Der Rat des Weisen

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Der Rat des Weisen
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Originaltext ist schwarz.
Von Wullschi modifizierter Text ist grün.
Von Matter modifizierter Text ist violette.
Von ??? modifizierter Text ist braun.
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Um einen Änderungsvorschlag zu machen den zu ersetzenden Text rot färben und den neuen Text blau färben. Anschliessend an
Wullschi mailen, der dann die Änderung aufs Netz tut. Wenn es Überschneidungen gibt, dann werden die Differenzen bei der
nächsten Spielsitzung besprochen.
Der Rat
des Weisen
Inhalt
1. SPIELSITZUNG , 17. MÄRZ 2002 __________________________________________ 2
2. SPIELSITZUNG , 5. MAI 2002 ____________________________________________ 32
3. SPIELSITZUNG , 25. MAI 2002 ___________________________________________ 71
4. SPIELSITZUNG , 16. JUNI 2002 _________________________________________ 123
5. SPIELSITZUNG , 18. JULI 2002 _________________________________________ 136
6. SPIELSITZUNG , 15. AUGUST 2002______________________________________ 151
7. SPIELSITZUNG , 8. SEPTEMBER 2002___________________________________ 152
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1. Spielsitzung , 17. März 2002
Wir befinden uns noch immer in Trocheja, wo
unsere Gefolgschaft dem bösen Herrscher Fortor soeben
das Handwerk gelegt hat. Das Wetter ist wunderschön,
der Himmel blau mit einzelnen Wölkchen bedeckt und
die Vögel kreisen die Freude der Menschen spürend
über der Stadt. Aysha ruht sich locker gekleidet auf der
Veranda des Palastes aus. Trotz der grossen
Erschöpfung durch die Strapazen freut man sich auf die
kommende Zeremonie: die Krönung Edwins zum König
von Trocheja.
Das Volk ist völlig aus dem Häuschen. Sie freuen
sich endlich wieder freie Bürger zu sein, und nicht mehr
unter der Tyrannei Fortors leiden zu müssen. Es geht fix
zu und her. Alle sind damit beschäftigt, die Zeremonie
vorzubereiten.
Lyssandro diskutiert mit Edwin über die neue
Situation, über die Zukunft Edwins als König und über
den Wiederaufbau des Staates. Sie sprechen auch über
Gewissensfragen und die Zukunft der Gefolgschaft, die
ja vom Auseinanderbruch bedroht ist. Wo doch
Ramirez, Galdon, Washino und auch Edwin nicht mehr
der Gruppe folgen werden. Edwin ist sich jedenfalls
sicher, dass er die Stelle des neuen Herrschers
übernehmen muss. Er fühlt sich gegenüber Washino
dazu verpflichtet. Schliesslich hat ihn Washino darum
gebeten, ihn in seiner Mission zu vertreten.
Edwyn ist sich bewusst, dass er keine einfache
Aufgabe zu erfüllen hat. Fortor hat das Land so sehr
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zugrunde gerichtet, dass es Jahre dauern wird, wieder
einen funktionierenden Staat aufzubauen. Lyssandro ist
vom Mut und der Überzeugtheit Edwins beeindruckt
und wünscht ihm und seinem Vorhaben das Allerbeste.
Es wird Abend und die Krönungszeremonie beginnt.
Es beginnt mit Glockengeläut aus allen erdenklichen
Türmen während mindestens einer halben Stunde.
Damit sollen die Bürger der Stadt und der umliegenden
Gemeinden darauf aufmerksam gemacht werden, dass
es nun soweit ist, und dass die Zeremonie jetzt beginnt.
Das Geläut verstummt. Trompetenfanfahren ertönen
und das Haupttor des Palastes öffnet sich. Edwin tritt
heraus. Er wird auf eine Sänfte gehoben, in der er zu
einem mit Blumen übersäten Thron geführt wird. Er
setzt sich darauf. Anschliessend führt der oberste
Priester der Stadt eine Messe durch. Vor der
eigentlichen Krönung hält der Bürgermeister noch eine
Rede. Und dann ist es soweit. Während dem der Priester
Edwin die Krone aufsetzt sind alle mäuschenstill.
Niemand getraut sich zu husten. Ein mystischer
Moment. Edwin scheint die Krone wie angegossen zu
passen. Er steht auf und winkt seinem Volk zu. Dieses
gerät vollends aus dem Häuschen. Geschrei, Gekreisch,
Jubel, sogar Hüte und Blumen fliegen durch die Luft,
man muss sich fast die Ohren zuhalten, um nicht einen
Gehörschaden davon zu tragen. Nur wenn man genau in
Edwins Augen hineinschaut, sieht man, dass er mit aller
Körperbeherrschung
versucht
die
Tränen
zurückzuhalten. Er ist sich nicht sicher, ob er fähig sein
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wird, die hohen Erwartungen der Trochejaner zu
erfüllen.
Nach der Zeremonie wird zum Festessen geladen.
Man spürt, wie erfreut und stolz die Leute dieser Stadt
sind. Sie bereiteten dieses Mahl mit grösster Hingabe
und Freude, aus dem wenigen, was sie sich in den
Jahren der Tyrannei vom Mund abgespart haben. Jeder
bekommt, ein knappes Stückchen Fleisch und
Lyssandro wird bei seiner dritten Weinbestellung nur
noch ein paar Tropfen aus einem fast ausgetrockneten
Krug eingeschenkt. Nur Linsen und Bohnen hat es
genug.
Das Mahl geht vorüber und die Stimmung schwenkt
um auf frisch fröhlichen Festbetrieb. Die Kappelle spielt
zum Tanz und es wird dazu gesungen. Aysha möchte
für Edwin und die Gäste ein Tänzchen wagen. Sie
nimmt ihre Lyra, spielt, singt und tanzt, so graziös und
wunderbar, wie sie es noch nie zuvor tat. Die Gäste sind
auf Aysha und ihre märchenhafte Schönheit und ihren
Tanz fixiert. Sie jubeln und sind vollends hingerissen.
Ihre Darbietung ist kaum beendet ertönt ein tosender
Applaus und Jubel. Die Leute schreien: “Zugabe,
Zugabe!!“ Die gibt’s natürlich; aber dann macht Aysha
eine Pause. Sie möchte sich gerade hinsetzen, da hört
sie eine Stimme: “Wunderschön.“ , doch sie kann nicht
ausmachen, wer das gesagt haben könnte. Lyssandro
fordert seine Flamme zum Paartanz auf. Aysha willigt
sofort ein, und sie beginnen einen Tanz, so feurig und
intensiv, dass man schon fast den Jugendschutz hätte
einschalten müssen. Sie tanzen, feiern und trinken Bier
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stundenlang unaufhörlich. Da hört Lyssandro plötzlich
eine Stimme sagen: „so eine Schlampe“. Lyssandro
nimmt keine Notiz davon. Nachdem er es ein zweites
Mal hört, dreht er sich um. Er sieht aber nur ein einziges
Paar, das diese Worte gesagt haben könnte. Eine grosse
korpulente Dame mit einem kleinem rundlichen Herr.
Die scheinen aber kaum ihre Umgebung wahr zu
nehmen, denn sie sind mit sich selbst zu sehr
beschäftigt. Lyssandro hört ganz deutlich, als wär’s
hinter ihm: „Wie kann man nur“, doch das Paar schaut
sich nur komisch an. Lyssandro hört es noch einmal. Er
stockt und Aysha fragt, was denn sei. „Hast du gehört,
da scheint sich jemand über unseren Tanz zu genieren.“
, flüstert er ihr ins Ohr. „Nein!“, sagt sie und wird fast
hysterisch. Aysha ist empört und will das nicht auf sich
sitzen lassen. Niemand hat je ihren Tanz in Frage
gestellt. Sie schaut sich um. Es scheint aber keiner da zu
sein, der zu dieser Aussage Stellung nehmen möchte.
Die dicke Frau schreitet gerade mit ihrem kleinen
rundlichen Herr Richtung Ausgang und schimpft: “Du
Lustmolch, jetzt habe ich dich schon wieder erwischt,
wie deine Augen zu ihr hinüber schwenkten. Heute
Nacht schläfst du bestimmt nicht in meinem Bett, ich
werd’s dir schon beibringen!“. Aysha grinst. Sie dreht
sich um, und da steht ein schicker junger Herr vor
Aysha, ein richtiger Schönling, und sie strahlen sich
beide an. Sie kommen ins Gespräch miteinander. Der
Mann scheint auf Aysha imponierend zu wirken.
Da taucht der kleine Dicke wieder auf und schreitet
zu Biba hin. Er fragt sie, ob sie gerne tanzen möchte.
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Sie wirkt ablehnend. Aber der Mann gibt nicht nach.
Mit blumigen Worten kann er sie schlussendlich
überzeugen und so tanzen sie.
Derjenige bei Aysha erzählt ihr, dass er einer der
Versteinerten in den Höhlen der Medusa war. Er sei vor
166 Jahren Versteinert worden, nachdem er sie schon
fast besiegt gehabt hätte. Er bedankt sich auch ganz
höflich und nett, fast schon aufdringlich. Auch bei Lyss,
welcher gerade Aysha umarmend in die Diskussion
eindringt, bedankt er sich ganz förmlich. Der Mann
scheint Etikette zu haben. Er stellt sich vor: „Mein
Name ist Arist. Es wäre mir eine Ehre, wenn sie mit mir
auf ihre Heldentat anstossen würden.“ Er streckt allen
ein Glas zu, und möchte anstossen. Lyssandro zögert ob
der Spontanität von Arist. Aber auch er stösst an. Biba
kommt vom Tanz zurück und lenkt die Aufmerksamkeit
Arists sofort auf sich. Aysha sieht das und schaut mit
bösem Blick auf Biba. Kurz nachdem Lyssandro
ausgetrunken hat schläft er ein. Arist hat ihm ein
Schlafmittel in den Wein gemischt, um Aysha in seinen
Anspruch nehmen zu können. Aysha ist’s peinlich, dass
Lyss so laut schnarcht und weiss natürlich nichts von
Arists Schelmentat. Aris meint: „Nicht alle Helden
können ihren Erwartungen entsprechen.“ Aysha bittet
Biba um Hilfe Lyssandro ins Bett zu bringen. Zuerst
versuchen sie ihn zu wecken, vergebens. Lyss scheint
im Koma zu liegen. Aysha schämt sich noch mehr. Biba
und Aysha wollen Lyss gerade wegtragen, da kommt
Arist und will sich verabschieden. Er haucht Aysha
einen ultrazärtlichen Kuss auf den Handrücken. Für
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einen Moment bekommt Aysha fast weiche Knie, aber
dann trägt sie und Biba den scheintoten Lyssandro
schnurstracks ins Schlafgemach.
Da die Zeit ohnehin schon recht weit fortgeschritten
ist, beschliesst man sich für die Nachtruhe. Aysha kann
noch nicht schlafen. Sie sitzt auf den Balkon und spielt
noch ein wenig auf ihrer Lyra, bis sie sich dann auch
schlafen legt. Eigentlich hätte sie gehofft, dass Arist
nochmals vorbei kommt, der ist aber nicht mehr
erschienen.
Es vergeht kaum eine Stunde, da poltert jemand an
die Tür. Es dürfte erst kurz nach Mitternacht sein.
Aysha hört’s und geht splitternackt an die Tür. Es ist
eine Wache. Der Wachmann kommt ins Stottern. Er
habe den Auftrag alle zu wecken, und in den Königssaal
zu schicken; Befehl des Königs. Aysha schliesst die
Tür, geht zu Lyssandro, weckt ihn auf und tut ihm die
Neuigkeit kund. Lyssandro ist noch halb im Koma, aber
er weiss, dass es sehr dringend sein muss, wenn Edwin
zu so später Stunde ein Treffen einberuft. Sie ziehen
sich an und gehen in Windeseile hin.
Edwin steht völlig aufgelöst im Königssaal, er sieht
aus wie bereits gestorben. Mit gesenktem Kopf und
gefalteten Händen sagt er: „Eine treue Gefährtin hat uns
verlassen – Nickta.“ Vier Wachen tragen die tote,
blutüberströmte, blasse Nickta in den Saal, dicht gefolgt
von einem Fremden: der eine (Beschreibung von Beat)
und wie es der Zufall will: Arist. Alle bis auf Edwin
schauen versteinert auf die Tote. Cynric der Kurier
meldet sich zu Wort: „Oger und Goblins sind durch die
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Stadt gezogen. Sie müssen Nickta in die Enge getrieben
haben. Arist und ich kamen leider zu spät... Aber den
Oger und die beiden Goblins, welche die Frau da getötet
haben, haben wir erwischt! Und ich habe das hier als
Trophäe mitgenommen!“ Er grinst und schaut auf einen
grossen Ogerzahn. Arist meint, dass sie mit einem
grossen blonden Herrn unterwegs gewesen sei, und dass
er sie hätte warnen sollen. Man wisse ja schliesslich,
dass es hier ab und zu ein paar Goblins hat. Zumindest
vor 166 Jahren sei das noch so gewesen!
Ein schlaftrunkener Typ bringt die Leiche weg.
Aysha ist schockiert: „Es hat Monster in dieser Stadt!“
Cynric bietet an, die Monster zu jagen. Aysha erschrickt
doch Cynric hält das für eine gute Idee und Lyssandro
willigt ein. Man beschliesst, sich gegen Mittag in der
Eingangshalle zu besammeln. Arist und Cynric
verabschieden sich und gehen in die Herberge nahe des
Palastes.
Lyssandro geht zu Aysha, sie kauert am Boden in
dieser bestimmten Haltung. Lyssandro hat ein Deja-vue.
Aysha schaut ihn an und sagt, dass sie nicht kämpfen
will. Lyssandro versucht Aysha davon zu überzeugen,
dass es das richtige ist in der jetzigen Situation. Versteh
doch, wenn du anstelle von Nickta von einem dieser
Ungeheuer angegriffen geworden wärst, dann würde ich
mein Leben lang nichts anderes mehr tun als diese
Geschöpfe zu jagen. Ich fühle mich Nickta gegenüber
auch ein wenig verantwortlich, ganz zu schweigen dass
diese Monster eine Gefahr für Edwins Aufgabe
darstellen.“ Sprechpause. Aysha schaut aus dem Fenster
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in die Ferne und Lyssandro schaut auf Aysha. Aysha
nickt. Lyssandro ist erleichtert. Man beschliesst vorerst
den Morgen auszuschlafen.
Die Nacht dauert nicht mehr lange und auch der
Mittag ist schlafend im Nu erreicht. Und wieder wird
man durch die Wache aus dem Schlaf gerissen. Diesmal
ging’s darum, die Nachricht zu verkünden, dass Nicktas
Beilegung in 2 Stunden beginne.
Aysha möchte zuerst noch die Mittagsstunden mit
Lyssandro geniessen; auf ihre Art und im Bett natürlich.
Lyssandro wehrt ab, steht auf und zieht sich an. „Wir
müssen jetzt zur Beerdigung...“, meint er mit gesenkter
Stimme. Aysha hält inne, steht nach einigen
Augenblicken auf und geht zur Balkontür. Sie schaut
hinaus, dann öffnet sie die Tür und geht hinaus. Sowie
Lyssandro ihr nachschaut steht sie auf dem
Balkongeländer. Oh Schreck! Was sie jetzt wieder im
Sinn hat. Lyssandro rennt hinaus, packt sie um den
Bauch und geht zieht sie ins Trockene. Da klopft es an
der Tür. Es ist Biba die Aysha und Lyssandro abholen
will. Lyssandro schimpft Aysha Feigheit zu. Biba klopft
ein zweites mal. Lyssandro geht zur Tür und öffnet sie:
„Wir müssen uns noch umziehen, aber wir sind gleich
soweit. Geh schon mal voraus, wirkommen dann.“ Biba
sieht wie Aysha zum Geländer geht und aufsteigt. Biba
rennt. Sie packt Aysha am Nachthemd und zieht sie
zurück. Sie fallen beide auf den Balkonboden und
schlagen schmerzhaft die Köpfe auf. Schlägt man
Frauen wirklich nicht? Biba will eine Erklärung doch
dazu kommt es nicht, Aysha bricht zusammen. Biba
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versteht Bahnhof: „Ich lass euch hier lieber allein. Ich
geh jetzt wohl besser!“ Aysha kauert am Boden und
heult, die Beerdigung rückt näher. Lyssandro legt seine
von Kummer geplagte Geliebte aufs Bett. Er versucht
ihr klar zu machen, wie wichtig es für ihn ist, Nickta die
letzte Ehre zu erweisen. Aysha scheint das nicht so zu
verstehen. Sie schauen sich hoffnungsvoll an. Er küsst
sie lang und intensiv auf den Mund. Die Leidenschaft
entfacht, Lyssandro geht auf die Liebkosungen ein.
Aysha versucht gerade sein Hemd zu öffnen. Er hält sie
fest und flüstert ihr ins Ohr, dass sie sich jetzt bereit
machen müssen für die Beerdigung. Aysha ist
sprachlos, erstaunt und enttäuscht über die Willenskraft
Lyssandros. Aysha weigert sich, zur Beerdigung zu
gehen. Lyssandro bittet einen Wachmann auf seine
Geliebte aufzupassen: „..und stopft euch auf jeden Fall
die Ohren mit Watte. Sie darf auf keinen Fall das
Zimmer verlassen!“ Dann geht er.
Zuerst informiert er Edwin über den Zustand von
Aysha. Die anderen sind schon alle da. Cynric flirtet mit
Biba. Sie erzählen sich gerade ihre Lebensgeschichten.
Cynric erwähnt auch seine Familie und irgendetwas
über Zähne. Es sind nicht viele Leute anwesend. Man
wartet auf den Beginn der Messe.
Edwin hält vorab eine Trauerrede. Dann übergibt er
das Wort dem Priester, der dann mit der Messe beginnt.
Nach der Predigt begibt sich die ganze Gemeinde
zum offenen Grab im Friedhof des Palastes.
Trauermusik wird gespielt. Alle sind andächtig und
schweigsam, um ihr einen würdigen Abschied zu
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bereiten. Bildugan tretet ans Grab heran: „Ich bin ein
reisender Musiker und ich bin sehr traurig über den Tod
von Nickta. Ich hätte gerne noch mehr über sie und ihre
Herkunft erfahren. Ich möchte ihr meinerseits die letzte
Ehre erweisen, indem ich ihr etwas singe...“ Sein
Gesang ist so emotional, dass die meisten Anwesenden
ihre Tränen nicht mehr zurückhalten können. Man
merkt, dass er wirklich ein begnadeter Sänger ist. Er
bedankt sich vor Nickta, nachdem das Lied zu Ende ist,
wirft ihr eine Rose ins Grab und dreht sich ab. Auch
Arist kommt etwas näher ans Grab: „Nickta, ich
bedaure es sehr, dass du uns auf diese grässliche Art
verlassen musstest. Als Dank dafür, dass du mich mit
deinem Heldenmut aus der Versteinerung gerettet hast,
möchte ich dir ein Gedicht vortragen...:
Durch Übel das in Strassen wütet
Die Bürger nicht mehr behütet
Obwohl das Böse nun besiegt
Einige Keime noch nicht versiegt
Zulange haben wir gewartet
nun ist alles ausgeartet
Der Opfer sind es nun zu viel
Deshalb gibt es nun ein Ziel
Auszutreiben alles Böse
uns zu geben keine Blösse
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Damit niemals mehr eine so wertvolle Person
Muss abtreten durch Schicksals Hohn
Dur dini Tate als Held ufgfalle
Wirsch nun si, i de Götterhalle
Nickta de Liza
...Ich danke Dir Nickta. Jetzt bleibe ich für alle
Ewigkeit in deiner Schuld.“ Arist wendet sich ab und
geht in die Menge zurück.
Die Beisetzung findet ein Ende und die
Trauergemeinde schreitet zum Grabmahl. Es ist ein
bescheidenes Mahl, ohne Fleisch. Bildugan beobachtet
Lyssandro, welcher gerade etwas Mühe mit seiner
Konstitution hat. Er fragt ihn, ob es ihm nicht gut ginge.
Lyssandro deutet seinen Gemütszustand als Folge der
Trauer um Nickta. Bildugan lässt sich nicht täuschen
und gibt ihm ein paar Kräuter gegen Kopfschmerzen.
Bildugan ist Musiker und oberster Heiler des Palastes.
Er arbeitet im medizinischen Laden. Das Kraut wirkt,
aber es macht schläfrig. Das Mahl ist zu Ende.
Bildugan will die Aura und die Gefühlsstimmung
der Anwesenden testen. Er spielt fröhliche Musik an.
Die Leute scheinen etwas zögernd auf die Umstimmung
eingehen zu wollen.
Arist sieht Lyssandros Kampf gegen die
Schläfrigkeit und gibt ihm ein Pulver, dass sie
wegbringen soll. Lyssandro traut der Sache nicht und
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lehnt dankend ab. Arist holt ein Pilzchen aus seiner
Tasche und isst es: „Willst du auch eins? Ich bin mir
allerdings nicht so sicher, ob es klug ist in deinem
Zustand ein Pilzchen zu essen. Aber du kannst es ja
ausprobieren. Entweder du fühlst dich gleich wie neu
geboren, oder du wirst dich übergeben.“ Arist grinst.
Lyssandro reicht es: „Bitte lass mich in Ruhe!“ Arist
zuckt mit den Schultern und geht zu Bildugan. Sie
diskutieren über geheime Kräuter. Durch das Rauschen
der Menge ist die Stimme Cynrics deutlich hörbar. Er
schimpft über das Volk wo er her kommt, darüber, dass
er ins Exil geschickt wurde und dass er verseucht sein
soll. Er ärgert sich über die Ungerechtigkeit auf der
ganzen Welt und vor allem über die, die ihn als Opfer
ausgewählt haben. Die Trauerfeier dauert noch eine
ganze Weile an.
Szenenwechsel ins Zimmer von Aysha zur der Zeit,
nachdem Lyssandro das Zimmer verliess:
Lyssandro verschwindet durch die Tür. Eine Wache
bleibt im Zimmer und die anderen beiden stehen
draussen vor der Tür. Wie empfohlen stopfen sie sich
Watte in die Ohren. Etwas fragend, aber Befehl ist
Befehl und Empfehlung ist Empfehlung. Aysha liegt
schmollend auf dem Bett. Mindestens zwei Stunden
vergehen. Plötzlich geht’s ihr aber wie durch Zauberei
wieder besser. Sie setzt sich auf die Bettkante, schaut
auf den Wachmann und verhält sich so, dass kein
einigermassen potenter Mann seine Hormone im Griff
behalten kann. Der Wachmann muss eine Sehschwäche
haben oder impotent sein. Er lässt sich nichts anmerken.
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Aysha gibt nicht auf. Sie geht zu ihm hin und sagt, er
soll die Watte aus den Ohren nehmen, denn sie wolle
mit ihm reden. Er bleibt stur. Sie legt einen Gang zu und
es scheint, als sei der Wachmann doch nicht ganz so
kaltblütig. Sie kann ihn dazu überreden, dass er die
Stöpsel aus den Ohren nimmt. „Tanz mit mir!“ seufzt
sie ihm ins Ohr. Der arme Wachmann ist unsicher. Aber
die Sinne scheinen ihn langsam im Stich zu lassen. Auf
diesen Moment hat sie gewartet. Sie beginnt zu singen
und tanzt mit dem Wachmann. So langsam scheinen den
Wachmann seine Kräfte zu verlassen. Er schlummert
ein. Sie legt ihn auf das Bett, zieht ihn aus und zerreisst
sich die Kleider. Die Tür geht auf und drei Wachen
stürmen ins Zimmer. „Was geht hier vor?“ schreit der
Wachmeister. Aysha steht da und die Wache liegt nackt
im Bett. Der Wachmeister schaut schockiert auf die
Szene. Aysha sagt dass er sie zum tanzen gezwungen
hat, und dass er sich an ihr vergreifen wollte. „Bringt
ihn in die Zelle!“ schreit der Wachmann. „Halt, lasst ihn
hier, ich will ihm selber seine gerechte Lektion erteilen,
bitte“, sagt Aysha. „Tut mir leid My Lady!“ Die
Wachen tragen den schlafenden und seine Kleider aus
dem Zimmer. “Disziplinäre Vergehen werden
ausschliesslich über den König geandet! Bitte
entschuldigen sie diese Unannehmlichkeiten“ fügt der
Wachmeister an, verbeugt sich und will gehen. Aysha
ist innerlich verzweifelt und hat jetzt genug. Sie beginnt
erneut zu singen. Aber die Wachen sind schon durch die
Tür verschwunden. Sie zögert,... dreht sich um, geht
zwei Schritte, dreht sich erneut um und geht zur Tür. Sie
öffnet die Tür, doch da stehen schon zwei andere
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Wachmänner. „My Lady, wir haben den Befehl sie nicht
aus dem Zimmer zu lassen. Wenn sie jemandem eine
Nachricht überbringen möchten, dann lassen wir einen
Boten kommen!“ Aysha gibt auf. Sie schliesst die Tür
und geht auf die Veranda, wo sie die Zeit verstreichen
lässt. Ein Diener bringt ihr das Abendessen auf das
Zimmer. Sie lehnt ab: „Ich habe keinen Hunger, danke!“
Der Diener verbeugt sich, nimmt die Speisen und geht
wieder. Aysha ist müde vom nichts tun und legt sich
schlafen.
Lyssandro hat die Trauerfeier miterweilen verlassen.
