Vektorfelder auf Flächen

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Vektorfelder auf Flächen
26
1.4
Kapitel 1. Gew¨ohnliche Differentialgleichungen
Phasenbilder linearer Vektorfelder
In diesem Abschnitt werden wir konkret lineare Vektorfelder auf R2 betrachten. Ein
solches Vektorfeld ist durch
mit einer fest gew¨ahlten 2 × 2-Matrix
Multiplikation
a b
gegeben. Sei also A =
∈ M2×2 (R). Der Einfachheit halber nehmen wir
c d
weiter an, dass det A 6= 0. Die Matrix A definiert das lineare Vektorfeld F : R2 → R2 ,
F (v) = Av, und das entsprechende Differentialgleichungssystem lautet
x(t)
˙
= ax(t) + by(t)
y(t)
˙
= cx(t) + dy(t)
und das dazugeh¨orige dynamische System ϕ: R × R2 → R2 ist gegeben durch
x0
x0
tA
ϕ(t,
)=e
.
y0
y0
Nun wollen wir daran gehen, die Bahnen der Punkte in R2 zu beschreiben. Weil wir
vorausgesetzt haben, dass det A 6= 0, hat die Gleichung F (v) = Av = 0 nur eine
L¨osung in R2 , n¨amlich den Nullvektor. Also hat das dynamische System nur eine
Gleichgewichtslage und zwar im Nullpunkt. Alle u
¨brigen Bahnen sind Kurven.
1. Fall: Sei A = λE f¨
ur ein λ ∈ R mit λ 6= 0.
Dann lautet der Fluss
x0
x0
λt
ϕ(t,
)=e
.
y0
y0
S¨amtliche Bahnen durch Punkte 6= 0 sind also Radialstrahlen. Ist λ < 0, so gilt
limt→∞ ϕ(t, v) = limt→∞ eλt v = 0. Ist dagegen λ > 0, so ist der Fluss f¨
ur t > 0 stets
nach aussen gerichtet.
2. Fall: Die Matrix A hat zwei verschiedene reelle Eigenwerte λ1 , λ2 6= 0.
Dann gibt es linear unabh¨angige Eigenvektoren v1 , v2 ∈ R2 zu λ1 bzw. λ2 , und
die allgemeine L¨osung der Differentialgleichung lautet:
x(t)
= ϕ(t, c1 v1 + c2 v2 ) = c1 eλ1 t v1 + c2 eλ2 t v2 (c1 , c2 ∈ R, t ∈ R) .
y(t)
W¨ahlen wir die Vektoren v1 , v2 als Basis, und bezeichnen wir die Koordinaten von
ϕ(t, c1 v1 + c2 v2 ) bezogen auf diese Basis mit x˜(t), y˜(t), so gilt also
x˜(t) = c1 eλ1 t
und y˜(t) = c2 eλ2 t .
Man beachte, dass das Vorzeichen von x˜(t) bzw. y˜(t) f¨
ur alle Zeiten mit dem Vorzeichen der Startwerte c1 bzw. c2 u
¨bereinstimmt, weil die Exponentialfunktion nur
positive Werte annimmt. Die Bahn eines Punktes v verl¨auft also ganz in demselben
Quadranten (bezogen auf das v1 -v2 -Koordinatensystem) wie v.
1.4. Phasenbilder linearer Vektorfelder
27
Ist c2 = 0, so liegt die entsprechende Bahn in der Gerade durch v1 , und ist c1 = 0,
so liegt die Bahn in der Gerade durch v2 . Genauer bildet jeder der vier Halbstrahlen
auf den Geraden durch die Eigenvektoren v1 , v2 eine Bahn. Die Gestalt der weiteren
Bahnen h¨angt entscheidend von den Vorzeichen der Eigenwerte ab.
Fall 2(i): λ1 > 0, λ2 < 0.
In dieser Situation gilt f¨
ur alle t
2 λ1
(˜
x(t))−λ2 (˜
y (t))λ1 = c−λ
1 c2 =: c konstant .
