1999-06 Anwendung von Schlangengiftproteinen in der Medizin
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1999-06 Anwendung von Schlangengiftproteinen in der Medizin
Übersicht Schweiz Med Wochenschr 1999;129:205–16 Peer reviewed article Anwendung von Schlangengiftproteinen in der Medizin K. Stocker Summary Use of snake venom proteins in medicine Snakes feed exclusively on freshly killed prey animals which, following their immobilization, have to be swallowed whole. Venomous snakes effect prey immobilization by injection of their venom. Snake venoms are highly concentrated, complex mixtures of individual proteins which, either as enzymes, enzyme effectors or blocking ligands, acting as single agents or in synergistic conjunction with other venom components, modify vital structures of the prey organism to destroy their biological function. Predominantly neurotoxic venoms paralyze respiratory activity by pre- or postsynaptic blockade of neuromuscular transmission. Predominantly haemocytotoxic snake venoms contain components which interact with proteins of the haemostasis, kallikrein or complement system, causing blood volume loss, hypotension or intravascular coagulation which finally lead to circulatory failure. Several isolated snake venom proteins with a known mode of action have found practical application as pharmaceutical agents, diagnostic reagents or preparative tools in the field of haemostaseology, neurobiology and complement research. Keywords: snake venom; haemostaseology; neurobiology; proteinases; neurotoxins Zusammenfassung Schlangen ernähren sich ausschliesslich von frisch erlegten Beutetieren, die sie nach deren Ruhigstellung als Ganzes verschlingen. Giftschlangen erzielen die Ruhigstellung der Beute durch Applikation ihres Giftes. Schlangengifte sind hochkonzentrierte, komplexe Gemische individueller Proteine, die als Enzyme, Enzymeffektoren oder blockierende Liganden, einzeln Abkürzungen ADP Adenosindiphosphorsäure APC Aktiviertes Protein C AT-III Antithrombin III αBtx α-Bungarotoxin α2-M α2-Makroglobulin FDP Fibrin(ogen)degradationsprodukte nACh Nikotin-Acetylcholin PF3 Plättchenfaktor 3 PLA2 Phospholipase A2 PAI Plasminogenaktivator-Inhibitor PC Protein C PS Protein S RVV-V Russell-viper-Faktor V-Aktivator RVV-X Russell-viper-Faktor X-Aktivator vWF von Willebrand-Faktor oder im synergistischen Verband mit anderen Giftkomponenten, lebenswichtige Strukturen in Beuteorganismen derart verändern, dass deren biologische Funktion zum Erliegen kommt. Vorwiegend neurotoxisch wirkende Gifte lähmen durch prä- oder postsynaptische Blockade der neuromuskulären Nervenreizübertragung die Atmung. Vorwiegend hämozytotoxisch wirkende Schlangengifte verfügen über Komponenten, die mit Proteinen des Hämostase-, Kallikrein- oder Komplementsystems interagieren, Blutvolumenverlust, Blutdrucksenkung oder intravasale Koagulation auslösen und dadurch ein Kreislaufversagen verursachen. Einige isolierte Schlangengiftproteine mit bekannter Wirkungsweise haben als pharmazeutische Wirkstoffe, als diagnostische Reagenzien oder als präparative Hilfsmittel eine praktische Anwendung im Bereich der Hämostaseologie, der Neurobiologie und des Komplementsystems gefunden. Korrespondenz: Dr. Kurt Stocker, Postfach 27, CH-3981 Obergesteln 205 Übersicht Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Einleitung Schlangen sind fleischfressende Kriechtiere, die sich ausschliesslich von frisch erlegter Beute ernähren, die als Ganzes verschlungen werden muss, weil der Schlangenkörper weder über Greifwerkzeuge noch über Schneide- oder Mahlzähne verfügt. Das Verschlingen grosser, unzerkleinerter Beute – sie kann bis zu einem Sechstel des Körpergewichts der Schlange wiegen – wird durch einen besonders beweglichen Aufbau der Schlangenkiefer, durch eine bis zur Mundspitze geführte Luftröhre und durch eine besonders dimensionierte, sich über ein Drittel der Körperlänge erstreckende Lunge ermöglicht. Eine weitere für den Schlingakt unerlässliche Voraussetzung ist die Ruhigstellung der oft wehrhaften, flinken Beute, die oberirdisch, unterirdisch, im Wasser oder auf Bäumen erjagt oder erlauert wird und laufend, wühlend, schwimmend oder fliegend flüchten kann. Die ungiftigen Schlangen, also die meisten aller Arten, erzielen die Ruhigstellung ihrer Beute durch Muskelkraft: Sie umschlingen das erbeutete Tier und pressen dessen Körper so zusammen, dass Atmung und Blutkreislauf aussetzen. Allerdings sezernieren auch viele als ungiftig bezeichnete Schlangenarten aus ihren Oberlippendrüsen Proteine, welche im Experiment, nach parenteraler Verabreichung an Mäusen, tödlich wirken, die sich aber frei in die Mundhöhle fliessend mit dem Speichel vermischen und keine Giftwirkung entfalten. Möglicherweise spielen solche Substanzen bei der Verdauung der Beute eine Rolle. Die etwa 300 eigentlichen Giftschlangenarten der Erde haben jedoch im Verlaufe ihrer Entwicklung hochwirksame Gifte und spezielle Werkzeuge zur Giftadministration erworben. Zur Ruhigstellung wird der Beute mittels speziell ausgebildeter, mit einer Rille oder einem Kanal versehener Zähne, unter Betätigung eines an die Giftdrüse angelagerten Muskels, willkürlich eine angemessene Dosis Sekret eingespritzt. Schlangengifte sind komplexe, hochkonzentrierte Gemische von verschiedenen Proteinen und Oligopeptiden, die teils als Enzyme, teils als Enzyminhibitoren und teils als blockierende Liganden lebenswichtige Strukturen im Beuteorganismus schädigen und ihn auf diese Weise für den Schlingakt ruhigstellen. Während der Wirkungsmechanismus einzelner Giftkomponenten und ihr Beitrag zur