Altschüler-Erinnerungen aus 80 Jahren OSO

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Altschüler-Erinnerungen aus 80 Jahren OSO
Burgunde Niemann (Hrsg.)
„Altschüler-Erinnerungen aus 80 Jahren OSO“
im Auftrag der Odenwaldschule
zum 100-jährigen Jubiläum 2010
2 || BUGGI NIEMANN GEB. JIRSCHIK | VORWORT
W
er lange an der Odenwaldschule verweilt und Menschen zuhört, erfährt eine Fülle an Geschichten sowie Begebenheiten,
die - insbesondere aus dem Kreis der Altschüler* vorgetragen
- ganze Epochen atmosphärisch einfangen. Werden Erinnerungen nicht aufgeschrieben, gehen Schätze verloren. So ist die Idee zum vorliegenden Buch entstanden. Es ist einerseits eine Sammlung von Erinnerungen
an die eigene Schulzeit, andererseits wird deutlich, welch prägende Einflüsse die
Odenwaldschule auf einzelne Lebenswege hatte.
Die Vorarbeiten begannen Anfang 2008. Um Schülerinnen und Schüler in den
Prozess einzubinden, bot ich im ersten Tertial 2008/09 einen Politik-Oberstufen-Kurs zum Thema „Altschüler-Erinnerungen im Kontext der Zeitgeschichte“ an. Hier ein Auszug aus der Kursbeschreibung: „...Was Ihr nun tun sollt?
Die Lokomotive eines Altschüler-Erinnerungsbuchs zum 100-Jährigen der
OSO befeuern helfen! Dabei werdet Ihr: die OSO im historischen Kontext erkunden; interessante Lebens- und Berufsbilder von Altschülern kennen lernen;
das OSO-Netzwerk nutzen; Qualität und Reichtum unseres Archivs erfahren;
das Altschülertreffen 2008 mit dem Motto „Die OSO und ihre Altschüler“ als
Informationsplattform ausbauen helfen. Mein Wunsch für die Kursteilnahme:
Die Abwesenheit von Konsumhaltung, um die Chancen dieser Entdeckungsreise wahrnehmen zu können.“ Der Kurs erwies sich als gute Starthilfe. Manche
Interview-Fragen wurden gemeinsam erarbeitet. Am Ende standen zwei Beiträge und vier Interviews, die zum Teil von den Kursteilnehmern geführt und
freiwillig transkribiert wurden. Überdies war es geladenen Altschülern während
der Gespräche merklich gelungen, Begeisterung für den Dialog zwischen der
alten und der zeitgenössischen OSO zu wecken. Weitere Unterstützung erfuhr
ich während der Projektwoche 2009, bei der mir drei Oberstufen-Schüler zu
Seite standen, um bis dato unauffindbare Altschüleradressen ausfindig zu machen, Menschen anzuschreiben, Material zu sammeln etc.
Bei der Planung des Buches war eine Zusammenschau von Altschüler-Erinnerungen aus möglichst vielen Jahrzehnten vorgesehen. Das Buch sollte bis
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zum 100. Jubiläum der Odenwaldschule (17. April 2010) fertig sein. Eine
dezidierte Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Schülern während der
1970-1980er Jahre im Lichte der nachfolgenden Chronologie sämtlicher Versäumnisse nach 1998 (dem Jahr der erstmals bekannt gewordenen Fakten) in
Richtung Opferschutz, Entschädigung der Betroffenen war nicht geplant, da
dieses Kapitel OSO-Geschichte einer eigenen Publikation bedarf, die gesondert erscheint. Gleichwohl soll ein Teil des Erlöses dieses Buches einem Entschädigungsfond für Betroffene zufließen. Durch die Anfang März 2010 nicht
nur medial, sondern faktisch erfolgte Neubewertung der „Ära Becker“ und der
Folgen war es notwendig geworden, die Reaktionen einzelner Altschüler jener
Zeit zumindest exemplarisch aufzugreifen. Der Beitrag von Amelie Fried etwa
war bereits druckfertig gesetzt, als sie sich im Zuge neuer Erkenntnisse für eine
überarbeitete Fassung entschloss, die zunächst in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung erschienen ist. Johannes von Dohnanyi etwa hat seinen ursprünglichen
Beitrag ebenfalls überarbeitet und ergänzt. Das Erscheinungsdatum hat sich
daher verschoben.
Im Ganzen ist eine Melange aus Beiträgen und Interviews entstanden, „Oral
History“-Miniaturen aus allen drei Epochen der Odenwaldschule, d.h. der
„OSO I“ von Paul und Edith Geheeb 1910-1934, der „OSO II“ (Gemeinschaft
der Odenwaldschule) unter Heinrich Sachs 1934-1945 und der „OSO III“
1945-2010. Die Reise durch die Jahrzehnte beginnt 1928 und endet 2010.
Ein Interview aus der Sachs-Zeit (OSO II) wurde nach der Fertigstellung zurückgezogen; die Erinnerungen, so die Altschülerin, seien allesamt zu wertvoll
und persönlich, als dass sie einer breiten Leserschaft zugeführt werden sollten.
Erwähnung findet dieser Umstand, weil die dort vorgestellten Zusammenhänge - gelänge es, weitere Erinnerungen aus dieser Zeit einzuholen - ggf. eine
positive Neubewertung der „Gemeinschaft der Odenwaldschule“ während der
Nazi-Zeit, insbesondere der Rolle von Heinrich Sachs als Interimsschulleiter
nahe legen.
Erst beim Kürzen der zum Teil 25 Seiten umfassenden Interviews merkte ich,
dass die ursprünglich knapper und einheitlich bemessenen Seitenzahlen für
Erinnerungen aus drei Epochen
„OSO I“ 1910-1934
unter Edith und Paul Geheeb
„OSO II“ 1934-1945
unter Heinrich Sachs
„OSO III“ 1945-2010
unter Minna Specht und den später
nachfolgenden Schulleitungen
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jeden Beitrag kaum umzusetzen waren, wollte man herrliche Text-Passagen
nicht dem Vergessen preisgeben. Gleichwohl werden die Original-Interviews
im OSO-Archiv hinterlegt.
Mein Dank gilt zunächst den Schülerinnen und Schülern, die mich während
des Einstiegskurses im Herbst 2008 und der Projektwoche 2009 mit guten
Ideen, technischer Kenntnis (IT) und großem Interesse unterstützt haben: Clara
Behnke, Jelena Grunwald (Transkript des kompletten Zurmeyer-Interviews),
Maria Hallamah (Transkript), Abed Hoffmann, Dunja Khoury (Transkript),
Chiara Kippenberg, Franziska Klöpfer, Sonja Kotowski (Transkript des kompletten Olshausen-Interviews), Marvin Müller, Anastasia Orschler (Transkript
des kompletten Heinrichs / Sir- Interviews), Max Priebe, Laura Staudt (Transkript des kompletten Collignon-Interviews), Sarah Weber (Transkript), Felix
Wohmann und Holle Zoz.
Herzlich danken möchte ich allen Altschülerinnen und Altschülern, die Interviews gegeben, Beiträge geschrieben, unzählige Anfragen geduldig beantwortet,
zur Not Keller und Speicher nach Bildmaterial abgesucht, die Text-Korrekturauszüge bis zur Druckfreigabe durchgesehen, Recherchen unterstützt, Infos
über andere Altschüler geliefert und letztlich das OSO-Netzwerk mit Leben
erfüllt haben. Eine Entschuldigung geht an Adrian (Addi) Koerfer, der unserem
Oberstufen-Kurs 2008 ein beeindruckendes Interview gegeben hatte: Die filmische Dokumentation ging leider verloren. Dass Addi sich dennoch bereit
erklärte, danach einen Beitrag zu schreiben, - dafür mein besonderer Dank.
Darüber hinaus sei auch Renate Netzer für viele Informationen aus dem OSONetzwerk und Dr. Alexander Priebe für die Unterstützung meiner Recherchen
im OSO-Archiv gedankt. Der kommentierten Fotosammlung von Dr. Jürgen
Wickert verdankt mancher Beitrag aus den 1960er Jahren die heitere Bebilderung. Mein großer Dank geht an Eva Knop, - nicht nur für Materialsuche und
die erste Korrektur. Sie hat in manch schwieriger Phase der letzten Monate
durch geistreiche Einwände und Schmunzeln bei der Lektüre meine zeitweiligen Zweifel mit Nachdruck und leichter Hand vertrieben.
Voraussetzung dieser Publikation war nicht nur die Sicherstellung der Produktionskosten durch den OSO-Geschäftsführer Meto Salijevic. Meinem Wunsch,
u.a. wegen der örtlichen Nähe mit der „Manufaktur für Biographien“ in Heppenheim zusammenarbeiten zu dürfen, hat er stattgegeben. Hier nun möchte
ich ganz besonderen Dank aussprechen: Petra Schaberger und Thomas Klinger
haben mit Sachverstand, Phantasie, Einfühlungsvermögen, gutem Rat, detailgenauer Schnelligkeit und Liebe zum „Subjekt Odenwaldschule“ (insbesondere in den sehr belastenden letzten Monaten) ungeheuer viel beigetragen,
dass dieses Buch in der Qualität erscheinen konnte. Danken möchte ich auch
meinem Mann für manch guten Rat und seine zweijährige Nachsicht in sämtlichen Alltagsfragen.
Eine persönliche Anmerkung zum Schluss: Nach meinem 1979 abgeschlossenen Studium der Politologie, Soziologie und Sportwissenschaft für das Höhere Lehramt an der TH Darmstadt (eigentlich war der Magisterabschluss angesteuert, - ein anzukreuzendes Formular indes ward selten ernst genommen),
war mein Ziel eindeutig: abwandern in die Ethnologie nach Neu-Guinea und
dort den anthropologischen Konstanten sowie der kulturellen Variabilität sozialer Rollenbilder nachspüren. Um wenigstens die Ausbildung zu komplettieren, geriet ich 1980 eher unwillig und nur zu kurzer Verweildauer bereit, an
die OSO. Ich blieb und treibe seither Völkerkunde in Ober-Hambach. Wenn
ich 2012 nach 32 Jahren Unterricht, diversen Projekten, Abiturprüfungen und
Wanderungen durch die „Mark Metzendorf“ an der OSO aufhöre, verdanke
ich gute Jahre jenen wundervollen jungen Menschen, die sich morgens friedlich
in lieblicher Umgebung versammeln, um gemeinsam unerschrocken nachzudenken. Mein Dank für jene Erfahrung ist der eigentliche Anlass für dieses
Buch. Buggi Niemann
* Bei Altschülern ist zur besseren Lesbarkeit nur die männliche Form gewählt worden; gemeint sind aber
zumeist beide Geschlechter.
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L
iebe Frau Collignon, Sie sind mit fünf Jahren an die Odenwaldschule gekommen. Aus welchem Grund?
Aus dem Grund, der damals für alle galt. Wir haben alle kaputte
Elternhäuser gehabt. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zwei
war. So kam ich mit meinen drei Geschwistern später an die OSO.
Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Odenwaldschule?
Nun, Eichhörnchen. Viele von uns hatten welche, aber nur meines war richtig zahm geworden, da ich es in meiner Hosentasche trug und nachts im
Bett unterm Kopfkissen schlafen ließ. Wir bekamen die Eichhörnchen von
den Bauern. Die Bauernkinder nahmen sie aus den Nestern, viel zu klein
natürlich, viel zu früh. Und wir zogen sie mit Flasche auf. Wenn meines mal
die Welt sehen wollte, ging es den Rücken hoch, setzte sich auf die Schulter,
und wenn es genug gesehen hatte – schwupps, war es wieder in der Hosentasche. Wenn ich krank war und in die OSO-Krankenstation kam – nur mit
Eichhörnchen!
Ich glaube, Paulus (Paul Geheeb) wollte die Eichhörnchen vielleicht retten, weil die Bauernjungs sie aus den Nestern nahmen und verkauften. Wir
kriegten sechs ganz kleine im Kindergarten abgeliefert, gerade die Augen auf,
und die waren ja voller Ungeziefer. Und unsere Kindergärtnerin Fräulein
Semmelhack, die arme Person musste mit dem Namen leben, machte dann
ein Lysolbad, natürlich eine grauenhafte Idee! Diese armen Tierchen mussten
einmal eingetaucht werden und waren halb betäubt. Dann brachten wir sie in
unsere Puppenbettchen, die Köpfchen nebeneinander auf das Kopfkissen, mit
einer Steppdecke zugedeckt, ganz ordentlich. Ich vergesse diesen Anblick nie,
wie diese halbbetäubten Eichhörnchen nebeneinanderlagen, Steppdecke zu,
bis die Milben weg waren ... Ich habe jetzt auch immer Eichhörnchen hier,
und die kommen immer ins Schlafzimmer rein. (Frau Collignon deutet auf
einen stabilen, von ihr selbst gespannten Draht, der von einem Tannenbaumzweig direkt zu ihrem Schlafzimmerfenster führt: eine „Eichhörnchen-Trasse“.) Neulich wache ich morgens auf, da sitzt eines bei mir auf dem Sessel.
In den Sommerferien mussten wir nach Berlin fahren. Das hieß um 4.00 Uhr
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morgens aufstehen und zwölf Stunden in einem Ratterzug sitzen. Eine unvorstellbare Reise! Da durfte ich das Eichhörnchen nicht mitnehmen. Paulus
nun hielt Eichhörnchen in einer Voliere, zu denen man meines dazusperrte.
Zurück aus den Ferien, bekam ich es nicht wieder. Ein Gärtner erzählte später, es hätte
keine zwei Sekunden mehr gelebt:
Die anderen Eichhörnchen hatten es
in der Voliere zerrissen. Das hätten
die Erwachsenen
doch wissen müssen!!
