark. Zusätzlich wurden Babynahrung, Windeln, Binden, Hygieneartikel und Mehl ausgegeben. Diese Hilfsaktion wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Missionszentrale der Franziskaner und des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“. » Und im April wurden mit Unterstützung von Missionszentrale der Franziskaner, Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ und Arbeiter-Samariter-Bund 150 Tonnen Mehl unter dem Motto „Brot für Kobanê“ geliefert. Dank der Unterstützung vieler Spenderinnen und Spender, der Missionszentrale der Franziskaner, dem Kindermissionswerk „Die Sternsinger“, dem Arbeiter-Samariter-Bund sowie einer Stiftung und einem Warenhaus konnten wir so Tausenden von Kriegsflüchtlingen, Opfern der islamistischen IS-Banden helfen. 6 Das oben genannte europäische Warenhaus wird uns in den nächsten Wochen noch einmal 6.000 Stück neue Kleider spenden. Dies wird ebenfalls den Kriegsflüchtlingen zugutekommen. Auch Sie können helfen, mit einer Spende die Not der Opfer des IS-Terrors zu mildern. Pro Humanitate e.V. Köln ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Spenden sind steuerlich abzugsfähig. Spendenkonto: Pro Humanitate e.V. IBAN DE16 3705 0198 0010 2625 33 BIC COLSDE33XXX · Sparkasse KölnBonn Stichwort: Rojava [email protected] www.pro-humanitate-koeln.de N ach E rkl ä rung von P K K Neue Verantwortung für Deutschland „PKK entschuldigt sich bei Deutschland“ – Diese Schlagzeile verbreitete sich vor knapp zwei Wochen in Windeseile über verschiedenste Medienkanäle. Die Entschuldigung hatte der Co-Vorsitzende des KCK-Exekutivrates Cemil Bayik in einem Interview mit dem WDR und dem NDR geäußert. „Ich möchte mich im Namen der PKK beim deutschen Volk entschuldigen“, so Bayik, der sich mit seiner Entschuldigung auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen bei kurdischen Demonstrationen in den 90er Jahren in Deutschland bezog. Auf eine erste positive Reaktion aus der Politik des SPD-Fraktionsvize Dr. Rolf Mützenich, der durch die Aussage von Cemil Bayik eine Chance für die Neubewertung der PKK in Deutschland sah, folgte die Klarstellung des Bundesinnenministeriums, dass es vorerst keinen Grund für ein Rütteln am PKK-Verbot gebe. Damit war das Thema zunächst wieder von der medialen Öffentlichkeit verschwunden. Doch einige unbeantwortete Fragen bleiben. Einordnung der gewaltsamen Auseinandersetzungen auf deutschen Straßen Die neunziger Jahre in Nordkurdistan waren die Jahre des schmutzigen Krieges. Insbesondere nach dem Tod des türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal 1993 verschärfte sich der Konflikt in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei. Die Regierung unter Tansu Çiller mit ihrem Innenminister Mehmet Agar scheute im „Kampf gegen Terror“ nicht, Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 jegliches Register zu ziehen. Im Visier des Staates standen nun nicht mehr nur die Kräfte der ARGK (Volksbefreiungsarmee Kurdistans), also der bewaffnete Arm der PKK, sondern auch zivile kurdische AktivistInnen oder einfache Sympathisanten. Sie alle mussten mit der vollen Härte des Staates rechnen. Die „volle Härte des Staates“, das bedeutete in jenen Jahren Folter, Vertreibung und Ermordung. Die Bilanz aus jener Zeit sind 17.000 Tote durch sog. unbekannte Täter, die zweifellos den Strukturen des Tiefen Staates angehörten und bis heute gedeckt werden, etwa 4000 geräumte und zerstörte Dörfer und Millionen von Flüchtlingen, von denen nicht wenige schließlich in Deutschland versuchten ein neues Leben aufzubauen. Die deutsche Bundesregierung unterhielt in jenen Jahren mehr als freundschaftliche Beziehungen zur Türkei. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen waren so gut und das freundschaftliche Verhältnis so eng, dass Deutschland gerne auch mal Kriegsgerät an die Türkei verschenkte. „So verschenkte die Bundesrepublik auch Teile ihres Kriegsgeräts. Zwischen 1985 und 1991 spendierte Bonn Schießbedarf im Wert von fast vier Milliarden Mark. Allein aus ehemaligen DDR-Beständen gelangten rund 256 000 Kalaschnikows, 5000 Maschinengewehre, rund 100 000 Panzerfäuste und 445 Millionen Schuß Munition in die Türkei. Über 400 gepanzerte Fahrzeuge rollten – zum Nulltarif“, heißt es in einem Artikel des Focus vom 16.05.1994. Dass diese nicht nur gegen die PKK eingesetzt wurden, sondern auch gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt wurden, ist auch vielfach dokumentiert. Im Kontext dieser Atmosphäre und vor dem Hintergrund der deutschen Unterstützung an die Türkei im Kampf gegen die Kurdinnen und Kurden kam es in den 90er Jahren in Deutschland zu zahlreichen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, zu Autobahnblockaden und Selbstverbrennungen. All das ist keine Rechtfertigung. Doch lassen sich auf die Auseinandersetzungen auf deutschen Straßen nicht richtig einordnen, wenn der politische und historische Kontext außer Acht gelassen wird. Bereits 1996 Aufruf zum Gewaltverzicht in Deutschland durch Öcalan Die aktuelle Erklärung von Cemil Bayik ist inhaltlich betrachtet kein neuer Beschluss der PKK. Denn der Aufruf zum Gewaltverzicht in Deutschland wurde bereits vom damals noch in Freiheit befindlichem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan 1996 getätigt. „Ich betone noch einmal: Es wäre politisch und moralisch falsch, wenn wir die Sache der Kurden durch Gewaltaktionen in Deutschland lösen wollten“, erklärte Öcalan in einem Interview mit dem Spiegel im November 1996. Die aktuelle Entschuldigung steht in Kontinuität zu den Äußerungen von Öcalan 19 Jahre zuvor. Gleichzeitig sind die Worte von Bayik auch Ergebnis einer kritischen Selbstreflexion der PKK mit ihrer eigenen Geschichte. 7 Die kritische Selbstreflexion einschließlich daraus hervorgehender Kurskorrekturen ziehen sich wie einen roten Pfad durch die gesamte Parteigeschichte der PKK. Allein der von der PKK vollzogene Paradigmenwechsel, von der Zielsetzung der Gründung eines sozialistischen Staates Kurdistan hin zur Entwicklung des Konzepts des Demokratischen Konföderalismus, ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie die Organisation als falsch erkannte Ziele und Mittel bereit ist, richtigzustellen. Im Zuge des Paradigmenwechsels hat die PKK auch ihr Verhältnis zur Gewalt neudefiniert. Außer im Falle der legitimen Selbstverteidigung wird das Mittel der Gewalt grundsätzlich abgelehnt. Für die Opfer und Folgen der Gewalt, die von ihr ausging, ist sie bereit, sich zu entschuldigen und die Konsequenzen dafür zu tragen. So ist eine zentrale Forderung der PKK im gegenwärtigen Lösungsprozess mit der Türkei die Gründung einer Wahrheitsund Gerechtigkeitskommission, die alle Kriegsverbrechen in den seit über 30 Jahren anhaltenden türkisch-kurdischen Konflikt aufarbeiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft führen soll. Insofern überrascht es nicht sonderlich, dass die PKK auch bereit ist, sich gegenüber der deutschen Bevölkerung zu entschuldigen. Empfehlung an die deutsche Bundesregierung Es wäre für die Bundesregierung empfehlenswert eine ähnliche kritische Selbstreflexion bezüglich ihrer Annäherung zur kurdischen Frage tätigen. Der Diskrepanz, dass auf der einen Seite die PKK für ihre Rettungsaktionen