Gesamttoxizität verständlich erscheint, ist die Rolle anderer Giftkomponenten aus folgenden Gründen noch weitgehend unklar: 206 – Synthese, intra- und extrazellulärer Transport, Sekretion, Speicherung und Regeneration von Giftproteinen bilden einen noch wenig verstandenen Prozess, in dem vermutlich auch ungiftige Proteine eine Rolle spielen, die mit dem Gift ausgestossen werden [1]. – Viele Schlangengiftenzyme wirken speziesspezifisch, tödlich für den Zielorganismus, relativ harmlos für andere Arten. – Giftproteine, die im gereinigten Zustand eine geringe Toxizität aufweisen, können wesentlich zum Synergismus der gesamten Giftwirkung beitragen. – Ungiftige Bestandteile des Giftdrüsensekrets können eine Rolle bei der Verdauung der Nahrung spielen [2]. – Giftenzyme, wie zum Beispiel l-Aminosäureoxidase, können durch Peroxidbildung eine antimikrobielle Wirkung während der zeitbeanspruchenden Nahrungsverdauung ausüben. Die in vielen Giften enthaltenen DNasen und RNasen können möglicherweise mit der Nahrung aufgenommene Viren inaktivieren. – Die Koevolution von Giftschlangen und Beutetieren kann zu rudimentären Wirkstoffen, die für das aktuelle Beuteangebot überflüssig geworden sind, geführt haben. Die wichtigsten Angriffspunkte der Schlangengifte bei der Beuteimmobilisierung sind Zellmembranen, Proteine und Polysaccharide der Gefässwand und des Bindegewebes sowie Plasmaproteine, die als Zymogene, Enzyme, Effektoren oder Substrate am Hämostase-, Fibrinolyse-, Komplement- oder Kininsystem beteiligt sind. Viele Schlangengiftproteine ahmen die Funktion eines ähnlich wirkenden, physiologischen Gegenstücks im Beuteorganismus nach. Während jedoch der physiologische Wirkstoff der Beute einem biochemischen Kontrollsystem unterliegt, entziehen sich Schlangengiftproteine dieser Regelung, indem sie unabhängig von Kofaktoren wirken, einer Hemmung durch Inhibitoren oder einer Inaktivierung durch Proteolyse widerstehen. Grundsätzlich wird zwischen zwei Typen von Schlangengiften unterschieden, den vorwiegend neurotoxischen und den vorwiegend hämozytotoxischen Giften. Etliche Gifte enthalten sowohl neurotoxische als auch hämozytotoxische Bestandteile, und ausserdem können einzelne Komponenten sowohl hämozytotoxisch als auch neurotoxisch wirken. Ihrer pathophysiologischen Wirkung entsprechend, Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Übersicht werden isolierte Schlangengiftproteine als Toxine, in Muskelgewebe-zerstörende Myotoxine, Nervenreizübertragung-hemmende Neurotoxine, Herzmuskelzellen-schädigende Cardiotoxine, Gefässwand-schädigende Hämorrhagine und in endothelinartig wirkende, Herzkranzgefässe kontrahierende Sarafotoxine eingeteilt. Mit dieser Klassierung können jedoch die zahlreichen in Schlangengiften enthaltenen Enzyme und Enzymeffektoren [3, 4], deren biochemische Wirkung sich vielfältig und nicht immer toxikologisch eindeutig auf den Beuteorganismus auswirkt, nicht erfasst werden. Internationale Gremien aus Biochemie, Toxikologie und Hämostaseologie bemühen sich um eine sinnvolle Nomenklatur und Ordnung dieser Enzyme. Gereinigte Schlangengiftenzyme mit einem bekannten Wirkungsmechanismus und einer definierten Substratspezifität haben eine vielseitige therapeutische, diagnostische und präparative Anwendung im Bereich der Hämo- staseologie gefunden. Demgegenüber sind nur wenige praktische Anwendungen von Schlangengiftproteinen in anderen biochemischen und biomedizinischen Disziplinen bekannt. Neurotoxine haben in der neurobiologischen Forschung und in entsprechenden diagnostischen Verfahren eine beträchtliche praktische Bedeutung erlangt. Phospholipasen aus Schlangengiften können in der Phospholipidanalyse und Nucleotidasen zur Genomanalyse eingesetzt werden. Bei der Erforschung des Komplementsystems haben Schlangengiftproteine ebenfalls eine gewisse Bedeutung erlangt. Schlangengiftkomponenten können schliesslich als Strukturmodelle bei der Arzneimittelentwicklung dienen. Ein bekanntes Beispiel besteht in der Entwicklung von synthetischen Inhibitoren des Angiotensin-konvertierenden Enzyms als Antihypertensiva in Anlehnung an das Strukturvorbild eines Oligopeptids aus dem Gift der Bothrops jararaca [5]. Auf das Hämostasesystem wirkende Schlangengiftproteine Der Mensch, dessen Hämostasesystem besser erforscht ist als das aller anderen Lebewesen, kam zwar nie als Beute für Giftschlangen in Frage. Es darf aber angenommen werden, dass jene Zellen-, Plasma- und Gewebeproteine, die zur Hämostase beim Menschen führen, in einer artspezifischen Form auch bei anderen Säugetieren vorkommen. Da die Struktur der Gerinnungsfaktoren aller Wirbeltierarten homologe Bereiche aufweist und da sich die verschiedenen Gerinnungsfaktoren wahrscheinlich aus wenigen Urmolekülen entwickelt haben, können Schlangengiftproteine, obschon mit artspezifischer Präferenz, auch mit menschlichen Gerinnungsfaktoren reagieren, sogar mit solchen, deren Existenz bei primitiveren Wirbeltieren gar nie nachgewiesen werden konnte. Demgegenüber führen bei Nichtsäugetieren biochemische Systeme zur Blutstillung, die durch das Fehlen von Plättchen, der Kontaktphase, der endogenen Prothrombinaktivierung, oder der Fibrinolyse gekennzeichnet sind. Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten wird eine unterschiedliche Empfindlichkeit verschiedener Tierarten auf blutkoagulierende Schlangengiftproteine verständlich. Tiere wie Vögel und Reptilien, die nicht über die Fähigkeit zur Fibrinolyse verfügen, werden beispielsweise empfindlicher auf fibrinogenkoagulierende Schlangengiftenzyme reagieren als Säugetiere mit einem wirksamen Fibrinolysesystem. Die Evolution der Giftschlangen hat zahlreiche Schlangengiftproteine hervorgebracht, die aktivierend oder inaktivierend in beinahe alle Phasen des menschlichen Hämostasesystems eingreifen. Mehrere dieser Proteine haben als diagnostische Reagenzien oder als therapeutische Wirkstoffe eine Anwendung in der Humanmedizin gefunden. Einige Schlangengiftenzyme finden auch Anwendung als präparative Hilfsmittel bei der Gewinnung von Plasmafraktionen für therapeutische oder diagnostische Zwecke. Im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Thrombose und Hämostase klassierte ein Sonderausschuss (Registry of Exogenous Hemostatic Factors) bisher über 250 auf das Hämostasesystem wirkende Schlangengiftproteine in folgenden, periodisch aktualisierten Inventarien: thrombinartige Enzyme [6], exogene Prothrombinaktivatoren [7], Fibrinogenasen [8], plättchenaggregierende Substanzen [9], hämorrhagische Faktoren [10], die Prothrombinaktivierung beeinflussende Substanzen [11], Plättchenaggregation-hemmende Substanzen [12]. Abbildung 1 vermittelt eine schematische, kaskadenartige Darstellung der wichtigsten Blutgerinnungsreaktionen und der Angriffspunkte von Schlangengiftproteinen in diesem System. 207 Übersicht Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Abbildung 1 Schematische Darstellung wesentlicher Blutgerinnungs- und Fibrinolysereaktionen. Kontakt mit einer benetzbaren, elektronegativen Oberfläche löst den endogenen Aktivierungsvorgang aus: Plättchen adhärieren, aggregieren und setzen Phospholipide frei. Aus der Kontaktaktivierung wird über den endogenen Weg der Tenasekomplex und daraus F.Xa gebildet. Faktor Xa vereint sich mit F.Va zum Prothrombinasekomplex, der Prothrombin zu Thrombin aktiviert. Im Tenase- und der Prothrombinasekomplex sind die beteiligten Gerinnungsfaktoren in Anwesenheit von Kalziumionen auf Phospholipidmizellen (PL) vereinigt. Über den exogenen Weg aktiviert Gewebethromboplastin (TF, Tissue Factor) F.VII. Faktor VIIa aktiviert F.X direkt. Die Angriffspunkte von Schlangengiftproteinen im System sind mit dem Symbol ♣ gekennzeichnet. Wirkung auf Thrombozyten Enzyme: Aus Plättchen freigesetzte Phospholipide (PF3) werden durch die in allen Schlangengiften enthaltenen Phospholipasen A2 (PLA2), unter Abspaltung des ungesättigten Fettsäurerestes in α-Position und Bildung von Lysophosphatiden, verändert. Da aber die Fettsäureketten der Phospholipide in intakten Zellmembranen nicht zum extrazellulären Plasma hin orientiert sind, bleibt der Einfluss unspezifischer PLA2 auf die Plättchenfunktionen bescheiden. Zahlreiche SchlangengiftPLA2 besitzen jedoch nicht-katalytische Molekülregionen, die das Enzym mit grosser Affinität zu Rezeptoren spezifischer Ziele wie Nervenzellen, Muskelzellen, Erythrozyten oder Plättchen dirigieren. In Schlangengiften wurden sowohl spezifische PLA2 mit einer stimulierenden als auch solche mit einer hemmenden Wirkung auf Plättchenfunktionen gefunden [7, 12]. Eine aus dem Gift der Kreuzotter Vipera berus isolierte basische PLA2, welche die Gerinnungsaktivität von Plättchen- und Hirnphosphatiden hemmt, wurde zur Bestimmung von prokoagulierenden Phospholipiden in Plasmaproben verwendet [13]. Die in vielen Schlangengiften enthaltenen 5Nucleotidasen spalten Adenosin-5-Diphosphat 208 und hemmen deshalb die durch ADP, Kollagen oder Arachidonat ausgelöste Plättchenaggregation. Thrombinartige Proteinasen, wie Thrombocytin [27] aus Bothrops-atrox- oder Crotalocytin [28] aus Crotalus-horridus-Gift aktivieren die Aggregation und das kontraktile System der Plättchen. Da Thrombocytin durch den spezifischen Thrombininhibitor Hirudin nicht gehemmt wird, kann dieses Enzym zur Messung thrombinabhängiger Plättchenfunktionen in Hirudin-haltigem Plasma eingesetzt werden. Nicht-enzymatische Schlangengiftproteine: In den Giften asiatischer Crotaliden wurden als Aggregoserpentine bezeichnete, nicht-enzymatische Proteine gefunden, die bereits in einer Konzentration von 10 ng/ml eine Plättchenaggregation in Plasma auslösen. Koagglutinine, die in Abhängigkeit von vonWillebrand-Faktor (vWF) die Aggregation formolfixierter Plättchen verschiedener Wirbeltiere bewirken, wurden in den Giften mehrerer Bothrops-Arten nachgewiesen. Botrocetin®, das Koagglutinin aus dem Gift der B. neuwiedii und der B. jararaca, wird bei der quantitativen Bestimmung und Charakterisierung von vWF in menschlichem und tierischem Plasma verwendet [14]. Als Disintegrine werden hochwirksame plätt- Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Übersicht chenaggregationshemmende Schlangengiftpeptide wie Trigramin, Echistatin, Applaggin, Bitistatin usw. bezeichnet, die in ihrer Peptidkette die Sequenz Arg-Gly-Asp (RGD) aufweisen. Diese RGD-Sequenz ist ein gemeinsames Strukturmerkmal adhäsiver Proteine wie vWF, Fibrinogen, Vitronectin, Fibronectin usw., und dank dieser Sequenz vermögen die Disintegrine die adhäsiven Funktionen der Integrine, spezifischer Membranrezeptoren für adhäsive Proteine, kompetitiv zu hemmen. Disintegrine dienen als Strukturmodelle bei der Entwicklung aggregationshemmender Arzneimittel. Wirkung auf Komponenten der endogenen und exogenen Prothrombinaktivierung Wirkung auf Faktor X: Enzyme, die Faktor X durch begrenzte Proteolyse aktivieren, wurden in zahlreichen Schlangengiften gefunden. Der Faktor-X-Aktivator aus dem Gift der Kettenviper Vipera russellii, RVV-X, wird in Gerinnungstests oder in photometrischen, mit chromogenen Substraten arbeitenden Methoden zur Bestimmung von Faktor X sowie von Faktor-X-hemmenden Agenzien wie Heparin im Plasma eingesetzt. Verschiedene Russell-ViperTests zum Nachweis von