Falls c1 6= 0, ist x˜(t) 6= 0, und wir erhalten die Beziehung
y˜(t) = c
1
,
x˜µ
wobei µ := − λλ12 > 0. Die L¨osungsmenge dieser Gleichung ist (falls c 6= 0) eine
verallgemeinerte Hyperbel. Die Bahnen sind also Halbstrahlen im v1 -v2 -Achsenkreuz
bzw. verallgemeinerte Hyperbel¨aste. Tr¨agt man in das Phasenbild ausserdem die
Flussrichtung f¨
ur t > 0 ein, so zeigt sich, dass die Punkte auf den Hyperbel¨asten
von der y-Achse weg auf die x-Achse zu fliessen.
Das Phasenbild bezogen auf die Ausgangskoordinaten ergibt sich durch erneuten Basiswechsel von dem durch v1 , v2 erzeugten System zur¨
uck zum kartesischen
Koordinatensystem.
Fall 2(ii): λ2 > λ1 > 0.
Ist zum Beispiel λ2 = 2, λ1 = 1 und v2 = e2 , v1 = e1 , dann lautet die L¨osung
x(t) = c1 et , y(t) = c2 e2t . Also gilt f¨
ur alle t (falls c1 6= 0):
y(t) =
c2
x(t)2 .
c21
Dies ist eine Parabelgleichung, falls c2 6= 0, und die Bahnen sind jeweils Parabel¨aste
(f¨
ur c1 , c2 6= 0).
Allgemeiner haben wir
µ
x˜(t)
,
y˜(t) = c2
c1
wobei µ := λλ21 > 1. Diese Gleichung beschreibt eine Potenzfunktion. Die Bahn des
Punktes c1 v1 + c2 v2 besteht aus einer “H¨alfte” des Graphen dieser Potenzfunktion,
da weder die v1 , noch die v2 -Achse u
¨ berquert werden k¨onnen.
In diesem Fall fliessen alle Punkte 6= 0 mit zunehmender Zeit vom Nullpunkt
weg.
Fall 2(iii): λ2 < λ1 < 0.
Die Phasenbilder in diesem Fall unterscheiden sich von denen im vorigen Fall
nur durch die Orientierung der Bahnen. Diesmal bewegen sich alle Punkte 6= 0 mit
wachsendem t auf den Nullpunkt zu. Man sagt, der Nullpunkt ist stabil.
3. Fall: Die Matrix A hat zwei konjugiert komplexe Eigenwerte α ± iβ (β 6= 0).
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Kapitel 1. Gew¨ohnliche Differentialgleichungen
In diesem Fall gibt es einen komplexen Eigenvektor der Form v1 +iv2 (v1 , v2 ∈ R2 )
zum Eigenwert α − iβ. Bezeichnen wir die 2 × 2-Matrix mit den Spalten v1 , v2 als
T , so gilt:
α −β
−1
T AT =
=: B .
β α
Weiter ist
tB
e
=
eαt cos βt −eαt sin βt
eαt sin βt eαt cos βt
αt
=e
cos βt − sin βt
sin βt cos βt
.
Ausserdem gilt
etA = etT BT
−1
= T etB T −1 .
Also k¨onnen wir das dynamische System so schreiben: ϕ(t, c1 v1 + c2 v2 ) =
cos βt − sin βt
c1
c1
αt
tB −1
tB
·
.
= Te
T e T (c1 v1 + c2 v2 ) = T e
sin βt cos βt
c2
c2
Schauen wir uns zun¨achst wieder den Spezialfall v1 = e1 , v
0, so
2 = e2 an. Ist α = cos βt − sin βt
sind die Bahnen der Punkte 6= 0 Kreislinien, denn die Matrix
ist
sin βt cos βt
eine Drehmatrix. Hier treten also erstmals periodische L¨osungen und damit einfach
geschlossene Bahnen auf.
Ist α > 0, so sind die Bahnen spiralf¨ormige Kurven, die (f¨
ur t > 0) vom Nullpunkt
wegdrehen. Ist α < 0, so sind die Bahnen Spiralen, die sich auf den Nullpunkt zu
bewegen.
Im Allgemeinfall haben wir entweder Ellipsen (f¨
ur α = 0) oder spiralf¨ormige
Linien ohne Selbst¨
uberschneidungen.