verschiedener Volks- und Religionsgruppen und für den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ fraktionsübergreifend von Bundestagsabgeordneten gelobt wird, parallel dazu dieselbe Organisation aber weiterhin in Deutschland verfolgt wird, sollte sich gestellt werden. Durch das Verbot der PKK sind weiterhin unzählige kurdische Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland systematischer Diskriminierung und Kriminalisierung ausgesetzt. Längst wird dieses Verbot nicht nur von sämtlichen kurdischen Kräften als illegitim angesehen. Die Breite der Diskussionen in den Medien zeigt, dass die große Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit sich mittlerweile gegen das Verbot ausspricht. Während sich im Mittleren Osten die ethnisch und konfessionell bedingte Polarisierung innerhalb der Gesellschaft weiter forciert, die Herrschereliten immer autoritärer zu werden drohen und radikal-islamistische Gruppen immer mehr an Einfluss gewissen, bietet die kurdische Freiheitsbewegung die derzeit einzige demokratische Alternative, die aus diesem Chaos führen könnte. Vor allem eine Förderung der demokratischen Strukturen in Rojava würde einen positiven Effekt auf die Gesamtdemokratisierung der Region haben. Nicht nur Syrien sondern auch Staaten wie der Irak und der Iran könnten von der demokratischen Dynamik, die vom Projekt Rojava ausgeht, beeinflusst werden. Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 Die Bundesregierung sollte aus den Fehlern der Vergangenheit die richtigen Schlussstriche ziehen. Dementsprechend sollten demokratische Bestrebungen gefördert und nicht verhindert werden. Das PKK-Verbot stellt in diesem Sinne für diese Politik eine große Barriere dar. Daher empfehlen wir der deutschen Bundesregierung schnellstmöglich die Diskussionen über die Rahmenbedingungen für die Aufhebung des Verbots zu beginnen. (Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 20.4.15, [email protected], www.civaka-azad.org) Freispruch für 236 Putsch-Offiziere Ein türkisches Gericht in Istanbul hat 236 Offiziere vom Vorwurf des Putsch-Versuchs im so genannten Balyoz-Vorschlaghammer-Prozess freigesprochen. Die Offiziere wurden damals festgenommen gegen die AKP-Regierung einen Putsch geplant zu haben. Um dies vorzubereiten hätten sie unter anderem Bombenanschläge auf Moscheen und staatliche Gebäuden geplant, damit die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen. Außerdem sollte nach den Plänen ein türkischer Kampfjet über dem griechischen Luftraum abgeschossen und die Aktion dem Nachbarland in die Schuhe geschoben werden. In dem ersten Prozess wurden mehrere ranghohe Offiziere im September 2012 zu hohen Haftstrafen verurteilt. Nach dem der damalige Premier Erdogan sich mit dem Militär arrangiert hat, wurde das Urteil im Juni 2014 aufgehoben. Der Fall wurde dann zur erneuten Verhandlung an ein anderes Gericht verwiesen. Und Ende März kam dann der Freispruch für die Militärangehörigen. (APA und Der Standard, 31.3.15) Filmfestival überschattet von Zensur Der Eingriff der türkischen Regierung in die Meinungsfreiheit nimmt immer groteskere Züge an. Neuestes Beispiel ist das Filmfestival in Istanbul. Das Kulturministerium ordnete an, dass der Film „Bakur“, der vom Alltag kurdischer Rebellen der PKK handelt, auf dem Filmfestival nicht gezeigt werden dürfe, da er nicht über die für türkische Filme obligatorische Registrierung verfüge. Rund hundert 8 Filmemacher protestierten daraufhin in einem Offenen Brief gegen die Einmischung der Behörden. Gleichzeitig zogen etwa zwei Dutzend Regisseure ihre Beiträge aus den Wettbewerben des Festivals