Wir hatten übrigens auch die Kinder von Käthe
Kruse da. KätheKruse-Puppen,
von denen ich
zwei hatte, sind
seit den 1930er
Jahren etwas ganz Besonderes, heute sind das Museumsstücke. Käthe Kruse hatte die Gesichter wirklich nach ihrem Sohn Friedebald gearbeitet, die
männliche Puppe wurde auch nach ihm benannt. Friedebald war freundschaftlich mit uns verbunden und hat uns später in Berlin oft besucht. Den
ersten Kuss meines Lebens habe ich von ihm bekommen.
Sie lebten damals im Pestalozzi-Haus?
Ja, im sogenannten „Kindergarten“. Nur die letzten Monate nach dem zehnten Geburtstag musste ich raus aus dem Kindergarten. Der ging nur bis zehn.
So kam ich ins Humboldt-Haus zu der Schwester von Albert van Rood.
Dort teilte ich mir mit einer Achtzehnjährigen ein Zimmer. Ob sie gerne
Hier das Foto meines Eichhörnchens, aufgenommen von meinem Bruder, der an der OSO das Fotografieren erlernte. Er hatte eine damals
noch sehr seltene Leica. Sonst gäbe es diese Fotos gar nicht. Das war damals ungeheuer modern, an einer Schule Fotografie zu erlernen.
Später ist er Fotograf geworden.
ZUR PERSON
1923 IN BERLIN GEBOREN
1929 MIT DREI GESCHWISTERN
IN DER OSO EINGESCHULT
1933 NACH DEM STURM DER SA
AUS DER SCHULE GENOMMEN
1935 LANDSCHULHEIM M
­ ARIENAU
UNTER MAX BONDY
1938 ÖFFENTLICHE SCHULE IN MÜNCHEN
1939 NACH SCHLESIEN VERHEIRATET
MIT HANS FRIEDRICH VON KESSEL
1940-1941 GEBURT DER ZWILLINGE
1941-1945 HIN UND HER ZWISCHEN
SCHLESIEN UND MÜNCHEN
1946 GEBURT EINER WEITEREN TOCHTER
1947-1950 DIVERSE JOBS
IN PARIS UND SPANIEN
1951-1957 DIVERSE JOBS IN
FRANKFURT A. M.
1957 NACH DER SCHEIDUNG
VERHEIRATET MIT GÜNTHER SACHS
1958 GEMEINSAMER AUFBAU DER
FA. „LOCHSTREIFENTECHNIK“ –
VORGÄNGER DES COMPUTERS
1964 NACH DER TRENNUNG ALLEIN
IN FRANKFURT A. M. LEBEND,
BEGINN ALS SCHRIFTSTELLERIN
2006 NACH 34 ROMANEN ENDE DER
ARBEIT – SEITHER ALLEIN LEBEND,
JEDOCH IM HINTERGRUND INNIG
UMGEBEN VON DREI KINDERN, SECHS
ENKELN UND ELF URENKELN
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eine Zehnjährige bei sich hatte, weiß ich nicht,– aber das war halt so. Da
muss ich nur ganz kurz gewesen sein, denn 1933 stürmte die SA die Schule,
und da war ich noch im Pestalozzi-Haus. Wir wurden versteckt gehalten und
bekamen davon wenig mit, aber ich habe auch ein paar SA-Männer gesehen,
als sie angerannt kamen. Viele Eltern haben reagiert und fast achtzig Prozent
der Pestalozzi-Haus-Kinder sofort abgeholt. Als Heinrich Sachs die Leitung
übernahm, war ich schon weg. Sachs galt damals bei uns übrigens als „Retter
der Situation“. Wo politische Neuerungen griffen, hatte er Kompromisse zu
machen.
Nach Aussage von Henry Cassirer hat man die besonders bedrohten – vor
allem die jüdischen Schüler – in der obersten Häuserreihe positioniert,
damit sie bei Gefahr am ehesten in den Wald flüchten konnten. Wussten
Sie davon?
Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Als Kinder wurden wir eher abgeschottet. Aber jemand hatte uns beigebracht, „Nieder mit Hitler!“ zu rufen.
Ich wusste damals weder, wer Hitler war, noch, was wir da sprachen.
Wie haben Sie den Unterricht während der „Kindergartenzeit“ erlebt?
Wunderbar, wir haben die Fenster aufgemacht und uns auf das Fensterbrett
gesetzt. Wir hatten große Strohhüte auf und kurze Hosen an und ließen die
Beine nach draußen baumeln. Das war im Goethe-Haus. Das ging ganz locker. Ich hatte die meiste Zeit den Lehrer Paul Thomae, er wurde später mein
Schwager.
Kannten Sie das Warte-System (es gab z.B. Reinigungswarte)?
Nein, das kenne ich von späteren Schulen. Das hat sich mir hier nicht eingeprägt. – Es gibt übrigens Erinnerungen, die ich erst Jahre später verstanden
habe. Zum Beispiel das Bild von Tagore und Paulus ist ja bekannt. Ich stand
damals in Tuchfühlung neben Tagore und musste erst zur Seite geschubst
werden, damit dieses Abschiedsfoto gemacht werden konnte. Erst später hörte
ich, wer Rabindranath Tagore war: ein großer indischer Dichter und Philo-
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soph. Dann habe ich stets gedacht: Ja, den kennst du. Das sind kleine positive
Lichterchen, die man ins Leben mitnimmt. Es gibt noch eine Erinnerung:
Die Erwachsenen haben sich etwas pädagogisch Großartiges ausgedacht, –
­einen Test, wie weit sich die Kinder für Natur und Garten interessieren. Dass
das ein Test war, wussten wir nicht. Jeder bekam ca. 2 qm Land. „Nun macht
mal, was ihr gerne machen wollt“, lautete der Hinweis für uns zwölf Kinder.
Wir erhielten Samen und Pflänzchen und gruben da herum. Was ich gemacht
habe? Ein tiefes Loch gegraben, einen Eimer Wasser geholt, das Wasser in das
Loch geschüttet und dann alle meine weißen Steiff-Tiere gebadet. Die waren
anschließend nicht mehr weiß. Die Erwachsenen haben uns den ganzen Tag
buddeln lassen und anschließend ihre Beurteilung geschrieben. Bis zum heutigen Tag hasse ich Gartenarbeit und fasse keinen Blumentopf an.
Hätten Sie gerne jemanden gehabt, der sagt: „Ach, du könntest vielleicht …“?
Nein, überhaupt nicht. Ich war froh, dass keiner eingriff und ich meine – damals schon recht teuren – Steiff-Tiere baden konnte.
Wie sah damals ein Tag für eine Fünfjährige aus?
Spielerisch, natürlich mussten wir ins Goethe-Haus zum Unterricht gehen. Das
Frühstück fand im Pestalozzi-Haus statt, Mittags- und Abendmahlzeiten wurden im Goethe-Haus an einem speziellen „Kindergartentisch“ eingenommen.
Wie sah die künstlerisch-musische Ausbildung aus?
Es wurde viel Theater gespielt, vor allem Shakespeare. Das heißt nicht, dass
ich heute die ganzen schaurigen Königsdramen durchlese. Ich habe selbstverständlich noch nicht mitgespielt, aber meine Schwestern. Die Proben haben
immer mehr Eindruck gemacht als die Aufführung. Beim „Kaufmann von
Venedig“ spielte Helmut Maass die Hauptrolle, und ich war mit acht Jahren
wahnsinnig verliebt in ihn, und da habe ich natürlich jedes Wort mitverfolgt.
Ich wusste damals nicht, dass es Shakespeare ist, aber dieses Ohr dafür habe
ich bis heute behalten. In meinen Büchern habe ich bisweilen Shakespeare
„mit eingepackt“. Und in einem Band Liebesgeschichten habe ich „Wie es
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euch gefällt“ vorne angesetzt. Für die Aufführungen hatten wir die Aula und
die Freilichtbühne (z.B. für den „Sommernachtstraum“).
Nun, im musischen Bereich hat die OSO zweifellos auch Fehler gemacht,
speziell auf mich gemünzt: Wir hatten jeden Tag ein sehr gut gemachtes zehnminütiges Musikvorspiel, sonntags war es einstündig. Ich ging stets brav in
die Aula. Wir Kleinen saßen meistens vorne. Ich hatte kurz geschnittene, mit
einer Spange versehene Haare. Jedem Musikvorspiel hörte ich begeistert zu,
habe dabei aber immer die Spange raus und rein gemacht und die anderen
damit gestört. Keine Frage! Jedes Mal nach dem Musikvorspiel kamen Vorwürfe von der Kindergärtnerin: „Wie kannst du das machen? Lass die Spange
da sitzen!“ Und dann kamen Vorwürfe, die voreilig waren: „Du bist ja so
unmusikalisch ...!“ Ob das auf die Haarspange zurückgeht, weiß ich nicht.
Ich hatte jedenfalls danach immer ein negatives Gefühl bei klassischer Musik
und so habe ich mich die nächsten 80 Jahre davon ferngehalten. Das war das
Gegenstück zu meinen OSO-Erfahrungen mit Shakespeare.
Haben Sie Erinnerungen an die aktive politische Mitgestaltung der Schüler?
Schülerselbstverwaltung, hundertprozentig. Also, die Schüler hatten bestimmt mehr zu sagen als die Erwachsenen. Aber nicht wir. Wir wurden nur
„die Kleinen“ genannt.
Es ist ja schon erstaunlich, dass sich so früh so vieles festsetzt.
Ja, das würde ich absolut sagen. Deswegen war diese Tendenz, „Kinder macht
mal, was ihr für richtig haltet“, gut. Wir erlebten sehr wenig Drill, und das,
was wir machen mussten, kam ja auch von uns. Das waren eben Selbstverständlichkeiten.
Ich habe übrigens noch eine Erinnerung, wo die Erwachsenen falsch gehandelt haben: Mein Bruder, damals etwa 18, lebte im Herder-Haus im Parterre.
Er war immer nett. Jeden Tag kam ich bei ihm vorbei, hüpfte an sein Fenster
und schwatzte mit ihm. Eines Tages haben ihn Gleichaltrige in einen Sack
gesteckt, weggeschleppt, den Sack zugelassen und einfach für mehrere Stunden im Wald liegen lassen. Das sollte eine Strafe für seine Hochnäsigkeit
sein. Selbstjustiz wurde unter den Großen nämlich viel geübt. Empört und
heulend lief ich durch die ganze Schule, um ihn zu suchen.
Das war zu viel Freiheit, die Erwachsenen hätten eingreifen müssen.
Inwiefern war die OSO anders als das, was draußen vorgegangen ist zu
dieser Zeit?
Nun, wir waren ganz frei. Täglich viele Stunden konnten wir machen, was
wir wollten. Der Lindenstein war unser Hauptspielplatz. Heute ist die Straße
dorthin ganz zugewachsen. Marina von Jakimow, Liesel Bicker, ich und andere, wir hatten eine zimmerhohe Höhle gefunden. Sie lag oben am Fels und
war nur zu erreichen, indem man über einen Baum und Ast stieg. Da nun
gingen wir täglich hin und saßen dort. Wir fanden das wunderbar. Eines Tages kam oben einer von den großen Schülern und merkte unter seinen Füßen,
wie die Felsendecke (so groß wie dieses Sofa) nachgab. Er pfiff uns da heraus.
Wir waren böse und haben ob der Einmischung geschimpft. Nachdem wir
herunter geklettert waren, ist er auf die Höhle gestiegen, um ordentlich zu
trampeln. Wir konnten von unten sehen, wie da ein Stück Fels nachgegeben
hat. Da haben wir sofort kapiert: Er hatte uns das Leben gerettet.
Sehr viel später hat die OSO mir übrigens einen großen Gefallen getan. Als
meine Ehe kaputtging und der Vater meiner Kinder wortlos verschwand, da
hatte ich kein Geld und keinen Beruf. Wir kamen Anfang der 1950er Jahre
von Spanien nach Hause und hatten hier gar nichts. Meine Mutter war bei
uns und sagte: „Wir fragen mal in der OSO nach Hilfe.“ Meine Mutter zog
mit den damals 4- und 9-jährigen Kindern in den damaligen „Gasthof Hübner“ (gelbes Haus). Sie gingen zu Fuß hinauf und durften den Unterricht
mitmachen und mitessen. Ich suchte mir derweil hier in Frankfurt einen Job.
Dass die OSO sofort einer Altschülerin geholfen hat, das war prima. Nach
einem halben Jahr dann konnte ich die Kinder nach Frankfurt holen.
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Wie haben Sie Paul und Edith Geheeb erlebt?
Tante Edith war nie böse, aber sie konnte ziemlich streng sein. Dieser Strenge
waren wir nicht ausgeliefert. Wir konnten ihr aus dem Weg gehen. Paulus
und Edith haben uns zum Kaffee eingeladen in ihre Wohnung. Dann merkte
ich natürlich von ihrer Strenge nichts. Aber wenn wir zu laut waren, hat sie
geschimpft. Und Paulus war eine Selbstverständlichkeit für uns. Wir haben
nie gesagt, das ist jetzt der „Leiter der Schule“. Ich wusste, die Schule gehört
Cassirers und Paulus ist der Leiter. Wir haben darüber nicht nachgedacht.
Und meine Mutter, die mit Paulus befreundet war, kam oft zu Besuch. Dann
brauchte ich bei den Mahlzeiten nicht am Kindergartentisch zu sitzen, sondern konnte mit an Paulus‘ Tisch sitzen. Das empfand ich nicht unbedingt
als Auszeichnung. Ich fand es viel gemütlicher am anderen Tisch, wo ich
„flegeln“ konnte.