Lupus-Antikoagulans setzen der Plasmaprobe RVV-X zur Aktivierung von Faktor X zu, der sich, in Anwesenheit von Kalziumionen, zusammen mit Faktor Va und Prothrombin auf der Oberfläche von Phospholipidpartikeln zum Prothrombinasekomplex vereinigt, aus dem nun Thrombin freigesetzt wird. In Anwesenheit von Anti-Phospholipid-Antikörpern ist die Bildung des Prothrombinasekomplexes gestört und die Gerinnungszeit der Probe entsprechend verlängert. Da der RVV-Test bei Mangel an Faktor V oder X und bei Medikation mit Vitamin-K-Antagonisten oder Heparin gestört ist, muss das Resultat jeweils durch zusätzliche Tests erhärtet werden [15]. RVV-X wurde auch benutzt, um die enzymatische Verstärkerkaskade der Blutgerinnung an eine Immunreaktion zu koppeln, um so die Empfindlichkeit des Testsystems drastisch zu erhöhen. Wirkung auf Faktor IX: Der Faktor-X-Aktivator von V.-russellii-Gift, RVV-X, aktiviert auch Faktor IX. Diese Eigenschaft wird in einem spezifischen Radioimmunoassay für Faktor IXa genutzt [16]. Die Methode beruht darauf, dass das Zymogen F.IX sich nicht mit radiomarkiertem Antithrombin-III-Heparinkomplex verbindet, während RVV-X-aktivierter Faktor IXa vom radiomarkierten Inhibitorkomplex gebunden wird. Wirkung auf Faktor V: Das Gift der Vipera russellii enthält nebst dem Faktor-X-Aktivator, RVV-X, die Proteinase RVV-V, die Faktor V aktiviert und daher zur Bestimmung von Faktor V in Plasmaproben verwendet werden kann. Dabei wird Faktor V in der Probe mit RVV-V aktiviert, hierauf setzt man Faktor Xa, Phospholipid und Kalziumionen zu, um den Prothrombinasekomplex zu bilden, und fügt schliesslich Prothrombin bei, aus dem nun Thrombin gebildet wird. Das entstandene Thrombin wird hierauf photometrisch, mit einem synthetischen chromogenen Substrat bestimmt. Die Thrombinbildungsrate ist proportional der vorhandenen Faktor-V-Konzentration [17]. Wirkung auf Faktor VII: Eine Prothrombinaktivator-Zubereitung aus dem Taipan (O. scutellatus)-Gift erwies sich als hochwirksamer Aktivator für Faktor VII, und sein Einsatz bei der Herstellung von Faktor VIIa wurde empfohlen [18]. Wirkung auf Prothrombin In Schlangengiften wurden Proteinasen gefunden, die Prothrombin, bei jeweils unterschiedlichem Bedarf an Kofaktoren, in katalytisch aktive Thrombinderivate umwandeln und solche, die Prothrombin zu inaktiven Fragmenten degradieren. Für eine aktuelle Übersicht siehe [19]. Von Kofaktoren unabhängige Prothrombinaktivatoren: Enzyme, die Prothrombin unabhängig von akzessorischen Faktoren aktivieren, wurden in den Giften von rund 20 verschiedenen Schlangenarten gefunden. Das am häufigsten angewandte Enzym dieses Typs, Ecarin aus dem Gift der Echis carinatus, katalysiert die Spaltung der 323Arg-324Ile-Bindung im Prothrombinmolekül und legt dadurch das aktive Thrombinzentrum frei, wobei katalytisch aktives Meizothrombin entsteht, das sich autokatalytisch zu α-Thrombin umwandelt. Im Gegensatz zum physiologischen Prothrombinaktivator, Faktor Xa, aktiviert Ecarin auch die unter Medikation mit Antivitamin-K-Antagonisten gebildete AcarboxyForm von Prothrombin sowie die Intermediärprodukte Prethrombin 1 und 2, in Abwesenheit von Ca++, Phospholipid und Faktor V. Ecarin kann daher zur Bestimmung von Acarboxy-Prothrombin in Plasmaproben verwendet werden, aus denen zuvor intaktes Prothrombin durch Adsorption an Bariumsulfat 209 Übersicht entfernt wurde [20]. Ecarin eignet sich besonders gut zur Bestimmung niedriger Prothrombinkonzentrationen und zum Nachweis von Kontaminationen durch Prethrombin 2 in therapeutischen Plasmafraktionen [21]. Da das Produkt der Ecarinwirkung auf Prothrombin, Meizothrombin, durch Hirudin, nicht aber durch Heparin-Antithrombin-IIIKomplex gehemmt wird, kann Ecarin auch zur quantitativen Bestimmung von Hirudin im Plasma eingesetzt werden. Zu diesem Zweck wird das Blut eines Patienten unter Hirudintherapie auf vorgelegtem Heparin gesammelt. Eine Probe davon wird mit Ecarin versetzt, um Prothrombin in Meizothrombin umzuwandeln, das in einem konzentrationsabhängigen Verhältnis durch das Hirudin der Probe gehemmt wird. Ungebundenes Meizothrombin wandelt Fibrinogen zu Fibrin um, wobei die Gerinnungszeit proportional zur Hirudinkonzentration ist [22]. Diese Methode eignet sich auch zur Bestimmung von Polyethylenglykol-konjugiertem Hirudin [23] oder zur Überwachung einer Therapie mit synthetischen Thrombininhibitoren wie Argatroban oder Efegatran [24]. Der Prozess der Serumgewinnung aus Vollblut durch spontane Gerinnung und Gerinnselretraktion kann durch Zusatz von Ecarin, selbst in Anwesenheit von Heparin, wesentlich beschleunigt werden. Die Reinheit des Ecarins ist dabei allerdings von grösster Wichtigkeit, Spuren von anderen Schlangengiftproteinen wie Phospholipasen, Fibrinogenasen, Plättchenaggregationshemmer usw. würden die Serumprobe für analytische Zwecke unbrauchbar machen. Von Phospholipid und Kalzium abhängige Prothrombinaktivatoren Die Gifte der australischen Elapiden, Oxyuranus und Pseudonaja-Spezies, enthalten Enzyme, die Prothrombin in Anwesenheit von Phospholipid und Kalziumionen zu Thrombin aktivieren [7]. Das entsprechende Rohgift der Taipanschlange, O. scutellatus, wurde zur Prothrombinbestimmung [25] und zum Nachweis von Lupus-Antikoagulans [26] eingesetzt. Empfindlichkeit, Spezifität und Reproduzierbarkeit dieser mit Rohgift arbeitenden Tests sind durch die Gegenwart eines zweiten, Phospholipid-unabhängigen Aktivators im ungereinigten Gift vermindert. Aus dem Gift der Pseudonaja textilis konnte das Enzym Textarin® isoliert werden, das, in strikter Abhängigkeit von Phospholipid und Kalziumionen, Prothrombin zu α-Thrombin