4. Fall: Die Matrix A hat einen doppelten reellen Eigenwert 0 6= λ ∈ R.
Hier geht die Matrix A nach einem Wechsel zu einer passenden Basis (v1 , v2 ) in
folgende Normalform u
¨ber:
λt
λ 1
e
teλt
tB
.
B=
und e =
0 eλt
0 λ
Deshalb lautet das dynamische System hier:
1 t
c1
λt
ϕ(t, c1 v1 + c2 v2 )) = (v1 v2 ) e ·
= (c1 + tc2 )eλt v1 + c2 eλt v2 .
0 1
c2
Wir haben hier also
x˜(t) = (c1 + c2 t)eλt
und y˜(t) = c2 eλt .
Daraus ergibt sich, falls c2 6= 0:
1
c2
y˜(t)
x˜(t) = y˜(t) c1 + ln
.
c2
λ
c2
1.4. Phasenbilder linearer Vektorfelder
29
Wir k¨onnen also x˜ als Funktion von y˜ auffassen. Falls c1 , c2 > 0, ist die entsprechende
Funktion f¨
ur y˜ > 0 streng konvex, sie hat genau ein lokales Minimum und einen
Schnittpunkt mit der y˜-Achse.
In diesem Fall bilden nur die Halbstrahlen auf der Gerade durch v1 Bahnen.
Die v2 -Achse ist nicht Vereinigung von Bahnen. Durch jeden Punkt ausserhalb der
v1 -Achse geht eine Bahn, deren Gestalt an einen Wirbel erinnert.
Falls λ < 0, ist der Nullpunkt stabil, andernfalls instabil.
Damit sind alle m¨oglichen F¨alle beschrieben.
Hier nun noch eine Pr¨azisierung des Begriffs der Stabilit¨at:
1.30 Definition Sei Y ≡ X0 eine station¨are L¨osung der Differentialgleichung Y ′ =
F (Y ) f¨
ur ein stetig differenzierbares Vektorfeld F . Der Punkt X0 heisst stabil, falls
zu jedem ǫ > 0 ein δ > 0 existiert mit
||X − X0 || < δ
⇒
||ϕ(t, X) − X0 || < ǫ f¨
ur alle t > 0,
und andernfalls instabil . X0 heisst Attraktor , falls ein δ > 0 existiert mit
lim ϕ(t, X) = X0
t→∞
f¨
ur alle ||X − X0 || < δ.
X0 heisst asymptotisch stabil , falls X0 ein stabiler Attraktor ist.
Es gibt folgendes Kriterium f¨
ur Stabilit¨at:
1.31 Satz Sei A eine feste n × n-Matrix mit Eigenwerten λ1 , . . . , λn . Wir setzen
γ := max{Re(λj ) | j = 1, . . . , n}. Ist γ < 0, so ist der Nullpunkt asymptotisch stabil
f¨
ur das durch A definierte dynamische System. Ist γ > 0, ist der Nullpunkt instabil.
Der Vergleich mit den oben beschriebenen Phasenbildern zeigt, dass die intuitiv
vorgenommene Einteilung mit der nun gegebenen Definition, sowie mit dem Kriterium f¨
ur Stabilit¨at u
¨bereinstimmt.
Durch Dreigliedentwicklung erh¨alt man nun auch ein Stabilit¨atskriterium f¨
ur
station¨are Punkte von stetig differenzierbaren Vektorfeldern.
1.32 Satz Sei F : D ⊂ Rn → Rn ein stetig differenzierbares Vektorfeld, und sei
Y ≡ X0 eine station¨are L¨osung der Differentialgleichung Y ′ = F (Y ). Bezeichne
weiter γ das Maximum der Realteile von Eigenwerten des Differentials DF (X0 ) von
F bei X0 . Entsprechend zu eben gilt: Ist γ < 0, so ist der Nullpunkt asymptotisch
stabil f¨
ur das durch F definierte dynamische System. Ist γ > 0, ist der Nullpunkt
instabil.