Was haben Sie in ihrem späteren Leben gemacht?
Ich habe viele Berufe gehabt, darauf basierend, dass ich keinen hatte. 1939
habe ich geheiratet, Kinder bekommen, nach der Scheidung 1951 Telefondienst bei Pepsi Cola gemacht und in einer Werbeagentur gearbeitet. Meinen
zweiten Mann lernte ich in einer Zeit kennen, wo das Wort Computer in
Europa noch unbekannt war.
Die Lochstreifentechnik (Lochkarten gab es davor) ist das Band, das Schreibmaschinen dirigierte usw., und das haben wir in Deutschland eingeführt:
„Günther Sachs-Lochstreifentechnik“. Wir waren jahrelang die einzigen, die
überhaupt wussten, wie solch ein Ding funktioniert, und fingen an, das zu
verkaufen. Dann kam der randausgeglichene Schreibautomat von Amerika,
den man für den Satz usw. verwenden konnte. Den kannte niemand, weil
hier kaum jemand Englisch konnte. Die Techniker klagten: „Wir können die
Gebrauchsanweisung nicht lesen“. Dann probierte ich das alleine aus, konnte
sie lesen und damit waren wir die einzigen Fachleute, die diese Maschinen an
Zeitungen, große Firmen und große Banken verkauften, wobei ich auch die
Vorführung und Einarbeitung übernommen habe. Sie kostete 70.000 DM.
Die Kosten haben wir über eine Bank finanziert. Lukrativ war es, wenn wir
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viele in kurzer Zeit verkaufen konnten. Mit der Computer-Revolution waren
wir plötzlich ein Auslaufmodell. Aber ein paar Jahre hat uns die Lochstreifentechnik finanziell herausgerissen.
Dieser Ehemann kam aber auch abhanden. Das ist in unserer Generation irgendwie Mode gewesen. Danach habe ich nur noch geschrieben. Angefangen
habe ich mit Fortsetzungsromanen in Illustrierten wie Bunte, Quick oder
Hör Zu. Später war ich „vornehm“ genug, auf Bücher überzugehen, aber das
war nicht mehr das gute Geschäft. Und da oben, seht ihr die Regale? Eure
Bibliothek hat auch ein paar Exemplare. Es ist sehr edel, Bücher zu schreiben,
aber finanziell gar kein Vergleich zu den Zeitungen. Ich sage immer, wenn
ich tot bin und hier wird ausgeräumt: Werft mir ja die ganz billigen, schäbig
aussehenden „Heftchen“ nicht weg. Die waren wertvoller als alles, was hier
steht. Die haben meine Kinder großgezogen. Wenn man in den großen Illustrierten einen Roman hatte für viel Geld, dann kamen später die Heftchen
und nahmen von den Illustrierten noch einmal die Rechte. Dann hat man
noch einmal gut verdient.
Mit 84 Jahren habe ich mich selbst in Rente geschickt. Es ist ja sehr viel
Arbeit. Die Verlage machen Termine und wenn du nicht brav um 8.30 Uhr
morgens an der Maschine sitzt und fünf, sechs Stunden machst und in der
Zeit keinen Besuch empfängst etc. und das Jahr durch arbeitest, dann wird
das nichts. Es war sehr, sehr viel Arbeit die letzten Jahre und jetzt will ich
nicht mehr. Jetzt bin ich faul.
Wie war die Trennung von der OSO für Sie? Wie war es, in die Außenwelt
zu kommen?
Das war insofern schwierig, als ich ja gar nicht wusste, wohin. Denn weder
meine Mutter hatte große Lust, plötzlich wieder vier Kinder zu Hause zu
haben; und mein Vater schon gar nicht. Aber ich kam dann trotzdem zu
meiner Mutter; und sie suchte und suchte: Wie werde ich dieses Kind wieder
los? Meine Mutter war eine sehr liebe Frau, aber zum Kinderaufziehen nicht
geeignet. Und da lernten wir Max Bondy kennen. Er ist genauso berühmt
wie Paulus. Meine Schwester und ich, die beiden großen Geschwister waren
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ja schon aus der Schule, kamen nach Marienau zu Bondy und blieben wiederum; bis auch Bondy Deutschland verlassen musste.
Wie haben Sie Marienau erlebt im Gegensatz zur OSO?
In Marienau war ich genau so glücklich wie in der Odenwaldschule, die waren sich sehr verwandt. Von diesen 10, 12 Landschulheimen, die mir ein
Begriff sind, waren diese beiden sehr verschwistert.
So, nun habt Ihr mein ganzes Leben platt vor euch. Erinnerung, das ist etwas
Wunderbares, als würde ich ins Kino gehen: zack – Erinnerungsblitze.
An welchen Stellen Ihres Lebens hat sich die Freiheit, die Sie damals an
der OSO erlebt haben, zu Ihren Gunsten ausgewirkt?
Die Frage ist gut. Heute kann ich wieder davon Gebrauch machen, – für
die Zufriedenheit des Alters. Es ist kein Zwang mehr da, niemand will mehr
was von mir, außer den elf Urenkeln. Und alleine zu leben, speziell seit dem
vorigen Jahr, da ich mit dem Schreiben aufgehört habe, da kommen mir diese
alten Freiheitsbegriffe wieder sehr zugute. Und das wisst Ihr nicht, das wisst
ihr erst in 50 Jahren, dass jedes Leben diesen Bogen zum Anfang macht. Das
ist naturgegeben, und da mache ich persönlich einen Bogen zu menschlich
sehr guten Verhältnissen. Meine Geschwister haben auch so gedacht.
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INTERVIEW | Burgunde Niemann
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Jetta beim Rechnen
20 || VICTOR DAHM | 1928-1934 AN DER ODENWALDSCHULE
L
ieber Victor, Du kamst 1928 aus der Schweiz an die Odenwaldschule und warst sechs Jahre hier. Gibt es für Dich ein Ereignis, was Dir
ganz besonders in Erinnerung ist?
Der Kriegsausbruch. Erlebt hat den natürlich in der Hauptsache meine Mutter. Sie war, während ihre beiden Söhne an der Odenwaldschule waren,
von der Schweiz hierhergekommen, hatte gegenüber am Hang dieses Haus
bauen lassen (das heutige Haus Dahm), in dem sie mit uns beiden wohnte. Sie
blieb bis zum Tag der Kriegserklärung in Ober-Hambach. Und dann hat sie
alles für die Umsiedlung vorbereitet, hat den Rest in ihr Auto gepackt und ist
in die Schweiz abgefahren. Und das Haus oben wurde vermietet. Der Kriegsausbruch hat sich natürlich vorbereitet. Ich selbst hatte 1934 an der OSO die
Matura (Abitur) abgelegt, war dann zum Studium in Darmstadt an der Technischen Hochschule immatrikuliert und lebte dort im Sportclub. Am Anfang
wurden die Ausländerbeziehungen an der Hochschule eher gefördert. Aber hinterher hat die Politik so stark Einfluss genommen, dass ich 1937 nach Zürich
umgezogen bin und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH)
weiterstudiert habe. Während meines Studiums in Darmstadt allerdings bin ich
jedes Wochenende hierher nach Hause gekommen und habe natürlich lebhaft
am Leben der Schule teilgenommen. Ich habe hier die ganze Zeit erlebt.
Und wie hast Du den Kriegsausbruch hier an der OSO erlebt?
Also, vor dem Kriegsausbruch war natürlich das Hauptereignis für uns, dass
Edith und Paul Geheeb in die Schweiz geflüchtet sind. Und dort haben sie
dann viel später ihre Schule, die Ecole d’Humanité, begründet. Und in dieser
Phase war ich natürlich in der Schweiz sehr eifrig mit ihnen zusammen. Wir
haben alle Stationen erlebt. Und Familie Gunning (vom Institut Monnier des
Schweizer Pädagogen Willem Gunning) war befreundet mit Paulus und Edith.
Frau Gunning war Holländerin. Sie hat im Winter jeweils einen Aufenthalt für
vorwiegend holländische Teenager in der Schweiz organisiert. Und dank dieser
Beziehung konnten wir, mein Bruder und ich, dort als Hilfsskilehrer aktiv werden. Wir haben den jungen Mädchen also das Skifahren beigebracht.
|| 21
Das war doch sehr c­harmant?
Sehr charmant! Mein Bruder hat eine dieser Schülerinnen geheiratet. Eine
Holländerin. Die Ehe existiert jetzt noch, und meine
Schwägerin kann davon
erzählen.
Welche Ereignisse waren
während Deiner Schulzeit
ganz besonders prägend?
Also, da gab es eine ganze
Menge prägender Ereignisse. Zuerst etwas Lustiges: Eines Tages hat die ganze Schule ein Schauspiel
über den Bauernkrieg gedichtet. Die Gegenpartei des Bauernführers, der Fürst
nämlich, hat einem Bauern das Pferd weggenommen. Und mitten in der Vorstellung ist der Fürst mit dem Pferd (unter dem ein Schüler verborgen war)
unvorhergesehenerweise von der Bühne verschwunden. Dann ist ein geistesgegenwärtiger Mitspieler aufgetreten und hat dem Publikum gesagt: „Entschuldigung, der Fürst muss mal wohin!“
Hast Du aus dem schulischen Bereich eine besondere Erinnerung parat?
Wir hatten jedes Jahr zweimal acht Tage Wanderungen. Und die Wanderungen
wurden von älteren Schülern oder von Lehrern geführt. Dann wurde im Durchgang (zwischen Schiller- und Fichte-Haus) angeschrieben, wer welche Wanderung anbietet. So konnte man die Wanderung wählen und sich dort eintragen.
Es gab hier einen sehr bekannten Lehrer, das war „der Brenning“, und mit
ihm und der OSO-Leitung wurde vereinbart, dass wir ausnahmsweise einmal
vier Wochen auf Wanderung gehen können, wenn wir schulisch entsprechend
vorarbeiten. Man musste also eine größere Arbeit in einem bestimmten Be-
Bild oben:
Das Haus Dahm, heute zur Odenwaldschule gehörend
ZUR PERSON
1916 GEBOREN
1928-1934 AN DER ODENWALDSCHULE
BIS ZUM ABITUR
1934-1937 STUDIUM DER
INGENIEURSWISSENSCHAFTEN AN DER
TECHNISCHEN HOCHSCHULE IN
DARMSTADT
AB 1937 FORTSETZUNG DES
STUDIUMS AN DER EIDGENÖSSISCHEN
TECHNISCHEN HOCHSCHULE IN ZÜRICH
DANACH MILITÄRDIENST IN DER
SCHWEIZ
SPÄTER ALS MASCHINENINGENIEUR AUF
INTERNATIONALER EBENE TÄTIG, Z.B. IN
UNGARN, AFRIKA UND SÜDAMERIKA
22 || VICTOR DAHM | 1928-1934 AN DER ODENWALDSCHULE
reich abliefern. Und das haben wir getan. Ich habe da z.B. für die Wanderung
durch Mecklenburg und Schleswig-Holstein über den dortigen Häuserbau geschrieben. Und dann sind wir vier Wochen dort herumgezogen, und zwar von
Bauer zu Bauer, haben im Heu geschlafen, bei allen möglichen Gelegenheiten
geholfen und Land und Leute kennengelernt. Wir hatten eine Mitschülerin,
die Tochter eines Flottenmitglieds, der Vater war Offizier oder Admiral, und er
hat es uns ermöglicht, dass wir durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal (heute NordOstsee-Kanal) mit einem Torpedoboot fahren konnten. Das war außerordentlich spannend, und für mich als Schweizer war natürlich Schifffahrt und Flotte
etwas ganz Besonderes. Ein Torpedoboot ist ein sehr schnelles, mit Torpedos
ausgerüstetes Schiff, wovor die U-Boote Angst haben. Wir hatten auch einen
späteren U-Boot-Kapitän in unserer Gruppe, den Hermann Lanbi. Der hat
mit mir zusammen Matura (Abitur) gemacht. Also, das war eine schöne Geschichte, dass man sich von der Schule vier Wochen befreit und an einer Arbeit
über den Häuserbau in Schleswig-Holstein schreiben kann. Damit gibt man
auch den bauingenieurstechnischen Interessen einen Raum. Später bin ich übrigens Maschineningenieur geworden. Ich empfehle diese Erfahrungen jedem
jungen Menschen. Maschineningenieur ist der schönste Beruf. Warum? Nun,
ich bin dann in den Kraftwerkbau gegangen und habe mich später selbstständig
gemacht. Energie ist immer der Bereich, der zum Beispiel in einem Entwicklungsland zuallererst notwendig ist, wenn man eine Industrie aufbauen muss.
Durch meinen Beruf bin ich in zahlreiche Länder gekommen. Ich erinnere
mich, dass ich zum Beispiel bei 41°C im Büro gearbeitet habe, während hinter
mir der Wald mit Elefanten gerodet wurde. Interessant, oder? Wie gesagt: Ingenieur ist der schönste Beruf. Meine Nachbarn (in Winterthur) sind allerdings
wegen meiner häuslichen Ingenieurstätigkeiten natürlich nicht ganz einverstanden mit mir.
Lieber Victor, ich danke für das Gespräch. Du wirst sicher bei Sascha
­(Alexander von Jakimow), der hier in unserer Runde sitzt, noch manches beitragen können. ||
INTERVIEW | Burgunde Niemann
|| 23
Links: Victor Dahm mit
seinem Bruder und
Frau Brenning – der Junge
daneben ist unbekannt
24 || ALEXANDER VON JAKIMOW | 1944-1949 AN DER ODENWALDSCHULE
L
ieber Sascha, wie hast Du die OSO als Fünfjähriger erlebt?