Sie ist zwar noch nicht zu Ende, aber der arme
Lyssandro hat Mühe gegen die Schläfrigkeit, die ihm
Bildugans Kräuter eingebrockt haben, anzukämpfen. Er
kämpft sich mit halb geschlossenen Augen dem Flur
entlang. Er bemerkt die Wachen vor der Tür erst, als sie
ihm aus dem Weg weichen, weil sie vor seiner
Zimmertür standen. Er hatte schon vergessen, dass er
Aysha hat bewachen lassen. Er fragt sie, ob
irgendwelche Zwischenfälle vorgefallen seien. Einer der
beiden Wachen erklärt ihm, was genau vorgefallen ist
mit dem Wachmann, der sich über Aysha her machen
wollte. Lyssandro weiss sofort, was geläutet hat: „Lasst
ihn frei, er ist unschuldig. Gute Nacht. Ich muss jetzt
endlich mal wieder etwas Schlaf haben.“ Er geht rein
und sieht Aysha mit den zerrissenen Kleidern auf dem
Bett liegen. Er legt sich auch auf das Bett und versucht
sie zu wecken, aber sie schläft schon zu tief. Er gibt ihr
einen Kuss auf die Stirn, lehnt sich an ihre Schulter und
schliesst die Augen.
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Es wird Morgen. Frisch und voller Tatendrang trifft
man sich zur vereinbarten Zeit im Königssaal. Nach
langem scheinen wieder mal alle ausgeschlafen zu sein.
Es wird über eine Strategie debattiert, wie die
Ungeheuer am besten dezimiert werden können. Es wird
zwischen Ausrottung und Vertreibung gestritten.
Schliesslich wird die Meinung laut, diese Monster
zuerst etwas genauer zu beobachten, einzelne
Exemplare zu jagen und mehr über ihr Vorkommen und
ihre Herkunft herauszufinden. Edwin ist eigentlich noch
immer der Meinung, dass eine Goblinjagd sinnlos und
unnötig sei. Er wird aber speziell von Biba, Cynric und
Arist lautstark überstimmt.
Gleich am Nachmittag wird die Suche
aufgenommen. Zuerst werden alle möglichen Leute
befragt, ob sie schon jemals Goblins gesehen hätten,
und wo, und woher sie kamen, und wohin sie gingen.
Die Antworten waren sehr widersprüchlich. Gesehen
haben schon fast alle Befragten welche. Aber die
Erinnerung reicht bei manchen nicht einmal mehr, um
das Aussehen zu beschreiben.
Ok, die Idee mit der Umfrage scheint gescheitert zu
sein. Es wird beraten. Die Meinung wird laut, dass in
den Katakomben eine Spur zu finden sein könnte, aber
wo sind die. Gibt es überhaupt welche in dieser Stadt?
Arist glaubt nicht, dass uns die Katakomben
weiterhelfen sollen, wieso auch, sie suchen ja nicht nach
Untoten sondern nach Oger und Goblins. Arist
verabschiedet sich um einen zwielichtigen Kontaktmann
zu suchen, der etwas mehr über die Gegebenheiten in
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der Stadt weiss und wird nach langer Suche endlich
fündig.
Derweilen haben die Anderen die Suche schon fast
abgebrochen, als Cynric den Vorschlag bringt: „Der
Stallknecht! Den sollen wir fragen... Der Wächter dort
hat mich eben zu den Stallungen geschickt!“ Und man
geht also gemeinsam zu den Stallungen.
Niemand ist da. Cynric und schrie wie der Wächter
ihm gesagt hatte: „Hee du alter Sack wo bist Du?!“ Der
Stallknecht scheint das Heu nicht auf der selben Bühne
zu haben, wie der Wächter, von dem die Empfehlung
kam. Im Stall drin ist ein alter buckliger Griesgram. Sie
haben ihn noch nicht entdeckt. Der „alte Sack“ nimmt
einen Pferdeapfel in die Hand und wirft ihn auf die
Gruppe. Er trifft genau auf Cynrics rechtes Knie. Cynric
wird zornig. Er nimmt ein Wurfmesser und wirft es
nach dem Knecht. Glücklicherweise trifft er nur den
Pfosten
einer
Pferdebox.
Aber
der
Einschüchterungsversuch zeigt Wirkung. Er wird
gesprächig. Es kommt zu einem hitzigen Wortgefecht.
Er sagt etwas davon, dass die Vorratskammer 3a der
richtige Weg sei. Arist hackt noch ein wenig nach, um
über die Vorratskammer 3a etwas mehr herauszufinden.
Es muss die im Keller des Palastes sein.
Ohne Zögern begibt sich unsere Gruppe zum Palast.
Von einem Bediensteten lassen sie sich in den Keller
führen wo die Vorratskammern sein sollen. Es hat viele
Kammern. Alle sind aber mit 1, gefolgt von einem
Buchstaben a bis t nummeriert. Aber eine Zelle 3a gibt
es nicht. Cynric fragt den Diener, wo die andern
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Kammern sind. Er bekommt zur Antwort, dass das alle
seien. „Es gibt allerdings noch ein weiteres
Untergeschoss, aber das wird nicht mehr gebraucht.
Dort hausen nur Mäuse und Abfall!“, fügt der Diener
nach einer kurzen Sprechpause hinzu. „Und genau da
wollen wir hin!“, gibt Cynric zur Antwort. Der Diener
scheint sich nicht dafür einsetzen zu wollen. Er wehrt
vehement ab dahin mitzugehen. Er hat jedoch soviel
Gourage, dass er zeigt, wo die Treppe ist, für ins zweite
Untergeschoss. Er empfiehlt aber auch, eine Laterne
mitzunehmen. Wir bedanken uns und gehen einen Stock
weiter hinunter.
Da scheint tatsächlich alles zu leben. Die
Gangböden sind voller Moos, überall Ungeziefer, das
rumkriecht.
Ziemlich
ungemütlich
hier.
Die
Beschriftungen der Räume sind hier mit 2 gefolgt von
einem Buchstaben a bis t beschriftet. Zuhinterst am
Gang hat es wieder eine Treppe. Die Vermutung liegt
nahe, dass sich einen Stock tiefer noch ein Gangsystem
befindet, wo dann die Räume mit 3 und einem
Buchstaben gekennzeichnet sind.
Tatsächlich, da ist sogar die Zelle 3a, gleich unten an
der Treppe. Zum Glück, denn der Gang ist verschüttet.
Es scheint, als hätte das jemand absichtlich getan. Es
sieht jedenfalls nicht so aus, als sei die Decke
eingestürzt. Was dahinter wohl sein mag? Egal,
Hauptsache die Zelle 3a ist erreichbar. Die
Vorratskammer ist alt und verrottet. Arist findet eine
kleine Falttür mit einem Schloss. Das Schloss ist
verrostet. Cynric kickt mit dem Stiefel an den Henkel,
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sodass dieser gleich in Stücke zerspringt. Die Tür ist
recht schwer. Unter ihr befindet sich ein schmaler Gang,
der mit einer Treppe steil hinunter führt.
Arist geht ein paar Meter den Gang hinunter. Gross
ist die Enttäuschung, als er sieht, dass der Gang nach
etwa 15 Metern auch verschüttet ist. Entmutigt
verlassen sie den Keller.
Unterdessen ist auch Arist von seinem Alleingang
zurück, er hat herausgefunden, dass es einen Eingang
beim Friedhof hat, aber leider war auch dieser
verschüttet.
Die Suche nach den Katakomben gilt vorerst als
gescheitert. Die Sonne steht schon recht tief, also
entscheidet man sich zuerst den Morgen abzuwarten.
Jeder ist damit beauftragt nach Ideen zu suchen.
Cynric und Arist diskutieren noch ein Weilchen über
die Gruppe, besonders über Lyssandro. Cynric ging
schon mal schlafen, und hängt sich kopfüber an einen
Dachbalken.
Und schon wieder ist es ein Bediensteter und nicht
der Hahn, der sich verantwortlich macht, unsere Helden
zu wecken.: „Der König erwartet euch um sieben Uhr
im Thronsaal!“ So langsam wird das zur Gewohnheit!
Cynric geht sofort hin und reklamiert, dass die
Katakomben verschüttet seien. Edwin hört aber nicht
auf Cynric und weist ihn ab. Er hat dringendere
Probleme. Biba ist die nächste, die den Weg in den Saal
findet, gefolgt von Bildugan und Arist. Lyssandro und
Aysha haben es nicht ganz so eilig mit aufstehen. Aysha
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sagt kein Wort zu Lyssandro, auch nicht auf die GutenMorgen-Geste. Na gut, denkt sich Lyssandro, es ist halt
noch früh am Morgen. Aysha scheint aber heute
irgendwie besonders unglücklich zu sein.
Edwin beginnt mit seinen Ausführungen: “Freunde,
ihr müsst mir helfen. Im Norden des Landes ist die
Hölle los. Ich habe vernommen, dass wilde Horden von
Wegelagerern und Diebesbanden die Gegend unsicher
machen. Auch habe ich gehört, dass Goblins dort ihr
Unwesen treiben. Könnt ihr für mich mal
vorbeischauen? Ich wäre euch sehr dankbar. Ich habe
hier in Trocheja noch so viel zu tun, ich kann mich
nicht auch noch darum kümmern. Ich wäre euch sehr
dankbar. Es macht jetzt vielleicht der Anschein, ich
wäre ein wenig überfordert. Ganz ehrlich, das bin ich
auch. Kann ich auf euch zählen?“ Biba gibt zur
Antwort: “Ja, wir machen das für dich, oder?“ Sie
schaut in die Runde. Alle ausser Aysha nicken. „Edwin,
du kannst auf uns zählen.“ „Aber wenn’s dann dort auch
keine Goblins hat?“ fügt Cynric hinzu.
Aysha geht mit steifem Blick zu Edwin und spricht
mit ihm. Unverständnis, murmeln, „wieso willst Du
gehen?“, „ich verstehe Dich nicht“, „überleg Dir das
doch noch mal“. Aysha schüttelt den Kopf: „Ich glaub,
ich habe mich entschieden!“ Sie dreht sich um und redet
zur Gruppe. Sie schlägt vor, sich von der Gruppe zu
trennen und alleine ihre Suche weiterzuführen: „Ich
habe euch schon zu viel Unglück gebracht, und ich habe
euch schon zu oft in missliche Situationen gebracht, ich
bin bloss ein Hindernis für eure Aufgaben. Ich glaube
20
ich kann besser auf mich aufpassen, wenn ich alleine
Ziehe. Lasst mich gehen, ich wünsche euch eine gute
Weiterreise. Ich werde euch nie vergessen.“ Man sieht
die Tränen in Ayshas Augen. Lyssandro ist geschockt.
Es bleiben ihm die Worte im Hals stecken. Er führt
Aysha in eine Nische In der Wand. „Aysha... was redest
du da. Niemand denkt, dass du in unserer Gefolgschaft
ein Hindernis bist. Im Gegenteil, wir brauchen dich
doch, und ich vor allem...“ Sprechpause. Aysha schaut
aus dem Fenster in die Ferne und Lyssandro schaut auf
Aysha. „Aber, wenn du es dennoch für richtig hältst die
Gruppe zu verlassen, dann will ich mit dir kommen. Du
bedeutest mir weit mehr, als der Gruppenzusammenhalt.
Ich möchte dich nicht verlieren, verstehst du? Ich liebe
dich.“ Fügt Lyssandro hinzu. Es braucht noch ein wenig
Überzeugungskraft von der Seite Lyssandros. Aber so
nach einer guten Viertelstunde entscheidet sich Aysha,
doch bei der Gruppe zu bleiben. Lyssandro ist
erleichtert. Aysha teilt die Entscheidung denen, die es
nicht selbst gehört haben mit - Arist kann Lippen lesen.
Eine Welle der Freude geht durch die Runde. Sie wird
für ihre Entscheidung von allen gelobt. Vor
Erleichterung wird sie von Biba und Edwin umarmt.
Die Bediensteten, die dem Schauspiel zwangsläufig
beiwohnten, klatschten in die Hände.
Bildugan, Arist und Cynric möchten sich auch in der
Gefolgschaft nützlich machen und mit in den Norden
reisen. Edwin seufzt: „Selbstverständlich, damit rechne
ich doch. Wenn doch nur auch Washi da wäre...“ Aysha
ist unterdessen mit Cynric ins Gespräch gekommen. Sie
21
stellen fest dass er keine Flügel hat. „Ach so, wegen der
Schlafgewohnheit meinst du? Vergiss das einfach
wieder, ja? Du hast weder gesehen noch gehört, noch
glaubst du an das, was du gesehen hast....“, erwidert
Cynric und fragt Edwin nach weiteren Kreaturen wo er
Zähne sammeln kann und Arist erkundigt sich nach
möglichen Gefahren. Sie bekommen beide eine allzu
differenzielle Antwort. Schliesslich weiss Edwin ja auch
nicht mehr, als er von den Boten vernommen hat. Er
schlägt vor als erste Etappe bis ins nächste Gasthaus zu
gehen: „Es sollten glaube ich drei Tagesreisen sein, und
wenn Ihr euch genau an den Zeitplan haltet und
nirgends allzu viel Zeit verplempert, dann solltet ihr
immer kurz vor Einbruch der Dunkelheit wieder an
einem Gasthaus vorbeikommen, wo ihr die Nacht
verbringen könnt.“ Er schlägt vor für die Reise Pferde
und Wagen mitzunehmen. Die Wege sollten in gutem
Zustand sein.
Es herrscht allgemeines Einverständnis. Hurtig
werden die wichtigsten Sachen gepackt und die Waffen
geschliffen und poliert. Lyssandros unfreiwillig
erlangter Zweihänder, der seine besten Zeiten bereits
erlebt zu haben schien, sieht wieder aus wie neu.
Obwohl der Schmied ihm dabei etwas helfen musste.
Dieser erwähnte, dass das Material des Zweihänders
von aussergewöhnlicher Qualität sei. Er meinte auch,
dass die Klinge magisch sein muss, er spüre das sofort.
Na gut, Lyssandro kauft ihm das ab, aber denkt sich
weiter nichts dabei.
22
Die Bediensteten haben das Gespann mit vier
Pferden und einem Planenwagen vor dem Palast bereit
gemacht. Alle besammeln sich vor dem Wagen, der
sogleich mit dem Gepäck beladen wird. Bildugan
schlägt vor, ein Abschiedslied anzustimmen. Er fragt,
was denn so für Lieder bekannt seien in der Gegend. Er
erhält keine besonders klare Antwort. Er schlägt vor, ein
Lied aus seiner Heimat anzustimmen. Er stimmt die
Melodie an: „♫ Komm zurück ♪ HerzHerzallerliebsteeeee, ♪ trallallallaaaa..., sei doch zu mir
liebeeee, trallallallaaaa, ... du blöde Ziegeeee,
trallallallaaa... ♫“ Er hört auf und schaut in die Runde.
„Habt ihr die Melodie im Kopf? Aysha, kannst du
Noten lesen?“ fragt Bildugan und streckt ihr ein
Notenblatt mit den Noten drauf hin. „Kann man das
essen?“ fragt Aysha verdutzt. Sie hat noch nie etwas
nach Noten getan, geschweige nach ihnen gesungen.
Niemand in der Gruppe kann Notenlesen. Aber die, die
Musikalisch sind, sind es sich natürlich gewohnt, die
Melodie abzuhören und einfach mit zu singen. Bildugan
stimmt an. Edwin singt laut und deutlich mit. Das Lied
dauert etwa 2 Minuten.
Kaum verstummt sagen Cynric und Biba adieu. Es
scheint sie in den Stiefeln zu brennen, sie wollen
losreiten. Ausser Cynric und Lyssandro reiten alle selbst
zu Pferd. Lyssandro führt das Gespann und Cynric
weigert sich einfach auf ein Pferd zu sitzen. Also setzt
er sich neben Lyssandro auf den Bock. Arist hätte
Aysha gerne auf das Pferd steigen geholfen. Aber das
war mit nichten nötig. Aysha hat sich so elegant auf das
23
Tier geschwungen, dass selbst Lyssandro fast verlegen
wurde.
Die Reise geht los. Zu beginn ist die Atmosphäre
noch sehr locker. Man wechselt sich hie und da ein paar
Worte. Aysha und Cynric erzählen sich von ihren
Abenteuern. Als Aysha Cynric so anschaut, da kommen
ihr die Gesichtszüge Cynrics irgendwie bekannt vor. Sie
vergleicht ihn mit Mordisco. Auf diese Worte geht
Gelächter durch die Runde.
So nach einer halben Stunde fängt Cynric an, in
seinem Beutel zu wühlen. Er nimmt ein Pilzchen hervor.
Das erste das er findet steckt er sich sofort in den Mund,
und kaut daran herum. Cynric beobachtet ihn
argwöhnisch. Arist bietet ihm sogleich eines an. Cynric
verspeist das Pilzchen, ohne Worte, spürt schon nach
wenigen Sekunden seine Wirkung. Die ihm positiv zu
bekommen scheint. Arist bietet auch den andern ein
Pilzchen an. Die Einladung wird von allen
entgegengenommen. Bildugan der die Wirkung kennt,
lehnt dankend ab. Lyssandro schlägt Arist das
angebotene Gewächs aus der Hand und meint: “Hey,
hör auf damit. Solche Dinge sollte man nur zu Riten
einnehmen. Wenn man es sonst tut, dann nennt man das
Missbrauch. Wenn du diese Pilze als Lebensgrundlage
brauchst, dann bitte, tu es für dich, und führe nicht deine
Freunde in Versuchung, bitte!“ Arist schaut den
aufgebrachten Lyssandro nur etwas fragend an und sagt:
“Warum sollte ich sie Missbrauchen? Ich esse sie ja.
Das ist doch eine würdige Art der Verwendung, denn
sie spenden mir Kraft, Energie, Geistesanwesenheit und
24
Glückseeligkeit.“ Arist grinst und wirft sich gleich ein
Pilzchen in den Gaumen. Bildugan hat die Diskussion
mitbekommen und mischt sich ein: „Also ich habe ein
Gegenmittel gegen die Wirkung der Pilze. Das könnte
gerade bei Neulingen breite Verwendung finden, um die
Wirkung etwas in Grenzen zu halten.“ Arist antwortet:
„Ein Gegenmittel gegen Pilze??? Wieso denn das?
Schaut, wie gut es mir geht! Da ist doch kein
Gegenmittel nötig... Aber wenn es sein muss, dann
behalt ich die Pilzchen halt für mich. Ausser es verlangt
jemand
ausdrücklich
danach,
einverstanden?“
Lyssandro nickt. Für den Moment ist es ohnehin zu
spät. Die Pilzchen, die sie gegessen haben scheinen
schon ihre Wirkung zu zeigen. Cynric springt vom
Wagen, grübelt kurz am Boden rum und findet einen
Hasenzahn. Die Freude übermannt ihn. Er hüpft wieder
auf den Wagen und zeigt allen den Zahn. Die andern
finden es voll abgefahren, dass Cynric einen Hasenzahn
gefunden hat. Aysha hat Halluzinationen sie sieht
Bildugan mit hervorquellenden Augen und er wirkt viel
grösser und erschreckender als er wirklich ist. Cynric
dagegen sieht einen verdüsterten Himmel und
schimmernde Wolken. Monster am Himmel! Cynric
packt das Buch von Washino in welchem Lyssandro
gerade am lesen ist und wirft es dem Monster entgegen.
Verheerend, die losen Seiten flattern einfach durch die
Luft. Cynric hat nicht getroffen. Er wirft alles was auf
dem Wagen nirgends festgemacht ist in Richtung des
Monsters. Lyssandro stoppt das Gespann, holt das Buch
und sammelt die herausgefallenen Seiten wieder ein. Er
ist sehr genervt, sagt aber kein Wort. Cynric hat
25
eigentlich von Pferdegespann keine Ahnung, aber es
kommt ihm nichts besseres in den Sinn, als sich die
Zügel zu klauen und mit dem Wagen, ohne Lyssandro
durchzubrennen. Er schafft es aber nicht geradeaus zu
führen, das Gespann fährt wie im Zirkus mit einem
Affenzahn im Kreis herum. Cynric gefällt das. Doch
dann sieht er plötzlich ein farbiges Meer um sich herum.
Oh Schreck, er ist ja Nichtschwimmer. Cynric
’schwadert’ auf dem Wagen herum und glaubt zu
ertrinken. Aysha schaut auf Arist. Er sieht aus wie ein
grüner Blob. Zu Tode erschrocken schlägt sie kräftig
auf ihn ein. Lyssandro, der die Szene beobachtet, denkt
sich seine Sache: „...na, jetzt siehst du wie gesund diese
Sinnesräuber sind...“, und die Schadenfreude ist ihm ins
Gesicht geprägt. Arist scheint das ganze allerdings nicht
zu stören, und er steckt die Prügel mit einem
strahlenden Lächeln ein.
Cynric ist immer noch am schwimmen und am
Wasser schlucken. Aysha fühlt sich plötzlich ganz
flauschig. Eine gute Viertelstunde vergeht. Die beiden
werden langsam ruhiger und Lyssandro ärgert sich:
„Arist in Zukunft behalte dir Pilze bitte für dich.“ Aysha
schläft.
Es fängt an zu regnen. Man zwängt sich unter die
Plane des Wagens, doch die Fahrt geht weiter. Cynric
kommt auf die grandiose Idee, die Plane aufzuschlitzen.
Trotz Aufforderung, dies zu unterlassen tut er es
trotzdem. Arist findet, dass es an der Zeit ist, ihm ein
Schlafmittelchen zu geben. Bildugan näht das Loch
wieder zu.
26
Es ist eng auf dem Wägelchen und aus Platzgründen
liegt man. Es ist trotzdem noch viel zu eng, deshalb legt
sich Arist auf Aysha drauf. Sie fühlt sich als würde sie
unter einem Felsbrocken liegen. Er legt sich neben sie.
Immer noch hat sie das Gefühl sie bekäme keine Luft.
Aysha hat einen Alptraum, denn sie schreit und keucht.
Es wird Abend, Aysha schwitzt und träumt. Arist
tätschelt ihr auf die Wange, immer stärker bis sie
erwacht. Sie schreckt auf. Sie fühlt sich schlecht und
ungeheuer. Ihr Kopf ist riesig, als würde er platzen.
Cynric erwacht auch und fragt sich, wieso er geschlafen
hat. Er erinnert sich an die Pilze und macht sich
Gedanken, ob er wohl den Zahn von dem Monster
mitgenommen hatte, oder nicht. Sein Kopf bereitet auch
ihm gewisse Schmerzen.
Es ist schon ganz dunkel, und der Regen will nicht
nachlassen. Weiter voraus ist ein Licht sichtbar. Das
muss die Herberge sein, die Edwin erwähnt hatte.
Wir erreichen die Herberge. Lyssandro und Arist
lassen die andern im Wagen warten. Sie gehen zur
Haupttür hinein. Arist fragt Lyssandro, ob es ihm recht
sei, wenn er ihm vorher sagt, wann er den anderen
Pilzen anbietet. Lyssandro bittet ihn nochmals inständig
die Pilze selber zu behalten. Unverständnis. Sie
zwängen sich zur Theke. Die Gaststube ist randvoll. Ein
gut gebauter Wirt kommt und schickt sie gleich wieder
weg: “Alle Zimmer belegt!“
„Na gut, dann müssen wir halt im Wagen schlafen!“
sagt Lyssandro. Arist hält das aber für gar keine gute
Idee.
27
Ein Fest ist in vollem Gang. Das bemerken auch
Aysha, Cynric, Biba und Bildugan. Sie kann jetzt
niemand mehr hindern daran teilzunehmen. Sie haben
zwar keine Unterkunft, aber das ist jetzt noch nicht das
grösste Problem. Viel wichtiger ist es jetzt, etwas gegen
den Durst zu bekommen.
Bildugan bietet dem Wirt Unerhaltungsmusik an für
eine Übernachtung. Er hat keine Chance, der Wirt lehnt
ab: „Ich brauche keine Unterhalter. Du siehst ja, die
Stimmung ist maximal.“ Aysha und Cynric sind am
tanzen und festen. Arist feilscht mit dem Wirt und kann
für 2 Geldstücke einen Platz im Stall ergattern.
Aysha bietet eine Runde Schnupf an. Cynric und ein
paar Bauern nehmen an. „Priis!“ Cynric isst den Tabak
unwissend. Aysha erklärt ihm wie es richtig gehen
würde und er probiert es noch mal. Ungeheure Niesreize
überkommen ihn. Aysha lacht.
Bildugan fängt trotz Nullgage an zu singen. Cynric
kann seinen Gesang nicht ausstehen und haut ihm
geradeaus eins in die Fresse. Der Schlag war so präzis,
das sich Bildugan gar nicht erklären kann, warum er
plötzlich am Boden sitzt.
Arist hat eine Idee, wie er zu einer Unterkunft für
alle kommen kann. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf
sich: “Ich biete jenen zwei, die gegen mich und meinem
Freund Lyssandro im Wetttrinken gewinnen eine Nacht
mit der bezaubernden Aysha!“ Er zeigt auf sie, doch sie
bemerkt es gar nicht. „Wenn ihr verliert, dann gebt ihr
uns dafür euer Nachtquartier!“ Lyssandro erschrickt:
„Bist du wahnsinnig, dass geht zehn mal schief. Ich
28
verspiele doch nicht meine Geliebte an diese Tölpel!
Das fehlte gerade noch.“ „Vertrau mir! Wir werden
gewinnen.“, gibt er als Antwort. “Und was ist, wenn
etwas schief geht? Nein, ich lasse das nicht zu.