umwandelt. Die durch Textarin in Anwesen210 Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 heit von Phospholipid und Kalziumionen ausgelöste Gerinnung von Citratplasma wird durch Lupus-Antikoagulans proportional der vorliegenden Antikörpermenge verzögert. Auf diesem Prinzip aufgebaute Methoden gelten zurzeit als die empfindlichsten Schnelltests zum Nachweis von Lupus-Antikoagulans [15]. Wirkung auf Fibrinogen und Fibrin Schlangengifte enthalten Enzyme, die, ähnlich wie Thrombin, Fibrinogen zur Gerinnung bringen, solche, die Fibrinogen zu ungerinnbaren Fragmenten hydrolysieren und solche, die bereits gebildetes Fibrin zu löslichen Spaltprodukten abbauen. Thrombinartige Schlangengiftenzyme In Schlangengiften wurden zwei Typen von Proteinasen gefunden, die je einen Teil der bekannten Thrombinwirkungen ausüben: Enzyme wie Thrombocytin [27] und Crotalocytin [28], die in erster Linie auf andere Thrombinsubstrate als Fibrinogen wirken, und Enzyme wie Ancrod und Batroxobin, die Fibrinogen koagulieren. Während sich eine praktische Anwendung von Thrombocytin und Crotalocytin auf Forschungsarbeiten an den Faktoren V, VIII und XIII und an Thrombozyten beschränkt, haben Fibrinogen-koagulierende Enzyme wie Ancrod und vor allem Batroxobin eine vielseitige diagnostische und therapeutische Verwendung gefunden. Antithrombotika: Thrombin katalysiert die hydrolytische Abspaltung der Fibrinopeptide A und B aus «gelöstem» Fibrinogen und führt zur Bildung eines Netzwerks von geronnenem, säurelöslichem Fibrin, das unter dem Einfluss von Faktor XIII quervernetzt und stabilisiert wird. Thrombin übt ausserdem noch zahlreiche Wirkungen auf Plasmaproteine, Blutkorpuskeln und Gewebe aus [29]. Die katalytische Wirkung von Thrombin wird durch die plasmatischen Inhibitoren Antithrombin III, Heparin Kofaktor II und α2-Macroglobulin gehemmt. Aus den Giften von Viperiden und Crotaliden wurden bis heute 38 verschiedene thrombinartige Enzyme isoliert, die mit artabhängiger Präferenz die Abspaltung von Fibrinopeptid A oder B oder von A und B aus Fibrinogen katalysieren und zur Bildung verschiedener Typen von Fibrinmonomer führen. Jeder Monomertyp weist charakteristische Polymerisationsund Komplexbildungseigenschaften auf. Die meisten thrombinartigen Schlangengiftenzyme werden durch die bekannten Thrombininhibi- Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Übersicht toren des Plasmas nicht gehemmt. Einige von ihnen greifen auch andere Proteine als Fibrinogen an, so zum Beispiel Crotalase aus dem Gift der Crotalus adamanteus, die eine kallikreinartige Wirkung auf Kininogen ausübt, oder Gyroxin aus dem Gift der C. durissus terrificus, das neurotoxische Eigenschaften besitzt. Die thrombinartigen Enzyme Ancrod (Arwin®) aus Calloselasma (Agkistrodon) rhodostoma und Batroxobin (Defibrase®) aus Bothrops atrox moojeni, die strikt substratspezifisch auf die Aα-Kette von Fibrinogen wirken, haben eine Anwendung als Antithrombotika gefunden. Die Wirkungsweise dieser Substanzen lässt sich am Beispiel Batroxobin wie folgt erklären: Nach subkutaner oder intravenöser Administration katalysiert Batroxobin die Spaltung der Bindung Aα16Arg-17Gly im Plasmafibrinogen und führt zur ausschliesslichen Abspaltung von Fibrinopeptid A und zur Entstehung von monomerem Fibrin I. Fibrin I stimuliert die Freisetzung von Plasminogenaktivator aus dem Endothel, potenziert die Plasminogenaktivierung und wird selbst durch das entstehende Plasmin zu ungerinnbaren Fragmenten abgebaut. Über diesen Mechanismus erfolgt eine dosisabhängige Senkung der Fibrinogenkonzentration im Plasma und Reduktion der Viskosität und der Gerinnbarkeit des Blutes. Diese Eigenschaften und Wirkungen von Batroxobin werden zur Verhütung der Entstehung und Ausbreitung von Thrombosen, zur Steigerung der kapillaren Blutzirkulation, zur Steigerung der Sauerstoffzufuhr und zur Unterstützung medikamentöser Fibrinolyse eingesetzt. Hämostyptika: Ausgehend von ersten Beobachtungen [30], wonach das ungerinnbare Blut eines hämophilen Patienten nach Zusatz von 1:10 000 verdünntem V.-russellii-Gift prompt koagulierte, erschienen mehrere blutstillende Medikamente aus diesem Gift, unter den Warennamen Stypven, Rusven, Styptamin, Styptol, Stypticin usw., auf dem Arzneimittelmarkt. Ausgelöst durch die Beschreibung einer wenig toxischen «Hämokoagulase» genannten Fraktion aus dem Gift der Bothrops jararaca [31], wurden derart viele verschiedene Präparate angeboten, dass sich der Panamerikanische Pharmazeutenkongress 1948 in einer Sondersession mit Fragen der Qualitätskontrolle dieser Mittel befassen musste. Die zurzeit verfügbaren Hämostyptika aus Schlangengift, Reptilase® und Botropase®, enthalten Batroxobin aus dem Gift der Bothrops atrox respektive das thrombinartige Enzym aus dem Gift der B. jararaca [32]. Im Gegen- satz zu Thrombin, das aus Fibrinogen beide Fibrinopeptide, A und B abspaltet und ein festes Gerinnsel aus Fibrin II bildet, katalysieren diese thrombinartigen Enzyme lediglich die Abspaltung von Fibrinopeptid A und führen zur Entstehung von Fibrin I. Fibrin I ist ein bevorzugtes Substrat sowohl für Thrombin als auch für Plasmin [33]. Intravasal gebildetes Fibrin I wird darum durch Plasmin umgehend zu ungerinnbaren Degradationsprodukten abgebaut, während extravasal vorliegendes Fibrin I am Ort einer Verletzung durch generiertes Thrombin rasch zu Fibrin II verfestigt wird. Im Gegensatz zu thrombingebildetem Fibrin II, das in verdünnter Essigsäure nicht löslich ist, geht batroxobingebildetes Fibrin I nach Zusatz von etwas Essigsäure sofort in Lösung und geliert wieder, wenn die Säure neutralisiert