Die Beweisidee besteht darin, die Aussage durch Dreigliedentwicklung auf den
linearen Fall zur¨
uckf¨
uhren. Die Dreigliedentwicklung im Punkt X0 lautet hier:
F (Y ) = F (X0 ) + DF (X0) · Y + R(Y ) · ||Y || = DF (X0 ) · Y + R(Y ) · ||Y || .
30
Kapitel 1. Gew¨ohnliche Differentialgleichungen
1.33 Beispiel Wir betrachten die Differentialgleichung
x˙ = x2 − λ (λ ∈ R).
2
Die
√ Gleichgewichtspunkte sind die Nullstellen der Funktion f (x) = x − λ, n¨amlich
± λ (falls λ ≥ 0). Der Phasenraum
ur
√ ist hier eindimensional, und im Phasenbild f¨
λ > 0 gibt es die zwei Punkte
± √λ. √
Im Komplement
dieser beiden Punkte gibt es
√
√
die drei Bahnen (−∞, − λ), (− λ, λ), ( λ, ∞).
√
Das√Differential von f lautet f ′ (x) = 2x,√und daher ist γ = ±2 λ. Der Punkt
x = − λ ist also stabil und der Punkt x = λ instabil.
Und hier noch ein weiteres Beispiel:
−x(1 + y)
1.34 Beispiel Das Vektorfeld F (x, y) =
(f¨
ur x, y ∈ R) hat zwei
x−y
Nullstellen, n¨amlich den Nullpunkt und den Punkt p = (−1, −1). Der entsprechende Fluss hat also zwei Gleichgewichtspunkte.
DasDifferential des Vektorfeldes an
−(1 + y) −x
. In den Gleichgewichtspunkten
einer Stelle (x, y) lautet DF(x,y) =
1
−1
haben wir also:
−1 0
0 1
DF(0,0) =
und DF(−1,−1) =
.
1 −1
1 −1
Im Nullpunkt haben wir den doppelten Eigenwert −1, der √
Nullpunkt ist also asym1
ptotisch stabil. Im Punkt p haben wir die Eigenwerte 2 (1± 5). Das ist ein positiver
und ein negativer Eigenwert. Also ist der Punkt p instabil.
1.5
Exkurs: Divergenz und Rotation
Das Ziel dieses Abschnittes ist es, die Divergenz und die Rotation eines linearen
Vektorfeldes mithilfe des Flusses nochmals geometrisch zu interpretieren.
Sei also A eine n × n-Matrix und F (X) = A · X f¨
ur X ∈ D ⊂ Rn . Der zugeh¨orige
tA
Fluss lautet dann ϕ(t, X) = e · X f¨
ur (t, X) ∈ R × D. Ist t ∈ R fest gew¨ahlt, so
wird durch die Vorschrift
ϕt (X) := ϕ(t, X) f¨
ur X ∈ D
eine bijektive Transformation des Phasenraums D definiert. In diesem Fall ist es
eine lineare Transformation, gegeben durch die Multiplikation mit der Matrix etA .
1.35 Satz Das Vektorfeld F ist genau dann quellenfrei , das heisst div F ≡ 0, wenn
der Fluss ϕ volumentreu ist. Damit ist gemeint, dass f¨
ur jede messbare Teilmenge
K ⊂ D und alle t ∈ R gilt:
Voln (K) = Voln (ϕt (K)) .
Das bedeutet also, dass sich das Volumen der Teilmenge K bei der Transformation
ϕt nicht ¨andert.
1.5. Exkurs: Divergenz und Rotation
31
Beweis. Die Transformation ϕt ist durch die Multiplikation mit der Matrix etA gegeben. Nun wissen wir bereits, wie sich das Volumen einer Teilmenge bei Anwendung
einer linearen Abbildung ¨andert. Das Ausgangsvolumen wird n¨amlich mit dem Betrag der Determinante der entsprechenden Matrix multipliziert. Es gilt also:
Voln (ϕt (K)) = Voln (etA · K) = | det(etA )| Voln (K) .
Das heisst, die Transformation ϕt ist genau dann volumentreu, wenn det(etA ) = ±1.
Ausserdem gilt, wie schon fr¨
uher gezeigt:
det etA = et Spur(A) .