Niemals!“ „Es kann nicht schief gehen!“ „Na gut, aber
ich warne Dich!“, kann Lyssandro gerade noch sagen
und schon stehen zwei mächtige Klötze vor ihnen. Sie
sind Metzger. „Los geht’s!“, sagt Arist. Er fordert
Lyssandro dazu auf, in einen kleinen Spiegel zu
schauen, den er in seiner Tasche trägt. Lyssandro schaut
hinein, kann aber ausser seinem Spiegelbild nichts
besonders auffälliges erkennen. Der Wirt bringt ohne
Aufforderung vier grosse Krüge Bier. Auf „prost!“
werden sofort alle leer getrunken. Arist fragt den Wirt,
ob er nicht etwas stärkeres habe als Bier. Drescher nennt
er als Beispiel. Der Wirt wird stutzig. So etwas führt er
nicht, die trinken hier nur Bier, Bier und Bier. Das
Wettsaufen geht einige Runden, ohne merkliche
Veränderung.
Unterdessen torkeln Aysha und Cynric zur Türe
hinaus. Es Regnet noch immer und sie haben keinen
geringeren Einfall, als eine Schlammschlacht
anzufangen. Sie haben eine Zeit lang einen riesigen
Spass daran.
Die Wette steht noch immer offen. Die Beiden
Metzger lassen sich nichts anmerken. Lyssandro sollte
dringen auf die Toilette. „Du darfst nicht, sonst hebt
sich die Wirkung des Spiegels auf und der Alkohol haut
dich um. Weißt du der Spiegel ist magisch und wandeln
für dich allen Alkohol in Wasser um, aber nur solange
29
du nicht Pinkeln musst. Halt einfach durch!“ Flüstert
Arist ihm ins Ohr. Arist leert sein Mass und macht eine
Blitzschnelle Handbewegung während der er dem einen
Metzger etwas Schlafmittel in den Krug gibt. Der
Metzger Trinkt aus. Das Mittel ist stark, der Mann fällt
innerhalb von Sekunden in eine tiefen Schlaf. Das hat
geklappt, Nummer 1 ist ausgeschaltet. Lyssandro kann
nicht mehr. Es platzt ihm fast die Blase. Er will
aufhören. Auch Arist müsste dringend. Aber sie nehmen
noch eins. Wieder trinkt Arist als erster und gibt dem
andern Metzger auch etwas Schlafmittel. Um davon
abzulenken erschafft er mitten in der Menge für kurze
Zeit die Illusion einer nackten Schönheit. Niemand hat
etwas gemerkt, der zweite Mann schläft ein. Gejubel
geht durch den Raum und die Metzger werden
ausgelacht. Arist nimmt sich die Zimmerschlüssel. Sie
rennen nach draussen und pinkeln fünf Minuten an
einen Baum hin. Fertig gepinkelt fällt Lyssandro in
Ohnmacht.
Er
hat
wahrscheinlich
eine
Alkoholvergiftung. Bildugan kümmert sich um den
Armen. Er bringt ihn aufs Zimmer und gibt ihm ein
Mittel, das die Wirkung des Alkohols vermindert.
Biba schockiert nichts mehr, was in dieser Gruppe
passiert... Sie geht auf die Suche nach Aysha und
Cynric. Sie findet die zwei Partyvögel im Stall in einem
Strohhaufen. Sie packt die beiden und knallt sie in den
Brunnen, darauf geht sie ins Bett. Das Wasser ist zwar
kalt, aber das stört die zwei nicht. Sie denken sich: „Die
anderen sollen es auch lustig haben!“ Sie rennen zu
Lyssandro ins Zimmer und winden ihre Haare über ihm
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aus um ihn zu wecken. Leider ohne Erfolg. Das
Dreierzimmer reicht nicht für sechs Personen. Aber das
ist ihnen Egal. Arist und Lyssandro liegen alleine in
einem Bett. Bildugan ist mit Biba zusammen. Also
legen sich die zwei zu Lyssandro ins Bett. Schon ist er
genauso nass und genauso dreckig wie sie. Aber er
schläft ja.
Die Nacht im Zimmer ist unruhig. Es wird morgen.
Lyssandro wacht in den Armen eines Mannes liegend
auf. „Cynric!“ Er schubst ihn weg, steht auf und
verschwindet. Arist geht im nach, weil er mit ihm reden
will. „Lass mich, ich muss jetzt allein sein!“, ruft ihm
Lyssandro zurück.
Arist findet ihn hinter einem Baum sitzend, die
Hände gefaltet und in Gedanken versunken. Er versucht
ihn anzusprechen: „Hey, wegen gestern... ich habe
bemerkt, dass du Angst hattest, dass wir verlieren
würden, aber du kannst mir glauben, ich hatte die
Situation die ganze Zeit unter Kontrolle. Dumm war
nur, dass diese Spelunke keinen richtigen Alkohol
gehabt hat! „Schon gut, ich mache nicht dir einen
Vorwurf, sondern mir selber!“ gibt ihm Lyssandro zur
Antwort.
31
2. Spielsitzung , 5. Mai 2002
Allmählich erwachen auch die andern. Wie es
scheint hat Biba als einzige gut geschlafen. Cynric hält
sich den Kopf: “Auuuh!“ Er sitzt am Bettrand und stützt
sich auf. Aysha ergeht es ähnlich. Sie schaut sich an und
bemerkt, wie dreckig sie ist. Ihr ursprünglich
dunkelblaues Kleid ist grau mit braunen Flecken und
Rissen - hässlich. Sie zieht es aus und geht nach
draussen zum Brunnen, wo sie es zu waschen versucht.
Der gröbste Dreck ist weg, aber sauber ist dieses
Kleid bei weitem nicht, und zudem ist es jetzt nass.
Cynric kommt gerade aus dem Gasthaus heraus. Aysha
ruft ihm zu: „Hey, schau dich an. Komm her und wasch
dich!“ Cynric hatte zwar gerade eine andere Absicht,
aber waschen ist auch gut. Das Wasser ist kalt.
In der Zwischenzeit hat sich Bildugan in die
Gaststube begeben. Er fragt den Wirt nach einem
Frühstück. „Na, ihr seid mir vielleicht Gäste! Die
Frühstückszeit ist vorbei. Die andern Gäste sind schon
längst wieder weg!“ schnauzt ihn der Wirt mit
verachtender Stimme an. Er bringt ihm dennoch einen
Krug Wasser und einen Topf gefüllt mit einem
undefinierbaren Brei. Es schmeckt gar nicht. Bildugan
nimmt trotzdem eine Portion. Auch Biba bedient sich
der Verpflegung.
Cynric ist genau so hungrig. Als er sich als
einigermassen sauber betrachtet, sucht er den Garten des
Wirtshauses auf. Er findet ihn hinter dem Haus. Er ist
üppig, voller Blumen, Gemüse, Obstbäume und alles
32
Erdenkliche, was man in einem Garten so wachsen
lassen kann. Er sieht am Boden ganz grosse grüne
Tomaten, mindestens doppelt so gross, wie normale
Tomaten und etwas länglich. Er nimmt sich eine und
beisst hinein. Sie ist deutlich härter als die roten
Tomaten, die er kennt. Aber sie ist köstlich. In diesem
Moment öffnet sich ein Fenster im untersten Stock des
Gasthauses. Dir Wirtin schaut heraus und schreit: „Ihr
ungezogenen Bengel! Verschwindet aus meinem
Garten! Immer diese diebischen Städter. So etwas
ungezogenes aber auch. Man klaut doch nicht das
Gemüse fremder Leute. Verschwindet!“ Cynric lässt
sich nicht so sehr beeindrucken, aber er geht wieder
zurück zum Brunnen, wo noch immer Aysha ist. Er
bietet ihr etwas von der Tomate an, die er hat mitlaufen
lassen. Sie nimmt einen kräftigen biss: “Igitt! Das ist ja
rohe Zucchetti!“
Cynric sieht das dreckige Kleid. „Schau, ich zeig dir,
wie das meine Mutter immer gemacht hat.“ Er nimmt
einen Stein. „Zuerst musst du das Kleid ins Wasser
tauchen,...“ er taucht es ein, zieht es wieder heraus und
legt es über die Brunnenkante, „...und dann schruppen!“
Er nimmt den Stein und fängt an, am Kleid
herumzureiben. Ein bisschen unsanft, es zerreist. „Hm,
jetzt ist es hin... Ach ja, jetzt weiss ich’s wieder. Meine
Mutter nahm nicht einen Stein, sondern eine Seife.
Mach du das besser selbst.“ Aysha schruppt noch ein
wenig daran herum, aber sauberer wird’s nicht. Es sieht
fast so aus, als wäre die Farbe stellenweise verblasst.
Sie gibt auf. Aber anziehen kann sie es noch nicht, es ist
33
tropfnass. Cynric kommt auf die glorreiche Idee, das
Kleid über einem Feuer zu trocknen, damit es schneller
geht. Sie gehen in die Küche.
In eine Wand eingelassen sehen sie eine Feuerstelle.
Darüber hängt ein Topf mit etwas gut riechendem drin.
Gulasch, mmhh, der riecht gut. Cynric hängt das Kleid
über dem Feuer über die Stange, wo auch der Topf
aufgehängt ist.
In diesem Moment kommt die Wirtin in die Küche.
Bevor sie etwas sagen kann wird sie von Cynric
angesprochen: „Oh, entschuldigen sie bitte vielmals
wegen der Ungezähmtheit von hinter dem Haus. Ich
hatte einfach Hunger, und da dachte ich, dass diese
Riesenbohne, oder was es war, niemandem gehört. Oder
war es ein totes Tier? Jedenfalls hat es gut geschmeckt.“
Aysha fügt hinzu, dass der Garten der schönste sei, den
sie je gesehen hat. Die Wirtin bekommt weiche Knie,
sie fühlt sich geschmeichelt. Man merkt ihr an, dass sie
ein Lachen verkneifen muss. Sie hat zeigt Mitleid:
„Ach, ihr seid mir vielleicht Nummern. Na gut ich will
mal nicht so sein. Was ihr da gegessen habt, das war
Zucchetti.“ Sie grinst über das ganze Gesicht. Cynric
ergreift die Gelegenheit: „Der Gulasch da, der riecht
aber ganz hervorragend!“ Er betont das so, als würde er
fast zerplatzen vor Lust auf den Gulasch. Die Wirtin
reicht den beiden ohne Zögern je ein Schüsselchen voll
zu. Lecker, sie bedanken sich abermals.
Unterdessen ist das Kleid getrocknet. Aber sein
Zustand befriedigt Aysha nicht. Es ist schmutzig,
verblasst, zerrissen und stinkt nach Gulasch. Sie
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schmeisst es zu Boden: „Schade, ich mochte dieses
Kleid so gerne, aber damit kann ich unmöglich unter die
Leute gehen. Lieber trage ich gar nichts... Oder hätten
sie mir - liebe Wirtin – vielleicht etwas zum Anziehen,
das sie nicht mehr gebrauchen und ich ihnen abkaufen
könnte?“ Betteln kann sie wirklich gut. Und sie braucht
keine Zweifel zu haben, dass sie nicht bekommt, was sie
will. Denn wenn Aysha ihren Charme spielen lässt,
dann leistet sie ganze Arbeit. Die Wirtin holt einen alten
beigen Rock: „Den können sie haben, ich brauche ihn
nicht mehr!“ Aysha probiert ihn an. Er ist ein bisschen
zu gross und reicht bis an den Boden. Ausserdem ist da
viel zu viel Stoff dran. Sie sagt aber nichts und denkt
nur: „Damit habe ich wenigstens nicht kalt in der
Nacht“
Arist kommt in die Küche, und sieht am Boden das
zerrissene Kleid. Er nimmt es auf und bietet Aysha an,
es zu flicken. Notdürftig näht er die gerissenen Stellen
mit einer Nadel und einer dünnen Schnur. Wenigstens
hat es jetzt keine Risse mehr, aber es stinkt noch immer
fürchterlich. Aysha packt das Kleid in ihren Beutel.
Lyssandro kommt fast mir der Tür in die Küche
gerannt: „Ach da versteckt ihr euch!“ „Guten Morgen
Lyssandro,“ fällt Cynric ihm ins Wort, „dich hab ich
heute Morgen noch gar nie gesehen. Hast du gut
geschlafen? ...wegen dem Buch das du da hast,...
entschuldige bitte den Vorfall von gestern. Ich bin mir
zwar nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass ich das
war, der dir das Buch durch die Luft hat wirbeln
lassen.“ „Schon vergessen...“, erwidert Lyssandro,
35
„..aber wir sollten vielleicht langsam an die Weiterfahrt
denken.“ Während Lyssandro das sagt kommen gerade
Bildugan und Biba in die Küche. „Ja genau, das meine
ich auch. Wir haben weiter im Norden eine Aufgabe zu
erfüllen!“ ruft Biba noch halb durch die Küchentür
hindurch und Cynric erwidert darauf ganz gelassen aber
bestimmt: „Der Weg führt nicht zum Ziel, der Weg ist
das Ziel.“ Biba verstummt und überlegt. Bildugan steigt
sofort den Duft des Goulages in die Nase. Genau so
schnell kann er den Duft orten und steuert geradewegs
auf den Kochtopf zu. „Könnten wir uns vielleicht zuerst
noch ein wenig verpflegen?“ Fragt er verlegen die
Wirtin. Die Wirtin ist sichtlich stolz, dass man sich so
um ihren Goulage reisst. Sie willigt ein und alle hauen
vor der Weiterfahrt noch einmal kräftig rein.
Während dem Mahl kommt noch einmal das Thema
Pilze zur Diskussion. Bildugan versucht Arist zu
erklären, was Sucht ist. Arist scheint aber den
Unterschied zwischen essen, trinken und Drogen
einnehmen nicht zu begreifen oder begreifen zu wollen.
Für ihn ist das ein und dasselbe.
Die Mahlzeit ist vorbei. Es ist höchste Zeit, um
aufzubrechen. Die Sonne ist schon sehr hoch, und der
halbe Morgen ist vergangen. Die Pferde werden vor den
Wagen gespannt. Wer reiten kann und will, der reitet.
Arist verzichtet. Er liegt im Wagen und döst. Cynric
reitet sowieso nicht und Aysha hat ein wenig mühe mit
aufsteigen. Sie lässt sich aber gerne von Bildugan
helfen.
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Bildugan macht Lyssandro darauf aufmerksam, dass
ihm einige Kräuter langsam knapp werden. Er möchte
deshalb möglichst bald in einem Dorf oder einer Stadt
einen Zwischenhalt machen. Lyssandro gibt ihm zur
Antwort, dass er sich umsehen soll nach einem Händler
der ihren Weg kreuzt. Aber primär eine Stadt zu suchen
hält er für sinnlos: „Keiner von uns kennt sich hier
genau aus. Wir wissen nur in welcher Richtung unser
Ziel ist, aber nicht genau wo. Ein Dorf zu suchen könnte
uns Tage lang vom Weg abbringen. Wir müssen zuerst
die Wälder im Norden erreichen.“
Schon sind wieder einige Stunden vergangen.
Lyssandro sitzt auf dem Wagenbock, Cynric läuft
nebenher und Arist schnarcht im Wagen, oder sollte
man das eher als Stöhnen bezeichnen? Biba reitet
Viehtreiberartig alleine zuhinterst, um die Gruppe ein
wenig im Überblick und vor allem in Bewegung zu
behalten. Aysha reitet links neben dem Wagen her und
träumt vor sich hin. Lyssandro ruft ihr zu: „Hey Aysha,
komm setz dich doch ein wenig zu mir auf den Bock.“
Er wirft ihr einen bittenden Blick zu. Aysha antwortet
nicht. Sie sieht, dass rechts von Lyssandro Platz frei ist.
Sie verlangsamt ihr Tempo, um hinter dem Wagen
durch auf die rechte Seite zu gelangen. Arist scheint
nicht so richtig zu schlafen. Er hat die Worte von
Lyssandro gehört. Er schleicht im Wagen nach vorne
und setzt sich leise auf den Platz neben Lyssandro und
schaut ihn freundlich an. Lyssandro macht eine
Kopfbewegung nach rechts, sieht, dass Arist da ist und
schaut wieder nach vorne. Aysha hat nicht bemerkt,
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dass der Platz nicht mehr frei ist. Sie schmiegt sich
rechts am Wagen entlang nach vorne. Mit einem
spektakulären Sprung versucht sie vom Pferd auf den
Platz des fahrenden Gespanns neben Lyssandro zu
springen. Es ist schon zu spät, als sie bemerkt, dass
Arist auf dem, eben noch freien, Platz sitzt. Aysha
versucht den Sprung aufzuhalten, fällt aber zwischen
Pferd und Wagen auf den staubigen Erdboden: „Auh!“
Lyssandro stoppt das Gespann, denn er hat gleich
erkannt, was passiert sein muss. Er geht zu ihr hin und
hält sie am Arm. „Aaaaah!“ schreit Aysha und knallt
ihm gleich eine übe die Ohren, so dass er zunächst mit
seinen eigenen Schmerzen beschäftigt ist. Cynric
kommt daher gerannt, und streichelt Aysha durch die
Haare: „♫Heile, heile Säge, drü Täg Räge, ♫ drü Täg
Schnee, de tuets de Aysah nümme weh! ♫“ Auch das
scheint nicht zu helfen. Aysha jammert und hält sich
den Arm. Sie muss ihn ziemlich fest verstaucht haben.
Ratlosigkeit kommt auf. Aysha lässt sich nicht helfen,
aber so kann die Reise nicht weitergehen. Die Szenen
Ayshas lassen Biba kalt. Sie setzt sich hin und versucht
sich nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie hat bloss
gewisse Zweifel, dass sie so jemals die Wälder
erreichen würden. Bildugan hat unterdessen mit einigen
Kräutern ein Getränk gemischt. Er sagt es sei
schmerzlindernd. Cynric traut der Sache nicht. Er
nimmt das Krüglein und kostet den Inhalt. „Mh, es ist
gut!“ sagt er. Aysha trinkt und bemerkt schon nach
wenigen Minuten Schmerzlinderung. Das Mittel wirkt,
aber es pocht noch immer auf der Aufschlagstelle. Es
fühlt sich komisch an. Cynric will Aysha unterhalten
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und singt in den höchsten und lautesten Tönen. Sein
Gesang ist fürchterlich, aber Aysha ist so gerührt von
Cynrics Hingabe, dass sie ihm zuhört.
Biba besteht darauf, endlich wieder weiterzuziehen.
Aysha kann noch nicht reiten, also fährt sie im Wagen.
Bildugan empfiehlt Aysha den Arm etwas zu schützen,
und eine Schlinge um den Arm zu legen. Cynric
schneidet ein Stück Stoff vom Kleid ab das Aysha trägt.
Aysha hat nichts dagegen, denn das Kleid ist ihr
sowieso zu lang und zu dick. Doch es wäre gar nicht
nötig gewesen da Arist ein geeignetes Tuch hat. Cynric
bindet ihr den Arm ein. Er geht nicht gerade zierlich mit
Ayshas Arm um. Sie fällt vor Schmerzen in Ohnmacht,
was Cynric natürlich auf Bildugans Schmerzmittel
zurückführt. Aysha ist verarztet, die Reise geht weiter.
Aysha ist mittlerweile aus dem Koma erwacht,
bleibt aber auf dem Wagen liegen. Arist döst auf dem
Bock neben Lyssandro vor sich hin. Am Horizont sind
Hügel zu sehen. Lyssandro schubst Arist etwas von sich
weg. Arist erwacht. Lyssandro zeigt mit seiner Hand in
Fahrtrichtung: „Schau die Hügel dort. Wir werden die
Wälder bald erreichen. Vielleicht schon morgen gegen
Mittag. Sollen wir hier rasten?“ Biba ist der Meinung,
dass sie noch weiterziehen sollten: „In etwa 5 Stunden
können wir die Berge erreichen. Dann ist gerade etwa
Sonnenuntergang. Dort könnten wir dann rasten. Wir
wissen schliesslich nicht, wie viel wir noch vor uns
haben, da wir das Ziel nicht genau kennen.“ Biba wird
überstimmt. Sie beschliessen erst mal Rast zu machen
da es in den Wäldern viel gefährlicher ist, gerade dann
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nämlich, wenn Räuberbanden ihr Unwesen treiben. Biba
und Arist reiten zusammen noch ein paar Minuten
weiter, kehren dann aber zur Gruppe zurück.
Lyssandro sucht eine Geeignete Stelle um zu rasten.
Er wählt einen Fleck um den es im Umkreis von hundert
Metern keinen einzigen Gegenstand hat, um allfälligen
Wegelagerern keine Tarnung zu bieten.
Aysha spürt langsam die Schmerzen wieder. Sie
versucht einen Heilungszauber zu singen. Leider klappt
es nicht und sie versucht es ein zweites Mal. Auch der
zweite Versuch scheitert. Sie bildet sich jedoch ein es
wäre nun besser, was allgemeine Erleichterung in der
Gruppe mit sich bringt.
Arist verspürt das Verlangen, ein Pilzchen zu essen.
Mit Schrecken stellt er fest, dass er nur noch zwei in
seinem Beutel hat. Eines verschlingt er auf der Stelle
selbst und das andere bietet er Aysha an. Aysha lehnt
dankend ab. Bildugan schaut in seine Tasche. Er hat
noch immer das Pilzchen, das er von Arist bekommen
hatte. Arist sieht das und verlangt es zurück: „Hey, du
hast ja noch ein Pilzchen. Gib es mir zurück, du willst
es ja gar nicht essen.“ Bildugan weigert sich: „Nein,
gegeben ist gegeben. Ich möchte es behalten. Man kann
Pilzchen auch für andere Sachen gebrauchen als zum
Schlucken.
Im Moment zwängen sich alle auf den Wagen. Es
hat gerade genügend Platz, dass alle im Kauersitz sitzen
können. Man ist besorgt um die schmerzerfüllte Aysha.
Bildugan mischt nochmals dasselbe Elixier das er schon
beim ersten mal braute. Bildugan ist sehr geschickt im
40
Mischen. Ein paar gekonnte Handgriffe und das
grünlich-gläserne Wässerchen ist zubereitet. Aysha
besteht darauf, dass sie dazu noch einen Schluck
Alkohol trinken darf, damit sie wieder etwas in
Stimmung kommt. Lyssandro und Bildugan raten ihr
davon ab. „Wenn man Elixiere mit Alkohol mischt,
dann kann das unangenehme Nebenwirkungen
hervorrufen!“ warnt Bildugan, aber Aysha lässt sich
nicht beeindrucken. Der Trank wirkt erstaunlich schnell;
schneller als beim ersten mal. Aysha fühlt sich wirklich
wieder gut.
Biba, die schon die längste Zeit Arists unsichtbares
Schosshündchen Imagino streichelt, sieht, wie aus dem
nichts zwei Augen und eine Schnauze erscheint. Der
Schnauze ziert ein Grinsen. Biba grinst zurück. Von den
andern hat niemand die Szene mitbekommen.
Cynric schlägt vor, ein Feuer zu machen, für den
Fall, dass es in der Nacht kalt wird. Lyssandro willigt
ein: “Aber nur ein kleines, sonst sieht man uns bis über
den Horizont!“ Cynric bittet alle vom Wagen zu steigen,
um das Gefährt zur Holzsuche mitnehmen zu können.
Aysha will ihm helfen. Sie ziehen den Wagen bis zum
nahen Wäldchen, dort beladen sie ihn mit Holz, bis er
prallvoll ist. Währenddessen lästern sie ein wenig über
Arist. Cynric meint, dass Arist eine Frau sei: „Hast du
nicht gesehen, wie er sich auf dem Wagen an Lyssandro
heran gemacht hat. Igitt, sowas...!“ Sie bringen den
Wagen voll Holz zurück und entfachen ein Feuerchen.
Cynric hat offensichtlich nicht zugehört, als Lyssandro
sagte, dass er nur ein kleines Feuerchen machen soll. Er
41
wirft gleich mal den halben Wagen Holz auf die
Feuerstelle. Cynric schaut ganz fasziniert auf das
lodernde Feuer, das sich in kürzester Zeit von einem
kleinen Flämmchen in eine Sbrunst verwandelt. „Na
prima!“ denkt sich Lyssandro, „Jetzt kommt es auch
nicht mehr drauf an.“ Er sagt nur: „Cynric, sei ein wenig
sparsam mit dem Holz, sonst musst du mitten in der
Nacht nach neuem Holz suchen gehen.“ Cynric besinnt
sich, und man sitzt um das Feuer, um den Abend zu
geniessen.
Die Alkohol-Schmerzmittel-Mischung von Aysha
scheint gerade seine Wirkung zu zeigen. Sie ist ganz
aufgezogen und möchte irgendetwas anstellen. Sie
macht sich an Arist heran. Sie kommt ihm ganz nahe,
Gesicht an Gesicht. Kurz bevor sich ihre Lippen
berühren dreht sie sich ab. Sie grinst und fühlt sich, als
könnte sie Bäume entwurzeln. Sie nimmt ihre Lyra
hervor und klemmt sie zwischen ihren Beinen ein, um
darauf zu spielen. Arist bietet ihr an, die Lyra für sie zu
halten und greift danach. „Nein!“ sagt sie und packt die
Lyra gleich wieder in ihren Beutel.
Währenddessen hat Bildugan den andern, die um das
Feuer sitzen, einiges über seine Flöte erzählt. Da ihm
alle gespannt zugehört haben gibt er gleich ein kleines
Ständchen zum besten. Er spielt wie ein Meister auf
seinem Instrument.
Aysha fängt gleich an dazu zu tanzen. Bildugan hört
auf zu spielen und streckt Lyssandro die Flöte zu: „Du
kannst doch auch Flöte spielen, Spiel doch mal darauf.
Sie ist wunderbar zum spielen. Ich wette, du hast noch
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nie auf einer so gut klingenden Flöte gespielt.“
Lyssandro antwortet: „Meinst du ich darf? Ja ich kann
schon Flöte spielen. Ich habe sogar mal eine gehabt.