zurück. Die Entscheidung der Regisseure wurde von seiten der Festivalleitung unterstützt, indem sämtliche Wettbewerbe storniert wurden. Die Produktionsfirma des Films „Bakur“ und die Unterzeichner des Offenen Briefes sprechen von Zensur. (Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, http://www.freiheit.org/Tuerkei-Bulletin/656c410/index.html) geweckt, ob die Regierungspartei AKP noch weiter willens ist, dem bisher proklamierten Kurs marktwirtschaftlich orientierten Wachstums und einer nach rechtsstaatlichen Prinzipien gestalteten Rechtsordnung zu folgen. Der Bürgerkrieg in Syrien und die chaotischen Zustände in weiten Teilen des Irak stellen für die Türkei zudem ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko dar. Es besteht somit aus Sicht vieler Wirtschaftsexperten die konkrete Gefahr, dass die Türkei in diese Krisenherde mit hineingezogen werden könnte. (Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, http://www.freiheit.org/Tuerkei-Bulletin/656c410/index.html) Einbrechen der Türkischen Lira Die türkische Landeswährung, die Türkische Lira (TL), hat in den letzten Monaten ganze 17 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar eingebüßt. Während 1 USD zu Beginn des Jahres bei 2,32 TL lag, betrug dieser Wert Anfang Mai schon mehr als 2,70 TL. Die Lira befindet sich damit an der Spitze der Liste jener Landeswährungen, die hohe Verluste gegenüber dem Dollar zu verzeichnen haben, gefolgt vom brasilianischen Real mit 14.3 % Verlust im gleichen Zeitraum. Andere vergleichbare Schwellenländer, wie Südafrika, Mexiko oder Indonesien, haben weit bessere Ergebnisse zu verzeichnen. Der Wertverlust der Lira gegenüber dem US-Dollar ist für die türkische Wirtschaft von besonderer Relevanz, weil die staatliche, vor allem aber die private Auslandsverschuldung des Landes mehrheitlich in USD gehalten wird. Es wird also für die Kreditnehmer deutlich teurer, die Kredite fristgerecht zu bedienen. Als Gründe für den schnelleren Wertverfall der TL nennen Experten u.a. die politische Instabilität der Türkei, die Fragilität des bisherigen ökonomischen Erfolgsmodells und die geopolitischen Risiken. Die neuesten Umfragewerte zu den am 7. Juni bevorstehenden Wahlen geben kein eindeutiges Signal und lassen sogar die Notwendigkeit zur Bildung einer Koalitionsregierung nicht ausgeschlossen erscheinen. Auch bei einem Wahlerfolg der AKP wird der amtierende stellvertretende Ministerpräsident Ali Babacan, der sich als Vertreter eines eindeutig marktwirtschaftlichen Kurses profiliert hat und über Jahre das Vertrauen weiter Wirtschaftskreise genoss, aller Wahrscheinlichkeit nach dem neuen Regierungskabinett nicht mehr angehören. Die fortgesetzten verbalen Attacken des Präsidenten und seiner persönlichen Wirtschaftsberater gegen das Agieren und die Unabhängigkeit wichtiger wirtschaftlicher Institutionen, voran die Türkische Zentralbank, haben das Vertrauen in die türkische Wirtschafts- und Finanzpolitik nachhaltig geschwächt. Die politisch motivierten Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, wie u.a. im Fall der „Bank Asya“, haben bei vielen Wirtschaftsakteuren Zweifel Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 Hundert Jahre Völkermord an den Armeniern In der zweiten April-Hälfte stand der Völkermord an den Armeniern im Vordergrund der politischen Debatte in der Türkei. Während in Jerewan und in vielen anderen Städten weltweit der vor hundert Jahren im Osmanischen Reich ermordeten Armenier gedacht wurde, führte Ankara einen taktischen Schachzug aus, indem die traditionelle Gedenkveranstaltung für die Schlacht von Gallipoli kurzerhand