Was für mich so frappant war, ich bin ja im Februar 1944 hier in die
OSO gekommen war, dass überhaupt keine Barriere oder Hemmnis
zwischen uns Schülern war. Wir waren alle wie Brüder und Schwestern. Wir haben uns alle geduzt und uns auch geholfen, wie wir konnten.
Wir haben Bucheckern, Knöterich, Pilze usw. gelesen und als Nahrung verwendet. Wir haben viele Sachen gesucht, gespart und diese zusammengebracht. Diese einmalige Bruderschaft zwischen den Einzelnen, die habe ich in
meinem Leben nie mehr wieder mitbekommen. Damals war Heinrich Sachs
der Direktor. Der hat eine Tochter gehabt, Renate, die hat Cello gespielt.
Ich später übrigens auch. Und jeden Morgen haben die eine wunderschöne
Kammermusik zusammen in der Aula gespielt. Die Tochter und auch sonstige Musiker. Also, man kann wirklich nur sagen, es lebe die Musik. Und
der Anatol von Roessel, – ihn kann ich nicht vergessen. Das war ein großer
Pianist. Der hatte hier ein kleines Studio. Und sonst hat er Klavierunterricht
gegeben. Ein ganz großes Genie!
War das jener jüdische Pianist, der bis 1945 dank der Intervention von H
­ einrich
Sachs (Schulleiter von 1934-1945) sicher an der Odenwaldschule überlebt
hat? Hat er nicht jeden Morgen vor dem Unterricht ein Konzert gegeben?
Ja, absolut. Der war weit und breit hoch respektiert. Und dann hat er hier
immer Beethoven-Sonaten gespielt, einfach auch mal zwischen drin. Und
sogar die Appassionata und sonstige Stücke.
Wie habt Ihr die Zeit des Nationalsozialismus hier erlebt?
Wir haben uns mit der Hitlerjugend, der Vereinigung mit dem großen Hakenkreuz, auseinandersetzen müssen. Hier war bis 1945 strenge Besatzung.
Und das war ganz traurig. Hier sind OSO-Leute abgeführt worden. Die sind
einfach gegangen, ohne dass man gefragt hat, wie und warum und wohin.
Die wurden einfach – ich weiß nicht mehr, ob sie gefesselt wurden – aber sie
mussten marschieren. Unter strenger Bewachung und Bewaffnung wurden
sie abgeführt.
|| 25
Kannst Du Dich an die Menschen erinnern und weißt Du, wohin sie kamen?
Nein. Aber ich kann es mir ungefähr vorstellen. Es waren Leute, von denen
ich nie mehr etwas gehört habe.
Die Ereignisse haben doch Angst ausgelöst. Habt Ihr hier darüber gesprochen? Ich wurde damals überhaupt noch gar nicht irgendwie wahrgenommen.
Über mich wurde disponiert, ohne dass ich gefragt wurde. Das waren einfach
Eindrücke, die ich jetzt wiedergebe. Aber darüber habe ich nie gesprochen.
Und später?
Damals nicht und nachher auch nicht. Jetzt nur, weil Du mich danach fragst.
Aber sonst habe ich über meine Eindrücke nie gesprochen. Nach dem Krieg,
erinnere ich mich, dass wir uns vor den russischen Besatzungen im Keller versteckt hatten. Und da kamen dann plötzlich die russischen Truppen und haben uns hier in der OSO im Keller vom Fichte-Haus und vom Schiller-Haus
und nachher im Humboldt-Haus inspiziert. Wir hatten (obwohl es Befreier
waren) vor allen Fremden Angst. Da war der Krieg zwar aus. Hurra, aber wir
haben gar nicht realisiert, dass dann erst der entsetzliche Hunger begann.
Und alle Notreserven, die wir hatten mit unseren trockenen Brotersparnissen,
Knöterich, Bucheckern, alles haben wir gegessen vor Freude, weil wir solchen
Hunger hatten. Und danach gab es nichts zu essen. Ganz schlechte Zeiten!
Bist Du sicher, dass das russische Besatzer waren?
Ja.* Und kurz danach kamen die Amerikaner.
Haben die Erwachsenen Euch geraten, dass Ihr in den Keller gehen solltet?
Ja, das ging von den Lehrern aus. Und dann von Elisabeth Popp, die könnt
Ihr ja immer noch fragen. Das war unsere frühere Überwachung. Die war
damals beim OSO-Treffen hier, und die habe ich nachher gesprochen. Die
war so nett und die hat die Kinder so geliebt, als wenn es ihre eigenen wären.
Ich war später einmal mit einem Freund hierhergekommen und habe sie getroffen. Ich hatte ein köstliches Gespräch mit ihr.
ZUR PERSON „SASCHA“
1939 IN HEIDELBERG GEBOREN
1944-1949 AN DER OSO
1958 ABITUR IN LAUBACH
(OBERHESSEN)
SEIT 1958 IN DER SCHWEIZ LEBEND
UND DORT DIE LIZENZ IN NATURWISSENSCHAFTEN AN DER UNIVERSITÄT
FREIBURG ABGESCHLOSSEN
SEIT 1970 BERUFLICH ALS
KUNSTMALER TÄTIG
SEIT 1974 MIT SOHN WLADIMIR
SCHWEIZER STAATSBÜRGER
GEWORDEN
IM FRÜHJAHR 2010 VERSTORBEN
* Diese Aussage lässt sich nur
schwer verifizieren. Ggf. ist
etwas darüber im Archiv
der Odenwaldschule zu
finden. Es könnte sich auch
um Kriegsgefangene oder
Zwangsarbeiter handeln.
26 || ALEXANDER VON JAKIMOW | 1944-1949 AN DER ODENWALDSCHULE
Wladimir (Saschas Sohn): ... die Soldaten haben Dich am Kopf gestreichelt,
habe ich gehört.
Ja, ich war ja so ein Wuschelkopf. Ich saß dann unten auf dem Boden, und
dann kamen die (russischen?) Truppen da rein; und da hat mich einer gestreichelt. Und der hat mich angeschaut. Er hat mir nichts gemacht, war nur nett,
aber alle anderen Kinder hatten große Angst und versteckten sich. Weil der so
lieb zu mir war, hatte ich aber keine Angst mehr. Das war das Jahr 1945 ...
Wladimir (Saschas Sohn):
Nur zum besseren Verständnis: Gleichzeitig sind seine beiden Brüder im letzten Moment des Krieges, im April 1945, einer an der Ostfront und der andere
im Elsass gefallen. Zur gleichen Zeit, als die Russen an die OSO gekommen
sind. Ja, das ist wichtig. Sein Vater, Igor von Jakimow (gebürtiger Russe), hat
seine zwei älteren Söhne verloren, die gefallen sind. Igor war gerade aus dem
Feld von der Ostfront gekommen, wo er als Dolmetscher für die deutschen
Kriegsgefangenen gewirkt hatte. Und als er vom Tod der Söhne erfahren hat,
hat er sich auf das Bett hingelegt und kein Wort mehr gesprochen. Nach seiner Aussage war der Hauptgrund seiner Flucht aus Russland die Rettung dieser beiden Söhne und der ganzen Familie. Deshalb war es der größte Schock
für ihn, dass beide gefallen sind. Unheimlich ist das gewesen. Er war 1918
(damals südöstlich von Moskau lebend) vor der Russischen Revolution nach
Berlin geflüchtet, mit Frau und zwei Söhnen, die dann im 2. Weltkrieg gefallen sind – wegen den Russen der eine und der zweite wegen der Franzosen
(mein Großvater war ja in Paris Bildhauer und Maler gewesen!): Das muss
man sich vorstellen. Für das Gefühl meine ich. Das ganze Leben war während
vieler Jahre danach gebrochen. Gott sei Dank blieben Sascha, Marina und
Tatjana noch übrig. Sie sind übrigens alle OSO-Schüler gewesen.
Erzähl ein wenig von Deinem Vater, Sascha.
Er war vor allem Bildhauer und Maler. Er hatte an der Kunstakademie in
Paris studiert. Mein Vater hat an der OSO viele Jahre Unterricht in Malerei,
Keramik, Theater und sonstigen Unterricht gegeben. Er war auch der Lehrer
|| 27
Igor von Jakimow,
Vater von Alexander,
war Bildhauer und
Maler, später Lehrer an
der Odenwaldschule
und Begründer der
Werkstattkultur
28 || ALEXANDER VON JAKIMOW | 1944-1949 AN DER ODENWALDSCHULE
v. l. n. r.:
die Geschwister Marina, Jorsik
und Tatjana von Jakimow
|| 29
Du bist hier zur Schule gegangen, weil Dein Vater hier Lehrer war?
Mittelbar schon, sonst hätten wir die Schule ja nicht gekannt. Ich bin auf
die Schule gegangen, weil meine Mutter als Violonistin mit ihrem Orchester
ins Feld ging, mitten im Krieg. Meine Mutter hatte uns immer platziert, von
Fluchtplatz zu Fluchtplatz, erst in Pommern und anschließend in der OSO.
Kindheit und Jugend in bedrückend bewegter Zeit. Was hast Du von der
OSO für Dich „mitgenommen“?
Trotz der schweren Zeit blieb mir die OSO in schöner Erinnerung, voll
Kameradschaft. Die entsprechende Einstellung brachte ich in die Schweiz
herüber, – meine heutige Heimat. Ich freue mich, Euch alle beim Jubiläum
wiederzusehen.||
INTERVIEW | Burgunde Niemann.
von Victor Dahm. Er war bekannt dafür, dass man bei ihm Handwerklichkeiten lernen konnte. Und wenn einer kam und nicht wusste, was er machen
sollte, dann hieß es „Mach Töpfchen!“. Er hat einen Klumpen Lehm hingelegt, und dann hat man mit den Beinen eine Drehscheibe gedreht und konnte daraus irgendeine schöne Form machen. Er war der Vorläufer der ganzen
Werkstattausbildung.
Igor von Jakimow hat unsere Werkstattkultur begründet. Wer war er als
Mensch und Künstler?
Victor Dahm (OSO-Schüler von 1928-1934):
Er war eine außerordentlich sympathische Persönlichkeit. Die Kinder haben
ihn geliebt. Und dann hatte er auch eine lustige russisch-deutsche Sprache,
nicht wahr? Er hat sich gut verstanden mit der Jugend.
Anwesend waren auch der Sohn von Alexander von Jakimow, Wladimir von
­Jakimow, und Victor Dahm, Schüler der Odenwaldschule von 1928-1934; beide
haben während des Gesprächs manche Passage inhaltlich ergänzt).
Alexander von Jakimow ist im Frühling 2010 verstorben.
30 || GÜNTER ENGELEN | 1952-1955 AN DER ODENWALDSCHULE
W
as bewirkten zwei Jahre OSO im Leben eines Menschen –
Episode oder Zäsur?
Als ich nach dem Tod meines Vaters mit 14 Jahren nachmittagelang aus dem Fenster stierte, anstatt Schulaufgaben zu machen, da fühlte ich, dass ich dringend etwas ändern müsste. Aber was?
Mutter musste sich um das Geschäft kümmern, das Vater hinterlassen hatte,
um den Lebensunterhalt zu sichern. Aber ihr Pflichtbewusstsein ließ sie ihre
zwei Söhne nicht vergessen. Und so lernte sie mit 48 Jahren neben dem Autofahren und dem Führen eines Geschäftes auch die Landschaft deutscher Landerziehungsheime kennen. Salem, Birklehof, OSO, und ich weiß nicht, wo sie
noch überall herumkurvte, um ihre zwei mehr oder weniger widerspenstigen
Zähmungen unterzubringen. Ihr Wunsch, beide in einem Internat unterzubringen, ließ sich in der Kürze der Zeit nicht realisieren. Mich traf die OSO.
Wieder aufs Land, oh Graus! Dem war ich drei Jahre vorher nach Mannheim
entkommen und begann gerade, die Stadt zu genießen. Auch die zerstörte.
Dem vier Jahre dauernden Land-, genauer Bauland-Aufenthalt entronnen zu
sein, machte mich froh und ließ mich freier atmen. Es gab Theater, Konzerte, Industrie, und es gab – ganz wichtig – Autos in allen damals verfügbaren
Schattierungen. Es gab Amerikaner, es gab schwarze Amerikaner, das war alles
so selbstverständlich, dass es mich faszinierte. Es wusste keiner, wer ich war,
es war jedem egal. Nun gut, also wieder aufs Land, ab in die Kasernen der
heimeligen Postkartenidylle putziger Landhäuser und guter Luft.
Platsch, wie der Frosch im Tümpel landete der Neue also dort: Küchendienst
im Goethe-Haus, Küchendienst im Pesta-Haus (ja ich weiß, dass das Pestalozzi-Haus heißt, aber die Vorleser der Küchendienste sprachen immer vom
Pesta-Haus). Mädchen, Jungens, kleine, große, schüchterne, selbstbewußte.
Lehrer wurden zu Mitarbeitern und ließen sich zum Teil duzen. An einem
Tisch im Goethe-Haus speiste ein feines altes Ehepaar – es waren die Cassirers. Eine neue Welt wollte erobert werden. Die räumliche Enge ermöglichte
schnelle Kontakte und schaffte neue Möglichkeiten zwischenmenschlicher Erfahrungen. Anstelle eines Nebeneinanders Verantwortung für sich selbst zu
|| 31
übernehmen und von dem Wissen des Nachbarn zu profitieren, das ist mehr
als stupides Abschreiben – aber manchmal half auch das –, sein eigenes weitergeben, dieser schnelle Lernprozess von Verantwortung für sich und andere,
ich weiß nicht, wo anders ich das so schnell hätte lernen können als in diesem
Mikrokosmos der OSO.