Die Determinante ist also in jedem Fall positiv, und die Transformation ϕt ist genau
dann volumentreu, wenn Spur A = 0. Erinnern wir uns nun an die Definition der
Divergenz eines Vektorfeldes. Es gilt
div F (X) =
n
X
∂k Fk (X) = Spur DFX ,
k=1
wenn Fk die Komponenten des Vektorfeldes F bezeichnet. Die Divergenz an einer
Stelle X ist also nichts anderes als die Spur des Differentials von F an der Stelle X.
Wir betrachten hier aber ein lineares Vektorfeld F , das Differential stimmt hier also
an jeder Stelle mit F u
ur jedes X ∈ D:
¨berein. Deshalb ist f¨
div F (X) = Spur DFX = Spur A .
Zusammen folgt nun die Behauptung.
q.e.d.
−1 0
1.36 Beispiel Das Vektorfeld zur Matrix A =
ist nicht quellenfrei.
0 −1
Denn div F (X) = Spur A = −2 6= 0 f¨
ur alle X ∈ R2 . Dies entspricht der Tatsache,
dass sich das Volumen von K¨orpern unter dem entsprechenden Fluss ϕ(t, X) = e−t X
(f¨
ur t ∈ R, X ∈ R2 ) jeweils um den Faktor e−t
¨andert.
1 0
Das Vektorfeld zur Matrix A =
dagegen ist quellenfrei, div F (X) =
0 −1
Spur A = 0 f¨
ur alle X ∈ R2 . Der entsprechende Fluss
ϕ(t, x, y) = (et x, e−t y)
ist volumentreu.
Kommen wir jetzt zur Rotation von F . Sei diesmal also A = (aij ) eine 3 × 3
Matrix und F (X) = AX f¨
ur alle X ∈ R3 . Wertet man in dieser Situation die
Definition der Rotation aus, erh¨alt man


a32 − a23
rot F (X) =  −a31 + a13  f¨
ur alle X ∈ R3 ..
a21 − a12
Betrachten wir zun¨achst zwei Spezialf¨alle.
32
Kapitel 1. Gew¨ohnliche Differentialgleichungen
1.37 Beispiele
• Ist A symmetrisch, das heisst A = At , so ist rot F (X) = 0
f¨
ur alle X ∈ R3 . Nach dem Hauptsatz u
¨ ber symmetrische Matrizen gibt es in
diesem Fall eine Orthonormalbasis v1 , v2 , v3 aus Eigenvektoren f¨
ur A. Bezogen
auf dieses Koordinatensystem wird F durch eine Diagonalmatrix beschrieben,
etwa


λ1 0 0
D =  0 λ2 0  .
0 0 λ3
Der entsprechende Fluss lautet also
ϕt (c1 v1 + c2 v2 + c3 v3 ) =
3
X
etλk ck vk
k=1
f¨
ur t ∈ R, ck ∈ R .
Die Transformation ϕt hat also dieselben Hauptachsen wie A und die Eigenwerte etλk .
• Sei jetzt A antisymmetrisch, das heisst A = −At . Dann k¨onnen wir A in
folgender Form schreiben:


0 −c b
A= c
0 −a  .
−b a
0
Mit diesen Bezeichnungen ist
 
a

rot F (X) = 2 b 
c
f¨
ur alle X ∈ R3 .
 
a

Der Fluss ϕ ist jetzt eine r¨aumliche Drehung um die Achse v = b  mit der
c
Winkelgeschwindigkeit ||v||.
Denn aus A = −At folgt f¨
ur alle t ∈ R:
t
etA (etA )t = etA+tA = E ,
und das heisst, et A ist eine orthogonale Matrix. Weil det(etA ) > 0, muss sogar
etA ∈ SO3 (R) gelten. Es handelt sich also um eine r¨aumliche Drehmatrix.
Ausserdem k¨onnen wir nachrechnen, dass der Vektor v ein Eigenvektor von
etA zum Eigenwert 1 ist:
   
∞
a
a
k
Xt
Ak ·  b  =  b  = v .
etA · v =
k!
k=0
c
c
Also gibt v die zugeh¨orige Drehachse an.