wird. Dieses besondere Verhalten von Fibrin I wird zur Herstellung eines chirurgischen Gewebeklebers und Hämostyptikums, Vivostat®, aus dem Eigenblut chirurgischer Patienten genutzt: Vor der Operation steril entnommenes Blut wird zentrifugiert, das Plasma gesammelt und unter Zusatz von biotinyliertem Batroxobin zur Gerinnung gebracht. Das Gerinnsel aus Fibrin I wird in konzentrierter Form in verdünnter Essigsäure gelöst, und das Biotinylbatroxobin wird mittels Avidinagarose entfernt. Die nunmehr batroxobinfreie, konzentrierte Fibrin-I-Lösung bildet die erste Kleber-Komponente. Die zweite Komponente ist eine zur Neutralisation der Essigsäure geeignete Pufferlösung. Die beiden Komponenten werden mit einer geeigneten Sprayvorrichtung simultan auf die Wunde appliziert, wobei sofortige Polymerisation, Blutstillung und allmähliche Verbindung mit dem umliegenden Gewebe erfolgt. Durch die Verwendung von Eigenblut statt tierischen Blutprodukten oder Substanzen aus Spenderblut werden eine Kontamination mit BSE-Prionen oder Infektionen mit Aids- oder Hepatitis-Viren sowie immunologische Unverträglichkeiten ausgeschlossen. Diagnostische Anwendung: Die Thrombin-Gerinnungszeit von Plasma ist bei thrombinhemmender Medikation (Heparin, Hirudin oder synthetische Inhibitoren), bei niedrigem Fibrinogengehalt und bei Vorliegen einer vererbten oder erworbenen Störung der Fibrinpolymerisation wie Dysfibrinogenämie, Paraproteinämie und Fibrin(ogen)-Degradationsprodukten (FDP) verlängert. Demgegenüber ist die Batroxobin-Gerinnungszeit (Reptilasezeit) lediglich bei gestörter Fibrinpolymerisation und niedrigem Fibrinogengehalt verlängert, während thrombinhemmende Medikamente keine Verlängerung bewirken. Die parallele Be211 Übersicht stimmung von Thrombin- und Reptilasezeit trägt daher wesentlich zur Aufklärung der Ursachen gestörter Fibrinbildung bei. Batroxobin wird auch zur Bestimmung von Fibrinogen in Plasma verwendet. Für eine Gerinnungsmethode wird aus den Reptilasezeiten einer Plasmaverdünnungsreihe mit Fibrinogenkonzentrationen von 40 bis 170 mg% eine Eichkurve erstellt. Anhand dieser Eichkurve können Reptilasezeiten von Plasmaproben direkt in Fibrinogenkonzentrationen konvertiert werden. Eine automatisierbare photometrische Fibrinogenbestimmungsmethode misst die Trübungszunahmerate einer Plasmaprobe nach Zugabe von Batroxobin [34]. Da Batroxobin, im Gegensatz zu Thrombin, bei Thrombozyten keine Aggregations- und Freisetzungsreaktionen auslöst, bildet es mit plättchenreichem Plasma ein nicht retrahierendes Gerinnsel. Ein retrahierendes Gerinnsel entsteht jedoch dann, wenn dem Plasma ein plättchenaktivierendes Agens wie ADP, Kollagen, Thrombin usw. zugesetzt wird. Die durch solche Zusätze stimulierte Gerinnselretraktion wird in einem dosisabhängigen Verhältnis durch Antiaggregantien gehemmt. Eine quantitative, volumetrische oder mechanische Auswertung der Reptilase-Gerinnselretraktion kann beispielsweise zur Untersuchung von Arzneimittelwirkungen auf Plättchenfunktionen eingesetzt werden. Plasmadefibrinierung: Batroxobin kann zur Entfernung von Fibrinogen aus Plasmaproben verwendet werden, die zur immunologischen Bestimmung von Fibrin(ogen)-Degradationsprodukten, zur elektrophoretischen Analyse von Plasmaproteinen, zur quantitativen Bestimmung von Faktor VIIa oder zur kontinuierlichen Messung der Thrombinbildung bestimmt sind [35]. Batroxobin wurde auch benutzt, um Fibrinogen aus therapeutischen Faktor-VIII-Konzentraten abzutrennen. Forschungsreagenzien: Thrombinartige Schlangengiftenzyme werden zur Untersuchung molekularer Wechselwirkungen zwischen Fibrinogen und anderen Plasmaproteinen, Gewebeproteinen und verschiedenen Zellen eingesetzt. Ausserdem werden thrombinartige Enzyme verwendet, um die Bedingungen und die Kinetik der Fibrinmonomer-Bildung zu erforschen und um die Vereinigung dieser Monomere zu verschiedenen Fibrintypen und deren Stabilisierung durch Faktor XIII zu untersuchen. Fibrino(geno)lytische Enzyme Die Gifte einer grossen Zahl von Vipernarten enthalten Metalloproteinasen, welche die Hydrolyse von denaturiertem, plasminogen212 Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 freiem Fibrin katalysieren, und die meisten dieser Enzyme sind auch befähigt, natives Fibrin und Fibrinogen zu verdauen. Diese Fibrinogenasen unterscheiden sich in ihrer Substratspezifität. Einige davon spalten spezifische Bindungen in der Aα- und/oder Bβ-Kette von Fibrinogen, während andere mit einer breiten Spezifität auch andere Plasma- und Gewebeproteine als Fibrinogen und Fibrin angreifen und eine hämorrhagische Wirkung entfalten. Dementsprechend werden solche Metalloproteinasen auch als Hämorrhagine bezeichnet. Für eine Übersicht siehe [36]. Fibrolase, eine aus dem Gift der Agkistrodon contortrix isolierte, gut charakterisierte Fibrinogenase mit einer günstigen enzymatischen Spezifität, wird als potentieller antithrombotischer Wirkstoff erprobt. Fibrolase wurde auch bereits mittels rekombinanter Technologie produziert [37]. Plasminogenaktivatoren: Aus dem Gift der Trimeresurus stejnegeri wurde eine Serinproteinase, TSV-PA, isoliert, welche die Arg561Val562-Bindung von Plasminogen spaltet und dadurch zur Bildung von Plasmin führt [38]. Die Primärstruktur von TSV-PA konnte aus der Sequenz der klonierten cDNA abgeleitet werden. Plasminogenaktivatorinhibitor Typ 1 (PAI-1) hemmt TSV-PA nicht. TSV-PA stellt möglicherweise ein Strukturmodell für die Entwicklung neuartiger Plasminogenaktivatoren dar. Wirkung auf das Protein-C-System Vom Ort seiner Aktivierung in die Blutbahn abwanderndes Thrombin bildet mit dem in der Gefässwand lokalisierten