Fantasie und Initiative in der Erarbeitung von Lerninhalten durch das Nutzen
der Bibliothek und Diskussionen mit den Mitschülern entsprachen vor sechzig Jahren eher dem Universitätsniveau als dem von Gymnasien. Die OSO war
von diesen so weit entfernt wie ein Goggomobil von einem 300 SL. Bologna
gab es zum Glück noch nicht. Aber es zeigte eben auch eine gewisse Isolierung
vom damaligen Mainstream, und vielleicht auch wieder heute, legt man den
Namen der oberitalienischen Stadt zu Grunde.
Es gab auch profane Erfahrungen wie das tägliche Duschen. Zuhause hatten
wir eine Badewanne. Seit dieser Zeit sind für mich Badewannen mittelalterliche Relikte.
ZUR PERSON
Mitarbeiter, so sie Persönlichkeiten waren, hatten die einmalige Chance Menschen zu beeinflussen und zu prägen. Eine für mich herausragende Persönlichkeit war Ernest Jouhy, wie sich der vor dem Naziterror nach Frankreich
geflohene Berliner Jude Ernst Jablonski seit seinem Kampf in der Résistance
nannte. Aber das mit dem Namen erfuhr ich erst später. Jouhy ist für mich als
Humanist mit seinem brillianten Verstand und seiner tiefen Menschlichkeit
zeitlebens ein Vorbild geblieben, der mit viel Geduld und Überzeugungskraft
mit seinen ihm Anvertrauten umging und sie zur Selbst- und Eigenständigkeit
befähigte. Achtung und Respekt vor dem Anderen und vor dem Anderssein
lebte er wie kein Zweiter, der mir im Leben begegnete. Er überredete niemanden, er überzeugte! Was ihn unter vielen hervorhebt, ist, dass er, obwohl
als Jude verfolgt, in der Résistance gegen die Nazis gekämpft, sich mit solcher
Hingabe für Versöhnung und Toleranz eingesetzt hat, zwischen Franzosen und
Deutschen und zwischen den Menschen überhaupt. Und man nehme nur
nicht an, dass er irgend etwas vergessen hätte. Sein Gedächtnis war phänomenal. Dreißig Jahre später war ich einmal in der Evangelischen Akademie von
1958-1959 PRAKTIKUM IN BERN
1959-HEUTE ARBEIT IM ELTERLICHEN
EISENWAREN-GESCHÄFT IN MANNHEIM
1960-1964 TÄTIGKEITEN IN KÖLN
1964-2009 GESCHÄFTSFÜHRER UND
MITINHABER EINES HANDELSUNTERNEHMENS
1938 IN ESCHWEILER (RHLD.)
GEBOREN
1944 GRUNDSCHULE IN VIERNHEIM
1945-1948 GRUNDSCHULE
IN HARDHEIM (ODENWALD)
1948-1949 GYMNASIUM
BUCHEN (ODENWALD REAL)
1949-1952 KARL-FRIEDRICHGYMNASIUM MANNHEIM (HUM.)
1952-1955 ODENWALDSCHULE
1955-1958 KAUFMÄNNISCHE
LEHRE IN ULM
SEIT 1989 AUTOMOBILHISTORIKER UND BUCHAUTOR
32 || GÜNTER ENGELEN | 1952-1955 AN DER ODENWALDSCHULE
Arnoldshain, als mich von hinten jemand mit meinem Vornamen ansprach.
Es war Jouhy, der mich erkannt hatte und mich beim Namen nannte. Ich
konnte es nicht fassen. Für mich ist Jouhy so etwas wie der personifizierte
Wesensinhalt der OSO.
Jemand, der mir immer fremd blieb, war Walter Schäfer. Seine Tochter Uschi,
eine Klassenkameradin von mir, war ein unheimlich lieber Kamerad, mit dem
man Pferde stehlen konnte, und seine Frau strahlte zwar keine betuliche Mütterlichkeit, wohl aber kameradschaftliche Wärme aus. Walter Schäfer mag für
die OSO bestimmt ein hervorragender Leiter gewesen sein. Ich empfand sein
Auftreten als kommisshaft, fast ein wenig unheimlich. In einer Uniform hätte
ich ihn mir gut vorstellen können. Vielleicht wäre er aber auch ein Henning
von Tresckow gewesen. Ich gestehe, dass das subjektiv ist und von anderen
anders gesehen werden kann.
Die Erfahrung der Vielfalt menschlicher Begabungen und Persönlichkeiten
gepaart mit der räumlichen Dichte; und das Ganze ohne Mord und Totschlag,
Hass oder Vergeltung, das bleibt prägend. Und das, so empfinde ich es bis
heute, hat diese zweieinhalb Jahre zu den wichtigsten meines Lebens gemacht.
Die Episode verblasste durch die prägende Zäsur.
Warum verlässt man dann eigentlich diesen wichtigen Hort menschlicher Persönlichkeitsprägung vor dem Abitur? Nach der Mittleren Reife meinte meine
Mutter, es sei besser für das Geschäft, eine Lehre zu machen. Da ich noch keine Vorstellung von meinem Leben nach dem Abitur hatte, stimmte ich dem
zu. Drei Jahre Lehre in Ulm als Großhandelskaufmann folgten. Das war dann
der erste richtige Kulturschock meines Lebens. Er ließ mich rapide erkennen,
was ich mit der OSO gewonnen und dann verloren hatte. Aber der Gewinn
war so nachhaltig, dass er bis heute Früchte trägt.
||
|| 33
Blick aus dem Goethe-Haus
in Richtung Ober-Hambach
(Oberdorf ). Unten sieht man
den Abzweig der Stichstraße
zum Parkplatz vor dem
Goethehaus, so wie er früher war
34 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR
Günter Engelen
linke Buchseite
letzte Reihe in der Mitte –
direkt davor Klassenlehrer
Ernest Jouhy
|| 35
36 || JOCHEM VON USLAR | 1948-1957 AN DER ODENWALDSCHULE
M
inna Specht war Schulleiterin, als ich ihr 1948 als neuer Schüler vorgestellt wurde. Sie musterte mich, hatte dann aber nur
Augen für meine Mutter, die damals am Theater in Darmstadt
die Mutter Courage spielte. Mir schien, Minna wäre fast die
bessere Besetzung gewesen.
Minna Courage entschied, als meine Mutter abgereist war, dass ich gleich für
den Stopfkursus (Strümpfe stopfen!) bei ihr bleiben könnte und sie anschließend in den Garten zu begleiten habe, um Unkraut zu hacken. Jacques, mein
Zimmergenosse, erklärte mir, so viel Nähe sei ein Privileg. Jacques war fortan
überhaupt mein Tutor. Er warnte mich ominös, in der ersten Nacht möglichst nicht einzuschlafen. Als sie kamen, die lieben Kameraden, um mich zu
„kippen“, war ich auf der Hut. Kippen war ein Ritual, ein Überfall, nachdem
der Überfallene sich an der Wand unter dem Bett wieder findet, mit Wasser
übergossen wurde und schlimmstenfalls ertragen musste, dass ihm der Hintern mit Schuhcreme eingerieben wurde. Ich wehrte und prügelte mich, das
verschaffte Respekt (alle hatten schließlich Erfahrungen als Pimpfe). Jacques
vermittelte auch die ersten Eindrücke von der Koedukation. Er teilte mir eine
„Kameradin“ aus der Familie zu, mit der ich Händchen haltend spazieren
gehen musste. So trottete ich mit der Glücklichen zum Sportplatz hinauf und
wieder hinunter. Kurzum, ich lernte in den ersten 24 Stunden die Eckpunkte
der OSO-Erziehung kennen: Bewähre dich in einer Arbeitsgruppe, wehre
dich, und Koedukation ist – zumindest anfangs – langweilig.
|| 37
setzten die eher wertkonservative Position mit Kategorien wie Pflicht, Ordnung und Geschichtsbewusstsein. Ernest Jouhy lehrte uns Revolution und
Anarchie auf der Basis von Résistance und Marx. Herr Zier vermittelte mit
den Mitteln der Kunst. Und Wolfgang Edelstein hat als fünfundzwanzigjähriger Jungtürke, eine amphibische Autorität zwischen den Generationen,
alles überbrückt. Als Schüler kam es darauf an, mit Phantasie und dem richtigen Maß an Unabhängigkeit die Balance zu halten. Die OSO gab damals
den wirksamsten Unterricht in neuester Geschichte: Weimarer Republik und
„Drittes Reich“.
Ernst, ernster als die anderen, wurde genommen, wer es schaffte, im Schulparlament eine Rolle zu spielen. Ich wurde „Parlamentspräsident“, lernte (politisch) zu reden, Angriffe zu starten und in Kompromissen zu enden. Gegen
den heutigen Grad der Mitbestimmung, die den uns nachfolgenden Parlamentariern gewährt wurde, waren wir Untergrundkämpfer. Walter Schäfer
setzte auf die Autorität des Erwachsenen, aber er honorierte – gestaffelt oder
gemindert, je nach Vorliebe für den einen oder anderen – Widerstand. Jedenfalls bestrafte er Langweiligkeit und Lauheit.
Die Odenwaldschule war für mich ein Zuhause, ein Übungsplatz und eine
Heimstatt, die ich allerdings nach achteinhalb Jahren vergnügt hinter mir
gelassen habe. ||
Ich habe acht und ein halbes Jahr in der OSO gelebt. In der siebten Klasse, manche sprachen noch von der Untertertia, gab mir Frau Schäfer die
Hauptrolle im „Diener zweier Herrn“. Ich brillierte und schaffte erstmals den
Durchbruch zu einer umfassenden Bekanntheit in der Schule. Fortan wusste
ich, dass Theaterspielen in der OSO Ansehen schafft.
ZUR PERSON
1946 IN KOBLENZ GEBOREN
1948-1957 OSO BIS ZUM ABITUR
1957-1962 STUDIUM GESCHICHTE
U. JURA IN FRANKFURT/M, FES/RABAT
(MAROCCO), BERLIN U. MÜNCHEN
1962-1968 NACH 1. JUR. STAATSEXAMEN REFERENDARZEIT IN
MÜNCHEN U. NEW YORK
IN DIESER ZEIT „NEBENTÄTIGKEIT“
ALS REISELEITER IN EUROPA, AFRIKA,
ASIEN UND SÜDAMERIKA
1968 2. STAATSEXAMEN IN MÜNCHEN
1968-1972 ANGESTELLTER U. A.
BEI DER US-FIRMA „NATIONAL LAID“
1972 EINTRITT IN DIE F.D.P.
1972-1979 REFERENT FÜR KULTURFRAGEN BEIM DEUTSCHEN STÄDTETAG
1979-1983 ABTEILUNGSLEITER BEIM
KULTURSENATOR IN BERLIN (WEST)
1983-2001 KULTUR-,SCHUL- UND
SPORTDEZENENT DER STADT BONN
VERHEIRATET, DREI KINDER, DREI
ENKEL, SEIT 2001 PENSIONÄR
IM VORSTAND DER ALTSCHÜLERVEREINIGUNG UND DES FÖRDERKREISES
DER ODENWALDSCHULE E.V.
Die Oberstufe war ein Vergnügen. Aber man musste sich zurechtfinden. Die
Lehrer stritten aus zwei Lagern heraus. Walter Schäfer und seine Frau be-
Links: Jochem von Uslar 1948 an der OSO
Rechts: Das Planton-Haus tief verschneit im Winter 1956
38 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
A
ls junger Mensch Vollwaise zu werden und wenige Jahre nach
dem Abitur bereits das Pariser Establishment, die gesamte gaullistische Front 1968 in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen, da
kann man sich fragen: Was hat Dich stark gemacht?
Ich hatte so ein Gemüt, wo ich mich von den Ereignissen habe treiben lassen.
Ich bin oft gefragt worden: Haben Sie das geplant? Das ist völliger Unsinn.
Vielmehr gab es bestimmte Auseinandersetzungen; und das Ganze ist eskaliert. Wieso ich das ausgehalten habe? Da spielt schon meine Persönlichkeitsentwicklung an der OSO eine Rolle. Sich zu artikulieren und darzustellen,
das kam vom Theater in der OSO und dass ich sehr früh angefangen habe,
in der Schülermitverwaltung aktiv zu sein. Ich behaupte ja immer, ich hätte
den Wahlkampf erfunden. Als ich nämlich zum ersten Mal zum OSO-Parlamentspräsidenten kandidiert habe, hielt ich vom ersten Stock des Speisesaals aus eine Rede – damals noch im Goethe-Haus.
Eine donnernde.
Ja, ans Volk. Da war ich 16, zehnte Klasse, in der neunten war ich Parlamentssekretär. Die OSO hat da sicherlich viel beigetragen. In diesem Alter
schon Vollwaise zu sein, hat natürlich auch eine Rolle gespielt. Du wirst in
bestimmten Dingen schneller erwachsen, nicht in der ganzen Lebensfähigkeit; so zum Beispiel habe ich gewartet, bis ich 45 Jahre war, um ein eigenes
Kind zu haben. – Eine große Hilfe war und ist für mich bis heute mein neun
Jahre älterer Bruder.
Durch einen Schicksalsschlag früher reif zu werden, bedeutet nicht zwingend zu einem kämpferisch-unerschrockenen Volkstribun zu werden. Meine
Frage zielt auf eine bestimmte Variante Deiner Persönlichkeitsentwicklung.