1.6. Vektorfelder auf Fl¨achen und Eulercharakteristik
33
Sei jetzt A eine beliebige 3 × 3-Matrix. Dann k¨onnen wir A folgendermassen in
einen symmetrischen und einen antisymmetrischen Anteil zerlegen:
1
1
wobei A1 = (A + At ) und A2 = (A − At ) .
2
2
Bezeichnen wir die A1 und A2 entsprechenden Vektorfelder mit F1 und F2 , so erhalten wir eine Zerlegung von F der Form
A = A1 + A2 ,
F = F1 + F2 ,
wobei
rot F = rot F2 ,
weil die Rotation von F1 , wie eben gezeigt, verschwindet. F¨
ur den entsprechenden
Fluss gilt:
ϕt (X) = et(A1 +A2 ) X = etA1 (etA2 · X) f¨
ur alle X ∈ R3 .
Das bedeutet, wir k¨onnen uns die Transformation ϕt vorstellen als die Zusammensetzung einer Drehung, gegeben durch die Matrix etA2 , mit einer diagonalisierbaren
Transformation wie im ersten Beispiel. Dabei gibt die Rotation von F die Drehachse und die Winkelgeschwindigkeit des Drehanteils von ϕt an. Das erkl¨art auch die
Bezeichnung “Rotation”.
1.6
¨chen und Eulercharakteristik
Vektorfelder auf Fla
Ein stetiges Vektorfeld auf einer Fl¨ache M ist definiert als eine stetige Zuordnung
F : M → T M mit der Eigenschaft, dass F (p) ∈ Tp M f¨
ur alle p ∈ M. Jedem Punkt
der Fl¨ache wird also auf stetige Art ein Tangentialvektor an dieser Stelle zugeord¨
net. Ubertr¨
agt man mithilfe einer Kartenabbildung ein Teilst¨
uck der Fl¨ache in eine
2
flache offene Teilmenge von R , so kann man mit dem Differential der Kartenabbildung auch das Vektorfeld auf die Karte u
¨bertragen. Ist umgekehrt Φ: U → V eine
bijektive, differenzierbare Abbildung von einer offenen Teilmenge U ⊂ R2 auf ein
Fl¨achenst¨
uck V ⊂ M, so liefert jedes Vektorfeld F auf U ein Vektorfeld F˜ auf V ,
n¨amlich:
F˜ (Φ(a)) := DΦa (F (a)) ∀a ∈ U .
Ist ein Vektorfeld auf M sogar stetig differenzierbar, dann definiert es auch einen
Fluss auf M. Dies ergibt sich sofort aus der Beschreibung in den Karten.
W¨ahrend es zum Beispiel auf dem Torus stetige Vektorfelder gibt, die keine
Nullstellen haben, existiert so etwas auf der Kugeloberfl¨ache nicht. Genauer gilt
folgendes:
1.38 Satz Jedes stetig differenzierbare Vektorfeld auf S 2 hat mindestens eine Nullstelle.
Diese bemerkenswerte Aussage ist bekannt unter dem Namen ”Igelsatz”. Es bedeutet n¨amlich, dass man einen (kugelf¨ormigen, u
¨ berall mit Stacheln besetzten)
Igel nicht stetig k¨ammen kann. Wir werden diesen Satz am Ende des Paragraphen
beweisen, treffen aber erst einige Vorbereitungen.
Sei zun¨achst F : D → R2 ein stetig differenzierbares Vektorfeld auf einer offenen
Teilmenge der Ebene.
34
Kapitel 1. Gew¨ohnliche Differentialgleichungen
1.39 Definition Sei γ: [a, b] → D ein stetig differenzierbarer, geschlossener Weg
auf D, auf dem keine Nullstellen von F liegen. Unter dem Index von γ bezogen
auf F versteht man die orientierte Anzahl Uml¨aufe, die das Vektorfeld F l¨angs γ
macht, oder anders gesagt, die Umlaufzahl von F ◦ γ um den Nullpunkt in R2 .
Wenn wir hier R2 mit der komplexen Zahlenebene identifizieren, k¨onnen wir wie in
der Funktionentheorie schreiben:
Z
1
dz
index(γ, F ) := νF ◦γ (0) =
.