Thrombomodulin einen Aktivatorkomplex, der das ZymogenProtein-C (PC) in aktiviertes Protein C (APC) umwandelt. In Abwesenheit von Thrombomodulin bewirkt Thrombin nur eine sehr langsame PC-Aktivierung. Aktiviertes Protein C ist eine Proteinase, die stimuliert durch den Kofaktor, Protein S (PS), die aktivierten Plasmafaktoren Va und VIIIa zerstört und dadurch die Prothrombinaktivierung drastisch verlangsamt. Um die Bedeutung dieses Vorgangs ermessen zu können, sei an die Wirkung der nichtenzymatischen Kofaktoren Va und F.VIIIa erinnert: Als Komponente des Prothrombinasekomplexes potenziert Faktor Va die durch Faktor Xa katalysierte proteolytische Umwandlung von inaktivem Prothrombin zu aktivem Thrombin und Faktor VIIIa, als Komponente des Tenasekomplexes beschleunigt er die Aktivierung von Faktor X zu F.Xa durch die Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Übersicht Proteinase F.IXa. Die Wirkung der beiden Kofaktoren besteht wahrscheinlich im Vermitteln optimaler molekularer Kontakte zwischen Aktivator und zu aktivierendem Zymogen. Bei optimaler Konzentration an Kalziumionen und Phospholipiden beschleunigt F.VIIIa die Aktivierung von F. X um das 190fache [39], und Faktor Va bewirkt eine 235fache Beschleunigung der Prothrombinaktivierung durch F.Xa [40]. Dementsprechend bewirkt die Inaktivierung von F.Va und VIIIa durch aktiviertes Protein C eine starke Verlangsamung dieser Aktivierungsreaktionen und dadurch des ganzen Blutgerinnungsvorgangs. Zusammen mit den plasmatischen Proteinaseinhibitoren bilden PC und PS ein effizientes gerinnungshemmendes System zur Verhütung intravasaler Gerinnung. Da Menschen, die einen Defekt im Protein-CSystem aufweisen, einer erhöhten Thrombosegefahr ausgesetzt sind, ist quantitative und qualitative Untersuchung des PC-Systems von grosser diagnostischer Bedeutung. Das Protein-C-System kann durch Mangel oder Dysfunktion von PC oder PS, verzögerte Aktivierung von PC sowie durch Resistenz von Faktor Va oder VIIIa gegen APC gestört sein. Proteinasen, die mit speziesabhängiger Präferenz das Zymogen PC von Wirbeltieren in aktives APC umwandeln, wurden in mehreren Schlangengiften entdeckt. Eine langsame PCAktivierung wurde mit RVV-X beobachtet, und mit Batroxobin konnte in Anwesenheit von Thrombomodulin eine Aktivierung erzielt werden. Das PC-aktivierende Enzym aus dem Gift der nordamerikanischen Kupferkopfschlange Agkistrodon contortrix, das unabhängig von Kofaktoren eine rasche PC-Aktivierung bewirkt, findet unter dem Warenzeichen Protac® eine breite Anwendung in der Untersuchung des PC-Systems. Anders als bei der physiologischen, durch Thrombin katalysierten PC-Aktivierungen, die Thrombomodulin als Kofaktor benötigt, bewirkt Protac die direkte Umwandlung von PC in das aktive Enzym APC. Das in einer Plasmaprobe durch Protac generierte APC kann nun entweder direkt mit einem chromogenen Substrat oder in einem Gerinnungstest, anhand der verminderten generierbaren Thrombinmenge oder anhand der verlängerten Gerinnungszeit bestimmt werden [41]. Die Versuchsanordnung kann auch so gestaltet werden, dass die Wirkung des in der Plasmaprobe vorliegenden PS erfasst wird [42]. Bei einer immunochromogenen PC-Bestimmung wird PC aus der Plasmaprobe mit einem immobilisierten, monoklonalen Antikörper eingefangen, mittels Protac aktiviert und mit einem chromogenen Substrat quantitativ bestimmt [43]. Vererbte oder erworbene Defekte des PC-Systems, einschliesslich quantitative oder qualitative PC- oder PS-Anomalien, Antikörper gegen die Phospholipidkomplexe von PC und PS sowie APC-resistente Mutanten von Faktor V sind für eine grosse Zahl spontaner Thrombosen verantwortlich [44]. Eine generelle Prüfung der funktionellen Integrität des PC-Systems, einschliesslich seiner Substrate Faktor Va und Faktor VIIIa ist darum von grossem diagnostischem Wert. Der Globaltest (PCAT) misst die von der PC-Aktivierung und der Gerinnungsaktivierung abhängige Gerinnungszeit einer Plasmaprobe nach gleichzeitigem Zusatz von Kalziumionen, Protac und Thromboplastin bzw. Partialthromboplastin [45]. Wirkung auf plasmatische Proteinaseinhibitoren In Schlangengiften wurden Proteinasen, die verschiedene Serinproteinaseinhibitoren (Serpine) und sogar α2-Macroglobulin (α2-M) inaktivieren, entdeckt. Für eine Übersicht über Serpin-inaktivierende Metalloproteinasen siehe [46] und über α2-M-inaktivierende Enzyme siehe [47]. Derartige Enzyme werden diagnostischen Testsystemen zugefügt, wenn es darum geht, den störenden Einfluss von plasmatischen Inhibitoren auszuschalten. So kann man beispielsweise mittels CR-Serpinase aus Causus-rhombeatus-Gift [48] das Antithrombin III (AT-III) einer Plasmaprobe inaktivieren, um dadurch den störenden Effekt von Heparin auszuschalten. Ein Enzym aus Bitis-arietansGift wird bei der Bestimmung von Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI) eingesetzt, um störendes α2-Antiplasmin und α2-Macroglobulin zu inaktivieren [49]. Schlangengifte in der Neurobiologie Nervenzellen bilden mit ihren faserigen Fortsätzen ein Netzwerk zwischen Organen und Geweben und dienen der raschen Übertragung von Signalen und Information. Die Fortpflanzung von Impulsen innerhalb der Nervenzelle erfolgt durch elektrische Ströme. Die Reizübertragung von einer Nervenzelle zur anderen wird durch Ausschüttung und Emp213 Übersicht fang von chemischen Überträgersubstanzen, Neurotransmittern, getätigt und läuft über Synapsen genannte Schaltstellen. Der Bildung und Freisetzung von Neurotransmittern gehen komplexe physikochemische Reaktionen voraus, die in der Durchdringung der Zellmembran durch die Botenstoffe ihren