Du bist sicher von einem extremen Temperament geprägt, „ungeheuer lebhaft und redegewandt“, wie Walter Schäfer einmal schrieb. Aber mich interessiert, wie Du damals die Feindseligkeit vieler gesellschaftlicher Gruppen
bis hin zur Ausweisung aus Frankreich ertragen hast.
Ich habe ein sehr positives Verhältnis zum Leben. Ich habe tolle Eltern g­ ehabt.
|| 39
Obwohl sie getrennt waren, wurde ich sehr behütet. Kürzlich habe ich den
Cicero-Preis „Bester Redner 2009“ erhalten, und da hat Franziska Augstein in
ihrer Laudatio ein Foto interpretiert, wo ich, sechs Monate alt, auf dem Arm
meiner Mutter bin und sie lächelt. Innere Ruhe und Selbstsicherheit habe
ich, so ihre Interpretation, durch das Bewusstsein, immer geliebt worden zu
sein, obwohl mein Leben im Ganzen sehr unruhig war. Die Person, die mir
wichtig war, hat mich geliebt. Und das war in der OSO auch so. Ich wollte ja
nicht nach Deutschland. Zur Vorgeschichte: Mein Vater war Anwalt der „Roten Hilfe“ und ist 1933, noch bevor die Verfolgung richtig begann, aus politischen Gründen nach Frankreich emigriert, zusammen mit meiner Mutter,
die damals in Berlin studiert hatte. Beide waren Deutsche und jüdisch. Meine
erste Sprache war also Französisch, weil ich in Frankreich aufwuchs und dort
zur Schule ging. Meine Muttersprache ist Deutsch, was ich aber erst in der
OSO richtig gelernt habe. Als nun meine Mutter beschlossen hatte, nach
Deutschland zu kommen, um meinen in Frankfurt lebenden krebskranken
Vater zu pflegen, war ich 13. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt.
Und der Kompromiss war die OSO, weil dort Ernest und Lydia Jouhy waren,
die meine Mutter kannte, weil sie ja auch wie Jouhy ein Kinderheim für jene
Kinder hatte, deren Eltern während des Krieges im Lager waren. Das also
war die Brücke: Ich kam nicht nach Deutschland, sondern an einen Ort, der
‒ abstrakt formuliert – für mich außerhalb Deutschlands lag, personifiziert
durch die Jouhys. Und an der OSO hat man mich von vorneherein ‒ das
habe ich so erfahren – geliebt. Nicht nur die Jouhys, bei denen ich zuerst
in der Familie war, das war ja ein familiäres Verhältnis, sondern auch die
gesamte Schule. Also, ich war dann „eine geliebte Person des öffentlichen Lebens der OSO“. Die haben mich gemocht, alle auf ihre Weise. Ob es der Boss
oder Zier waren oder Frau Schäfer. Sie war ja meine Lehrerin, und manchmal
war ich wohl auch ein bisschen merkwürdig für sie. Ich kann mich an eine
Diskussion erinnern, wo ich sie zur Weißglut brachte. Wir haben „Wilhelm
Tell“ durchgenommen. Es ging um die Szene mit dem Apfel. Ich meldete
mich und sagte: „Ich finde das Verhalten des Vaters absolut unmöglich, denn
er riskiert das Leben seines Sohnes. Von vorneherein anzunehmen, dass er auf
ZUR PERSON
1945 IN MONTAUBAN,
FRANKREICH GEBOREN
1958-1965 ODENWALDSCHULE
BIS ZUM ABITUR
1968 SPRECHER DER PARISER
MAI-REVOLUTION
NACH SEINER AUSWEISUNG AUS
FRANKREICH IN DEUTSCHLAND
IM SDS UND DER APO AKTIV
1970 MITGLIED DER FRANKFURTER
SPONTI-SZENE UND HERAUSGEBER
DES FRANKFURTER STADTMAGAZINS
„PFLASTERSTRAND“
1984 MITGLIED DER GRÜNEN UND
DANACH DEZERNENT
FÜR MULTIKULTURELLE
ANGELEGENHEITEN DER STADT
FRANKFURT
SEIT 1994 MITGLIED DES
EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
FÜR DIE GRÜNEN, Z.T. ALS
FRAKTIONSVORSITZENDER
DANEBEN ALS BUCHAUTOR
UND MODERATOR TÄTIG
IN FRANKFURT/M. LEBEND,
VERHEIRATET, EIN SOHN
40 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
|| 41
alle Fälle den Apfel und nicht seinen Sohn treffen wird, ist keine verantwortliche Haltung eines Vaters. Denn man muss immer sein mögliches Scheitern
voraussehen.“ Frau Schäfer versuchte, mich vom Gegenteil zu überzeugen.
Ich blieb aber dabei: „Tell ist eine negative Person.“ Der Unterricht konnte
nicht fortgesetzt werden, weil ich penetrant immer wieder auf dieses Thema
zurückkommen wollte.
Wer hat schließlich Recht behalten?
Das weiß ich nicht mehr. Sagen wir, die klassische Interpretation ist sicherlich
nicht auf meiner Seite.
Welche Rolle hat Ernest und welche hat Rolle Lydia Jouhy für Dich gespielt?
Er war vor allem Lehrer und einer, der gerne diskutierte. Lydia war eine unheimlich liebe Frau, die sehr gut verstehen konnte, welche Probleme ich am
Anfang hatte. So lebte ich zusammen mit der elfjährigen Tochter in ihrer
OSO-Familie, quasi als Adoptivsohn. Und als meine Eltern innerhalb von
vier Jahren starben, hatte ich immer einen Halt bei ihnen. Und Lydia war ja
für mich faszinierend: dieses Emigrantenschicksal, das das Leben neu gestaltet
hat. Es gibt übrigens eine witzige Geschichte. Ich kam 1958 zur OSO, und
1999 wurde ich ins Europaparlament wiedergewählt. Da kam eine Frau der
russischen Minderheit aus Riga auf unsere Fraktion zu. Irgendwann sprach
sie mich an und sagte: „Du kennst doch die Lydia Jouhy?“ Sag ich: „Klar.“
Ja, und diese Frau war mit dem Neffen von Lydia zusammen gewesen in der
gleichen Gruppe der russischen Minderheit in Riga. Das war schon berührend. Ernest und Lydia waren für mich der emotionale und intellektuelle
Rückhalt in der OSO. Also nicht er intellektuell und sie emotional. Das wäre
falsch. Beide haben diese Rolle gespielt. Klar, dass er als Lehrer (Lydia hat ja
nicht unterrichtet) einer der ersten politischen Mentoren war, mit denen ich
mich auseinandergesetzt habe – außer meinem Bruder, den darf man dabei
nie vergessen.
...
Lydia Jouhy mit ihrer Tochter Eva
42 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
Der frühere
Schulleiter der Odenwaldschule
Walter Schäfer – von den Schülern
oft nur „der Boss“ genannt
Welche Impulse hat
Jouhy in der politischen
Auseinandersetzung gegeben? Das ist schwierig
...
Wie war der Unterricht
bei ihm?
Ich hatte bei ihm nur
Französisch-Leistung, den
meisten Unterricht hatte
ich bei Walter Schäfer.
Kannst Du einen Einblick in die inhaltliche
Ausrichtung seines Geschichts- und Politikunterrichtes geben?
Er hat sehr auf die geschichtliche Argumentation abgehoben und versucht, Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen ‒ seine Kriegserlebnisse
in Russland sind immer mit eingeflossen ‒ und gleichsam die Neudefinition
der Bundesrepublik als demokratischer Staat voranzutreiben. Das war im
Grunde sein Ansatz. Anfang der 1960er kam der damalige Außenminister
von Brentano zu uns. Er hat mit der Oberstufe diskutiert. Und da waren
einige, darunter ich und noch ein anderer Jude, die ihn in eine Debatte verwickelt haben. Irgendwann sagte er, dass er jetzt gehen müsse, aber es wäre
interessant, uns nach Bonn einzuladen. Und da sind wir ins Bonner Außenministerium marschiert und haben nachmittags mit ihm weiter diskutiert.
Es war unheimlich nett. Ich weiß nicht, ob Schäfer das arrangiert hatte, aber
solche Veranstaltungen waren ihm wichtig. Er war streng, ja rigoros, aber of-
|| 43
fen. Man hat gespürt, dass er das Ganze zusammenhielt, aber er war weniger
zugänglich als die Jouhys. Es war ein recht distanzierter Umgang nach außen
hin, auch zu seinen Töchtern. Und bei Jouhy war das emotional ganz anders.
Das konnte man sehen. Aber trotzdem hat Schäfer beeindruckt.
Basierte das Verhältnis von Jouhys und Schäfers auf gegenseitiger Sympathie?
Ich glaube, die haben sich gegenseitig respektiert. Schäfer war sicherlich beeindruckt von der Lebensleistung der Jouhys. Und Jouhy erkannte die intellektuellen Fähigkeiten von Schäfer. Zurück zum Unterricht. In Mathe und
Physik hatte ich unheimliche Schwierigkeiten. Ich weiß aber nicht mehr,
bei wem das war. Und beim damaligen Lehrer für Biologie haben wir einen
richtigen Aufstand gemacht. Den mochten wir nicht, und dann haben wir
gestreikt und gedroht, dass wir nicht mehr kommen würden. Ein sehr gutes
Verhältnis hatte ich zu dem Sportlehrer Brandwein. Er kam ja aus der DDR
und war sehr streng. Aber weil ich Sport sehr gemocht und auch viel Sport
gemacht habe (z.B. Handball), hatte ich ein gutes Verhältnis zu ihm, obwohl
er autoritär und im Grunde genommen von den DDR-Erziehungsidealen
stark geprägt war.
Hast Du Dich nicht immer gegen jede Form von Autoritarismus gewehrt?
Ja, aber er hat die notwendige Intelligenz gehabt, unsere positive Einstellung
zum Sport gespürt und uns im Grunde genommen mehr laufen lassen, als es
ihm lieb war. Irgendwie wurde er überzeugt von uns, dass wir Sport machen,
ohne dass er seine autoritäre Masche durchsetzen konnte.
Manch ein Klassenkamerad hat bedauert, dass Du selten zu Altschülerbegegnungen kommst. Ein Zeitproblem?
Das wäre zu banal. Aber es geht mir oft so, dass ich in den Milieus, in denen
ich gerade bin, total aufgehe. Und zu den vorigen Milieus Verbindung zu halten, wird immer anstrengender. Ich überlasse es dem Zufall und freue mich,
wenn ich jemanden treffe, zum Beispiel den Jürgen Wickert. Dann umarme
ich ihn und sage: „Wir müssen uns öfter sehen!“ Das ist kein Desinteresse.
44 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
|| 45
Aber wenn ich zwischen Frankreich und Deutschland immer hin und her
springe, ergibt sich vieles nicht.
Oben: Wolfgang Porsche,
unten Daniel Cohn Bendit
beim Fasching
Welches Verhältnis hattest Du zu Wolfgang Porsche?
Wie das Leben so ist: Wir waren beide in einer OSO-Familie und in einer
Klasse, − wenn man die geschichtlich höchst unterschiedliche Entwicklung
unserer beider Familien sieht ...! Ich habe ein herzliches Verhältnis zu ihm
gehabt. Er war nett, gesellig, aber er wollte sich nicht so einbringen. Bestimmte Dinge wollte
er nicht einsehen. Das
war das Problem der
OSO damals, dass
manche Leute ihre Eigenständigkeit, Individualität
behalten
wollten, ohne in der
Gemeinschaft aufgehen zu müssen. Das
duldete „the common
sense“ der OSO weniger. Die OSO war
herrlich für mich und
ich für die OSO. Individualisten hatten es
schwerer.
...
Hast Du beim deutsch-französischen Jugendwerk oder im Sprachlabor mitgearbeitet?
Nein. Im Übrigen: Mich haben Schreinerei, obwohl ich Herrn Oberle sehr nett
fand, oder Schlosserei gelangweilt. Was habe ich gemacht? Gelesen, diskutiert,
Theater gespielt, z.B. „Der eingebildete Kranke“ auf Französisch, Stücke geschrieben und z.B. als Elftklässler mit Siebtklässlern Stegreifstücke inszeniert,
als Parlamentspräsident das Blockhaus erkämpft ‒ ich wollte ein Haus für die
Schüler, heute ist das die Disco ‒, legale und illegale Nachtwanderungen zur
Kneipe in Schannenbach, Tanzkurse, am Ende gab es einen OSO-Ball mit
Wettbewerb; mit Karin Höpfner habe ich den 1. Preis in den lateinamerikanischen Tänzen gemacht.
Zu den sozialen Strukturen der OSO – was ist Dir da besonders in Erinnerung?
Als ich kam, war ich ein „Vollzahler“. Als mein Vater starb, habe ich ein OSOStipendium gehabt. Und was mich damals beeindruckt hat, das war die Freudenbergstiftung aus Weinheim, die auch die soziale Struktur der OSO etwas
verändert hat. In meiner Klasse war Otto Herz, das Paradebeispiel für diese
Entwicklung: Es wurde Schülern ermöglicht, an der OSO zu sein und Abitur
zu machen. Das wäre von der sozialen Herkunft her ansonsten nicht drin gewesen. Die OSO war vielleicht keine geschlossene Gesellschaft und hatte zwar
damals schon einen eigenen Stipendientopf, aber die Freudenbergstiftung kam
dann hinzu, und so war der Internatsbesuch nicht mehr ausschließlich vom
elterlichen Geldbeutel abhängig. Das hat sich später noch mehr geändert, als
die Jugendamtfinanzierung noch dazu kam. Viel später habe ich der OSO ja
ein Riesenproblem geschaffen.
