Der 8. Mai 1945: Vergangenheit erinnern – Zukunft anders gestalten

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Der 8. Mai 1945: Vergangenheit erinnern – Zukunft anders gestalten
Der 8. Mai 1945: Vergangenheit erinnern – Zukunft anders gestalten
Ein Wort zur Orientierung zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs
Präsidium der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa
I.
Vor siebzig Jahren, am 8. Mai 1945, trat die militärische Kapitulation Deutschlands in Kraft
und beendete den 2. Weltkrieg in Europa. In diesem Krieg starben nach unterschiedlichen
Schätzungen zwischen 55 bis 62 Millionen Menschen - Zivilisten und Soldaten. Allein in der
damaligen Sowjetunion wurden 27 Millionen Tote beklagt, in Polen bis zu 6 Millionen Tote.
Weltweit befanden sich geschätzt 20 Millionen Menschen auf der Flucht, wurden vertrieben,
deportiert oder zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Zerstörungen und Verwüstungen in vielen
Städten Europas wie auf dem Land waren verheerend. Tiefschmerzende Verluste und
unsägliches Leid haben viele Menschen weltweit erlitten.
II.
Im Schatten des Krieges wurde das Menschheitsverbrechen der Shoa an den Juden in Europa
begangen: 6 Millionen Juden wurden systematisch in Ghettos und Konzentrationslager
deportiert, zu Zwangsarbeiten eingesetzt, getötet, vergast, verbrannt. Dieses Verbrechen
umfaßte auch geschätzte 220.000 bis 500.000 Sinti und Roma, wie auch Menschen mit einer
Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, die ebenso verfolgt und getötet
wurden.
Wir erinnern an die biblische Klage: „Ich habe mir fast die Augen ausgeweint, mein Leib tut
mir weh, mein Herz ist auf die Erde ausgeschüttet über dem Jammer“ (Klagelieder Jeremias
2,11).
Es war dies der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner1), der dem „zivilisatorischen Grundvertrauen,
das die Menschen bis dicht an die Gegenwart getragen hat, auf lange Zeit den Boden“
entzogen hat (Joachim Fest)2.
Insbesondere im Blick auf die Shoa an den Juden musste ein erheblicher Teil der
evangelischen Kirchen erkennen, dass „sie in dieser Situation versagt haben...aus
Gleichgültigkeit und Furcht, Hochmut und Schwäche; sie versagten auch und vor allem
aufgrund von falschen Auslegungen biblischer Texte und daraus resultierendem
schrecklichen theologischen Irrtum“.3 Erst im Zuge der Erfahrung dieses Abgrunds kam es zu
einem grundlegenden Umdenken in den evangelischen Kirchen Europas und ihrer Theologie
1
Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie ehemaliger Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für
Jüdische Geschichte und Kultur und Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig
2
Joachim Fest, Bürgerlichkeit als Lebensform, Späte Essays, Hanburg 2007, 75.
3
Kirche und Israel, Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden,
Leuenberger Texte 6, Frankfurt a.M., 3. Aufl. 2004, 1.1, 15.
in der Einsicht, „dass in der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung, vom Anfang bis zum
Ende der Zeiten, das Volk Israel seinen bleibenden Ort (als von Gott erwähltes Volk) behält“.4
Dazu gehörte genauso die Erkenntnis der Bedeutung der Rechte und des Schutzes von
Minderheiten.
III.
Der 8. Mai 1945 bedeutete das Ende des Krieges in Europa, für viele Menschen wie Staaten
war dieses Ende Befreiung; aber nicht nur das, es schuf zugleich eine grundlegend neue
politische Machtkonstellation in Europa. Der Kontinent wurde geteilt, ein „Eiserner Vorhang“
errichtet. Zwischen West- und Ostblock entwickelte sich der Kalte Krieg. Die USA und die
UDSSR wurden zu den beiden bestimmenden Weltmächten, auch für Europa.