2πi F ◦γ z
Hier sind einige wichtige Eigenschaften des Indexes.
1.40 Bemerkung
• Der Index h¨angt sowohl von γ als auch von F stetig ab.
• Deformiert man den Weg γ, ohne dabei Nullstellen des Vektorfeldes F zu
u
¨ berqueren, dann ¨andert sich der Index nicht.
• Deformiert man das Vektorfeld F stetig, ohne dass w¨ahrend der Deformation
l¨angs γ Nullstellen entstehen, dann bleibt der Index von γ dabei unver¨andert.
• Ist γ der Rand einer Kreisscheibe Kr (p) ⊂ D um eine Nichtnullstelle p, die
keine Nullstellen von F enth¨alt, dann ist index(γ, F ) = 0.
1.41 Lemma Ist p eine Nichtnullstelle des Vektorfeldes F , dann kann man F in
der N¨ahe von p stetig in ein konstantes Vektorfeld deformieren, ohne dass dabei
unterwegs Nullstellen entstehen.
Beweis. Weil das Vektorfeld F stetig ist und nach Voraussetzung F (p) 6= 0, k¨onnen
wir eine positive Zahl M und eine Kreisscheibe K um p finden, so dass ||F (q)|| > M
und ||F (q) − F (p)|| < M/2 f¨
ur alle q ∈ K. Nun definieren eine stetige Familie von
Vektorfeldern Fs (mit 0 ≤ s ≤ 1) auf K durch Fs (q) := F (p) + s(F (q) − F (p)) f¨
ur
q ∈ K. Offenbar ist F0 ein konstantes Vektorfeld und F1 = F . Ausserdem hat Fs
keine Nullstellen auf K (f¨
ur jedes s), denn ||Fs (q)|| = ||F (p) + s(F (q) − F (p))|| ≥
||F (p)|| − s ||F (q) − F (p)|| ≥ M − M/2 = M/2 > 0.
q.e.d.
Wir k¨onnen nun auch jeder isolierten Nullstelle des Vektorfeldes einen Index
zuordnen.
1.42 Definition Ist p eine isolierte Nullstelle von F , dann setzt man
index(p, F ) := index(γr , F ) ,
wobei γr (t) = p+reit (f¨
ur t ∈ [0, 2π]) den positiv orientierten Rand einer Scheibe von
Radius r um p bezeichnet, die so klein gew¨ahlt ist, dass sie keine weiteren Nullstellen
von F ausser p enth¨alt. Wie eben bemerkt, h¨angt der Index nicht von der genauen
Wahl von r ab, der Index von p ist also wohldefiniert.
1.6. Vektorfelder auf Fl¨achen und Eulercharakteristik
35
1.43 Beispiele Ist F (v) = −v f¨
ur alle v ∈ R2 , so ist index(0, F ) = 1. Fassen
wir dagegen die komplexe Abbildung G(z) = z n (∀z ∈ C, n ∈ Z fest) als ebenes
Vektorfeld auf, so ist index(0, G) = n.
Auf ¨ahnliche Art, wie man den Residuensatz beweist, kann man folgendes zeigen:
1.44 Satz Sei D ⊂ R2 ein sternf¨ormiges offenes Gebiet und F : D → R2 ein stetig
differenzierbares Vektorfeld mit nur endlich vielen Nullstellen. Ist γ eine einfach
geschlossene, positiv orientierte Kurve in D, so gilt
index(γ, F ) =
r
X
index(pk , F ) ,
k=1
wobei p1 , . . . , pr diejenigen Nullstellen von F bezeichnet, die im Innern von γ liegen.
1.45 Folgerung Ist der Index einer einfach geschlossenen Kurve bezogen auf F
ungleich 0, so enth¨alt γ im Innern mindestens eine Nullstelle von F .
Betrachten wir nun Vektorfelder auf der 2-Sph¨are.
1.46 Satz Ist F ein stetig differenzierbares Vektorfeld auf S 2 mit nur endlich vielen
Nullstellen p1 , . . . , pn , dann gilt:
n
X
index(pk , F ) = 2 .
k=1
Insbesondere hat jedes stetig differenzierbare Vektorfeld auf S 2 mindestens eine Nullstelle.