Aber die ist bei einem kleinen Unfall zu Bruch
gegangen. Seither hatte ich nie die Gelegenheit, mir eine
Neue zu beschaffen.“ Lyssandro nimmt die Flöte und
beginnt zu spielen. Bildugan singt dazu. Aysha hat den
kurzen Unterbruch überhört und tanzt noch immer.
Cynric ist entsetzt. Er ist irgendwie gar nicht in
Partylaune. Aysha fordert Arist zum Tanz auf, was Arist
natürlich nicht ablehnt. Gerade als sie zu tanzen
beginnen ruft Cynric dazwischen: „Wäre es nicht üblich
beim Paartanz darauf zu achten, dass jeweils eine Frau
und ein Mann zusammen tanzen und nicht zwei
Frauen?!“ Cynric lacht und entfernt sich.
Das Fest geht noch eine ganze Weile so weiter. Bei
einer günstigen Gelegenheit stielt sich Arist von der
Gruppe weg und verschwindet im Wagen. Er
durchsucht die Tasche von Bildugan nach dem Pilzchen.
Biba hat ihn zufällig bemerkt und folgt ihm. Sie
beobachtet ihn zuerst kurze Zeit und sagt dann: „Bist du
sicher, dass das deine Tasche ist? Ich glaube, die gehört
Bildugan.“ „Huch, du hast recht, das ist ja gar nicht
meine Tasche. Äh...“ Arist sucht nach einer Ausrede. Er
scheitert aber kläglich an Bibas Misstrauen. Sie
entscheiden sich jedoch niemandem etwas von dem zu
erzählen, was Arist gerade gemacht hat, aber nur unter
der Bedingung, dass so was nie wieder vorkommt. Arist
geht die Bedingung ein, er will ja vor den andern sein
Gesicht nicht verlieren. Sie gehen wieder zurück zum
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Feuer, wo noch immer die andern sind. Niemand merkt
etwas von dem Zwischenfall.
Cynric hat in der Zwischenzeit eine Karte von der
Gegend gezeichnet. Er kartographiert sowieso immer
alles, was er bereist, bewandert oder befahren hat. Er
Zeigt die neue Karte gleich Lyssandro. Lyssandro
schaut auf das Papier und sagt: „Das sieht aber schön
aus, was ist das?“ „Das ist eine Karte von diesem Land,
das wir gerade durchreisen. Du hältst sie übrigens
verkehrt rum.“ Cynric dreht ihm die Karte richtig, und
gibt ihm einige Erklärungen dazu ab. Lyssandro ist sehr
beeindruckt. Er fragt ihn, wozu er das mache. Cynric
gibt ihm zu Antwort, dass das so eine Art vererbtes
Handwerk sei: „Bei uns zeichnen alle Karten. Mein
Vater hat schon Karten gezeichnet, mein Grossvater und
mein Urgrossvater auch. Ich glaube sogar schon der
Urgrossvater meines Urgrossvaters hat Karten
gezeichnet. Das macht Spass und man weiss immer wo
man war. Und wenn man mal wieder an einen Ort
kommt, wo man schon mal war, dann kennt man sich
schon bestens aus. Ist doch gut, nicht?“
Langsam breitet sich Müdigkeit über der Gruppe
aus. Nachtruhe ist angesagt. Aysha drückt Bildugan
einen dicken Kuss auf die Wange, bevor er sich schlafen
legt. Aysha ist noch überhaupt nicht müde, nein sie ist
noch so richtig aufgedreht. Sie meldet sich freiwillig,
die erste Wache zu übernehmen. Lyssandro will die
Wache mit Aysha zusammen teilen, da er überzeugt ist,
dass Aysha im Moment nicht in besonders guter
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Verfassung ist, und dass ihre überdrehte Stimmung
wahrscheinlich von dem Heilmittel herrührt.
Es wird still um den Lagerplatz. Das Feuer ist nur
noch ganz mickrig. Gerade so, dass es nicht erlöscht.
Lyssandro und Aysha liegen gemeinsam auf Lyssandros
Bettrolle und schauen in die Glut des Feuers. Sie halten
sich gegenseitig fest. Die andern scheinen schon längst
zu schlafen. Aysha flüstert Lyssandro ins Ohr: „Du bist
so still in letzter Zeit, was ist mit dir los?“ Lyssandro
weiss nicht was Aysha meint und gibt ihr zur Antwort:
„Was mit mir los ist? Ich weiss nicht. Ich glaube nicht,
dass ich ruhiger bin als vorher. Vielleicht wirkt es so,
weil ich etwas mehr Verantwortung in der Gruppe habe
als zu der Zeit wo Washino noch bei uns war.“ Sie
akzeptiert seine Antwort und konzentriert sich auf das
Feuer. Es ist rundum stock dunkel und Mäuschen still.
Man hört bloss das Atmen der andern und das Gläserne
klirren der Glut im Feuer.
Auf einmal fühlt sich Aysha nicht mehr so gut. Sie
hat Schweissperlen auf der Stirn. „Lyssandro, bitte
horch mal meine Brust. Es fühlt sich an, als will mich
mein Herz erschlagen.“ Lyssandro hält sein Ohr an
Ayshas Brust. Ihr Herz rast und ihr Körper ist ganz
heiss. In dem Moment fühlt er auch, wie sehr sie
schwitzt. „Wart, ich hole Bildugan!“ Lyssandro weckt
Bildugan, der sofort weiss um was es geht: „Das ist jetzt
die Wirkung des Alkohols. Man soll niemals Heiltränke
mit Alkohol mischen. Man weiss, dass das nicht gut
ist!“ Er hat sofort ein Linderungsmittel bereit. Aber
Aysha lehnt es ab. Sie will kein Zaubertrank mehr
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trinken, sie will jetzt bloss versuchen zu schlafen, denn
auf einmal ist sie sterbensmüde.
Von dem ganzen Tumult erwacht Arist. Er glaubt,
etwas gehört zu haben. Auch Cynric ist plötzlich
hellwach wegen irgendeinem Geräusch. Lyssandro gibt
Entwarnung. Cynric und Arist wollen sich gerade
hinlegen, da hören sie noch einmal dasselbe Geräusch.
Ein lautes Knacken, wie ein Ast, der zerbricht.
Komisch, es gibt im Umkreis von hundert Metern
nichts, das so knacken könnte, wie ein Ast, der
zerbricht. Darauf hat Lyssandro extra geachtet. Arist
und Cynric suchen nach der Quelle des Geräuschs,
finden aber nichts. Cynric gibt die Suche schnell wieder
auf und schläft weiter. Bildugan schläft inzwischen auch
schon wieder und Lyssandro kümmert sich noch um
Aysha.
Arist nutzt die Gunst der Gelegenheit. Er holt das
Kleid von Aysha aus dem Wagen und geht damit zum
unweit entfernten Bächlein. Er wäscht es mit Seife und
färbt es anschliessend dunkelblau ein. Er kommt zurück
und trocknet das Kleid am Feuer. Aysha merkt nichts
davon, denn sie ist inzwischen eingeschlafen. Arist
bietet Lyssandro an, die Wache zu übernehmen, da er
ohnehin auf das Kleid achten muss. Lyssandro ist
einverstanden. Aysha hat Alpträume. Sie dreht sich und
reckt sich. Sie redet wirres Zeug. Dann erwacht sie kurz,
sperrt die Augen weit auf und versinkt wieder im
Tiefschlaf. Lyssandro streift ihr durch ihre goldenen
Haare und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Darauf
sucht auch er die Nachtruhe.
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Arist sitzt neben dem Feuer, und wartet, bis das
Kleid trocken ist. Als das Kleid trocken zu sein scheint
nimmt er es, steckt eine getrocknete Rose an und
parfümierte es mit Rosenduft.
Die Nacht geht vorüber. In der frühen
Morgendämmerung
weckt
Arist
Biba
zur
Wachablösung. Lyssandro steht auch gerade auf. Arist
legt sich noch etwas hin. Auch Biba schlüpft gleich
nochmals unter die Decke, als sie sieht, dass Lyssandro
bereits bei seiner allmörgentlichen Gebetsstunde ist. Als
dann Lyssandro zum Kampftraining übergeht erwacht
Cynric. Cynric steht auf, sucht nach seinem
Wurfschwert und läuft Richtung des nahen Wäldchens.
Nach einiger Zeit kommt er mit einem Rehkitz auf dem
Rücken zurück. Lyssandro sieht das tote Tier. Er weiss,
dass Cynric noch nicht weiss, dass er kein unreines
Fleisch essen darf. Er geht sofort zu ihm hin, schneidet
dem Tier die Halsschlagader durch und erklärt ihm, dass
die Tiere nur dann rein sind, wenn sie komplett
ausgeblutet sind. Das ist nur zu erreichen, wenn man
das Tier Kopfüber hält und ihm dann Die
Halsschlagader aufschneidet. Das Kitz verblutet ganz
schnell. Cynric versteht die Zeremonie nicht so richtig,
aber er kann sich damit abfinden. Er fragt nicht weiter
danach. Cynric zieht dem Reh das Fell über die Ohren
und präpariert es über dem noch immer brennenden
Feuer. Von dem Duft des Bratens erwachen langsam
auch die andern aus ihrem Tiefschlaf. Aysha erwacht als
letzte. Sie hat immer noch ein bisschen einen
Brummschädel.
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Das Wetter ist herrlich heute. Unter wolkenfreiem
Himmel geniessen sie Cynrics wohlbekömmlichen
Rehbraten.
Nach Einer guten halben Stunde kräftigen Mals geht
die Reise weiter. Die Berge sind schon fast in greifbarer
Nähe. Arist hat 4 von den im Beutel Bildugans
gefundenen Pilzstückchen genommen und fühlt sich
wunderbar, wie neu geboren, in einer ganz anderen
Welt. Kein Wunder hat doch Bildugan die Wirkung mit
einem Zauber verstärkt, so dass nun ein Pilzstück einer
Menge von 10 Pilzen entspricht. Er lehnt sich auf
seinem Pferd zurück, so dass er bequem in seinem
Kreuz liegen und das schöne Wetter geniessen kann.
Lyssandro kümmert sich liebevoll um Aysha, die
gerade neben ihm auf dem Bock sitzt, und sich an ihn
anlehnt. Die Reise geht einige Stunden fast wortlos
vorüber. Es scheinen alle in recht guter Stimmung zu
sein.
Unterdessen ist Waldrand erreicht, und die Reise
geht ohne Halt weiter in Richtung Waldesinnere. Sie
gelangen immer tiefer in den Wald hinein und es wird
langsam dunkler. Plötzlich entdeckt Cynric am
Wegrand ein ausgebranntes Wagenskelett und ein halb
verwestes Pferd. Vor dem Kadaver wird Halt gemacht.
Arist, voll im Delirium, macht wegen dem Stopp einen
solchen Lärm, dass er von den andern beschwichtigt
werden muss. Er flucht etwas von wegen es ginge
wieder mal nicht weiter oder so. Aysha berührt ihn sanft
im Gesicht um ihn auf andere Gedanken zu bringen und
ruhig zu stellen. Cynric untersucht unterdessen das
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Wrack und das tote Tier und findet Spuren, die in den
Wald führen. Die Spuren führen zu einem Trampelpfad.
Hier handelt es sich ganz klar um Spuren der
Räuberbanden.
„Das wird ab jetzt unser Weg sein! Diese Spur führt
uns sicher direkt zu den Räuberbanden, wenn es sie
noch gibt. Seht ihr!?“ Ruft Cynric ganz begierig in die
Runde und zeigt mit dem Finger in Richtung der
Schneise im Wald. „Dann müssen wir aber den Wagen
hier lassen. Nehmt alles, was ihr noch braucht vom
Wagen, und verteilt es auf die Pferde. Wir nehmen so
viele Pferde, wie wir Leute sind, damit jeder ein Reittier
hat. Den Wagen lassen wir hier!“ antwortet Lyssandro.
Das Gepäck ist verteilt. Die Frage ist, was mit Arist
passieren soll. Arist liegt unterdessen friedlich am
Boden und schläft; wenn er nicht gerade kurz aufwacht
und irgendetwas unsinniges dazwischenbrüllt. „Wir
setzen ihn einfach auf ein Pferd, und hoffen, dass er
nicht runterfällt!“ schlägt Biba vor, und Cynric findet
das eine gute Idee. Bei dem Versuch, ihn auf das Pferd
hinauf zu heben, wehrt sich Arist mit den Füssen und
den Fäusten. Cynric verliert die Nerven und schlägt ihm
eine, so dass er für einen kurzen Moment die Feuer in
Holland gesehen haben muss. Arist ist ohnmächtig.
Cynric nutzt die Gelegenheit und fesselt den
Regungslosen Arist. Er wirft ihn ziemlich rücksichtslos
auf das Pferd und bindet ihn zur Sicherheit gleich am
Pferd fest.
Der Wagen ist in Zwischenzeit entlehrt. Beim
Umladen des Gepäcks findet Aysha ihr altes Kleid. Es
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ist Faserrein gewaschen und duftet ganz geheimnisvoll,
wie eine Blumenwiese. Als sie die eingesteckte Rose
entdeckt, bekommt sie Tränen vor Freude. „Lyssandro,
hast du mein Kleid gewaschen?“ fragt sie etwas
verwundert. „Nein, ich glaube Arist war das!“ gibt er
zur Antwort. Aysha reisst ihre alten Lumpen vom Leib
und zieht das schöne, neue alte Kleid, das sie immer so
gerne getragen hat, wieder an. Das andere lässt sie auf
dem Wagen liegen.
Die Reise kann weitergehen. Von nun an etwas
vorsichtiger. Die Banden können die Gefährten jederzeit
überfallen. Der Weg führt zuerst an einem Steilhang
entlang. Der Pfad tendiert immer leicht aufwärts und er
ist steinig, was für die Pferde aber noch kein Problem
darstellt.
Es wird flacher und der Weg geht jetzt eben aus. Es
scheint hier um eine bewaldete Hochebene zu handeln.
Der Wald ist nicht mehr so dicht. Einzelne Strahlen der
Sonne reichen bis auf den Waldboden. Es ist
Mäuschenstill, man hört nur die Schritte der Pferde und
manchmal auch die von Cynric, wenn er nicht aufpasst.
„Diese Gegend scheint mir sehr gefährlich. Sie ist der
Ideale Ort für einen Überfall. Haltet etwas Abstand
voneinander. Mindestens zehn Schritt. Cynric, du
machst die linke Flanke und du Biba, die Rechte.
Bildugan, du gehst voraus. Aysha, du bleibst mit Arist
in der Mitte. Ich reite zu hinterst.“ Lyssandro steigt aufs
Pferd und positioniert sich. Die Formation ist kaum in
Bewegung, wird Lyssandro plötzlich von etwas hartem
am Hinterkopf getroffen und wird verletzt. „Ah! Geht in
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Deckung!“ ruft er und hält sich nach vorne gekrümmt
den Kopf. Er stellt fest, dass er blutet. Er schaut auf, und
sieht, dass sie umzingelt sind von wilden hässlichen
Söldnern. Es ist ihm noch immer schwindlig vom
Schlag, den er abbekommen hat. Er kann gerade noch
erkennen, wie Cynric auf einen Baum entwischt. Die
Waldganoven sehen das auch, und schiessen ihm Pfeile
nach. Cynric sieht erst jetzt, dass er einen Baum
erwischt hat, auf dem einer der Ganoven in
Lauerstellung sitzt. Cynric sieht ihn früh genug und
wirft ihn kurzer Hand vom Baum herunter. Vom Boden
aus kann man Cynric wegen seiner hervorragenden
Tarnung nicht mehr sehen. Die Räuber schiessen ihre
Pfeile blindlings ins Geäst. Cynric hat ein riesiges
Schwein, beinahe wird er von einem Pfeil getroffen, er
kann die durch den Pfeil verdrängte Luft im Gesicht
spüren.
Es sind mindestens 40 oder sogar mehr von diesen
Räubern im Umkreis von höchstens noch zehn Metern,
und sie sind sehr gut bewaffnet. Hier scheint
Widerstand zwecklos. Aysha versucht mit den Ganoven
in einer Fremdsprache zu Kommunizieren. Der
Anführer antwortet aber in der unsrigen Sprache:
„Ergebt euch! Ihr seid in Unterzahl. Legt die Waffen
nieder und sagt eurem Freund, er soll vom Baum
runterkommen, oder ihr werdet nicht lebend am
nächsten Frühstück teilnehmen.“ „Tut, was er sagt!“
meint Lyssandro. Cynric springt aus seinem Versteck
auf einen anderen Baum und verschwindet sofort wieder
in seiner Tarnung. „Vergesst es, unser Freund ist schon
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über alle Berge, ihr werdet ihn nie einfangen können,“
versucht Lyssandro dem Anführer zu Verstehen zu
geben. Er geht nicht darauf ein. Einige der Räuber
schiessen unaufhörlich Pfeile in die Baumkrone, wo
sich Cynric versteckt hält. „Rocho! Geh auf den Baum
hinauf, und hol in runter!“ Schreit der Anführer ganz
erbost einem seiner Söldner zu. Die andern werden
gefesselt und geknebelt. Lyssandro spricht einige
Stossgebete vor sich hin:
Jahwe, sei in diesen Minuten mit uns und beschütze
meine Kameraden vor unnötigem Leid. Begleite uns in
die Höhle des Löwen, den dort ist der Ursprung des
Leids, dass so manchen Händler und Reisenden hier in
grosse Gefahr bringt. Amen
Aysha werden beide Arme recht unsanft nach
hinten gedreht, nach einem gellenden Schrei fällt sie in
Ohmacht. Lyssandro wird vom Pferd gerissen und unter
den Baum geschleppt, auf dem Cynric sitzt. „Komm
runter, oder wir stellen deinen Freund kalt!“ ruft der
Anführer nach oben. Cynric regt sich nicht, er weiss,
dass sie ihn nicht sehen können. Rocho hat schon fast
die Höhe von Cynric erreicht. Einer der Räuber fängt
an, Lyssandro zu bearbeiten. Er schneidet ihm mit
einem Messer ganz langsam eine Schramme ins
Gesicht, von der Schläfe beginnend bis zum Kinn.
Lyssandro lässt sich nichts anmerken. Er beisst auf die
Zähne. Im Gegensatz zu Lyssandro schreit jetzt Aysha
die unterdessen wieder erwacht ist. Lyssandro wird
geschlagen. „Da ist niemand mehr!“ schreit Rocho vom
Baum herunter und der Anführer flucht: „Verflixt, er ist
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entkommen. Also komm runter!“ Cynric ist aber sehr
wohl noch auf dem Baum. Der Ast, auf dem Rocho
steht, ist nicht ganz zufälligerweise ein Teil von Cynrics
Tarnrüstung. Cynric lässt diesen falschen Ast los, und
Rocho stürzt vom Baum, wie ein Stein. Er überlebt den
Sturz nicht. Der Anführer schnauzt nur: „Hat dieser
Idiot den niemals klettern gelernt?“
Die Räuber brechen die Suche nach Cynric ab und
führen Aysha, Bildugan, Lyssandro, Biba und Arist
weg. Geknebelt und gefesselt werden sie eine Stunde
lang zu Fuss durch den Wald geschubst, bis sie an eine
Felswand gelangen. In der Felswand hat es eine gut
durch Bäume und Sträucher getarnte Höhle. Im
Höhleneingang stehen zwei Wächter, die den
Durchgang in die Höhle versperren. Als sie aber den
Anführer sehen, stehen sie zur Seite und grüssen ihn mit
einer Handbewegung.
Es scheint keine Höhle zu sein. Nach etwa 150
Meter kommt ein Ausgang. Es öffnet sich so etwas wie
ein Talkessel. Rundum hohe, steile Felsen. Der Kessel
hat einen Durchmesser von gut 50 Meter. Es könnte sich
um einen erloschenen Vulkan handeln. Rundum sind
Höhlen und Einbuchtungen in die Felsen gehauen. In
der Mitte des Kesselbodens hat es eine art Thron, auf
dem ein grosser und ganz ohne Zweifel übergewichtiger
Mann sitzt. Er scheint der König dieser Bande zu sein.
Er ist überaus hässlich, genau so hässlich, wie die
beiden Hunde, die links und rechts des Throns ihre
Zähne fletschen. Im Kessel sind hundert weitere von
diesen Waldganoven anwesend. „Ich glaube, jetzt sind
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wir mitten im Schlangennest!“ flüstert Lyssandro zu
Bildugan hinüber, worauf er von einem der Räuber
einen Knüppel über den Kopf geprescht bekommt.
Lyssandro ist bewusstlos und fällt zu Boden.
Cynric ist der Bande bis zum Höhleneingang
gefolgt. Als er die Wächter sah, entschloss er sich einen
anderen Eingang zu suchen. Er kletterte in der Felswand
nach oben, bis er zum First des Trichters kam.
Cynric kann das Treiben der Räuber im innern des
Kessels von oben beobachten. Er sieht, wie alle gefilzt
und ihre Waffen und Wertgegenstände entwendet
werden. So wird Arist endlich seinen verfluchten Ring
los, der ihn zwang, sich in jede Frau zu verlieben, die
ihm über den Weg läuft. Sie versuchen Ayshas Krone
abzunehmen. Aysha schreit, denn die Krone lässt sich
nicht abnehmen, weil sie verflucht ist. Sie hat diese
Krone in einem Tempel auf der Suche nach Dämonen
gefunden, und aus Naivität gleich aufgesetzt. Seither
konnte sie die Krone erst einmal, in einer heiligen Zone
Gottes abnehmen. Die Räuber wollen die Krone
wegschneiden, da ruft der Anführer dazwischen: „Lasst
sie, ich brauche die beiden Weiber für etwas anderes!“
Die Männer werden in eine Höhle gebracht, wo sie mit
eisernen Beschlägen an die Wand gekettet werden.
Draussen im freien wird ein Feuer gemacht. Sie
bereiten das Abendessen vor. Rehe und andere Tiere
werden geschlachtet und zubereitet.
Es dämmert. Aysha und Biba sitzen schon die
längste Zeit noch immer gefesselt mitten im Getümmel
am Boden. Der Häuptling kommt von einer kurzen
54
Absenz zurück. Aysha und Biba werden die Fesseln
abgenommen. „Tanzt! Tanzt für mich, oder ich nehme
euch zum Abendessen!“ brüllt er die beiden Frauen mit
einem hässlichen Grinsen an. Er lacht und seine
Leibwächter um ihn herum lachen mit. Aysha beginnt
ganz unbeklemmt zu tanzen und Biba tut genau so, nur
etwas zögerlicher. Cynric, der die Szenen gespannt
beobachtet, staunt. Er hätte nicht gedacht, dass Biba so
gut tanzen kann. Aysha beginnt zu singen. Sie singt
ihren Schlafgesang heftig und konzentriert. Die
Wirkung lässt zu wünschen übrig. Nur einer der
Leibwächter wird schläfrig und klappt zusammen. Er
wird aber sofort ersetzt. Sie versucht es weiter. Es
scheinen zu viele Menschen anwesend zu sein. Der
Zauber funktioniert nicht. Nach langer Zeit schläft ein
zweiter Wächter ein, aber auch dieser wird sofort
ersetzt.
Arist, Bildugan und Lyssandro sind alle in derselben
Höhle gefangen. Der Eingang dieser Höhle wird von
drei Wächtern bewacht. Sie sind nur mit Speeren
bewaffnet. Arist in Gedanken versunken und Bildugan
sieht irgendwie verzweifelt aus. Lyssandro ist ein wenig
unruhig. Er kann den Gesang von Aysha ganz gut
hören. „Hoffentlich tun sie ihr nichts an, diese
Ungeheuer. Ich muss dafür sorgen, dass ihr nichts
geschieht, aber wie?“ Lyssandro grübelt, aber gegen
eine solche Überzahl an Gegnern ist jeder Kampfakt der
reine Selbstmord.
Plötzlich ist eine hohe raue Stimme zu hören: „Hallo
du. Du bist in einer sehr misslichen Lage. Ohne mich
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kommt ihr hier nicht lebend heraus!“ Es ist aber
niemand zu sehen. „Au!“ schreit Bildugan, der gerade
eben ins Ohr gekniffen wurde. „Wer bist du, und wo
bist du überhaupt? Binde uns los, schnell!“ fragt der
aufgewühlte Bildugan. „Ich bin Xirx, und ich bin hier
unten. Ja Xirx ist mein Name. Und du hast ein Problem!
Tu mir einen Gefallen, und ich helfe dir hier raus.“ Jetzt
sieht man den kleinen Wicht. Es ist ein Kobold. Er geht
zu jedem hin und sagt: „Tu mir einen Gefallen, und ich
helfe dir aus der Höhle.“ Jeder weiss, dass man einem
Kobold nicht trauen kann. Keiner der drei geht auf seine
Forderung ein. Lyssandro lehnt Bedingungslos ab.
Bildugan wäre den Deal fast eingegangen, wenn nicht
Arist dazwischen reden würde, und dem kleinen Xirx
ein paar Bedingungen stellt: „Lass uns frei, dann tun wir
dir zwei Gefallen. Aber wir wollen dafür, dass auch du
uns noch einen Gefallen tust.“ Xirx lässt nicht mit sich
feilschen.