Insofern erinnern wir uns heute an den 8. Mai 1945 aus der Perspektive der Ereignisse nach
1989, die die politische Nachkriegsspaltung in Europa überwanden. Als Christen glauben wir,
dass Gott Neuanfänge schafft und schenkt. Mit dem europäischen Einigungsprozess in
Gestalt des Europarates und der Europäischen Union, ebenso wie mit der beharrlichen
politischen Verhandlungsarbeit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(der heutigen OSZE) wurde ein fundamentaler Wechsel in Europa eingeleitet und geschaffen,
der alte Gräben und Feindschaften zu überwinden vermochte – zwischen den Staaten,
Völkern, Nationen und Gesellschaften. Auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten
Nationen, mit deren Betonung des Völkerrechts und der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte haben dies gefördert. Wir betrachten diese Entwicklung als Geschenk an
Europa und seine Menschen. Wir nehmen allerdings auch wahr, dass der wirtschaftliche und
soziale Zusammenhalt in Europa bislang nicht erreicht ist.
IV.
Siebzig Jahre nach Kriegsende durchlebt Europa - seine Staaten und Gesellschaften - eine
Zeit neuer Konflikte und Verwerfungen.
Mit dem Konflikt in der Ost-Ukraine und der Besetzung der Krim ist Krieg und bewaffnete
Auseinandersetzung – nach dem Krieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen im
ehemaligen Jugoslawien in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts – wieder nach Europa
zurückgekehrt. Das Präsidium der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ist dankbar
für das Mandat der OSZE, den mit dem Minsker Abkommen erreichten Waffenstillstand vor
Ort zu überprüfen, ist sich aber auch der Brüchigkeit der derzeitigen Situation bewusst. Aus
den Kontakten zu evangelischen Gemeinden in der Ukraine wissen wir um die tiefe Not der
Menschen und ihre Befürchtungen vor weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen. Die
Seligpreisung Jesu derer, die Frieden stiften, als Kinder Gottes, gilt ganz aktuell (Matthäus
5,9), und hat einen hohen Stellenwert in allen christlichen Konfessionen. Gerade die
Menschen in Russland wie in der Ukraine haben im 2. Weltkrieg namenloses Leid und Elend
erlebt. Alle Kräfte sollten unterstützt werden, die ein gedeihliches Nebeneinander, ja einen
verlässlichen Frieden fördern.
Zugleich ist die Europäische Union nach wie vor mit einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise
konfrontiert, die nicht nur schwerwiegende soziale Konsequenzen in vielen Mitgliedsländern
4
A.a.O., 3.1, 71.
2
und Gesellschaften mit sich gebracht hat, sondern mittlerweile auch das verständnisvolle
Zusammenleben in der Union unterminiert. Einen Rückzug auf das eigene Nationale nehmen
wir in Staaten und Gesellschaften in Europa wahr, der einer Einheit in versöhnter Vielfalt, wie
es der Leitgedanke der GEKE ist, entgegenläuft.
Es ist durchaus möglich, dass die Langzeitfolgen dieser Krise ebenso wie die politischen
Maßnahmen zu ihrer Überwindung sich noch gravierend und belastend auf das
Binnenverhältnis der Staaten und Gesellschaften der EU auswirken. „Das
zusammenwachsende Europa bringt Menschen und Staaten, Nationen und Völker nahe,
manchmal näher, als ihnen lieb ist“ 5, wurde in der GEKE 2001 formuliert, um auch die
anstrengende Seite des europäischen Zusammenlebens zu beschreiben.
Umso wichtiger ist es, am 8. Mai 2015 zu unterstreichen, dass der europäische
Einigungsprozess keinesfalls allein auf Wirtschaftsdaten begründet werden darf, sondern ein
Prozess der Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens in Europa ist, das auf der
Wahrung der Menschenwürde und Menschenrechte, der Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit beruht und auf wirtschaftliche Wohlfahrt und soziale Sicherheit für alle zielt
– und dies gerade, weil Europa die ganz andere bittere Nachtseite eines totalen Krieges und
der Vernichtung des Menschlichen durchlitten hat. So wird aus dem Erinnern der
Vergangenheit eine andere Zukunft heute gestaltet.