Die Summe des Indizes s¨amtlicher Nullstellen ist also unabh¨angig von der Wahl
des Vektorfeldes. Sie stimmt u
¨berein mit der sogenannten Eulercharakteristik der
2-Sph¨are. Allgemeiner gilt folgendes:
1.47 Satz Ist M eine geschlossene glatte Fl¨ache und F ein stetig differenzierbares
Vektorfeld auf M mit nur endlich vielen Nullstellen p1 , . . . , pn , dann ist
n
X
index(pk , F ) = χ(M) .
k=1
Dabei ist χ(M) eine Zahl, die nur von M abh¨angt. Man nennt diese Zahl die Eulercharakteristik von M. Zum Beispiel ist die Eulercharakteristik des Torus gleich 0.
Bevor wir den Satz u
¨ber Vektorfelder auf der Kugeloberfl¨ache beweisen, schauen
wir uns zwei Beispiele genauer an.
1.48 Beispiele Sei zuerst F ein Vektorfeld auf S 2 , dessen Flusslinien die L¨angengrade sind und mit zwei Nullstellen im Nord- und im S¨
udpol. Wenn man das Vektorfeld jeweils in Karten um die Pole anschaut, stellt man fest, dass die beiden Indizes
jeweils gleich 1 sind. In der Summe kommen wir also wie behauptet auf 2.
36
Kapitel 1. Gew¨ohnliche Differentialgleichungen
Gehen wir jetzt von einem konstanten Vektorfeld auf der Ebene aus. Die Flusslinien sind also parallele Geraden. Durch Umkehrung der stereographischen Projektion wird daraus ein Vektorfeld auf S 2 . Die Flusslinien dieses Vektorfeldes bilden
eine Schar von Kreisen, die sich alle im Nordpol ber¨
uhren. Hier haben wir nur eine
Nullstelle, n¨amlich den Nordpol, und der Index dieser Nullstelle ist gleich 2.
Hier nun der angek¨
undigte Beweis von Satz 1.45:
Beweis. Nehmen wir an, das Vektorfeld F auf S 2 habe nur endlich viele Nullstellen. Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir annehmen, dass der S¨
udpol keine Nullstelle
ist. Also k¨onnen wir (nach dem obigen Lemma) F in einer kleinen Umgebung um
den S¨
udpol herum so deformieren, dass F in einer passenden Karte des S¨
udpols als
konstantes, nichtverschwindendes Vektorfeld erscheint. Die Fortsetzung dieses konstanten Vektorfeldes auf die gesamte Ebene liefert auf S 2 ein Vektorfeld, das wir F˜
nennen wollen.
Sei jetzt γ ein positiv orientierter Kreis in dieser kleinen S¨
udpolumgebung. Zeichnen wir diesen Kreis in der Nordpolkarte, enth¨alt er dort s¨amtliche Nullstellen
p1 , . . . , pn von F . Nach dem oben angegebenen Satz gilt f¨
ur den Index von γ bezogen
auf F in der Nordpolkarte:
index(γ, F ) =
n
X
index(pk , F ) .
k=1
Andererseits ist, wie im obigen Beispiel gezeigt, wiederum in der Nordpolkarte
index(γ, F˜ ) = 2 .
Weil l¨angs γ das Vektorfeld F mit F˜ u
ussen auch die Indizes u
¨bereinstimmt, m¨
¨bereinstimmen, und daraus folgt die Behauptung.
q.e.d.
1.49 Folgerung Sei f : S 2 → R eine zweimal stetig differenzierbare Funktion mit
nur endlich vielen kritischen Punkten. An jeder kritischen Stelle p sei die entsprechende Hessesche Matrix regul¨ar. Dann gilt:
1
falls f bei p ein lokales Extremum hat
index(p, ∇f ) =
−1 falls f bei p einen Sattelpunkt hat
Bezeichnen m1 , m2 und m3 jeweils die Anzahlen der lokalen Maxima, der lokalen
Minima und der Sattelpunkte von f , dann ist:
m1 + m2 − m3 = 2 .
¨
Beweis. Siehe Ubungsaufgabe.
q.e.d.