Während Arist am Handeln ist, versucht Lyssandro
sein Chi zu bündeln. Diese Meditationstechnik hat er
von Washino gelernt. Er wagt den Versuch, die
Stahlfesseln zu zerreisen. Ganz entspannt und
konzentriert schaut er vor sich auf den Boden. Sein
Atem ist langsam und gleichmassig. Nach einigen
Minuten der vollsten Konzentration richtet er sich auf,
holt tief Luft. Er zieht an seinen Fesseln, bis sie
angespannt sind und setzt all seine gebündelten Kräfte
auf einen Schlag frei. „Hum!“ Er muss sich
zusammenreissen, dass er nicht zu laut schreit. Es hat
geklappt. Die linke Fessel ist zerrissen. „Autsch!“
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Lyssandro spürt einen stechenden Schmerz im Rücken.
Xirx hat ihn gebissen weil er von der Kette, die zerriss,
getroffen wurde. Die Wachen haben die Unruhe gehört
und kommen zur Kontrolle in die Höhle. Lyssandro hält
seine Hand wieder an die Wand, als wäre er noch immer
gefesselt. Die Wachmänner bemerken nichts, sie lassen
bloss verlauten, dass es untersagt sei, zu sprechen. Xirx
versucht Lyssandro abermals dazu zu überreden, ihm
einen Gefallen zu tun: „Siehst du, es ist aussichtslos. Da
draussen sind über hundert Kämpfer. Ihr hab ohne mich
keine Chance hier raus zu kommen. Tut mit einen
Gefallen und ich helfe euch!“ Doch Lyssandro versucht
Xirx mit Gold zu bestechen, da er vermutet, dass der
Kobold uns mit seinem Gefallen übers Ohr hauen will.
Ohne Erfolg, Xirx will einen Gefallen und sonst gar
nichts. „Warum kannst du uns denn nicht sagen, was
wir dir für einen Gefallen machen sollen?“ will
Lyssandro zurecht wissen. „Ich stelle hier die Fragen
und ihr gebt die Antworten. Ihr seid gefesselt und ich
mache die Spielregeln,“ ist seine Antwort. „Und wieso
sollten wir dir - einem Kobold – vertrauen schenken?“
fragt Lyssandro nach. Xirx antwortet mit ernster Miene:
„Ich beobachte euch schon seit ihr den Wald betreten
habt. Ich weiss, was ihr vor habt, und ich weiss, wie
viele ihr seid. Euer Freund, den ihr Cynric nennt, ist
wohl auf. Gerade befindet er sich auf dem Hügelkamm
und beobachtet das Treiben der Bande unten im Kessel.
Er kann euch aus seiner Lage leider nicht helfen,“ sind
seine letzten Worte und verschwindet. Lyssandro ist von
Xirx nicht beeindruckt. Er konzentriert sich wieder auf
seinen Geist.
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Die Frauen werden immer noch zum Tanzen
gezwungen. Die Männer fangen an sie zu begrabschen.
Aysha lässt sich keinen Scham anmerken, wogegen
Biba schon sehr viel mehr Mühe damit hat. Aber wie
sollte sie sich wehren gegen so viele? „Lass es einfach
geschehen, sei besser nett zu ihnen, dann sind sie es
auch!“ gibt ihr Aysha zu Rat.
Vier Männer gehen in die Höhle zu den Gefangenen
mit der Absicht, die Fesseln zu überprüfen. Lyssandro
bemerkt trotz seiner Meditation die Anwesenheit von
Wachen. Jetzt muss er handeln, sonst bemerken sie
seinen Befreiungsversuch. Die erste Wache ist gerade in
Versuchung, seine Fessel anzufassen, da holt er wieder
Luft und reisst auch die zweite Kette entzwei. Mit der
Wucht aus den Armen schlägt der den Wächter gleich
um. Er liegt reglos am Boden. Lyssandro nutzt den
ÜberRashungsmoment um sich die Waffen zu
schnappen, die sich zum Glück in dieser Höhle
befinden. Einer der drei rennt sofort aus der Höhle um
Hilfe zu holen. Die anderen beiden sind sofort in
Angriffstellung. Lyssandro schlägt zuerst mit seinem
Schwert eine Kette von Arists Fesseln auf. Der Schlag
ist präzis. Die Kette zersplittert. Arist lässt sofort eine
Illusionskette entstehen, mit Erfolg. Derweilen kämpft
Lyssandro gegen die anderen zwei. Er trifft den Einen
tödlich in den Bauch. Den andern verletzt er derart an
den Armen, dass er nicht weiterkämpfen kann und
flieht. Schon sind sechs weitere Wachmänner im
Anzug. Lyssandro, der nicht weiss, dass die Kette von
Arists Fesseln eigentlich zerbrochen wären, schlägt
58
nochmals mit voller Wucht auf die Illusion. Die Illusion
ist gut. Lyssandro bemerkt sie nicht und schlägt noch
einmal zu; wieder nicht. Er schaut Arist verständnislos
an. Jetzt bemerkt er, dass es eine Illusion ist, auf die er
da eingeschlagen hat. Die Wachen sind schon zu nahe.
Lyssandro ergibt sich.
Es herrscht ein Chaos, auch draussen, wo in der
Zwischenzeit der Abendfrass verzehrt wurde. Sie
bringen Lyssandro und Arist in eine andere Höhle. Das
Loch, in das sie gebracht werden, macht den Anschein,
als handelt es sich um die Vorratskammer. Es ist
muffelig und feucht. Diesmal werden Lyssandro nicht
nur die Hände an die Wand gefesselt, sondern auch die
Füsse. In einem günstigen Augenblick versucht Arist
ein Messer aus seiner Schuhsole zu ziehen. Der
Wachmann bemerkt das und zieht Arist eins über den
Schädel, so dass er umkippt und ohnmächtig liegen
bleibt. Die Wachen richten ihn auf und setzen ihn an die
Wand. Arists Hände werden hinter seinem Rücken
zusammengebunden an die Wand gefesselt.
Im dem ganzen Tumult versucht Aysha tanzend sich
Richtung Ausgang zu stehlen. Sie kommt aber nicht
weit. Nach etwa 15 Metern wird sie von einigen
Gaunern umstellt und in die Knie gezwungen: „Nicht
abhauen Weib! Du bleibst bei uns!“ Sie schleppen die
Beiden Frauen in die Höhle in der Bildugan ist. Sie sind
nicht gerade geschult im Umgang mit dem schwachen
Geschlecht. Sie drehen Ayshas verletzten Arm so
rücksichtslos nach hinten, dass ihr Tränen aus den
Augen quellen. Sie kann den Schmerzesschrei nur
59
schwer unterdrücken. Wenigstens bringen ihnen zwei
der Ganoven etwas zu Essen - einen undefinierbaren,
hässlichen, bräunlichen Brei. Aysha versucht bei der
Gelegenheit noch einmal ihren Schlafgesang aus –
erfolglos, sie ist zu erschöpft.
Unterdessen ist Xirx zu Cynric auf den Berg
gestiegen: „Hallo Cynric!“ Cynric ist überrascht: „Hm?
Wer redet da?“ „Ich bin Xirx und ich kann deinen
Freunden aus der Gefangenschaft helfen, wenn du
willst.“ Gibt er zur Antwort. Erst jetzt kann Cynric den
kleinen Kobold sehen. Xirx ist eigentlich unsichtbar.
Man kann einen Kobold erst dann sehen, wen der das
will, oder wenn man mit ihm in Berührung kommt.
Cynric fühlt sich von Xirx aufs Kreuz gelegt: „Wie
willst du kleiner Wicht uns helfen können?“ Cynric
grinst. „Lach nicht! An deiner Stelle würde ich etwas
netter sein! Ich werde dir zeigen wie ich das mache. Ich
habe Freunde,“ gibt Xirx ein wenig beleidigt zurück.
„Na also los, befrei sie,“ drängt ihn Cynric. „Na, na, na.
Ich will aber, dass mir jeder von euch einen Gefallen
schuldet, wenn ich euch helfe.“ Cynric überlegt sich die
Bedingung nicht wirklich. Viel mehr interessiert ihn,
wie der kleine Xirx zu Helfen gedenkt. „Gut, wir tun dir
einen Gefallen und du hilfst uns.“ Cynric grinst. Xirx
schaut mit treuem Blick und mit dem Kopf zur Seite
geneigt zu Cynric hinauf: „Versprochen?“ fragt er
nochmals nach. Auf das Kopfnicken von Cynric gibt
ihm Xirx ein kleines Fläschchen mit einer magischen
Flüssigkeit. Dann dreht sich der kleine Kobold um und
rennt den Berg hinunter. Während er rennt schaut er
60
kurz zurück und schreit: “Warte unten beim Portal auf
uns, wir treffen uns dort!“
Unten im Talkessel ist schon längst wieder
Normalität eingekehrt. Es wurde vom Häuptling
inzwischen bekannt gegeben, dass die gefangenen
Männer bei Sonnenaufgang gekocht, geköpft, skalpiert,
geschrumpft und die Überreste den Hunden zum Frass
vorgeworfen werden. Die Frauen sollen verschont
bleiben, da sie, laut Häuptling, noch gebraucht werden.
Xirx geht gleich zuerst zu Arist. Er verrät ihm, dass
Cynric für alle das Versprechen auf seine Bedingung
gegeben hat. Arist kommt gar nicht erst zu Wort, denn
Xirx streckt ihm ein Ampullchen entgegen, mit
demselben Inhalt den Cynric erhalten hat: „Trink das,
sonst kann ich dir nicht helfen!“ Arist nimmt das kleine
Fläschchen und schluckt die enthaltene Flüssigkeit.
Auch den andern bietet er dieses Tränklein an.
Lyssandro ist zuerst etwas skeptisch dem Trank
gegenüber, schluckt ihn dann aber trotzdem.
Urplötzlich
ertönen
laute
Pfeifen
und
Flötengeräusche. Die Räuber fangen alle an zu tanzen
und hüpfen. Wie besessen tanzen sie zu der Musik, die
so plötzlich in der Luft liegt. Xirx öffnet in Windeseile
alle Fesseln und fordert die Gefangenen auf, so schnell
wie möglich ihre Sachen zu suchen, Richtung Ausgang
zu laufen und am Ende der Höhle zu warten. Der dicke
Häuptling schreit und tobt, doch es nützt alles nichts, er
und seine Leute sind wie gefangene eines fremden
Willens. Sie haben, wie es scheint, keine Herrschaft
über ihr Tun.
61
Am Ausgang wartet schon Cynric auf seine Freunde.
Die Gruppe hält kurz inne, bis alle beisammen sind und
dann rennen sie weiter. Xirx und Cynric rennen voraus,
gefolgt von Arist, Biba und Lyssandro. Das Schlusslicht
bilden die schmerzerfüllte Aysha und Bildugan. Sie
rennen wie die Hasen etwa anderthalb Stunden durch
den Wald. Bildugan ist schon längst am Ende seiner
Kräfte. Aysha werden die Schmerzen im Ellenbogen
langsam unerträglich und es ist schon ziemlich dunkel.
Sie müssen gut aufpassen, wohin sie treten. Das Tempo
verlangsamt sich zuerst auf Eilmarsch und zuletzt auf
Kriechgang. Völlig erschöpft kämpfen sie sich durchs
Geäst.
Xirx führt die Gruppe zu einer Waldlichtung. Man
hört das Rauschen eines nahen Bächleins. „Hier könnt
ihr erst mal ausruhen!“ sagt Xirx so keck, als hätte er
nicht die geringste Anstrengung hinter sich. Alle sind
fix und fertig. Xirx verschwindet kurz im Dickicht. Er
kommt zurück mit langen schmalen Blättern, und bindet
sie Aysha um den bösen Ellenbogen: „Das wird die
Heilung beschleunigen.“ „Ist das Wasser sauber?“ fragt
Lyssandro den Xirx. Xirx antwortet mit ja. Lyssandro
kniet ans Bächlein, löscht zuerst seinen Durst und
reinigt dann seine Wunden. Er hat ziemlich starke
Schmerzen. Bildugan hat ihm etwas Salbe die kühlt und
desinfiziert.
Wer noch kann, der versorgt sich. Aber die
Müdigkeit ist dermassen gross, dass es keine zehn
Minuten
dauert,
bis
der
allerletzte
seine
Schlafensstellung eingenommen hat und schläft.
62
Am nächsten Morgen fühlen sich alle wieder recht
frisch. Bildugan wird von einem Häschen geweckt,
welches an seinem grossen Zehen rumschnuppert. Er
zuckt, und das Häschen rennt ins nahe Gebüsch. Ayshas
Arm schmerzt deutlich weniger. Jetzt sieht man endlich
Lyssandros Schramme im Gesicht. Es sieht fürchterlich
aus. Davon wird bestimmt eine hässliche Narbe übrig
bleiben. „Leg dich auf den Rücken und halte den Kopf
zur Seite, sodass die Wunde nach oben schaut,“ befielt
Aysha. Sie kniet vor ihn hin und hält ihn mit beiden
Händen am Kopf fest. Sie starrt wie versteinert auf die
Wunde. Sie fängt an eine Melodie zu summen. Die
Melodie wird zum Gesang. Langsam fängt sich die
Narbe an zu schliessen. Sie wird immer kleiner, bis nur
noch ein rötlicher Fleck an die eben noch vorhandene
Schnittwunde erinnert. Sogar die Rötung verschwindet,
und Lyssandros Gesicht ist wieder makellos –
zumindest dann, wenn man sich seine Nase wegdenkt.
Xirx ist plötzlich ganz aufgeregt. Er zeigt mit dem
Finger auf das Häschen, welches Bildugan am Zehen
gekitzelt hat: „Schaut dort!“ Das Häschen piepst in
Panik. Sein linkes Hinterbein ist von einer Ranke
umschlungen, die es versucht, in die Erde zu ziehen.
Cynric schlägt mit einer Peitsche auf den Fangarm.
Dieser löst sich und der Hase springt davon. Xirx rennt
sogleich an die Stelle, hält sich an der komischen Ranke
fest und zieht daran. Die andern helfen auch tatkräftig
mit beim Ziehen. Die Ranke bricht und sie fallen
rücklings aufeinander. Xirx hält nur noch eine dornige
Pflanze in der Hand, und wirf sie achtlos weg. Der Rest
63
der Ranke verschwindet im Boden. „Schon wieder eine
dieser Diebespflanzen!“ Xirx holt tief Luft seufzt. Er
setzt sich auf einen Baumstrunk und stützt sich seinen
Kopf mit den Unterarmen auf. Er fängt an zu erzählen:
“Eigentlich bin ein ganz normaler Hauskobold. Ich habe
in meiner Jugendzeit viele Schelmereien gemacht. Ich
habe Häuser geplündert, gestohlen und Menschen und
andere Wesen geärgert. Bis ich einmal von einem
Handelsmann bei einem meiner Raubzüge erwischt
wurde. Er hat mich gesehen. Bei uns ist es eben ein
Gesetz, dass man seinem Entdecker auf Lebzeiten
dienen muss. Also wurde ich versklavt. Auf diese Art
kamen all die Untaten, die ich gemacht habe, wieder auf
mich zurück. Es war furchtbar. Ich hatte aber das Glück,
dass ich einige Satire zu meinen Freunden zu zählen
konnte. Falls ihr noch nie welche gesehen habt Satire
sind Ziegenmenschen. Sie sind hervorragende Gaukler
und Meister der psychischen Beeinflussung. Sie sind
musikalisch und beherrschen das Flötenspiel, und zwar
so, dass man von den Melodien verzaubert wird. Einer
dieser Satire hat meinen Meister gleich für immer in die
Irre geführt mit seinem Spiel. Der Man lebt längst nicht
mehr, aber er war bis zu einem Tode besessen von
Dingen, die überhaupt nicht existierten. Deshalb steckte
man ihn in die Klapsmühle. Damit war ich befreit von
meiner Pflicht und konnte fliehen. Seither lebe ich hier
mit den Satiren zusammen und hege und pflege den
Wald. Doch leider wird das immer schwieriger seit
diese Plage hier ist...“ Xirx verdreht die Augen und
schaut vor sich vor die Füsse. „Welche Plage denn?“
will Bildugan wissen. „Na eben diese komischen
64
Etwase im Boden. Sie waren früher nicht da. Anfänglich
gab es sie nur ganz im Norden, aber sie breiteten sich
schnell über den ganzen Wald aus. Man sieht sie nie.
Wenn sie Hunger haben, dann suchen sie sich irgend ein
Tier, fangen es mit ihren Ranken ein, und ziehen es ins
Erdreich. Auch die Pflanzen leiden darunter. Wo eines
dieser teuflischen Dinge war, da wächst an der
Erdoberfläche nichts mehr. Das ist bis jetzt die einzige
Möglichkeit, ihre Verbreitung zu erkennen... “ Während
Xirx erzählt macht Lyssandro ein Göttlichkeitsritual um
herauszufinden ob die Gegend teuflisch ist oder nicht.
Er sieht vor seinem geistigen Auge ein weisses Leintuch
mit Blutspritzer drauf. Er interpretiert diese Nachricht
so, dass die Gegend als solches Gut ist, zur Zeit aber
von Bosheit heimgesucht wird. Xirx fährt fort: „Und da
wären wir eigentlich bei dem Gefallen, den ihr mir
schuldet! Bitte geht zum weisen Rashun, um ihn um Rat
zu bitten. Ich bin sicher er weiss, wie man diese
Teufelspflanzen aufhalten kann.“ Xirx streckt Cynric
eine grosse, alte Karte zu: „Schaut hier, damit ihr den
Weg besser findet.“ Die Karte ist sehr schön und
sorgfältig gezeichnet. Ohne darüber zu Debatieren, wer
und weshalb wir dem Xirx einen Gefallen schulden,
schauen alle auf die Karte. Aus der Karte ist gut
ersichtlich, dass es keinen grossen Unterschied
ausmacht, in welche Richtung sie den Wald verlassen.
Lyssandro überlegt, wie sie die neue Aufgabe mit dem
Auftrag von Edwin unter einen Hut bringen. Sie müssen
ihm ja zumindest noch Bericht erstatten. Man diskutiert
über die möglichen Routen. Der kürzeste Weg zu
Rashun ist quer durch das Gebirge und über die Ebene
65
von Tork. Xirx meint, dass das nicht der klügste Weg
sei, aber weil er keinen stichhaltigen Grund angeben
kann mischt er sich nicht weiter ein. Lyssandro macht
den Vorschlag, das Gebirge in Richtung Nordosten zu
verlassen, und dann dem Gebirgsfuss entlang nach Glok
zu reisen. Dort könnten sie dann einen Boten nach
Trocheja aussenden, der dem König die Neuigkeiten
überbringen wird. Auf diese Weise kommt die
Nachricht vielleicht etwa zwei Tage später an, als wenn
sie diese selbst überbringen würden, fügt Lyssandro an.
Der Vorschlag wird einstimmig akzeptiert.
Man bedankt sich bei Xirx für die Befreiung und
Xirx bedankt sich für die Hilfe, die ihm die Abenteurer
noch erbringen werden. Er wünscht der Gefolgschaft
eine gute Reise und viel Erfolg und Wiedersehen. Arist
und Bildugan haben noch einen Wunsch. Arist spricht
ihn auf die Pilzchen an, die ihre gewisse Wirkung
haben, er wäre auch bereit Xirx dafür einen Gefallen zu
tun. Bildugan fragt nach irgendwelchen Kräutern, von
denen er keine mehr hat. Xirx verschwindet im Wald.
„Jetzt ist er abgehauen, dieses Schlitzohr. Man kann
einem Kobold eben doch nicht trauen,“ lästert Arist.
Dank Cynrics hervorragendem Richtungssinn
wissen sie selbst, wo Nordosten ist und sie setzen sich
dorthin in Bewegung.
Nach etwa zehn Minuten Marsch taucht plötzlich
Xirx wieder auf. Er streckt Bildugan die Kräuter hin,
und Arist einen ganzen Beutel voller Pilze. „So, und
nun geht! Ihr habt noch eine Aufgabe.“ Arist und
Bildugan bedanken sich, aber bevor sie etwas sagen
66
können hat sich der Kobold in Luft aufgelöst. Arist
probiert gleich eines der Pilzchen. Die Wirkung ist
hervorragend. Exzellente Qualität.
Der Weg ist nicht besonders anspruchsvoll. Hin und
wieder hat es ein paar Dornen oder Brenneseln.
Ansonsten stellen sich ihnen keine Gefahren in den
Weg. Es wird Abend und sie erreichen eine schöne
Lichtung die zum Rasten einlädt. Cynric macht sich auf
um etwas zu jagen. Er fängt einen Fuchs. An Ort und
Stelle nimmt er ihn aus. Bildugan untersucht die
mysteriöse Pflanze, von der er den abgebrochenen Ast
eingepackt
hat.
Er
findet
jedoch
nichts
aussergewöhnliches.
Aysha will ihre magischen Fähigkeiten erweitern.
Sie versucht mit einem Gesang ein Feuerchen zu
entfachen. Beim ersten Versuch passierte gar nichts.
Oder doch? Sie fasst das Holz an. Es wurde feucht. Sie
versucht ein weiteres mal das Holz zum brennen zu
bringen. Diesmal kann sie gar keine Reaktion erkennen,
und sie gibt frustriert auf.
Cynric macht das Feuerchen selbst. Er bratet den
Fuchs darüber, und Arist würzt ihn mit ein paar
Kräutern. Es duftet gut. Es schmeckt auch gut. Nur
Lyssandro verzichtet auf den köstlichen Braten. Er sucht
sich ein paar pflanzliche Nahrungsmittel zusammen, die
er verspeist. Cynric versteht ihn nicht: „Isst du denn
kein Fleisch Lyssandro?“ „Doch, daran liegt es nicht,“
gibt Lyssandro zur Antwort und erklärt ihm den
Unterschied zwischen reinem und unreinem Fleisch,
67
den Schlachtungsmethoden und Opferarten. Lyssandro
erntet Unverständnis.
Alle sitzen gemütlich um das Feuer und Plaudern
über Jahwe und die Welt. Auf einmal vernehmen sie ein
Rascheln aus den Gebüschen im nahen Umkreis.
Sekunden später stehen viele kleine schwarze Gestallten
um ihr Lager herum. Sie geben eigenartige Geräusche
von sich. Sie kommen näher. Cynric bietet ihnen von
seinem gewürzten Fleisch an. Das mutigste von diesen
kleinen Wichten rennt heran, schnappt sich den Happen
und rennt wieder weg. Er wirft ihnen noch ein Stück
Fleisch zu. Gleich vier von den kleinen Wesen
schnappen danach, und weil keines nachgeben will,
fangen sie an darum zu ringen. Plötzlich kommen sie
von allen Seiten. „Fertig! Verschwindet!“ ruft Cynric.
Aber die kleinen Männchen drängen immer dichter um
sie herum. Der Versuch, sie weg zu scheuchen bringt
nichts und Steine scheinen sie auch nicht zu
beeindrucken. Aysha macht einen Lichtzauber.
‚Wusch’, und die kleinen Männchen sind alle weg. Arist
– nun endlich befreit von dem Zauberring – fragt Aysha
ganz beiläufig, ob sie sich nicht manchmal etwas blöd
vorkommt, wenn sie so dastehe wie eine Laterne und
dauernd dazu singen muss. Das macht Aysha wütend,
und sie hört auf zu singen. Das Licht erlöscht und die
Männchen stürmen wieder aus Schlupflöchern hervor.
Cynric macht blitzschnell einen grossen Feuerhalbkreis
um die Lagerstelle, damit sie geschützt sind vor den
Störenfrieden. Die kleinen schwarzen Männchen
verschwinden und tauchen nicht mehr auf. Es wird Zeit
68
für die Nachtruhe. Cynric geht auf einen nahegelegenen
Baum schlafen. Aysha und Lyssandro schlafen auf
Lyssandros Bettrolle. Er hält ein kurzes Gutenachtgebet
und fällt in den Armen Ayshas in einen tiefen Schlaf.
Biba, Arist und Bildugan schlafen verteilt um dem
Rastplatz auf dem weichen, moosigen Walsboden.
Am Morgen werden sie von einem sanften
Regenguss geweckt. So muss es sein, wenn es im
Paradies regnet, ganz fein und erfrischend. Biba sieht
einen kleinen Bereich neben Arist, der nicht nass wird.
Sie denkt sofort an Imagino.
Es hat gerade aufgehört zu regnen, riecht Bildugan
einen sehr guten, fremden Duft. Er folgt dem Duft und
findet eine wunderbare Blüte. Er kennt sie nicht. Er hat
Angst dass sie gefährlich sein könnte, deshalb bittet er
Cynric in der Nähe zu bleiben, nur für den Fall. Nichts
passiert und er schneidet sich eine Blüte ab, um sie zu
untersuchen. Sie scheint nicht giftig zu sein. Vor Freude
über die Entdeckung gibt er der Blume seinen eigenen
Namen: Bildugan die Duftblüte. Er steckt sie sich in den
Beutel.
Weiter geht’s. Man erreicht den Gebirgsfuss und die
grosse Ebene von Tork mit seinen gigantischen
Grasfeldern erscheint vor ihnen. Es hat sehr hohes Gras,
etwa 2 Meter hoch. Cynric möchte die Ebene auf dem
direkten Weg überqueren. Lyssandro hält das für eine
sehr schlechte Idee und schlägt vor, der Bergsole
entlang Richtung Strom Ryos zu gehen: „Bis zum
einnachten sollten wir den Strom erreichen, glaube ich.
Es ist der deutlich sicherere Weg. Was meint ihr?“
69
Niemand hat etwas dagegen, und die Gefolgschaft
wandert los. Cynric kann es nicht lassen, in
regelmässigen Abständen einen Abstecher in die
Graswiesen zu machen. Er entdeckt dabei aber nichts
aussergewöhnliches.