einen Tag vorverlegt wurde. Somit sollte die Aufmerksamkeit im eigenen Lande und international vom ArmenierGedenktag bzw. dem Genozid-Gedenken abgelenkt werden. Die faktische Konsequenz dieses Vorgehens war jedoch das exakte Gegenteil des Angestrebten: Die Erinnerungsfeierlichkeiten aus Anlass der Invasion der Entente-Truppen auf der türkischen Halbinsel Gallipoli am 25. April 1915, die vor allem in Australien und Neuseeland als nationale Gedenktage begangen werden („ANZACDay“), gerieten gegenüber dem Gedenken zum Völkermord an den Armeniern völlig in den Hintergrund. (…) Gauck spricht von Völkermord – und verärgert die Türkei Bundespräsident Joachim Gauck hat die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnet. „Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist“, sagte er bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst im Berliner Dom. Gauck verwies in seiner Ansprache auch auf die deutsche Mitverantwortung an den Massakern: „In diesem Fall müssen auch wir Deutsche insgesamt uns noch der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld, am Völkermord 9 an den Armeniern geht.“ Das Deutsche Reich habe nicht nur von dem Vernichtungswillen gegen die Armenier gewusst, sondern deutsche Militärs seien an der Planung „und zum Teil an der Durchführung der Deportationen beteiligt gewesen. Hinweise von deutschen Beobachtern und Diplomaten, die im Vorgehen gegen die Armenier den Vernichtungswillen genau erkannten, wurden übergangen und ignoriert. Denn das Deutsche Reich wollte die Beziehungen zum osmanischen Verbündeten nicht gefährden“, so Gauck. Der Völkermord an den Armeniern habe auch als Vorbild für die Vernichtungspläne der Nazis gedient. Gauck erinnerte hier an die zynische Frage Adolf Hitlers: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Der Bundespräsident sprach von einer „genozidalen Dynamik, der das armenische Volk zum Opfer fiel“, und von „geplanten und systematischen Mordaktionen“ sowie einer ”kalkulierten, verbrecherischen Tat“. Gauck unternahm auch den Versuch, den Blick nicht nur auf die Opfer, sondern auch auf die Täter zu richten: „Ein Erinnern an die Opfer wäre aber nur ein halbiertes Gedenken, wenn nicht auch von den Tätern gesprochen würde.“ Das seien die damaligen Machthaber im Osmanischen Reich und ihre Handlanger gewesen, die aus rassischen und aus religiösen Motiven gehandelt hätten. Mit Blick auf die Türkei der Gegenwart sagte Gauck, man setze niemanden, der heute lebe, auf die Anklagebank. Die Täter von einst lebten nicht mehr und ihren Kindern und Kindeskindern sei jene Schuld nicht anzulasten. „Was die Nachfahren der Opfer aber zu recht erwarten dürfen, ist die Anerkennung historischer Tatsachen und damit auch einer historischen Schuld“, so Gauck. Die türkische Regierung reagierte auf die Ansprache des Bundespräsidenten mit scharfen Worten. „Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen“, teilte das Außenministerium in Ankara mit. Gauck habe keine Befugnis, der türkischen Nation eine Schuld anzulasten, die den rechtlichen und historischen Fakten widerspreche. Das Ministerium warnte vor „langfristigen negativen Auswirkungen“ auf das deutsch-türkische Verhältnis. Regierungsnahe Medien warfen Gauck vor, sich mit „hässlichen Worten“ über das Osmanische Reich geäußert und seine Kompetenzen überschritten zu haben. Bundestag spricht ebenfalls von Völkermord Nach Bundespräsident Gauck hat auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) von einem Genozid im Zusammenhang mit der Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich gesprochen. Zum Auftakt einer Feierstunde im Bundestag sagte der CDU-Politiker: „Das, was mitten im Osmanischen Reich stattgefunden hat, (…) war ein Völkermord. Er ist nicht der letzte im 20. Jahrhundert geblieben.