Indem Du als Dezernent für Multikulturelles in Frankfurt eine völlig unbeirrbare, meist wütende junge Türkin zu uns brachtest. Ich hab sie unterrichtet.
Das muss man der OSO hoch anrechnen: Sie hat bei ihr wirklich etwas bewirkt. Inzwischen macht sie ihr zweites Staatsexamen als Lehrerin und ist eine
unheimlich tapfere Frau geworden. Sie war bei Barbara und Günther Schweigkofler in der Familie. Vor allem Barbara hat immer wieder für sie gekämpft.
46 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR
|| 47
Physikunterricht bei
Herrn Weiser: mittlere ­Reihe
v.l.n.r.: Klaus Windaus,
Klaus Dick, Manfred ­Rathgeber,
hintere Reihe besonders eifrig: Dany Cohn-Bendit, lässig
winkend Eli Noam und
Klaus ­Hosang (G65)
ca. 1963 oder 64
48 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
Ich erinnere mich an zahllose Konferenzen, Gespräche, Rückmeldungen ...
Ja, das kann ich mir denken. Meine Frau und ich, wir reden oft darüber:
„Nur so eine Schule hat das geschafft“, sagen wir immer. In Frankfurt wäre
dieses Mädchen untergegangen. Heute macht sie ihr Leben, im Endeffekt
ist das eine absolute Erfolgsstory. Also, durch die Freudenbergstiftung und
öffentliche Kostenträger hat sich die einseitige soziale Schichtung ein wenig
auflockert. Aber ich denke, es ist heute immer noch überwiegend eine wohlhabendere Schicht an der OSO.
Nur ein Drittel unserer jungen Leute wird vom Jugendamt finanziert.
Aber zwei Drittel Privatzahler sind immer noch zwei Drittel. Also ich will
nicht sagen, dass ein Drittel nichts ist. Ich erkenne das total an.
Dany, Du hast seit Deinem Abitur 1965 mit der OSO immer Kontakt gehalten. In dieser Zeit habe ich Dich stets als jemanden wahrgenommen, der
die OSO liebevoll-engagiert bis fordernd kommentiert, aber auch kritisch
gesehen hat. Nach Walter Schäfer kam Gerold Becker als Schulleiter (19721985). Wie war Dein Verhältnis zu ihm, und wie hat er die Schule geprägt?
Wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis und manche Diskussion. Er hatte einen ganz anderen Führungsstil. Walter Schäfer war von der Kriegs- und
Nachkriegszeit geprägt, Gerold Becker eher von der neuen Pädagogik, der
Reformpädagik, die im Grunde mit den Revolten Ende der 1960er Jahre wieder salonfähig, ja gesellschaftlich anerkannt worden war. Becker hat versucht,
an den ursprünglichen Ansätzen weiterzuarbeiten. Das war zwar kein Bruch
zur Schäfer-Ära, aber den Gedanken der offenen Schule hat er stringenter
verfolgt. Schäfer und auch Jouhy lebten ja auf ihre Art die Autorität des Lehrers. Und Gerold Becker hat das vermischt. Das ist ja auch das Problem der
Widersprüche zwischen Kumpel und Autorität. Die Schule war eine Infragestellung der Autorität als Autorität.
... entlang der Trennlinie: formale und natürliche Autorität?
Also, Jouhy und Schäfer waren natürliche Autoritäten. Aber sie haben auf
|| 49
ihre formale Position gepocht und blieben eher auf Distanz. Gerold Becker
kannte diese Distanz nicht so. Das hat die OSO letztlich von dieser früheren
Idylle weggeholt. Die OSO hatte immer die Tendenz, das Gute im Menschen
zu suchen und dieses zu glorifizieren. Ich weiß noch, wir haben mit Schäfer
ein Theaterstück gemach: „Das Rumpelstilzchen“. Und da war immer diese
Suche nach dem Guten im Menschen: zwischen Rousseau und Aufklärung.
Das war die OSO.
Ging es um die Frage nach den anthropologischen Konstanten, der Frage
also nach dem Kern menschlicher „Grundausstattung“?
Ja, und wer letztlich recht hat: Rousseau, die Aufklärer oder Marx? Wir haben damals unendlich lange philosophiert. Ist der Mensch eigentlich gut
und macht die Gesellschaft ihn erst schlecht? Ich denke, dass der Mensch im
Grunde weder gut noch schlecht ist, sondern dass sich in bestimmten Situationen Dinge entwickeln, die alle Menschen in sich als Potential haben. Und
plötzlich kam 1998/99 mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs gegen
Gerold Becker etwas, was man sich nicht erklären konnte. Ich meine, die
OSO hätte als Schule schon früher anders mit diesem Problem umgehen
sollen, nicht denunziatorisch, aber offener. Ich fand die Lehrer und den Vorstand des Trägervereins damals feige. Sie haben es doch vielleicht schon früher
gewusst. Das seit dem Frühjahr 2010 durch die mediale Berichterstattung
deutlich gewordene ungeheure Ausmaß des Missbrauchs macht mich in der
Tat fassungslos. Die Odenwaldschule muss nun für eine radikale Aufklärung
aller Vorwürfe sorgen und ihre Struktur überdenken.
Die Betroffenen dieser Übergriffe leiden nicht selten bis heute. Die Odenwaldschule hat zwar nach dem Bekanntwerden der erstmals öffentlich erhobenen Missbrauchsvorwürfe gegen Gerold Becker versucht, auf verschiedenen Ebenen Prävention und Intervention zu betreiben; so ist u.a.seit
2000 ein „Ausschuss zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ (Mitglieder
sind vier Erwachsene und der gesamte Vertrauensausschuss der Schüler) an
der OSO eingerichtet worden. Das sind zwar notwendige und durchaus
50 || DANIEL COHN-BENDIT | 1958-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
wirksame Maßnahmen, aber bislang eben nur Bordmittel. Wir bedürfen
dringend der externen Beratung und Kontrolle sowie weiterer Strukturveränderungen, um wirksam vorbeugen zu können. Die OSO ist dabei, einschlägige Konzepte zu entwickeln. Aber vor allem muss es der OSO auch
darum gehen, diese Epoche rückhaltlos aufzuklären.
Ein ganz anderes Feld: Auf welches Menschenbild hin erziehst Du Deinen Sohn?
Dem Anspruch nach ist es für mich die Erziehung zur Autonomiefähigkeit.
Gleichzeitig bin im Grunde die perfekte „jüdische Mama“ bis hin zum Overprotecting. Noch heute fällt es mir schwer loszulassen. Zum Glück ist meine
Frau da, die das alles korrigiert. Aber das ist der Widerspruch zwischen diesen
Autonomievorstellungen von der Fähigkeit zur Selbstständigkeit und diesem
persönlichen Verhalten.
Hast Du Dein Jüdischsein an der OSO besonders gelebt?
Nein, aber das war in der OSO überhaupt kein Thema. Es ist etwas, was ich bis
heute nicht geregelt habe. Meine Frau sagt immer: „Irgendwann musst Du Dich
dem stellen.“ Ich habe irgendwie, irgendwann beschlossen: „ich bin Jude“, das
hat etwas mit meiner Geschichte und der meiner Eltern zu tun. Aber ich habe
mit dem Judentum nichts zu tun. Ich bin in keiner Synagoge. Mein Sohn ist
nicht im Religionsunterricht. Meine Frau ist nicht Jüdin. Wahrscheinlich muss
ich aber in den nächsten Jahren mal manches zusammenbringen.
Wenn Du eine Schule bauen könntest, welche Impulse wären Dir wichtig? Eine gute Frage. Als Frankfurter Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten habe ich damals gesagt: „Warum machen wir in unserer Stadt
nicht eine Gesamtschule mit Internat? Es gibt Kinder, die auch abends nicht
nach Hause können. Einen Ort, wo man gleichzeitig die Mittlere Reife bzw.
Abitur und eine berufliche Qualifikation erlangen kann.“ „Das funktioniert
nicht“, hieß es. „Ich komme aber von einer Schule, wo das geht! Stellt euch
vor, es würden benachteiligte Jungs in der Stadt Automechaniker und Schulabschluss machen und so aus der Misere rauskommen.“ Das habe ich vorgeschlagen in Schulen, beim Ministerium etc. Es war damals nichts zu machen.
|| 51
Ich glaube aber, dass eine solches Schulkonzept notwendig wäre. Im Übrigen
würde ich das finnische Modell in einigen Punkten übernehmen: in den ersten sieben Jahren eine Beurteilung, aber keine Noten geben und versuchen,
dass regelmäßige Anforderungen gestellt würden und bis zum 15. oder 16.
Lebensjahr kann man nicht sitzen bleiben.
Was hat Dir die OSO mitgegeben?
Ich glaube, die OSO hat mir diese bestimmte Offenheit mitgegeben, Herausforderungen anzunehmen, aber auch eine Dimension der Lebensbejahung
vermittelt, dass das Leben trotz der Schwierigkeit, dass Vater und Mutter sehr
früh gestorben sind, Spaß macht. Das kam auch durch die Art des Zusammenlebens, die wir hatten. Auch rückblickend, ein tolles Leben! Es klingt
jetzt ein bisschen zu dick. Ich weiß nicht, wie man das sonst formuliert. In
der OSO kann man „sein Leben machen!“ Man ist also im Grunde genommen nicht gezwungen, ein Leben zu übernehmen, sondern man kann seines
auch machen. Das ist ein Gefühl, was in der OSO angefangen hat, sich bei
mir festzusetzen.
Dany, ich danke für das Gespräch.
||
Das Gespräch fand im Oktober 2009 in Frankfurt statt und wurde von
Dany Cohn-Bendit im März 2010 aktualisiert.
INTERVIEW | Burgunde Niemann
52 || WOLFGANG PORSCHE | 1959-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
H
err Dr. Porsche, zunächst einmal schönen Dank, dass Sie
trotz der Porsche-Volkswagen-Turbulenzen 2009 Zeit zum
Gespräch finden. Welche Ereignisse gingen dem Besuch der
Odenwaldschule voraus?
In meinem Geburtsort Stuttgart habe ich zunächst eine Waldorfschule besucht.
Bereits meine Mutter war eine Waldorfschülerin, die Rudolf Steiner noch kannte. Nachdem einer meiner Brüder die Waldorfschule verlassen hat, gab er mir
den Rat, ebenfalls die Schule zu wechseln, weil er recht viel nachlernen musste.
Also haben meine Eltern und ich nach einer guten Alternative gesucht und
diese in der OSO gefunden. Zu diesem Zeitpunkt war ich 13 Jahre alt.
Mit 13 – ein apartes Alter. Die OSO muss für Sie eine völlig andere Welt
gewesen sein. Und dann in den 60ern ...
Das war in der Tat eine völlig andere Welt für mich. Spontan fällt mir ein Vorfall mit meinem damaligen Sportlehrer ein. Wir bekamen damals 30 Mark
Taschengeld. Als ich fünf Mark bei ihm abholen wollte, fragte er, für was ich
das Geld wolle. Ich entgegnete: „Das Geld steht mir doch zu. Ich hätte gerne
fünf Mark, um ein paar Sachen zu besorgen.“ Er weigerte sich, mir das Geld
zu geben, weil ich ihm nicht den genauen Verwendungszweck nennen wollte.
Vielleicht hatte er Angst, dass ich rauche. Doch ich fand diese Bevormundung brüskierend. Als er mir sagte, dass er hier meine Eltern ersetze, habe
ich ihn angeschaut und erwidert: „Sie können meine Eltern nicht ersetzen.“
Das war mein Entree bei dem bärtigen Sportlehrer. Aber ansonsten habe ich
die Obrigkeit anerkannt. Mein Klassenlehrer Dr. Schlegelmilch war äußerst
nett, da gab es keine Probleme. Später war ich dann bei Trude Emmerich im
Platon-Haus. Wenn man bei ihr etwas über das Essen gesagt hat, entgegnete
sie: „Unten an der Autobrücke stehen einhundert andere, die gerne in die
OSO wollen.“
Dann haben Sie geschwiegen und sind zum Bäcker gegangen?
Ja, da trafen sich alle. Mein Zimmernachbar im Platon-Haus war übrigens
­Daniel Cohn-Bendit.
|| 53
Haben Sie den Eindruck, dass es in den frühen 60er Jahren an der OSO
ein Autoritätsgefälle zwischen Erwachsenen und Jugendlichen gab, das es
notwendig machte, sich – um erfolgreich zu sein – ein wenig anzupassen?
Oder war es Ihre Familienerfahrung?
Das ist schwer zu sagen. Ich für meinen Teil bin jedenfalls nicht negativ aufgefallen. Zusätzlich zu meinem Abitur habe ich eine Schlosserlehre samt Gesellenprüfung an der OSO gemacht. Mein Ziel war es, die Schule schnell zu
beenden.
Sie waren anfangs ein freundliches, eher zurückhaltendes Kind. Sind Sie im
Laufe der Zeit selbstbewusster geworden?
Auf jeden Fall. Je näher das Ende meiner Schullaufbahn rückte, desto selbstbewusster wurde ich.
Hat gegebenenfalls auch Dany etwas abgefärbt?
Daniel Cohn-Bendit und ich waren sehr unterschiedlich. Ich vertrat die Dinge viel ruhiger.
Sie waren der Einzige aus der Familie, der an der OSO war. Wie haben Ihre
Eltern Ihre Entwicklung wahrgenommen?
Durchaus positiv. In der Waldorfschule hatte ich nicht gelernt, wie man lernt.
Das hat sich an der OSO geändert.