Es reicht ihnen nicht ganz bis zum grossen Fluss,
bevor die Dämmerung einbricht. Sie können die blaue
Linie aber schon ganz deutlich ausmachen. Cynric
schätzt die Distanz auf etwa drei Stunden. Arist und
Lyssandro möchten an Ort und Stelle Rast machen, aber
die andern wollen den Fluss noch erreichen und
marschieren los. Wiederwillig folgen ihnen auch
Lyssandro und Arist.
70
3. Spielsitzung , 25. Mai 2002
Erschöpft und mit schmerzenden Füssen gelangen
sie endlich an den Flusslauf. Schnell ist alles für die
Nacht vorbereitet, und bald flackert ein kleines Feuer
und beleuchtet die Gesichter derer, die sich darum
versammelt haben. Arist und Lyssandro sind in eine
Diskussion über ihre misslungene Flucht vertieft.
Arist kann nicht verstehen, dass der doch sonst so
besonnene Lyssandro in einer derart unmöglichen
Situation zu fliehen versucht hat, anstatt einen
günstigeren Augenblick abzuwarten. Lyssandro wendet
ein, dass er einfach im Affekt gehandelt hat, gibt aber
schliesslich zu, dass er die Räuber wohl etwas
unterschätzt hat.
Cynric unterdessen hat eine Karte gezeichnet, in der
sämtliche entdeckten Räubernester eingezeichnet sind.
Leider kann ihr ausser ihm selbst niemand etwas
Sinnvolles entnehmen, doch trotzdem ist man sich einig,
dass die Karte zurück zu König Edwyn geschickt
werden soll.
Aysha unterdessen fühlt sich zufrieden und
glücklich und drückt ihre Freude mit einer
musikalischen Einlage aus, in die Lyssandro summend
einstimmt. Cynric versucht seine Karte noch zu
verbessern, während Bildugan seine Füsse massiert und
einsalbt, wobei sich ein Geruch verbreitet, der Arist
umzuhauen droht. Jetzt meldet sich auch der Hunger.
Aysha, rasch entschlossen wie immer, versucht mit
einem Zauber die Fische im nahen Fluss zu lähmen,
71
damit sie anschliessend auf eine bequeme Art und
Weise einfach aus dem Wasser picken kann. Leider ist
ihr erster Anlauf nicht von Erfolg gekrönt, die Fische
schwimmen munter weiter. Beim zweiten Versuch kann
Lyssandro, der mit hochgekrempelten Hosen jagdbereit
im Wasser steht, einen halbgelähmten Fisch packen.
Unglücklicherweise ist das glitschige Tier aber wirklich
nur halbgelähmt und fällt in seinen Händen auseinander.
Da er deswegen nicht mehr allzu appetiterregend
aussieht, landet er wieder im Fluss.
In ihrem Eifer, der Gruppe ein Abendessen zu
verschaffen, hören Aysha und Lyssandro die seltsamen
Geräusche, die aus dem nahen Walddickicht dringen,
nicht. Die anderen jedoch werden davon aufgeschreckt.
Man hört Klirren, Rufe und unterdrückte Schreieeindeutig Kampfeslärm. Als erstes ist Cynric, motiviert
von der Aussicht auf ein Abenteuer, losgerannt, und die
andern folgen ihm dicht auf den Fersen.
Erst jetzt werden die Fischfänger auf das Geschehen
aufmerksam, und Lyssandro hält vorerst ziemlich
verständnislos nach seinen verschwundenen Gefährten
Ausschau. Aysha, welche die Geräusche eines nahen
Kampfes jetzt auch hört, kriegt es mit der Angst zu tun
und klettert vorsichtshalber auf einen Baum, in dessen
dichter Krone sie sich verbergen kann.
Bildugan, der alles andere als ein Freund von Kampf
und Krieg ist, bleibt unterdessen, scheinbar völlig
ungerührt, am Feuer sitzen. „Zur Beruhigung“, wie er
sagt, beginnt er sogar, etwas Musik zu machen.
Lyssandro beschliesst jedoch, seinen Freunden zu
72
folgen und rennt jetzt auch in die Richtung, aus der die
Geräusche kommen, jedoch etwas gemächlicher als
seine unbesonnenen Freunde Cynric und Arist. Man
kann ja nicht wissen, wer dort in einen Kampf
verwickelt ist und aus welchen Gründen dieser
stattfindet...
Wie zu erwarten war, erreicht Cynric als erster die
Stätte des Kampfes. Im düsteren Halbdunkel des
abendlichen Waldes nimmt er zuerst eine grosse Gestalt
in einem dunklen Gewand wahr. Der Mann ist
offensichtlich ein Krieger, denn er steht breitbeinig da,
aber mit dem Rücken gegen einen Baum. Er scheint in
Bedrängnis, denn er ist von zahlreichen Gegnern
umzingelt. Es sind dies kleine, gnomenartige Gestalten,
die in der Dunkelheit nur aufgrund ihrer
grünleuchtenden Augen wahrzunehmen sind. Sie sind
dem Krieger an Kampfesstärke nicht ebenbürtig, aber
ihre Überzahl ist so gross, dass der Kampf sich in Kürze
zu ihren Gunsten zu wenden droht. Einer, der gegen
viele kämpfen muss... Cynric braucht nicht lange zu
überlegen, auf wessen Seite er sich stellen soll.
Er schwingt seine Axt und schlägt ein paar der
unheimlichen Wesen, die sich gerade in seiner
Reichweite befinden, zu Boden. Aus der Nähe merkt er
jetzt, dass seine Gegner einen seltsam modrigen Geruch
verströmen und von einer widerlichen weissen fädigen
und schleimigen Masse überzogen sind. Sie sehen aus,
als wären sie halb verwest und mehr pflanzlicher als
tierischer oder gar menschenähnlicher Natur. Dies allein
hätte ihn nicht allzu sehr beeindruckt. Was jedoch
73
bemerkenswerter war: Den Wesen schien seine Axt
nichts auszumachen. Zwar sanken sie unter seinen
Hieben mit schrillen Schreien zu Boden, erhoben sich
aber gleich darauf wieder, scheinbar unverletzt. Auch
schien sich ihre Zahl zu vergrössern, und wenn Cynric
sich umgedreht hätte, hätte er auch gesehen, dass mehr
und mehr von diesen scheusslichen Kreaturen aus
pilzüberwucherten
Erdlöchern
krochen.
Mit
wutglühenden Augen wandten sie sich jetzt gegen ihren
neuen Gegner, ohne jedoch von ihren Angriffen auf den
dunklen Krieger nachzulassen.
Dies ist jetzt auch der Moment, an dem Arist in das
Geschehen eingreift. Er tastet nach einigen Steinen auf
dem Waldboden und schleudert sie gegen die GoblinWesen. Augenblicklich richten sie ihren Zorn auch auf
ihn und rennen unbeholfen und langsam, aber dennoch
bedrohlich wirkend, auf ihn zu. Arists List wirkt und die
zwei Kämpen haben zwei Gegner weniger, nur erweisen
sich die Wesen als immun gegen sein Gift. Er muss sich
immer mehr zurückziehen, scharf nach einer Methode
suchend, die ungeliebten Verfolger loszuwerden.
Schliesslich lockt er sie zu Lyssandro, der die Wesen
mit mächtigen Schwerthieben zurück drängt, wenn auch
nur für kurze Zeit. Doch wo diese Pilzgeschöpfe auch
getroffen werden, sei es an Kopf, Bauch oder Rücken,
immer wieder stehen sie auf, um anzugreifen, und nie
ist eine Spur Blut an ihnen zu entdecken. Mit einem
Schaudern erkennt Lyssandro, dass sie Untote als
Gegner vor sich haben, und dass ihr Kampf gegen die
bösen Mächte, die sie geschaffen haben, nicht
74
ausreichen kann. Er überlässt das Zurücktreiben der
Wesen dem unbekannten Kämpfer und greift nach
seinem Buch. Er beginnt einen seltsam fremden,
magisch anmutenden Text zu sprechen. Die andern
vernehmen nur Wortfetzen. Leider scheint seine
Dämonenaustreibung alles andere als erfolgreich zu
sein, denn die Zahl der unheimlichen Wesen, die aus
ihren Löchern im Boden gekrochen kommen,
vergrössert sich mehr und mehr. Da greift auch
Lyssandro wieder zum Schwert, und wieder weichen die
untoten Kreaturen, wenigstens für einen Augenblick
zurück. Schliesslich brüllt Arist gegen den
Kampfeslärm an, dass es wohl besser wäre, den
Rückzug zu blasen, doch in diesem Augenblick schreit
auch die seitlich von ihnen kämpfende Biba auf und
bricht zusammen. Mit der Axt bahnt sich Cynric innert
kürzester Frist einen Weg durch die Dämonenwesen zu
ihr hin und untersucht sie kurz, bevor er zur
Erleichterung aller ruft, dass es sich bei der Verletzung
der Amazone wohl nur um eine Fleischwunde handelt.
Auch der fremde Krieger hat sich einen Weg zu der
Verwundeten gebahnt. Wie ein Kind nimmt er sie in
seine Arme und trägt sie, scheinbar mühelos, aus dem
unmittelbaren Kampfesgeschehen. Nur sein schwerer
Atem verrät den Grad seiner Erschöpfung. Schliesslich
folgen alle Arists Aufforderung und ziehen sich zurück.
Die
Pilzwesen
verfolgen
sie
nicht:
Ihr
Regenerationsvermögen scheint nicht unbegrenzt, denn
jetzt liegen doch einige von ihnen da, ohne sich wieder
zu erheben, und anscheinend sind sie es nicht gewohnt,
auf so viel Widerstand zu stossen. Wie dem auch sei:
75
Die Kämpfenden können sich zurückziehen, und
Lyssandro findet sogar noch Zeit, eines der toten Wesen
genauer zu untersuchen: Eine seltsame Schwingung
scheint von der weissen Schleimmasse auszugehen, die
die Kreatur bedeckt.
Auch er hat jetzt genug von den Pilzwesen und folgt
hastig den andern ans Feuer zurück.
Tatsächlich sitzt dort Bildugan noch immer neben
dem schon fast heruntergebrannten Feuer und spielt auf
seiner Gitarre, so als hätte ihn das Kampfgeschehen
überhaupt nicht berührt. Er hört jedoch auf, als der
Krieger, der eine zusehends sich sträubende Biba trägt,
ans Feuer tritt und sie sorgfältig zu Boden legt.
Schliesslich hat er eine Verletzte zu versorgen. Jetzt, da
er als Heiler eine Aufgabe zu erledigen hat, vergisst er
sogar, dem Fremden mehr als nur einen flüchtigen Blick
zuzuwerfen. Dessen Gesichtszüge werden auch vom
Feuer nur schwach erhellt, doch für Aysha, die im
Begriffe war, von ihrem schützenden Baum
herunterzuklettern, reicht es aus. Mit einem lauten
Plumpsen fällt sie vom Baum, doch für einmal scheint
sie ihrer verletzten Würde ob diesem uneleganten Sturz
keine Beachtung zu schenken. Mit einem Jubelruf fällt
sie dem Krieger um den Hals. Ihr atemloses „Lubomir“
kommt sehr undeutlich heraus, weil sie gleichzeitig
lacht und weint und den Krieger zu küssen versucht.
Dieser ist vor ÜberRashung zunächst ganz starr, dann
schiebt er sie sanft zur Seite. Verständnislos starrt sie
ihn für einen Augenblick an, um dann erneut ihre Arme
um ihn zu schlingen und sein Gesicht mit Küssen zu
76
bedecken. Diesmal wird sie energischer zur Seite
geschoben. „Lubomir?“ fragt er. „Ich kenne keinen
Lubomir, junge Dame. Sie müssen mich mit jemanden
verwechseln.“ Ein schiefes Lächeln umspielt seine
Lippen. Die Verwechslung kann ihm nicht allzu
unangenehm sein. An die verständnislos zusehenden
Arist und Cynric gewandt, stellt er sich als Leon vor.
Arist nickt und Cynric runzelt die Stirn. Soll da mal
einer aus Aysha schlau werden! Zuerst schreit sie, dass
man sie in Lebensgefahr wähnt, dann versucht sie die
vermeintliche Bedrohung abzuküssen!
Der hinzutretende Lyssandro gibt ihm ein neues
Rätsel auf, denn dessen Gesicht zeigt einen erstaunten
Ausdruck. Auch er murmelt etwas, das wie „Lubomir“
klingt und tritt näher, um den fremden Krieger genauer
betrachten zu können. Auch ihm stellt sich der Krieger
jetzt als Leon vor. Noch immer ist er damit beschäftigt,
sich Aysha vom Halse zu halten, deren Gesicht sich
zunehmend verzieht. Schliesslich beginnt sie heftig zu
schluchzen, und was auch immer sie sagen will, geht
zum grössten Teil in ihrem Weinen unter. Nur
„Lubomir“ und „nicht erkannt“, „vergessen“ und
ähnliches ist zu verstehen. Jetzt ist Leon an der Reihe,
verständnislos dreinzublicken, und es ist Lyssandro, der
ihn schliesslich über die frappierende Ähnlichkeit mit
Lubomir, einem ihrer früheren Gefährten, aufklärt. Als
Leon dies hört, lockert er seinen Griff, mit dem er
Aysha von sich hält, etwas, aber sie wendet sich jetzt
schluchzend von ihm ab. Nachdem der allgemeine
Aufruhr sich ein bisschen gelegt hat, setzen sich alle ans
77
Feuer, mit Ausnahme von Bildugan, der sich etwas
abseits von ihnen um die verwundete Biba kümmert.
Alle wollen mehr von dem Krieger, der sosehr Lubomir
ähnelt, erfahren. Lyssandro ist wohl nicht der einzige,
der sich die Frage stellt, ob es sich bei Leon nicht um
einen Sohn des letzteren handelt, aber Leons
Ausführungen in dieser Hinsicht sind alles andere als
hilfreich. Nach seinen Angaben hat er seinen Vater nie
kennengelernt, und auch seine Mutter hatte ihm,
nachdem sie einen seltsamen Unfall überlebt hatte, nie
eine Auskunft geben können. Das einzige, an das sie
sich erinnern konnte, war der Unfall selbst: Ein
Feuerball, der sie weit weggeschleudert hatte, so dass
sie das Bewusstsein verlor. Der Rest ihrer Erinnerungen
war in vollständiges Dunkel gehüllt.
Grinsend meint Lyssandro schliesslich, ob Leon jetzt
ein Sohn Lubomirs sei oder nicht, es gäbe sicher
welche, da Lubomir bei Frauen kein Kostverächter
gewesen sei. Soviel habe er jedenfalls an Lubomir
bereits feststellen können, obwohl er ihn nicht allzu
lange gekannt habe. Aysha gerät in helle Empörung und
schlägt mit ihren kleinen Fäusten auf Lyssandro ein, der
sie jedoch mit einem gekonnten Griff bändigt. Sie
schäumt fast vor Wut und verbittet sich nahezu
hysterisch, dass Lyssandro so schlecht über Lubomir
redet. Auch Leons Interesse hat Lyssandro mit seiner
Bemerkung geweckt, und mit auffallendem Eifer
befragt er Lyssandro über den mysteriösen Lubomir.
Lyssandro erzählt ihm, dass er sein Wissen
hauptsächlich aus dem Tagebuch eines früheren
78
Freundes namens Washi bezog. Leon ist glücklich und
aufgeregt: Hat er endlich eine Spur von seinem Vater,
nach dem er so lange schon sucht, gefunden ? Nun kehrt
nach den aufregenden Ereignissen erst einmal Ruhe um
das Feuer ein, und alle widmen sich endlich dem von
Arist zubereiteten Abendessen: Fleisch mit Pilzen
garniert. Nur Aysha, zutiefst unglücklich und
aufgewühlt, hat sich ins Dunkel zurückgezogen, wo sie
allein sein kann. Als Lyssandro die Pilze bemerkt,
versteift er sich und weigert sich, vom Fleisch zu essen.
Arist bemerkt dies und versichert mit gereiztem
Unterton, dass die Pilze eine hervorragende Marinade
ausmachen und ausserdem völlig wirkungslos seien.
Lyssandro gibt scharf zurück, dass Arist sein Vertrauen
in dieser Hinsicht schon einmal missbraucht habe.
Schliesslich bequemt er sich doch dazu, etwas von
Arists Mahl zu essen, und er muss wie die andern
zugeben, dass es hervorragend schmeckt. Dies scheint
Arist, der sich verärgert abgewendet hat, aber nicht zu
besänftigen. Schliesslich versucht Cynric, die noch
immer trostlos weinende Aysha etwas zu trösten, doch
seine etwas unbeholfenen Versuche sind nicht wirklich
von Erfolg gekrönt. Natürlich ist er in Herzensdingen
auch nicht gerade als sehr sensibel zu bezeichnen! Nur
seine Idee, dass Leon vielleicht ein Spiegelbild von
Lubomir, aus dem Spiegel entstiegen, sei, scheint ihr
Weinen etwas leiser werden zu lassen. Die Unlogik
dieser Bemerkung (Lubomir müsste dies ja schliesslich
bemerkt haben) scheint ihr nicht aufzufallen.
79
Nachdem die Pilze, wie von Arist beteuert, keine
Wirkung gezeigt haben, legen sich alle nach und nach
schlafen. Nur Leon erzählt Lyssandro noch etwas weiter
aus seinem Leben, bis er schliesslich vor Erschöpfung
einschläft. Auch Lyssandro ist jetzt sehr müde, doch
bevor er mit ruhigem Gewissen schlafen kann,
entschuldigt er sich bei dem noch immer gekränkten
Arist für seine falschen Verdächtigungen. Arist scheint
die Entschuldigung willig zu akzeptieren. Lyssandros
letzter Blick gilt Aysha: Sie und Cynric haben sich bei
einem nahe gelegenen Baum aus Tüchern eine Art
Hängematte gebaut und kokonartig um sich gewickelt.
Auch sie scheinen bereits zu schlafen, und so begibt
sich auch Lyssandro schliesslich zur Ruhe.
Als die Morgendämmerung hereinbricht, rascheln
die Blätter des Baumes, in dem Aysha und Cynric'
Kokon aufgehängt ist, verdächtig, und zwischen den
Ästen bewegt sich etwas. Die beiden „Kokonbewohner“
scheinen sich einen schönen Morgen zu machen...
Als Aysha schliesslich vom Baum heruntersteigt,
erzählt ihr Lyssandro von seinem nächtlichen Gespräch
mit Leon und auch einiges von Lubomir, so wie er ihn
erlebt hat. Aysha gerät sofort wieder in hellen Zorn,
verteidigt ihren Lubomir mit glühenden Worten und
rennt schliesslich, sich von Lyssandro losreissend,
wutentbrannt
davon.
Offensichtlich
ist
sie
Vernunftgründen nicht zugänglich, wenn es um
Lubomir geht und will die Wahrheit nicht sehen.
Lyssandro ist sich sicher, dass seine Empfindungen der
Wahrheit entsprechen, denn diese decken sich mit dem,
80
was er über Lubomir in Washis Tagebuch nachgelesen
hat. Dieser war augenscheinlich wirklich nie ein Kind
von Traurigkeit, und sollten die Aufzeichnungen
Washis der Wahrheit entsprechen, so dürften wohl
einige Menschen mit den Zügen Lubomirs in der Welt
zu entdecken sein. Zögernd folgt Lyssandro schliesslich
Aysha, er möchte nicht mit ihr in Streit leben. Was er
ihr erzählt, hören die andern nicht, da er sie erst einholt,
als sie sich schon abseits vom Lagerplatz befinden, aber
er scheint überzeugend zu sein, denn schliesslich
kommen die beiden händchenhaltend zurück, und
Ayshas Wangen sind nicht mehr zorngerötet. Wohl sieht
man ihr aber an, dass sie geweint hat, und ihr Lächeln
ist noch zögernd. Einig sind sich die beiden jedenfalls in
einem Punkt: Leon ist weder ein Untoter noch ein dem
Spiegel entwichenes Ebenbild von Lubomir. Damit
lassen sie die Sache bewenden. Ob Lyssandro Aysha
wirklich von Lubomirs wahrem Wesen überzeugt hat
oder ob sie die Erinnerung an ihn noch immer verklärt,
wird wohl ihr Geheimnis bleiben.
Leon unterdessen diskutiert angeregt mit Bildugan,
er versucht ihn gerade zum Glauben zu bekehren, ein
Thema, das Lyssandro normalerweise auch sehr
interessieren würde, aber jetzt lenkt ihn Ayshas Nähe zu
sehr ab. Oder sind es ihre flinken Hände, die über seinen
Rücken streicheln? Schliesslich gibt Lyssandro seine
Zurückhaltung auf und legt ebenfalls einen Arm um sie.
Und stösst auf einen zweiten Männerarm! Entsetzt
bemerkt er, dass Cynric ebenfalls Aysha umarmt! Sofort
lässt er seinen Arm fallen und weicht zurück. Cynric
81
bemerkt sein Zurückweichen und erinnert sich plötzlich
daran, dass er und Aysha ihr (vermeintliches)
Kokongeheimnis ja vor den andern hatten verbergen
wollen. Schuldbewusst zieht er ebenfalls seinen Arm
zurück und wendet sich etwas von Aysha ab, um sein
Erröten zu verbergen. Natürlich hat auch Aysha dieses
kleine Intermezzo bemerkt, aber in solchen Dingen ist
sie sicher gewandter als Cynric. Sie wirft diesem einen
gespielt empörten Blick zu, kuschelt sich näher an
Lyssandro heran und flüstert ihm ins Ohr, dass sie
Cynric Arm für den seinen gehalten hat. Gegenüber
Ayshas geballtem Charme und ihrer weiblichen
Überzeugungskunst ist Lyssandro natürlich machtlos:
Er glaubt ihr. Voller Freude über die glimpflich
abgelaufene Situation fasst sie nach seiner Hand und
beginnt aufgekratzt von der Stadt zu erzählen, die sie
bald erreichen werden, von den Kleidern, die sie da
anziehen oder kaufen könnte, und tausenderlei ähnlicher
Dinge. Nach und nach steigert sie sich in ihre
glücklichen Vorstellung hinein und beginnt schliesslich,
Lyssandro zu küssen. Diesem wird ob so viel
Aufmerksamkeit heiss und kalt, und etwas unbeholfen
umarmt er sie fester.
Ganz so schnell wird es ihnen jedoch nicht gelingen,
die nächste Stadt zu erreichen, denn die verwundete
Biba hat viel Blut verloren und ist sehr schwach, auch
wenn sie das nicht eingestehen will. Ihrem blassen
Gesicht nach zu urteilen, leidet sie starke Schmerzen,
aber die Amazone hätte sich wohl lieber die Zunge
abgebissen als dies zuzugeben. Die Gruppe beschliesst,
82
eine Tragbahre zu schaffen, um Biba möglichst schnell
und schmerzfrei in die nahe Stadt zu bringen. Eine
heftige Diskussion über die Anordnung der Träger
entsteht. Schliesslich sollen diese auch in der Grösse
zusammenpassen, damit Biba nicht gleich zu Beginn
von der Bahre rutscht. Bildugan schlägt vor, schon beim
Gehen zur Stadt Kräuter zu sammeln, um sie für Bibas
Behandlung gleich zur Hand zu haben, wenn sie die
Stadt erreichen. Leider hat sein Nachsatz zum Thema
Behandlung Arist schon nicht mehr erreicht, und dieser
rennt begeistert hin und her und greift nach jeglichem
Kraut, dass er gerade sieht. Ob auch giftige darunter
sind, scheint ihm egal zu sein. So beginnen Cynric,
Lyssandro und Leon damit, die behelfsmässige Bahre
mit Biba zu tragen. Zu seinem Erstaunen bemerkt Leon
plötzlich, dass Cynric, obwohl er tapfer an der Bahre
schleppt, beide Hände zum Reden und gestikulieren frei
hat. Ein seltsamer Auswuchs seiner Rüstung in der
Höhe der Trage ermöglicht es ihm, ohne Hilfe seiner
Arme seine Arbeit zu erledigen. Wieder lächelt Leon
ein schiefes Lächeln. Dies wird nicht die letzte
ÜberRashung sein, die ihm seine seltsamen Gefährten
bereiten werden! Mit der Bahre kommen sie nur
langsam an, und die Amazone, obwohl sehr schlank, ist
kein Fliegengewicht, und so ist schliesslich allen eine
kurze Ruhepause willkommen. Die Stadt läuft ihnen
schliesslich nicht davon!
Nur Arist, der eben giftiges Gras entdeckt hat, rennt
hin und her und ist so mit Pflücken beschäftigt, dass er
gar nicht mehr weiss, wo er all seine Kräuter hinstecken
83
soll. Die anderen beobachten ihn amüsiert.
Augenblicklich verliert er jedoch jegliche (männliche)
Aufmerksamkeit, als Aysha sich stadtfein zu machen
beginnt und sich dafür umzieht. Erst viel zu spät scheint
sie mit gespielter Empörung die auf sie gerichteten
gaffenden Blicke zu bemerken, sie dreht sich weg, um
mit dem Umziehen fortzufahren, während ein
befriedigtes Lächeln ihre Lippen umspielt. Es ist immer
gut zu wissen, dass es einem im Handumdrehen
gelingen kann, die Aufmerksamkeit der Männerwelt zu
erregen!
Einmal
im
zufriedenstellend
tief
ausgeschnittenen Kleid, pirscht sich Aysha an
Lyssandro heran und flirtet offensichtlich mit ihm, was
dem zusehenden Cynric ebenso offensichtlich missfällt.