“ Zugleich bekannte er sich zur deutschen Mitverantwortung am damaligen Geschehen. Lammert Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 fügte hinzu: „Umso grösser ist die Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und in der Verantwortung für Ursache und Wirkung, die damaligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu beschönigen. Wir Deutsche haben niemanden über den Umgang mit seiner Vergangenheit zu belehren. Aber wir können durch unsere eigenen Erfahrungen andere ermutigen, sich ihrer Geschichte zu stellen – auch wenn es schmerzt.“ Mit diesen Worten ging der Bundestagspräsident deutlich über den Koalitionsantrag hinaus, über den anschließend beraten wurde. Nach langem Hin und Her hatten sich die Koalitionsparteien auf eine Formulierung verständigt, die zum ersten Mal den Begriff Völkermord beinhaltet. Die Vertreibung und Vernichtung der Armenier taucht in dem Papier in Zusammenhang mit dem Begriff Völkermord auf, eine direkte Benennung wird aber vermieden. An dieser Zurückhaltung äußerten viele Redner im Parlament Kritik. Der Text geht nach der ersten Beratung im Plenum in die Ausschüsse und soll bis zur Sommerpause endgültig verabschiedet werden. Laut Medienberichten hat der türkische Ministerpräsident Davutoğlu persönlich vor der entsprechenden Bundestagssitzung bei Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen die Verwendung des Begriffs Völkermord in einer Resolution des Bundestags interveniert. Demnach hätten die beiden Regierungschefs miteinander telefoniert und Davutoğlu habe argumentiert, die Verwendung des Begriffs Völkermord für die Massaker an den Armeniern 1915 sei nicht zulässig, da dieser Terminus erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Völkerrecht aufgenommen worden sei. Zuvor hatten Papst Franziskus und das österreichische Parlament die Gräueltaten an den Armeniern als Völkermord bezeichnet. Auch das Europäische Parlament, das schon im Jahre 1987 die Ereignisse von 1915 als Völkermord definiert hatte, forderte die Türkei auf, die Gräueltaten als Völkermord anzuerkennen. (Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, http://www.freiheit.org/Tuerkei-Bulletin/656c410/index.html) Aufruf zur Wahlbeobachterdelegation 2015 nach Nordkurdistan/Türkei Am 7. Juni 2015 finden in der Türkei Parlamentswahlen statt, zu denen erstmals mit der Demokratischen Partei der Völker (HDP), eine Partei antritt, die den Anspruch hat, alle in der Türkei verleugneten und diskriminierten gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren. Die HDP ist eine Partei, in welcher sich neben prokurdischen AktivistInnen, linke und demokratische Parteien sowie Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster religiöser und ethnischer 10 Gruppen wiederfinden. Ein Einzug der HDP in das türkische Parlament würde ohne Zweifel die nationalistische und monistische Staatsdoktrin der türkischen Republik von „einem Staat, einer Nation, einer Religion und einer Sprache“ in ihren Grundfesten erschüttern. Gelingt der Einzug der HDP in das Parlament, werden all diejenigen Teile der Gesellschaft in der Türkei eine Stimme erhalten, die bislang ausgeschlossen wurden. Doch um diese „Gefahr“ zu bannen, konnte sich die Türkei bislang auf ihre 10 %-Wahlhürde verlassen. Zudem wurden in der Vergangenheit die Wahlen in der Türkei immer wieder durch Unregelmäßigkeiten, insbesondere in den kurdischen Siedlungsgebieten, überschattet. Verschwundene Stimmzettel und