Wie haben Sie das Leben an der OSO wahrgenommen. Gab es für Sie einprägsame Grundstrukturen? Das Familiensystem etwa?
Mir gefiel, dass die OSO eine gemischte Schule war. Buben und Mädchen
wohnten Zimmer an Zimmer. Dadurch war alles viel selbstverständlicher. Im
Übrigen hat mir gefallen, dass – mit Ausnahme des Pestalozzi-Hauses – nicht
nur Gleichaltrige in den Häusern lebten. Dadurch gab es nicht so eine Cliquenbildung. Auch die Doppelqualifikation hat mir Spaß gemacht und ist
sicherlich ein weiterer Grund, weshalb ich an die OSO gegangen bin.
...
ZUR PERSON
1943 IN STUTTGART GEBOREN
1958-1965 ODENWALDSCHULE BIS
ZUM ABITUR UND DER
SCHLOSSER-GESELLENPRÜFUNG
1965-1971 STUDIUM AN DER HOCHSCHULE FÜR WELTHANDEL IN WIEN,
ABSCHLUSS DIPLOM-KAUFMANN
1973 PROMOTION ZUM DOKTOR
DER HANDELSWISSENSCHAFTEN
1976–1981 EINTRITT IN DIE
DAIMLER-BENZ AG IN
STUTTAGRT-UNTERTÜRKHEIM
SEIT 1978 MITGLIED
DES AUFSICHTSRATS
BEI DER PORSCHE
AKTIENGESELLSCHAFT
SEIT 1985 GESCHÄFTSFÜHRER
DER PORSCHE GMBH, STUTTGART
SEIT 1988 GESCHÄFTSFÜHRENDER
GESELLSCHAFTER DER PORSCHE
HOLDING GMBH, SALZBURG
SEIT 1995 SPRECHER DER
FAMILIE PORSCHE
SEIT 2007 VORSITZENDER DES
AUFSICHTSRATES DER PORSCHE AG
SEIT 2007 VORSITZENDER DES
AUFSICHTSRATES DER ­PORSCHE
AUTOMOBILHOLDING,
GESCHIEDEN, VIER KINDER
54 || WOLFGANG PORSCHE | 1959-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
Der Baumeister der Odenwaldschule, Heinrich Metzendorf, hat 1910 ein Gesamtkunstwerk geschaffen. Die Häuser sind wie Perlen an einer Schnur um
dem Berg herum gebaut mit absichtsvoll gestalteten Wegen und Perspektiven
im Kontext einer Gesamtlandschaft, eine „Dichtung in Stein und Grün“. Ist
Ihnen das damals aufgefallen?
So ist mir das damals nicht aufgefallen, aber ich liebe alte Häuser und die Natur.
Wie wurde seitens der Erwachsenen mit Konflikten umgegangen? Haben
die Erwachsenen z. B. bei Streitigkeiten interveniert?
Nur, wenn Streitigkeiten eskaliert sind. Ansonsten wurden Konflikte auf dem
kleinen Dienstweg selbst geregelt. Ich finde, das war richtig so.
Gibt es im künstlerischen Bereich, in der Literatur oder Musik Erfahrungen,
die dann später eine Rolle spielten?
Ich habe früher zu Hause Klavier gespielt, was ich dann aus Zeitgründen an
der OSO leider nicht mehr machen konnte. Heute male ich sehr gerne – etwa
Stillleben in Öl. Aber auch dafür benötigt man Zeit.
Ist Ihnen ein spezielles Konzept in der Schule oder im Umgang mit Menschen deutlich geworden; oder war die OSO für Sie ein gewachsenes organisches Ganzes?
Für mich war das eher ein organisches Ganzes.
Sie sagten vorhin, die Erwachsenen seien (mit Ausnahme des ersten Familienoberhaupts) als Persönlichkeiten zu respektieren gewesen.
Ja. Dr. Schäfer zum Beispiel habe ich sehr geschätzt, aber auch andere Erwachsene sind mir in guter Erinnerung geblieben.
Ihre Kinder haben eine Staatsschule besucht?
Ja. Meine beiden Ältesten haben in München Abitur gemacht, meine beiden
Jüngsten besuchen noch eine Münchener Stadtschule.
|| 55
Wann ist der Kontakt zur OSO abgerissen?
Wirklich abgerissen ist der Kontakt nie. Über einzelne Freunde habe ich immer noch Verbindungen zur OSO. Vor zwei Jahren etwa hatten wir ein Ehemaligen-Treffen bei Passau.
Spiegeln sich die Erfahrungen von sieben Jahren OSO in Ihrem beruflichen
Leben in irgendeiner Weise wider?
Vielleicht in der Art, wie ich mit anderen Menschen umgehe und Konflikte
löse. Man lernt das sicherlich schon zu Hause, aber vor allem auch in einer
Gemeinschaft wie der OSO. Mir ist es wichtig, Konflikte nicht mit Lautstärke, sondern mit Argumenten zu lösen. Gegenseitiges Anschreien nützt am
Ende niemandem.
Ich entnehme Ihren Aussagen, dass es für Ihre Persönlichkeitsentwicklung
und Ihre heutige Position ein Gewinn war, an der OSO gewesen zu sein.
Durchaus. Ich habe mich während meiner Zeit an der OSO gut entwickelt.
Herr Dr. Porsche, ich danke herzlich für das Gespräch.
||
Das Gespräch fand im Oktober 2009 in Stuttgart statt.
INTERVIEW | Burgunde Niemann
56 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR
|| 57
kdlkdkfdlkjfl
Wolfgang
Porsche und
Jürgen W
­ ickert bei ihrer
Abitursfeier 1965
58 || JÜRGEN WICKERT | 1959-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
D
ie Zeit auf der OSO von 1959-1965 (Abitur) gehört zu den
schönsten Zeiten meines Lebens. Innerlich verstört, in der Folge
stotternd und schulisch mangelhaft, haben meine besorgten Eltern über Freunde den Weg für mich in die OSO gefunden.
1. Station: Goethe-Haus / 3. Stock bei Schwester Hanna + Schwester Dorle /
Krankenstation – in einem Zweierzimmer. Prägende Erlebnisse mit verbotenen Haustieren – Mauerfalke, Igel, Mäuse, im Wald aufgegriffene Schildkröte – alle endeten irgendwie tragisch!
Dann Umzug in die Edelstein-Familie. Wolfgang schrieb an seiner Doktorarbeit über die Erziehungsreform im Karolinger-Reich auf Latein und hielt
für mich, bis heute lebendig, den spannendsten Lateinunterricht: noch in Erinnerung z.B. die gesellschaftspolitische Bedeutung der „cloaca maxima“ im
Alten Rom! Später selbst in Rom lebend (1978-1983), fiel mir das bei jeder
Ansicht des „spqr“-gezeichneten Gullideckels wieder ein.
Wechsel in die Jouhy-Familie im Herder-Haus. Ernest und Lydia Jouhy
(Jablonski) vermittelten mir eindrücklich die Geschehnisse der deutschen
Geschichte von 1933-45 und danach! Sie waren authentische Zeugen des
Kampfes gegen das Nazi-Regime durch ihre Mitgliedschaft und den tätigen
Widerstand in der Résistance in Frankreich. Unvergesslich der Besuch im
Vercors, wo SS-Lastensegler schwarzgestrichen nachts auf dem Hochplateau
nahe Montélimar gelandet waren und hunderte Menschen erschossen hatten.
Ernest Jouhy kam lebend davon, da er sich abgemagert in einer Ackerfurche
vor den MG-Salven verstecken konnte.
Einzigartig die Aufenthalte in La Bégude, dem einstmals aus Wassermangel
verlassenen und durch Ernests Initiative mit Hilfe von Künstlern und Handwerkern (Ari, der Töpfer!) und Familie Lindemann (Hartwig, Zimmerkamerad im Herder-Haus) wieder aufgebauten Dorf. Die Steine des verlassenen
Dorfes haben wir mühsam sortiert und in den Ferien mitgeholfen, sie zu
|| 59
neuen Häusern zusammenzufügen. Wasser war trotz Strom und Pumpe immer noch ein Problem! Zu essen gab es für mich damals Fremdartiges: z.B.
Artischocken und Auberginen, Feigen und Oliven – es war herrlich!
Das ganze Fremdartige, von den anderen Dächern und ihren Ziegeln angefangen bis zur Kleidung der Menschen, zu ihrer anderen Sprache und Verhaltensweise, bis hin zur Feststellung, dort als junger Deutscher nur unter dem
Schutz von Ernest und dem Projekt des Deutsch-Französischen Jugendwerks
akzeptiert zu sein – das alles hat mich tief bewegt, das habe ich in vielen
Fotos und Zeichnungen festgehalten. Diese Erinnerungen haben mich nie
losgelassen.
Die sechs Jahre auf der OSO, die Zeit in der Schreinerei, der Kochkurs,
das Helfen in der Gärtnerei, der Geschichtsunterricht bei Frau Schäfer, der
Deutschunterricht bei „Boss-Schäfer“, der Gesamtunterricht, das SchülerParlament, die bis heute gebliebene enge und herzlich verbundene Freundschaft unserer Klasse – die Denkanstöße zu Freiheit und Verantwortung, das
Basiswissen einer gesamtheitlichen Bildung – das war und ist für mich die
OSO!
Als Altschüler spüre ich die Verantwortung, dass die zum Teil schlechten
nachfolgenden Jahre der OSO besser analysiert und verstanden werden, damit sich diese gravierenden Fehler im pädagogischen Konzept und in der
gelebten Praxis der Odenwaldschule so nicht wiederholen können.
Wichtig ist mir auch, daran zu erinnern, dass die OSO das Schicksal der über
200 jüdischen Schülerinnen und Schüler vor 1933 nie offiziell aufgearbeitet
und gewürdigt hat. Dies könnte z.B. durch die Einrichtung von zwei bis drei
Stipendien für jüdische Schülerinnen und Schüler aus Europa geschehen.
Dadurch kann zwar nichts wieder gutgemacht werden, es könnte aber ein
Signal für die Zukunft gesetzt werden, dass die jüdisch-christliche Tradition
im Fundament der OSO auch nach 100 Jahren fortbesteht.
ZUR PERSON
1944 IN BAD SÄCKINGEN GEBOREN
1959-1965 ODENWALDSCHULE
BIS ZUM ABITUR
1965-1972 STUDIUM DER RECHTSUND SOZIALWISSENSCHAFTEN, DER
ETHNOLOGIE UND DER PÄDAGOGIK AN
DEN UNIVERSITÄTEN IN FRANKFURT/
MAIN, BONN UND LONDON
ABSCHLÜSSE DIPL.-PÄD. UND DR. PHIL.,
BEIDES J.W. GOETHE-UNIVERSITÄT FFM.
SEIT 1973 IN LEITENDER TÄTIGKEIT BEI
DER FRIEDRICH-NAUMANN-STIFTUNG
FÜR DIE FREIHEIT IN JAKARTA, ROM,
NEW YORK, WASHINGTON DC, BONN/
KÖNIGSWINTER, POTSDAM UND BRÜSSEL
PUBLIKATIONEN
„BOROBODUR“, JAKARTA 1974,
„DER BERG IM KOFFER – LERNEN MIT
DER FREMDEN KULTUR – INDONESIEN“,
FRANKFURT 1981, ZAHLREICHE AUFSÄTZE, ARTIKEL, RUNDFUNK- UND
TV-SENDUNGEN ZU THEMEN DES
KULTUR- UND POLITIKDIALOGS IN
INDONESIEN, ITALIEN, DEN USA,
DEUTSCHLAND UND EUROPA
DERZEIT LEITER DES INTERNATIONALEN
POLITIKDIALOGS DER FRIEDRICHNAUMANN-STIFTUNG FÜR DIE FREIHEIT
MIT DEN BÜROS IN BRÜSSEL
UND WASHINGTON DC
VERHEIRATET, VIER TÖCHTER
60 || JÜRGEN WICKERT | 1964-1965 AN DER ODENWALDSCHULE
Die wechselvolle Geschichte der OSO und der etwa 4000 SchülerInnen und
LehrerInnen – nicht alle können meine positiven Erinnerungen teilen – gibt
Zeugnis vom Kerngedanken des pädagogischen Konzepts: Fördern durch
Fordern, Freiheit durch Verantwortung.
|| 61
Großes Bild: Irene Hess und Jürgen
Wickert (beide G65) in Jürgens
Zimmer im Herder-Haus, oberstes Stockwerk / Jouhy-Familie
Die 100-Jahr-Feier der OSO und der als Geschenk der Altschüler dazu veranstaltete „Bildungsgipfel“, auch das Schüler-, Altschüler-, Lehrer- und Elternfest werden nachhaltige Eckpunkte einer neuen Orientierung liefern, damit
die OSO auch in den nächsten 100 Jahren wieder an der Spitze des unerlässlichen Auftrags von Erziehung und Bildung stehen kann. ||
Dany Cohn-Bendit
mit Monika Griebel links
– im Zimmer von Jürgen Wickert
im Schiller-Haus /
Wolfgang Edelstein-Familie
Links: Richtfest des von und für
die Schüler gebauten Blockhauses
– 1963 – mit Walter Blickle als
„Handwerksmeister“ Schreinerei
Rechts: Jürgen Wickert (G65) 9.
Klasse 1961 / Aula –­­Goldoni,
„Diener zweier Herren“ in der
Hauptrolle als Truffaldino mit Karin
Böttcher als Magd und Geliebte
62 || Vor und Zuname | 19 -19 AN DER ODENWALDSCHULE BIS ZUM ABITUR
|| 63
kdlkdkfdlkjfl
Abitursfeier des Jahrgangs 1965