Erinnernd setzen wir hinzu: Die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, die nur 5 Jahre nach
Kriegsende den Zusammenschluss zur Gemeinschaft von Kohle und Stahl anstieß, rief zu
einer „Solidarität der Tat“ auf, die in der heutigen Krise erneut in europäischer Perspektive zu
tun ist.
V.
Wir erleben eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Die Welt und ihre machtpolitischen
Konstellationen verschieben sich grundlegend. Wir hören von zerfallenden Staaten, von
neuen, religiös begründeten Terrorregimen. So viele Menschen wie zur Zeit des 2. Weltkriegs
sind weltweit auf der Flucht und suchen Schutz und Hilfe.
Die gewachsene, sicherlich nicht vollendete und derzeit auch gefährdete Einheit Europas ist
siebzig Jahre nach Kriegsende Geschenk und Gabe, enthält aber auch die Aufgabe inmitten
der komplexen Veränderungsprozesse weltweit, sich gemeinsam europäisch für eine
friedliche und gerechte politische Gestaltung der Welt einzusetzen. „Lass vom Bösen und tue
Gutes; suche Frieden und jage ihm nach“ ist ein Aufruf aus der hebräischen Bibel, dem Psalm
34,15, und bleibt im Erinnern des Endes des 2. Weltkriegs eine aktuelle Aufforderung,
Mahnung und Verheißung.
Das Präsidium der GEKE zum 8. Mai 2015
Wien
5
Kirche-Volk-Staat-Nation, Ein Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis, Leuenberger Texte 7, Frankfurt a.M.
2002, 6.3.3, 71.
3
Abkündigung für Gottesdienste
Das Präsidium der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, zu welcher auch unsere
Kirche gehört, hat zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs ein Wort zur
Orientierung verfasst. In diesem gedenkt es der Millionen von Opfern von Krieg, Zwangsarbeit,
Flucht und Vertreibung im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs. Zugleich drückt es seine
Dankbarkeit über Gottes Geschenk des Neuanfangs nach dem Krieg und infolge der
Überwindung der Nachkriegsspaltung in Europa aus. Es ist den Menschen in Europa
aufgeben, ihr Zusammenleben friedlich und gerecht zu gestalten, gerade auch angesichts der
Herausforderungen durch bewaffnete Auseinandersetzungen in der Ukraine und durch
schwere wirtschaftliche Krisen. In der Erklärung heißt es: „Die gewachsene, sicherlich nicht
vollendete und derzeit auch gefährdete Einheit Europas ist siebzig Jahre nach Kriegsende
Geschenk und Gabe, enthält aber auch die Aufgabe inmitten der komplexen
Veränderungsprozesse weltweit, sich gemeinsam europäisch für eine friedliche und gerechte
politische Gestaltung der Welt einzusetzen.“
„Lass vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach“. Dieser Aufruf aus Psalm
34,15 bleibt im Erinnern des Endes des 2. Weltkriegs eine aktuelle Aufforderung, Mahnung
und Verheißung.
Fürbitte zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs
Krieg hinterlässt Wunden – auch die Sieger sind Verlierer.
Immer noch tun diese Wunden weh:
die Toten,
die Kinder, die keine Kindheit hatten,
die Länder, die anschließend unter einer Diktatur leiden mussten.
Dass das Leben nachher überhaupt möglich wurde,
ist ein Geschenk von Dir, Gott.
Du hast Vergebung geschenkt,
wo wir uns und einander nicht vergeben konnten.
Du hast Neuanfang geschenkt,
wo wir alles zerstört haben.
Es gibt immer wieder Kriege.
Auch jetzt.
Wir bitten Dich für alle, die darunter unmittelbar leiden:
für die Flüchtlinge und Vertriebenen,
für die Opfer der Willkür, der Gewalt und des Hasses,
für die Soldatinnen und Soldaten, die täglich in Lebensgefahr sind,
für die Familien im Hinterland.
Schütze und begleite sie alle.
Wir bitten dich besonders für die Politiker.
Ihre Entscheidungen bestimmen die Zukunft.
Gott, wir bitten dich:
Schenke uns ein friedliches Leben und sichere Zukunft.
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