Aysha scheint sich nicht darum zu kümmern und zieht
Lyssandro neben sich ins hohe Gras, wo sie von den
Blicken der andern geschützt sind. Ihre Hände sind
plötzlich überall... Doch da hören sie und Lyssandro die
Stimmen der andern, die zum Aufbruch mahnen: Biba
geht es schlecht. Mit einem zärtlichen Lächeln blickt
Aysha auf Lyssandro nieder und vertröstet ihn mit
einem Augenzwinkern auf später, bevor sie eilig
aufsteht und zu den andern hinübergeht, von Cynric
misstrauisch beäugt. Lyssandro folgt ihr etwas
langsamer. Die Träger nehmen die Bahre wieder auf,
und langsam nähern sie sich der Stadt, die sich jetzt,
beim Näherkommen, als ziemlich kleine Stadt oder
vielmehr ein Dorf entpuppt. Doch das Dorf ist nicht das
einzige, das sich nähert: Eine riesige graue Staubwolke
türmt sich vor ihnen auf, begleitet von einem seltsamen
Geräusch, das wie ein fernes Donnern klingt. Cynric,
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eine Spur beunruhigt, greift nach seinem Fernglas und
richtet sie auf die Wolke, die gross und düster den
Horizont verdunkelt. Er tritt einen Schritt zurück, bevor
er seinen Bericht gibt: Er sieht hunderte von dicht
gedrängten dunklen Leibern von riesigen Tieren, die
geradewegs auf sie zurasen. Cynric, Lyssandro und
Leon packen die Bahre erneut und beginnen wie die
andern, die sich bereits in Bewegung gesetzt haben, auf
das Dorf zuzurennen. Keinen Augenblick zu früh: Die
Staubwolke kommt immer näher, und bereits beginnt
der Boden wie bei einem Erdbeben sachte zu zittern.
Ein Zittern, das sehr schnell an Stärke zunimmt, denn
mit der Bahre sind sie natürlich viel langsamer als die
Tiere, die mit rasender Geschwindigkeit auf sie
zustürzen. Völlig ausser Atem und im letzten
Augenblick, da ihnen die Tiere, die irgendetwas völlig
in Panik versetzt zu haben scheint, schon sehr dicht auf
den Fersen sind, erreichen sie ein paar Felsen, die den
Eingang des Dorfes zu flankieren scheinen. Im Schatten
dieser Felsen sind sie einigermassen in Sicherheit, und
diese kurzfristige Sicherheit gibt ihnen die Gelegenheit,
genauer zu beobachten, was da eigentlich vor sich geht.
Gebannt beobachten alle, selbst die schmerzgepeinigte
Biba, das atemberaubende Schauspiel, das sich ihnen
bietet. Die vor Angst halb irrsinnigen Tiere sind jetzt so
nah, dass man den Staub in der Luft riechen kann, den
sie aufwirbeln, und der Boden wackelt jetzt bedrohlich.
Auf diese Entfernung kann man deutlich die
riesenhaften Tierkörper in der gedrängten schwarzen
Einheit, die sie bilden, ausmachen. Jetzt erreicht die
Stampede der Tiere den Fluss, dem die Gefährten den
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ganzen Tag gefolgt sind. Er ist für sie kein Hindernis.
Ohne zu zögern werfen sich die ersten Tiere hinein, und
unerbittlich drängen sich ihnen die nächsten nach. Viele
der Riesen, die augenscheinlich nicht sehr geschickte
Schwimmer sind, werden von den Fluten fortgerissen,
andere straucheln und fallen und werden von den
nachdrängenden Tieren zertrampelt. Es ist ein
grausames Naturschauspiel! Endlich erreichen die
ersten Tiere das andere Ufer, um sich sofort wieder in
wildem Galopp in Bewegung zu setzen, aber die grösste
Panik scheint doch verflogen zu sein, denn in einiger
Entfernung vom Fluss verfallen die vordersten Tiere
zuerst in Trab, um dann ganz anzuhalten, und als wären
sie nicht Sekunden zuvor in wilder Flucht
davongeprescht, fangen einige von ihnen -scheinbar
seelenruhig- zu grasen an. Jetzt endlich sieht man auch
die Ursache für die Stampede der grossen Tiere: Hinter
den letzten der Ungetüme haben sich Jäger gesammelt:
Grosse, braungebrannte und dunkel gekleidete
Menschen auf kleinen, doch flinken und robusten
Steppenpferden, bewaffnet mit Pfeilen und Langbögen
und einigen Speeren. Sie umzingeln einige der
hintersten erschöpften Tiere und erledigen sie mit
zielsicheren Schüssen in die Flanke, von denen es doch
mehrere braucht, bis eines der Tiere zu Boden sinkt.
Selbst zu Pferd sind die Jäger noch einiges kleiner als
ihre Beute, und es spricht für ihren Mut und für ihr
Jagdgeschick, dass sie diese Kolosse überhaupt
anzugreifen wagen. Die Jäger erlegen vielleicht 12 bis
15 der grossen Tiere und lassen die anderen unbehindert
über den Fluss flüchten. Einige von ihnen sitzen nun ab,
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um die gebrauchten Pfeile und Speere wieder
einzusammeln und um die Jagdbeute in Augenschein zu
nehmen, die andern treiben ihre Pferde in den Fluss und
reiten herüber. Eine Schar Dorfbewohner, die das
Geschehen ebenfalls beobachtet haben muss, hat das
Dorf jetzt verlassen und eilt den Jägern entgegen. Sie
sind mit Körben und Wasserschläuchen beladen und
begrüssen die nomadenartig gekleideten Jäger. Von
diesen freundlichen Menschen scheint jedenfalls keine
Gefahr zu drohen, findet Leon und springt von dem
Felsen, von dem er die Begrüssungszeremonie
beobachtet hat. Leider ist er etwas zu übermütig und
versucht einen Salto zu machen, und das Resultat ist
verheerend: Er prallt unsanft auf dem Boden auf und
gleichzeitig durchfährt ein glühender Schmerz seinen
Knöchel. Humpelnd kommt er auf die Beine und gesellt
sich zu den andern, die ebenfalls herangekommen sind.
Ein älterer Herr mit sonnengebräuntem Gesicht und
langem
weissen
Haar,
augenscheinlich
der
Dorfvorsteher, kommt freundlich lächelnd heran, um sie
zu begrüssen. Er heisst sie herzlich willkommen und
erklärt ihnen, dass heute Abend ein Fest zu Ehren des
ihnen befreundeten Nomadenvolkes stattfinden soll, das
ihnen so reiche Jagdbeute beschert hat. Auch sie seien,
so erklärt der Alte, herzlich willkommen. Alles in der
Umgebung des Dorfes scheint seine Worte zu
bestätigen: In der Mitte der Häuser brennt bereits ein
grosses Feuer, um das hölzerne Tische und Bänke
aufgestellt sind, und Frauen und Kinder sind eifrig
damit beschäftigt, ein Festessen vorzubreiten. Bereits
liegt ein appetitlicher Geruch nach Gebratenem und
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Gebackenem in der Luft. Den Gesichtern der
Dorfbewohner ist die Vorfreude auf das Fest abzulesen.
Sie scheinen an den Fremden freundlich interessiert zu
sein, und ein paar der Dorfmädchen mustern sie
verstohlen und kichern dabei. Sie sind vielleicht nicht
ausnehmend hübsch (keinerlei Konkurrenz für Aysha,
wie diese zufrieden feststellt), aber ihre Natürlichkeit
und Frische hat einen eigentümlich ländlichen Charme,
der wohl jeden zum Bleiben bewegt hätte, sofern dazu
nicht schon der Essensgeruch ausreicht. Aysha, die eine
neue Gelegenheit wittert, sich von ihrer besten Seite zu
zeigen und die Männer gleich scharenweise um sich zu
sammeln, (Und von denen gab es wahrlich genug!)
bittet darauf den Dorfvorsteher um einen Ort, wo sie
sich frisch machen und für das Fest vorbereiten könne.
Leider gibt es im Dorf keinen Gasthof, aber der
Vorsteher stellt ihnen sofort ein Haus zur Verfügung,
das für die Dauer ihres Aufenthalt das ihrige sein soll.
Cynric jedoch hält es für unnötig, sich frischzumachen
und bevorzugt es, sich zu den Nomaden zu setzen und
sich mit ihnen über ihre Jagdmethoden zu unterhalten.
Offensichtlich von seinem Interesse erfreut, erzählen
sie ihm schwärmerisch von ihrer einmalig schönen
Heimat, der Steppe, von den Yariks (So lautet der Name
ihrer riesigen Jagdbeute) und von der Gastfreundschaft
des Dorfes. Sogleich erhält Cynric die leutselige aber
durchaus ernstgemeinte Einladung, die Nomaden in
ihrer Steppenheimat doch einmal zu besuchen. Bildugan
unterdessen schleppt seine Schutzbefohlenen Biba und
Leon, der sich eine schmerzhafte Verstauchung des
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Knöchels zugezogen hat, hinter sich her zu dem ihnen
zugewiesenen Haus, wo er sich ihrer Verletzungen
annehmen kann. Unterdessen ziehen sich Arist,
Lyssandro und Aysha um, um sich für das Fest
vorzubereiten, aber nur Arists Gedanken sind wirklich
den Feierlichkeiten zugewandt. Aysha und Lyssandro
werfen sich heimlich tiefe Blicke zu und trödeln
absichtlich herum, was ihnen die Gelegenheit
verschafft, alleine zu sein und mit dem fortzufahren, bei
dem sie unterbrochen worden waren. Arist wird erst auf
die spannungsgeladene Atmosphäre aufmerksam, als
Lyssandro, statt ihm aus dem Zimmer zu folgen, Aysha
zurückhält und die Tür hinter ihm schliesst. Endlich
sind sie allein! Schon beginnt Aysha, Lyssandro mit
Zärtlichkeiten zu überhäufen, und ihre flinken Finger
nesteln an seinen Kleidern herum. Noch zögert
Lyssandro, weil sein Gewissen sich meldet, doch
Ayshas feurige Küsse lassen ihn bald alle Bedenken
vergessen. Ihren erneuten Beteuerungen, dass mit
Cynric absolut rein gar nichts war, schenkt er nur zu
gerne Glauben. Bald liegen ihre Kleider unordentlich
verstreut in der kleinen Kammer herum, und die beiden,
blind und taub für die Aussenwelt, versinken ganz ihm
Rausch der Leidenschaft. Arist, der draussen vor
verschlossener Türe steht und sehr wohl ahnt, was sich
drinnen abspielt, schickt Lyssandro eine warnende
Illusion. Seiner Meinung nach sind die moralischen
Standpunkte von Lyssandro und Aysha zu verschieden,
als dass sich zwischen diesen beiden eine dauerhafte
Beziehung hätte entwickeln können. Als seine Illusion
bei Lyssandro verständlicherweise nichts fruchtet, greift
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er zu einem Trick: Er erzählt dem ahnungslosen
Bildugan, dass Lyssandro nach ihm gefragt habe. Doch
auch auf Bildugans Klopfen reagiert niemand, und so
muss dieser unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Endlich kommt der lang ersehnte Abend herbei, und
das Feuer, das schon vorher eine beachtliche Grösse
erreicht hat, lodert, mit immer neuem Holz gefüttert,
immer weiter auf. Der Duft von knusprig gebratenem
Fleisch durchzieht das Dorf, in dem bereits jetzt eine
wirklich ausgelassene Stimmung herrscht. Dass Arist
ein finsteres Gesicht macht, fällt im allgemeinen
Getümmel nicht allzu gross auf, und die andern sehen
zum ersten Mal seit langer Zeit so richtig entspannt und
glücklich aus, etwas, dass Arists Laune nicht gerade
verbessert. Mürrisch bricht er schliesslich auf, um Biba
zu besuchen. Die Amazone hat mittlerweile das
Bewusstsein wiedererlangt, ist aber noch immer nicht
ganz bei Sinnen vor Fieber und Schwäche. Auch die
andern erkundigen sich nach Bibas Befinden, aber viel
kann Bildugan und auch sie selber nicht dazu sagen. Es
ist noch zu früh, und der lange Transport hat die an und
für sich harmlose Verwundung deutlich verschlimmert.
Alles, was Biba jetzt braucht, ist gute Pflege und viel
Zeit, sich zu erholen, Dinge, wofür das Dorf sicher ein
geeigneter Platz ist. Als er Lyssandro sieht, erkundigt
sich Bildugan auch sogleich, weshalb er nach ihm
geschickt hat. Lyssandro weiss natürlich von nichts und
glaubt daher ein Missverständnis.
Der Trubel beim Fest nimmt mehr und mehr zu, und
der Alkohol beginnt in Strömen zu fliessen.
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Wohlgenährte Frauen mit dicken Zöpfen, die ihnen bis
über die Hüften fallen, kommen herbei und schneiden
Fleisch aus den - endlich! - durchgebratenen Tieren
heraus. Bei ihrem Anblick erkundigt sich Cynric
wohlgefällig nach heiratsfähigen Töchtern, womit er bei
seinen Gastgebern anerkennendes Gelächter hervorruft.
Zu den Unmengen von Fleisch werden dauernd neue
Krüge mit Wein, Met und ähnlich alkoholhaltige aber
undefinierbare Getränke herumgereicht. Dazu gibt es
Berge von frisch gebackenen, noch duftendem Brot,
Mais, Getreidebrei und frisches Obst. Obwohl es
Unmengen zu sein scheinen, wird doch der Berg der
Leckereien fleissig verkleinert, und auch die Reisenden
sind eifrig an seiner Vertilgung beteiligt. Ganz
besonders Lyssandro hat eine Stärkung nötig und freut
sich auf eine kräftige Mahlzeit. Während des
Schlemmens erzählen die Nomaden mehr von sich und
ihren Jagdmethoden: So haben sie spezielle Flöten, die
den Ruf riesiger Vögel, der einzigen Frassfeinde der
Yariks, imitieren. So gelingt es ihnen, die riesenhaften
Wesen in Panik zu versetzen und in jede gewünschte
Richtung zu treiben, so wie sie es eben an diesem
Mittag demonstriert haben. Weiter erzählen sie stolz,
wie sie ihren Lebensunterhalt durch die Jagd auf die
Yariks verdienen und das Fleisch ihrer Beute an die
„verweichlichten“ Städter im Norden verkaufen.
Bildugan
schenkt
ihnen
nicht
allzugrosse
Aufmerksamkeit: Er hat Besuch von einem reizenden
„Landmädchen“ bekommen, das anfangs sehr
zurückhaltend ist, dann aber immer zutraulicher wird.
Ohne es zugeben zu wollen, geniesst er ihre
91
Aufmerksamkeiten,
bricht
schliesslich
aber
pflichtbewusst auf, um nach Biba zu sehen und ihr eine
Kleinigkeit zur Stärkung zu bringen, nicht aber ohne
sich vorher mit seiner Begleiterin auf später zu
verabreden.
Als er sich entfernt, hört er, wie ein paar stämmige
Dorfburschen zusammen mit den Edlen des Dorfes in
volkstümliche Weisen einstimmen. Ihr Gesang klingt
zwar nicht ausgesprochen melodisch, ist aber von einer
ansteckenden Fröhlichkeit. Ein paar der mutigeren
jungen Burschen schnappen sich ein Mädchen und
hüpfen ungelenk tanzend herum. Die meisten sind
jedoch zu übersättigt, um sich zu bewegen, und den
Reisenden geht es nicht anders.
Jetzt nähert sich ein selbst für die Verhältnisse der
Nomaden riesiger Mann dem sitzenden Lyssandro,
begrüsst ihn lautstark als ansehnlichen und stattlichen
Burschen und zerquetscht ihm bei der Begrüssung fast
die Hand. Lyssandro verzieht schmerzverzerrt das
Gesicht.
Angeheitert schlägt der Nomade dem „kräftigen
jungen Mann“ einen Ringkampf vor, wie er hier üblich
sei. Seine Alkoholfahne ist meterweit zu riechen.
Ayshas Augen leuchten in Vorfreude auf Unterhaltung
auf. Korun, so heisst der Herausforderer, blockt
Lyssandros gemurmelte Verneinungen lautstark ab. Ein
Hinweis auf Aysha, die bestimmt enttäuscht über eine
Weigerung wäre, verfehlt ihre Wirkung auf Lyssandro
nicht ganz. Dem enthusiastischen Anfeuerungschor
„Lyssandro! Lyssandro! Lyssandro!“ hat er nicht viel
92
entgegenzusetzen. Aysha erbarmt sich schliesslich
seiner und bittet Korun, sein Vorhaben aufzugeben.
Inzwischen haben sich aber auch andere Nomaden in
Vorfreude auf einen Kampf neben Lyssandro aufgestellt
und die Gefährten haben sich interessiert näher an den
Ort des Geschehens begeben. Nur Leon hat sich, von
den andern unbemerkt, etwas zurückgezogen. Laut
dröhnt Korun, dass er seine siebte Tochter mit
Lyssandro verheiraten will, ob er den Kampf nun
gewinne oder verliere. Auch Aysha wird von einem
jungen Nomaden bearbeitet: Ob sie denn nicht gerne
kämpfende Männer sehe? Aysha weist ihn schnippisch
zurecht und beurteilt diese „Männerraufereien“, wie sie
es nennt, als primitiv. Den Nomaden scheint ihr Tonfall
nicht zu stören. Hingerissen starrt er sie an. So
abgelenkt Lyssandro auch von Korun ist, diese
Entwicklung bleibt ihm nicht verborgen, und mehrmals
dreht er misstrauisch den Kopf in ihre Richtung.
Heimlich verflucht er Korun mit seiner blöden
Kampfeslust und schlägt schliesslich diesem, um ihn
ruhigzustellen, einen Schwertkampf vor, ein Vorschlag,
der nicht allzu gnädig aufgenommen wird. Korun
fordert auch Cynric heraus, dem es darüber glatt den
Appetit verschlägt, allerdings nur in Vorfreude auf eine
mögliche Rauferei. Schliesslich aber siegt sein gesunder
Appetit: Wann hatten sie denn das letzte Mal
Gelegenheit, sich gründlich sattzuessen? Aysha, um
Lyssandros Willen, schlägt inzwischen einen Tanz mit
dem Nomaden vor, um die langsam gespannte
Stimmung ein wenig aufzulockern, doch zu spät:
Lyssandro erklärt sich jetzt zum Kampf bereit.
93
Bildugan, der dem Geplänkel interessiert zugesehen
hat, erhält plötzlich Gesellschaft, und ein zierlicher Arm
legt sich um seine Hüften. Sein Landmädchen ist zurück
und wirft ihm unter ihren dunklen Wimpern
schmachtende Blicke zu. Bildugan ist auf ihren
Vorschlag hin sofort zum Tanzen bereit. Sie ist eine
begeisterte, wenn auch nicht so begnadete Tänzerin und
bringt ihn mit ihren wilden Tanzsprüngen tüchtig ausser
Atem. Auch Leon ist inzwischen wieder aus dem
Dunklen, in dem er sich versteckt gehalten hat,
aufgetaucht und gesellt sich zu dem Kreis, der sich um
Lyssandro und Korun gebildet hat. Nur Arist ist
irgendwann einmal, ohne von den andern bemerkt zu
werden, verschwunden und schläft längst den Schlaf des
Gerechten.
Lyssandro stellt sich nun dem Nomadenkämpfer.
Breitbeinig steht dieser da, wirkt nicht mehr halb so
betrunken wie vorhin, bewegt den Oberkörper hin und
her wie ein angreifender Bär und demonstriert
Lyssandro auf diese Weise, wie er kämpfen soll. Er
packt Lyssandro bei den Hüften und schüttelt ihn
probehalber, dann beginnt der Kampf. In einer schnellen
Bewegung schleudert der Nomade daraufhin seinen
Gegner zu Boden, was diesem für einen Augenblick den
Atem verschlägt und heftig nach Luft schnappen lässt.
Lachend schlägt ihm der Nomade daraufhin weitere
„Übungen“ vor und demonstriert gleich, wie Lyssandro
vorgehen soll. Allmählich erwärmt sich Lyssandro für
diese
ungewöhnliche
Art
des
Kämpfens.
Währenddessen werden die Aufmerksamkeiten des
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Nomaden, der sich mit Aysha beschäftigt, immer
zudringlicher. Sie beginnen zu tanzen, wobei Aysha
etwas gequält aussieht, der Nomade hingegen wie ein
Maikäfer strahlt. Sie wirkt wie eine Puppe in seinen
Armen und beklagt sich schliesslich, dass ihr
schwindelig sei. Schliesslich bringt er sie, eng an sich
gedrückt, an ihren Platz zurück. Eine Verteidigung ist
nicht gut möglich. Ihre Proteste gehen in seinem
dröhnenden Gelächter unter. Cynric erkundigt sich nach
der Möglichkeit einer Wette und setzt seinen Dolch
gegen einen trächtigen Yarik., wobei er auf Lyssandro
wettet, dem er sein wärmstes Vertrauen ausdrückt.
Einzig Leon ist weiterhin sehr zurückhaltend und
bittet Lyssandro in einer kurzen Kampfpause wiederum
um Washis Buch, und Lyssandro, bereits ausser Atem
vor Anstrengung, stellt es ihm sofort zur Verfügung.
Dann kämpfen Lyssandro und der Nomade weiter,
und es werden wacker Wetten auf den Ausgang des
Geschehens abgeschlossen. Lyssandro beschliesst bei
sich, nicht nach Nomadenart, sondern nach der Art
Washis zu kämpfen und folgt den Bewegungen seines
Gegners, so gut er es vermag. Unter begeistertem
Brüllen und anfeuernden Rufen sehen alle zu, wobei
natürlich der Nomade die meisten Anhänger
aufzuweisen hat. Lys’ Gegner ist ein harter Brocken,
nicht zuletzt, weil er in der Kunst des Ringens sehr
erfahren scheint. Zudem ist Lyssandro von den
aufregenden letzten Tagen noch immer etwas erschöpft.
Für ihn spricht nur, dass er einiges von Washis
Kampfkünsten versteht und es dem Nomaden so
95
schwierig wie möglich macht, seine Ringertricks
anzuwenden. Als es endlich losgeht, weicht der Lärm
einer gespannten Stille Platz. Alle warten auf den
Beginn des Kampfes. Ihre Hoffnungen werden nicht
enttäuscht. Die beiden Kontrahenten packen sich an den
Hüften. Zu aller ÜberRashung entscheidet Lyssandro
den ersten Gang rasch für sich, indem er den Nomaden
in einer schnellen, von Auge kaum folgbaren Bewegung
zu Boden wirft. Dieser richtet sich rasch wieder auf und
brüllt begeistert, was für ein guter Schüler Lyssandro
sei. Cynric beginnt hoffnungsfroh die Yariks zu
mustern. Auch die zweite Kampfrunde kann Lyssandro
für sich entscheiden. Jetzt zeigt sich Enttäuschung auf
den Gesichtern der Zuschauer, solange sie nicht zu den
Gefährten gehören. Noch scheint der Nomade völlig
unbekümmert und will seine „alten Knochen“, wie er
sich ausdrückt, nochmals riskieren. Diesmal gelingt es
ihm, Lyssandro zu überraschen, und dröhnend wird
dieser zu Boden geschmettert. Doch er hat die Mehrheit
der Gänge für sich entschieden, und Cynric kann sich
sein Yarik aussuchen. Auf den Gesichtern der Nomaden
zeigt sich zwar Enttäuschung, aber kein Groll, und sie
anerkennen Lyssandros hervorragende Leistung. Einige
von ihnen umringen ihn sogar, klopfen ihm auf die
Schultern und gratulieren ihm, während Korun sich
einiges an gutgemeinten Spötteleien über seine
Niederlage anhören muss. Zu aller Erstaunen will
Cynric sein neu gewonnenes Gut nicht sofort schlachten
und verzehren. (Bei dem Appetit würde er es in zwei bis
drei Tagen aufgegessen haben, so lautete der einhellige
Tenor der Nomaden) Stattdessen versucht er diese zu
96
der Abgabe einer ihrer Jagdtrompeten zu bewegen.
Diese sind jedoch aufwendig herzustellen, und erst nach
einigem Hin und Her erklärt sich ein Nomade bereit,
ihm eine kleine, die ja für das Treiben eines Yariks
reicht, herzustellen. Zudem erhält Cynric das
schmeichelhafte Angebot von einer Heirat und 300
Yariks, weil er für die Nomaden einen Gewinn
darstellen würde. Lyssandro wird unterdessen ebenfalls
mit der Versicherung entlassen, dass ein Mann wie er
jederzeit bei den Nomaden willkommen wäre. Nun
schleift Korun Lyssandro zu einem Versöhnungstrunk
fort. Leon hat unterdessen den Fehler begangen, ein
altes Frauchen nach den Kräutern und Gewürzen auf
dem meisterhaft zubereiteten Fleisch zu fragen. Er ist
auf eine Goldader in Sachen Kräuterkunde gestossen,
aber eine Goldader, die ihr gesamtes Wissen auf einmal
preisgeben muss. Die Alte redet und redet und redet und
lässt Leon kaum mehr aus ihren Klauen. Als es ihm
endlich gelingt, sich loszueisen, schwirrt ihm der Kopf.
Bildugans Bauernmädchen schwärmt unterdessen
weiterhin für den „erfahrenen“ Heiler und die
weltgewandte Aysha, die sie glühend bewundert. Sie
schlägt einen Spaziergang am Fluss vor, doch Bildugan,
wohl ziemlich angeheitert, zieht es vor, im Männerchor
zu singen.
Plötzlich bemerkt er jedoch Aysha und ihren
aufdringlichen Verehrer und versucht sie von ihm
wegzulotsen, ein Unternehmen, dass von diesem gar
nicht begeistert aufgenommen wird.
97
So hält Bildugan den Spaziergang mit dem
Dorfmädchen plötzlich wieder für eine gute Idee. Sie
klagt, dass sie mit einem Schweinezüchter verheiratet
werden soll und fleht ihn an, sie in die Stadt
mitzunehmen, da sie eine gute Hausfrau sei. Ihr
flehender Blick würde einen Eisblock schmelzen lassen,
hat jedoch bei Bildugan nicht die erhoffte Wirkung.