Wahlurnen sowie Militärund Polizeipräsenz vor und in den Wahllokalen sind einige Beispiele für undemokratische Wahlen. Nachdem der Kandidat der HDP bei den Präsidentschaftswahlen Selahattin Demirtaş im August letzten Jahres etwa 9,7 % der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte, hat die Demokratische Partei der Völker den Beschluss gefasst, als Partei bei den anstehenden Wahlen anzutreten, um die 10 %-Hürde zu knacken. Wahlumfragen sehen den Stimmanteil der HDP derzeit zwischen 9 % und 11 %, weswegen es bis zum Wahltag spannend bleiben wird. Scheitert die HDP an der Wahlhürde, wird die türkische Regierungspartei AKP nach den Wahlen mit großer Gewissheit über eine 2/3 Mehrheit im türkischen Parlament erlangen und kann dann die Verfassung des Landes nach ihren eigenen Vorstellungen ohne Schwierigkeiten verändern. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die AKP alles daran setzen, um die HDP aus dem Parlament fernzuhalten. Illegale Methoden am Wahltag sind da nicht auszuschließen. Aus diesem Grund rufen wir Sie dazu auf, als WahlbeobachterIn an den Delegationsreisen nach Nordkurdistan teilzunehmen. Um die örtlichen Gegebenheiten kennen zu lernen und sich ein Bild über die politische Atmosphäre in der Region machen zu können, empfehlen wir die Anreise am 04.06.2015. Eine Abreise ist ab dem 09.06.2015 empfehlenswert, um die Ergebnisse der Wahl sowie daraus resultierende Konsequenzen mit verfolgen zu können. Die Anmeldefrist für die Wahlbeobachtungsdelegation endet am 24. Mai 2015. Für faire und freie Wahlen und damit für Menschenrechte und Demokratie hoffen wir auf Ihre Unterstützung! Für die Delegationen aus Deutschland arbeiten wir als Civaka Azad in Koordination mit der HDP Europavertretung in Brüssel. Für einen reibungslosen Ablauf sowohl im Vorfeld als auch vor Ort bitten wir alle Interessierten, sich an uns zu wenden. (Civaka Azad, [email protected]) Nützliche Nachrichten 4-5 /2015 Kunst begegnet Kriegsdienstverweigerung Anlässlich des Internationalen Tages der Kriegsdienstverweigerung laden Connection e.V. und die Künstlergemeinschaft Neuwagenmühle e.V. zu einem ungewöhnlichen Wochenende mit Drei-Tage-Camp in der Nähe von Limburg ein. Vom 15. bis 17. Mai werden Künstler und KünstlerInnen mit Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren aus Eritrea, der Türkei, den USA, Südkorea und Angola in einen interkulturellen Dialog treten und Hintergründe, Motive und Ideen zum Thema Verweigerung und Desertion künstlerisch gestalten und umsetzen. Dabei werden – bildlich gesprochen – „Menschenporträts gezeichnet“ durch persönliche Gespräche, Porträtmalerei, Musik- und Kunstaktionen und durch die gemeinsame Aktivität an einem Denkmal für Kriegsdienstverweigerung International. (Infos unter http://www.Connection-eV.org) Hinweis auf sonstige Infostellen Azadi, [email protected]; www.nadir.org/azadi/ Demokratisches Türkeiforum, [email protected], www.tuerkeiforum.net Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., [email protected], www.civaka-azad.org Gesellschaft für bedrohte Völker, [email protected], www.gfbv.de ISKU | Informationsstelle Kurdistan e.V., [email protected]; www.nadir.org/isku/ Kurdmania.com, Portal für Politik & Kultur, www.kurdmania.com Kurdisches PEN-Zentrum, [email protected], www.pen-kurd.org Kurdistan Report, www.kurdistanreport.de Mezopotamian Development Society, [email protected], www.mesop.de NAVEND – Zentrum für kurdische Studien e.V., [email protected], www.navend.de The Turkish Economic and Social Studies Foundation (TESEV), www.tesev.org.tr/eng/ Zentrum für Türkeistudien, www.zft-online.de 11