präsynaptischen Abschluss finden. Postsynaptisch findet die Reizübertragung ihre Fortsetzung in der Durchdringung der Membran der Empfängerzelle durch den Botenstoff und in stromerzeugenden chemischen Reaktionen. Für eine detaillierte Darstellung der wesentlichen neurochemischen Reaktionen siehe [50]. Die Synapsen bilden hochempfindliche Angriffspunkte für die Neurotoxine der Schlangengifte, die entweder postsynaptisch den Empfang von Neurotransmittern oder präsynaptisch die Aussendung dieser Botenstoffe stören können. Eine Übersicht über Neurotoxine in Schlangengiften und ihre Wirkung findet sich unter Referenz [51]. Postsynaptische Neurotoxine Bis heute wurden über 100 postsynaptische Neurotoxine aus Schlangengiften isoliert und als basische Proteine mit Mr 6000 bis 8000 Dalton charakterisiert. Struktur und Wirkungsweise dieser postsynaptischen Neurotoxine wurden weitgehend aufgeklärt. Postsynaptische Neurotoxine binden mit unterschiedlich grosser Affinität an die Nikotin-Acetylcholinrezeptoren (nACh-Rezeptoren) der motorischen Endplatten und verhindern so die Übertragung eines Nervenreizes auf den Muskel. Die Bindung zwischen Neurotoxin und Rezeptor ist im Falle von α-Bungarotoxin (α-Btx) aus Bungarus-multicinctus-Gift praktisch irreversibel, im Falle von Toxin 3 aus dem Gift der Naja naja siamensis jedoch reversibel. Dichtbindende postsynaptische Neurotoxine wie α-Btx finden eine praktische Anwendung bei der Lokalisierung und Quantifizierung der nACh-Rezeptoren in verschiedenen Geweben und beim Studium der Rezeptorsynthese. Dabei gelangen die Neurotoxine meistens in Fluoreszenz- oder radioaktiv markierter Form zum Einsatz. Immobilisiertes α-Btx wird auch zur Isolierung der nACh-Rezeptoren aus Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Gewebeextrakten mittels Affinitätschromatographie eingesetzt. Reversibel bindende Toxine eignen sich zur Untersuchung kompetitiver oder nichtkompetitiver Toxinbindung, Affinität zu verschiedenen Bindungstellen usw. Präsynaptische Neurotoxine Präsynaptische Neurotoxine verhindern bzw. stimulieren über bislang wenig aufgeklärte Mechanismen die Freisetzung von Neurotransmittern. Toxische Phospholipasen A2: Die bis heute etwa 15 in reinem Zustand aus Schlangengiften isolierten präsynaptischen Neurotoxine sind toxische Phospholipasen A2 (PLA2), die aufgrund von Strukturmerkmalen den folgenden 4 Gruppen zugeordnet werden können: (a) einkettige PLA2, (b) PLA2 mit einem kovalent gebundenen Polypeptid, (c) Komplexe von PLA2 mit potenzierenden oder hemmenden Polypeptiden, (d) aus 3 bis 4 Untereinheiten bestehende PLA2-Komplexe. Die akzessorischen Polypeptidmoleküle dieser Toxine sind mindestens teilweise für deren Zielausrichtung und Bindungsaffinität verantwortlich. Die Wirkung dieser toxischen Phospholipasen erfolgt in mehreren Phasen, wobei nach einer Lagphase zunächst die Transmitterfreisetzung gehemmt, dann gesteigert und in einer letzten Phase progressiv bis zur totalen Blockad gehemmt wird. Die verschiedenen präsynaptischen Neurotoxine werden als Hilfsmittel bei der Untersuchung jener Substanzen und Reaktionen eingesetzt, die nach einem elektrischen Reiz zur Bildung eines Neurotransmitters und zu dessen Penetration der Zellmembran und Freisetzung führen. Dendrotoxine: In Mambagiften (Dendroaspis species) kommen stark basische, aus 57 bis 60 Aminosäuren bestehende Polypeptide (Dendrotoxine) vor, die in geringer Dosis die Freisetzung von Acetylcholin in Nerv-Muskelpräparaten stark erhöhen. Dendrotoxine sind ausserdem starke, spezifische Hemmstoffe für verschiedene Typen von Kaliumionenkanälen. Dementsprechend werden diese Toxine zur Charakterisierung von K-Ionenknälen eingesetzt. Schlussfolgerungen Die Koevolution von Giftschlangen und Beutetieren brachte eine Vielzahl von Giftkomponenten hervor, die punktuell oder breit gefächert, als Einzelwirkstoffe oder im syner214 gistischen Verband mit anderen Giftbestandteilen, lebenswichtige Strukturen in Beuteorganismen derart verändern, dass deren biologische Funktion zum Erliegen kommt. Dank Schweiz Med Wochenschr 1999;129: Nr 5 Übersicht der einfachen Verfügbarkeit von Probematerial ist die Wirkung vieler Schlangengiftproteine auf menschliche Blutbestandteile, insbesondere auf das Hämostasesystem, weitgehend erforscht und die Wirkungsweise vieler neurotoxischer Giftbestandteile aufgeklärt. Einige isolierte Schlangengiftproteine mit bekannter Wirkungsweise haben daher als pharmazeutische Wirkstoffe, als diagnostische Reagenzien oder als präparative Hilfsmittel eine praktische Anwendung im Bereich der Hämostaseologie, der Neurobiologie und des Komplementsystems gefunden. Die Gifte der rund 300 Giftschlangenarten der Erde bergen jedoch noch zahlreiche, möglicherweise medizinisch nutzbare Proteine mit bisher unerkannter Wirkung. Es ist aber zu befürchten, dass das Erbgut vieler vom Aussterben bedrohter Giftschlangenspezies verschwindet, bevor wir die Rolle dieser Tiere im biologischen Gleichgewicht begreifen und bevor wir die einzigartigen Wirkstoffe ihrer Gifte erkennen und zu nutzen verstehen. 1 Bdollah A. The venom glands of snakes and venom secretion. In: Lee CY, editor. Snake venoms. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag; 1979. p. 41–57. 2 Meier J, Adler C, Surber-Cueni G. A simple method to evaluate the digestive effect of snake venoms (abstract). Toxicon 1991;29:290. 3 Stocker K. Composition of snake venoms. In: Stocker K, editor. Medical use of snake venom proteins. Boca Raton: CRCPress; 1990. p. 33–56. 4 Bailey GS, editor. Enzymes from snake venom. 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