Ayshas Nomade unterdessen lässt ihre Schultern
keine Sekunde los und schlägt ihr, wie zuvor das
Bauernmädchen, einen Spaziergang am Fluss vor. Er
wartet ihre Antwort gar nicht ab und zerrt die keifende
Aysha hinter sich her, wobei er etwas über „immer
zickig“ und „typisch Frau“ murmelt. Ayshas
Widerstand stört ihn nicht weiter, obwohl sie ihre Zähne
und Fingernägel mit Nachdruck einsetzt. Als dies nicht
fruchtet, greift Aysha zu einer weiteren Waffe und singt.
Sie will die Berührungen des Nomaden zu einer
schmerzhaften Erfahrung für ihn machen. Vor Wut tönt
ihr normalerweise lieblicher Gesang eher wie der einer
Walküre. Dann passiert etwas, was Aysha selbst nicht
erwartet hätte: Ihr Gesang wird plötzlich lauter und
lauter und beginnt ein seltsames Eigenleben. Jetzt würde
sie gerne aufhören zu singen, aber dies gelingt ihr nicht,
und ihr unheimliches Gekreisch steigert sich zu einem
bedrohlichen Crescendo. Plötzlich knallt es, ein Blitz
erhellt die Nacht, und ein bewusstloser, versengter
Nomade liegt am Boden, das Gesicht rauchgeschwärzt.
Aysha jedoch ist spurlos verschwunden, als hätte sie
sich in Luft aufgelöst. Endlich werden die Feiernden
aufmerksam, und eine aufgeregte Menge steht um den
98
Gefällten namens Kitar herum. Auch Leon und Cynric
nähern sich. Unter den Nomaden lässt sich indes
spöttisches Gelächter hören. Sie halten den armen Kitar
für wenig stand- und trinkfest und glauben, dass es der
zierlichen Aysha gelungen sei, ihn zu überwältigen. Nur
– wo steckt Aysha denn? Zunehmend besorgt erkundigt
sich Lyssandro nach ihr: Niemand weiss etwas über
Ayshas Verbleib, doch man hat sie zuletzt mit Kitar
gesehen. Lyssandro schüttelt den am Boden Liegenden
unsanft, um etwas über das Verschwinden seiner
Geliebten zu erfahren. Doch Kitar ist vollkommen
beduselt und lallt etwas von Explodieren und Gesang.
Aufgrund dieser neuen unerfreulichen Entwicklung hält
es Leon für das beste, auch Arist aufzuwecken, damit er
sich an der Suche nach Aysha beteiligen kann.
Lyssandro, fast ausser sich vor Besorgnis, rennt wie von
Sinnen hin und her, bleibt dann aber plötzlich wie vom
Blitz getroffen stehen, weil er vermeint, Ayshas Stimme
zu hören. Verstört sieht er sich um und ruft laut ihren
Namen. Er vermag es nicht, Ayshas Stimme, die nur
sehr schwach vernehmbar ist, zu orten. Er fragt sie, ob
sie gesungen hat und was dann passiert ist, doch was sie
sagt, bleibt nach wie vor fast unhörbar.
Dennoch ist er sich sicher, etwas wie die Präsenz
Ayshas bei sich zu spüren. Er zieht sich daraufhin etwas
von dem allgemeinen Trubel zurück und bittet sie
inbrünstig, sich doch zu zeigen. Als es ruhiger wird,
kann er sie etwas besser verstehen, doch nach wie vor
ist sie unsichtbar. Als sie ihm jedoch sagt, dass sie ihn
gleich berühren werde, spürt er einen feinen Hauch,
99
leicht wie das Streicheln einer Feder, auf seiner Wange.
Aysha erzählt ihm jetzt ihr seltsames Erlebnis.
Lyssandro ist gebührend entsetzt und beide sind völlig
ratlos, was sie in dieser scheinbar auswegslosen
Situation tun können. Irgendein Zauber hat Aysha
unsichtbar werden lassen! Ob es wohl irgendetwas gibt,
das sie aus dieser Geisterwelt, in der sie sich
anscheinend befindet, zurückholen kann? Lyssandro
spürt, wie nackte Verzweiflung ihn überfällt.
Schliesslich beginnt er zu beten, wie er es immer tut,
wenn er sich in einer ähnlich trostlosen Situation
befindet. Seine Andacht ist tranceähnlich und tief. Doch
erst nach einer endlos wirkenden Zeit hört er
schliesslich einen yarikähnlichen Laut, was ihm nicht
weiterhilft, und er versucht, sich noch tiefer in Trance
zu versenken. Was er vergessen hat: Ist das
Yarikfleisch, das er verzehrt hat, auf die richtige Art
zubereitet worden? Hat er etwa gegen die Gebote seines
Gottes gehandelt und spricht dieser deswegen nicht zu
ihm? Auch nach zwei Stunden intensiver Andacht
gelingt es ihm nicht, die Stimme Gottes zu vernehmen.
Schliesslich entscheidet er sich, nach einer bösen
Präsenz zu fühlen, aber auch hier kann er, so sehr er
sich auch anstrengt, nicht wirklich etwas fühlen.
Im Dorf ist es, trotz Ayshas spektakulärem
Verschwinden, ruhiger geworden. Die meisten
Dorfbewohner sind nach Hause gegangen oder vielmehr
getorkelt, und sie sind viel zu betrunken, um wirklich zu
begreifen, dass die junge Frau tatsächlich verschwunden
ist und es sich hierbei nicht bloss um einen schlechten
100
Scherz handelt. Nur Arist ist Lyssandros lange
Abwesenheit aufgefallen, und besorgt macht er sich auf
die Suche nach dem Gefährten. Als er ihn entdeckt,
klagt ihm Lyssandro sofort sein Leid: Dass er sich von
Aysha wie von Gott verlassen fühlt. Letzteres ist etwas,
das ihm noch nie passiert ist. Arist tröstet ihn, indem er
ihm bestätigt, dass er unreines Yarikfleisch gegessen
hat. Die Tiere wurden weder via Kehlschnitt noch durch
Ausbluten getötet, waren also den Anforderungen von
Lyssandros Gott nicht gerecht geworden. Gott hat aber
deswegen Lyssandro nicht verlassen, meint Arist weiter,
sondern er ist höchstens verärgert. Zudem gelingt es den
Menschen auch nicht jedes Mal, wenn sie das
wünschen, Kontakt zu Gott aufzunehmen... Er bittet
Lyssandro, sich jetzt schlafen zu legen und vertröstet
ihn auf den Morgen, der vielleicht – wer weiss – die
Lösung all ihrer Probleme bringen wird.
Die andern schlafen bereits oder sind eben dabei,
sich zur Ruhe zu begeben: Leon auf dem hohen
Findling am Eingang des Dorfes, Cynric im Zelt der
Nomaden, wobei Korun, sein Schwiegervater ihm
liebeswürdig versichert, dass er, wenn er erst eine seiner
Töchter geheiratet habe, viel mehr Platz im Zelt
bekäme, Bildugan, der von seiner Bauerntochter einen
herzhaften Abschiedskuss gekriegt hat, und Arist.
Im Morgengrauen erheben sich die Nomaden, die
trotz der frühen Stunde unverschämt gut gelaunt sind
und denen man ihre Alkoholexzesse überhaupt nicht
ansieht. Sie wecken damit Cynric, können ihn aber zu
ihrer Enttäuschung nicht zum Mitreiten bewegen. Bald
101
sitzen alle beim gemeinsamen Frühstück, sogar Biba
kommt, obwohl noch immer sehr blass, zum Essen, das
natürlich aus Fleisch besteht. Sie ist zunehmend gereizt
über ihre Verletzung und ihre allgemeine Schwäche und
fühlt sich als Klotz am Bein, etwas, das sie schlecht
ertragen kann. Sie schlägt schliesslich vor, hier im Dorf
zu bleiben, bis sie sich vollständig erholt hat. Bildugan
spricht ihr, wieder ganz in seiner Rolle als Heiler,
ermutigend zu, aber sie bleibt bei ihrer Meinung. Ja, sie
will im Dorf bleiben, bis ihr Bein seine alte
Beweglichkeit zurückgewonnen hat. Dann wird sie
Edwin die Karte mit den Räubernestern bringen in der
Hoffnung, dass dieser mit Cynric Gekritzel etwas
anzufangen weiss. Letzterer wird plötzlich vom
allgemeinen Gespräch abgelenkt, denn irgendetwas
zwickt ihn unsanft in den Arm, und er hört eine Stimme
seinen Namen rufen. Es ist die nach wie vor unsichtbare
Aysha, die sich vernachlässigt fühlt! In dieser Hinsicht
ist sie ganz die alte geblieben. Cynric hat eine Idee, wie
man dem Dilemma entgehen könnte: Er schlägt vor,
dass Aysha dasselbe Lied, das sie verwandelt hat,
rückwärts singt. Aysha probiert dies sogleich aus, aber
es scheint nicht zu funktionieren, zudem hat sie keine
genaue Erinnerung an das, was sie zuvor gesungen hat.
Jetzt brechen die Nomaden, herzlichst verabschiedet
von den trinkfesteren Dorfbewohnern, auf. Cynric
schmerzt der Abschied von ihnen doch ein wenig, er
wird aber getröstet durch die Yarikflöte, die er als
Geschenk erhält, um sein Tier in den Griff zu
bekommen.
102
Sie grüssen auch den übernächtigten Lyssandro, der
schon wieder auf der Suche nach der verschwundenen
Aysha das Dorf durchstreift. Er ist unglücklich, weil er
ihre Stimme nicht hören kann. Dass sie sich bei Cynric
aufhält, kann er ja nicht ahnen. Zudem scheint niemand
an seinen Sorgen teilzuhaben. Arist zum Beispiel ist
damit beschäftigt, etwas Geld aufzutreiben, da sie alle
eigentlich ziemlich blank sind. Schliesslich sollte Biba
den
Dorfbewohnern
wenigstens
eine
kleine
Entschädigung bieten können für ihre Gastfreundschaft.
Ja, in der Tat, niemand scheint sich im Moment wirklich
um Ayshas Verschwinden zu kümmern, und in
Lyssandros Sorge mischt sich zusehends Zorn. Arist
bemerkt schliesslich die Gewitterwolken, die sich über
dem Kopf seines Freundes zusammenballen und spricht
ihm erneut zu. Diesmal versucht er nicht, Lyssandro
aufzurichten: Er glaubt, dass der Zauber, der Aysha
verwandelt hat, endgültig ist. Kaum hat er dies
ausgesprochen, spürt er, wie er heftig gekniffen wird:
Dies ist Ayshas Art, ihren Unwillen zu demonstrieren.
Sie ist verständlicherweise aufgebracht und verspürt
keine Lust, in der Geisterwelt zu bleiben. Ihre Präsenz
heitert jedoch Lyssandro auf: Diesmal ist er es, der sie
tröstet und ihr Mut zuspricht. Vielleicht, so meint er,
kann ja Rashun, der Zauberer, den sie aufsuchen wollen,
helfen.
Cynric unterdessen macht sich Gedanken, wie er das
Yarik am besten dressieren soll. Schliesslich will er es
ja als Reittier abrichten! Er hat sich folgende Strategie
zurechtgelegt: Aufsitzen, Tröten und hoffen, dass sich
103
nichts und niemand dem Yarik in den Weg stellt. Denn
für den Bremsvorgang des Kolosses hat er sich auf die
Schnelle kein Vorgehen ausdenken können... Als ersten
Antriebsversuch tritt er erst einmal nach dem friedlich
grasenden Tier, eine Aktion, die sofort mit einem
Gegentritt quittiert wird und ihm eine Drei-MeterGratis-Flugreise einbringt. „Wow! Ein Tier mit Biss!“
meint er begeistert, als er sich aufrappelt und das Gras
von seinen Kleidern wischt. Der zweite Versuch besteht
darin, dass Cynric auf das Yarik klettert und ihm mit
seiner Tröte nicht allzulaut ins Ohr pustet. Das Yarik
geht los wie eine Rakete, aber leider nicht auf die
gewünschte Art und Weise. Das Tier verfolgt nicht
wirklich eine Richtung, sondern rennt kreuz und quer in
der Gegend herum. Sich auf seinem Rücken zu halten,
stellt sich recht bald als eine ziemlich schmerzhafte
Angelegenheit heraus. Als das Tier endlich anhält,
erhält es von Cynric einige Streicheleinheiten und den
Namen „Fränzi“. Ununterbrochen redet er dem Tier
sanft zu, doch es bleibt zweifelhaft, ob dieses auch
irgendetwas von dem, was er sagt, versteht. Auch der
Versuch einer mentalen Kontaktaufnahme zu Fränzi
scheitert. Jetzt steigt Cynric ab und umarmt das Tier,
das ihm bereits ans Herz gewachsen ist. Die Zuneigung
wird erwidert: Mit ihrer riesigen Schlabberzunge
schleckt Fränzi Cynric daraufhin ab. Noch fünf Minuten
später tropft ihr Sabber von Cynrics Kleidung. Ein
weiterer Vorteil an Fränzis Besitz wird entdeckt: Sie ist
ein wandelnder Schattenspender gegen die glühende
Steppensonne.
104
Gutgelaunt wendet sich Cynric an die sie
begleitende Aysha: Ob es denn cool sei, unsichtbar zu
sein? Seine Gedankengänge kommen bei ihr nicht gut
an: Zornig brüllt sie ihm ins Ohr, dass sie ja nicht
unsichtbar werden wollte und auch keine Ahnung hat,
wie sie das fertiggebracht hat. Ihre Worte begleitet sie
mit einigen ganz und gar undamenhaften Ausdrücken.
Es ist gut, dass Aysha sich im Augenblick bei Cynric
und Fränzi aufhält, denn Arist unterhält sich gerade
wieder mit Lyssandro, und was er zu sagen hat, würde
ihr, falls sie es hören könnte, ganz und gar nicht
gefallen. Arist sieht nur zu gut, dass Lyssandro leidet,
und dies gleich doppelt: Obwohl er Aysha das Gegenteil
erzählt hat, fürchtet auch er, dass ihre Verwandlung
nicht rückgängig zu machen ist und dass er sie verliert.
Zudem befindet er sich in einem Gewissenskonflikt und
spürt instinktiv, dass er in seiner Beziehung zu Aysha zu
sehr von seiner Beziehung zu Gott abgelenkt wurde, ja
deswegen dessen Gebote gar gebrochen hat. Auch ist
Arist der Ansicht, dass Aysha mit ihrem lockeren
Lebenswandel eine Gefahr für den ernsten und sehr
gewissenhaften Lyssandro sein könnte. Er bittet ihn,
sich wieder ernsthaft seinem Gott zuzuwenden und sich
zu überlegen, ob nicht vielleicht Aysha gar eine Prüfung
sei, die von Gott an Lyssandro gesandt wurde. Gutmütig
spöttelnd fügt Arist schliesslich noch hinzu, dass
Lyssandro im Augenblick wohl mehr ein verliebter
Trottel als ein gläubiger Mann sei. Lyssandro wiegt das
Gesagte ernsthaft ab. Seinen Gegenüber sieht er
plötzlich mit anderen Augen an: Solchen Tiefgang ist er
105
von Arist nicht gewohnt. Auch etwas, worüber sich
nachzudenken lohnt!
Während den Dressurversuchen an Fränzi und
Lyssandros und Arists Unterhaltung sind die Gefährten
ein schönes Stück vorwärtsgekommen. Unaufhaltsam
rücken die mächtigen Berge näher, und schon geht es
langsam bergauf. Fränzi, auf deren Rücken Cynric nun
thront, bekundet Mühe mit der Steigung, sie schwitzt,
ächzt und keucht. Ein Wasserfall, der kurze Zeit später
vor ihnen auftaucht, bietet eine gute Gelegenheit für
eine willkommene Rast. Trotz der ausgiebigen
Schlemmereien der letzten Nacht meldet sich bereits der
Hunger wieder. Leon versucht sogleich, einige Fische
zu speeren, während Cynric mittels seiner Rüstung
probiert, einiger Fische habhaft zu werden. Arist
hingegen versucht dasselbe mit einer altmodischen,
gewöhnlichen Angel und hat den grössten Erfolg zu
verzeichnen: Er fängt einen fetten Fisch. Nach langem,
langem Üben und erfolglosem Herumplantschen fangen
auch Cynric und Leon einige kleine Fische. Unter
diesen Jagdversuchen ist die Zeit vergangen, und
schliesslich entscheidet man, am Wasserfall zu lagern,
um am nächsten Tag mit neuen Kräften die wirklichen
Steigungen des Berges in Angriff zu nehmen.
Alle sind rechtschaffen müde und schlafen bald ein,
ausser Lyssandro, der noch immer über Ayshas
Verschwinden nachgrübelt, und Leon, der sich wieder
einmal Washis Tagebuch ausleiht, um nach Hinweisen
über seinen vermeintlichen Vater zu suchen, die er
vielleicht übersehen hat. Lange nachdem auch Leon
106
schläft, ist Lyssandro noch immer voller Andacht in
Gebete versunken. Er bittet seinen Gott darum, sich
versöhnlich zu zeigen und seine Gnade an der
verwandelten Aysha walten zu lassen. Wieder ist er
aufgewühlt und voller Sorgen: Hat er nicht den ganzen
Tag über nichts von ihr gehört oder gesehen? Endlich
scheint er zu seiner Erleichterung eine Präsenz zu
fühlen, aber sie ist so schwach, dass er lange glaubt,
dass er einer hoffnungsvollen Täuschung erliegt. Erst
ganz langsam wird die Präsenz stärker, und endlich ist
er überzeugt, Aysha, auch wenn diese nach wie vor
unsichtbar ist, vor sich zu haben. Aysha scheint
tatsächlich guter Dinge: Sie meint, dass ihr das
Unsichtbarsein sehr viel Spass mache, da sie jetzt tun
und lassen könne, was ihr gerade einfällt. Das hat sie ja
schon als Sichtbare getan, aber darauf will der verliebte
Lyssandro nicht hinweisen. Er ist ob ihren Worten
womöglich noch besorgter geworden: Ihre Worte
klingen gefährlich nach einer allmählichen Versöhnung
mit dem neuen Zustand. Mit rauer Stimme teilt er ihr
mit, dass er und Arist zur Übereinstimmung gekommen
sind, dass ihr Zustand tatsächlich irreversibel sein
könnte. Zu seiner Erleichterung klingt Ayshas Stimme
gleich darauf wieder äusserst besorgt, und bedrückt
meint sie, dass ihr - ausser dem Rückwärtssingen, das
sie schon mehrmals erfolglos praktiziert hat - nichts
einfällt, um ihren Zustand zu ändern. Und da sei ja noch
die andere Welt, die sie dauernd rufe. Gerade jetzt zum
Beispiel. Lyssandro springt auf die Füsse: „Von welcher
Welt sprichst Du, Aysha?“ Er erhält keine Antwort, und
für einen Augenblick verliert er ihre Präsenz, bevor sich
107
diese zu seiner Erleichterung wieder, wenn auch
deutlich geschwächt, wahrnehmen lässt. Auch Ayshas
Stimme ist sehr dünn geworden, als sie erneut sagt, dass
man sie ruft, und dass sie wohl nicht mehr lange bleiben
könne. Ihre Stimme ist trotz des Unheimlichen, das sie
sagt, sehr ruhig, und nur das hält Lyssandro davon ab, in
Panik auszubrechen. Schliesslich ahnt er sehr wohl, dass
er gerade dabei ist, seine Geliebte zu verlieren... Nur
dass er es nicht wahrhaben will. Dann spürt er sie
wieder, eine Präsenz in seiner Nähe, eine leichte
Berührung auf der Wange, dann eine am Mund: Es ist
Aysha, die sich von ihm verabschiedet. Sie erinnert ihn
an das Versprechen, das er einst gegeben hat, und
Lyssandro versichert, dass er sich immer an diesen
Schwur halten wird. Was hätte er sonst auch sagen
können? „Vielleicht sehen wir uns ja einmal, irgendwo
und irgendwann, wieder...“ Das ist das letzte, das
Lyssandro je von Aysha hören soll. „Ich liebe dich! Und
ich werde nie eine andere Frau so wie dich lieben!“ ruft
er mit erstickter Stimme hinter ihr her, und es ist ihm
absolut ernst damit. Seine Augen sind gerötet, als sein
Blick über die andern Schlafenden schweift, und nur mit
eisernem Willen kann er die Tränen zurückhalten. Und
da ist auch noch die Sorge um Ayshas Seelenheil...
Selbst er, der sie aus verliebten Augen betrachtete, muss
sich eingestehen, dass Aysha eine leichtfertige Person
sein konnte, wenn ihr der Sinn danach stand. Doch tief
in seinem Herzen weiss er, dass Aysha eine guter
Mensch ist und deren „Leichtfertigkeiten“ in erster
Linie ihrer Jugend zuzuschreiben ist. Jahwe, der in die
Herzen der Menschen blickt, hat das sicher schon lange
108
erkannt... Diese Gedanken sind für Lyssandro im
Augenblick kein richtiger Trost für den Verlust von
Aysha, aber sie werden ihm helfen, mit seiner Trauer
fertigzuwerden. Lyssandro setzt sich ans fast
heruntergebrannte Feuer und starrt reglos in die
Flammen.
Viel zu früh wird es Morgen, und es gilt, den
mächtig vor ihnen aufragenden Berg zu erklimmen. Nur
scheint dazu niemand allzugrosse Lust zu haben, und
alle scheinen ihr Bestes zu geben, den Aufbruch zu
verzögern. So will Bildugan zuerst unbedingt noch ein
ausgiebiges Bad nehmen, und Arist scheint Geschmack
am Fischen gefunden zu haben. Seelenruhig wirft er die
Angel aus und fischt. Cynric beschäftigt sich mit Fränzi
und krault und kitzelt sie, Zärtlichkeiten, die sie
grosszügig mit ihrer Schlabberzunge erwidert. Das Tier
scheint wirklich grosse Zuneigung zu ihrem Besitzer zu
empfinden.
Lyssandro ist es, der die meuternde Mannschaft zum
Aufbruch bewegen kann. Schliesslich haben sie eine
Mission zu erfüllen! Langsam machen sie sich an den
Aufstieg. Arist trägt seine Fische an einem Stock über
seiner Schulter. Leider lockt ihr Geruch ungebetene
Gäste an: Unter lautem Gekrächz kreisen plötzlich
einige Raben um die verlockenden Fische. Nur unter
wildem Herumgehopse kann Arist sie daran hindern,
sich über das wohlschmeckende Futter herzumachen,
sehr zur Erheiterung der andern. Auch Lyssandro lacht
mit, es scheint ihm wirklich besser zu gehen. Von Arist
darauf angesprochen, erzählt er alles, was er in der
109
Nacht zuvor von Aysha beziehungsweise ihrer
Schattengestalt erfahren hat. Natürlich schmerzt ihn
Ayshas Verlust noch immer, wird ihn vielleicht für
immer schmerzen, aber Lyssandro wird darüber
hinwegkommen, davon ist Arist überzeugt.
Nach einer mehr als schweisstreibenden Kletterei,
akustisch untermalt von Fränzis Gekeuche, gelangen sie
endlich in die Nähe der Gipfelregion des Berges. Ein
einzelner Felsen trennt sie noch von der Spitze, ein
Felsen, der allerdings hoch aufragt und von dem
malerisch ein Wasserfall herunterplätschert. Auf den
ersten Blick sieht dieses neue Hindernis ziemlich
unüberwindbar aus, aber auf den zweiten Blick lässt
sich ein geräumig scheinender Spalt im Felsen, etwa
100 Meter vom Wasserfall entfernt, nicht übersehen. Ist
das der Weg, der sie an die Spitze des Berges und damit
zu ihrem Ziel bringt? Niemand kann dies recht sagen,
und eine kurze Inspektion der Spaltes erbringt nur, dass
dieser in eine Höhle mündet, die auf jeden Fall ins
Innere des Berges zu führen scheint. Da sich kein
besserer Weg anbietet, kommen die Gefährten überein,
es mit diesem Höhlenweg zu versuchen. Sollte er sich
als Irrweg erweisen, kann man ja immer noch
umkehren. Cynric ändert seine Meinung jedoch
ziemlich schnell, als er entdeckt, dass Fränzi nie und
nimmer in diesen Spalt passt. Er will sich nicht von
seinem geliebten Reittier trennen und reitet auf ihr der
nahezu senkrechten Felswand entlang, um nach einem
andern Weg auf den Berg zu suchen. Nach einer
110
geräumigen Weile kehrt er niedergeschlagen und
erfolglos zurück.
So betreten sie jetzt das Dämmerlicht der Felsspalte.
Schon nach einigen Metern stolpert Arist über etwas,
das am Boden liegt, und angeekelt bemerkt er, dass er
auf einem weisslich glänzenden Skelett, an dem noch
verrostete Rüstungsteile zu sehen sind, gelandet ist.
Schnell ist er wieder auf den Füssen. Einer Eingebung
folgend, zückt er seinen magischen Kompass, und er ist
nicht wirklich erstaunt, als die Nadel dieses kostbaren
Gegenstandes sofort Richtung Norden ausschlägt. Etwas
Magisches muss folglich dort zu finden sein! Sie sind
noch nicht tief in den Bauch der Höhle eingedrungen,
als sie an den Fuss einer Wendeltreppe gelangen, die
sich in undurchdringliche Finsternis aufwindet. Eine
kurze Debatte folgt, ob man es wagen kann, dieser
Treppe ins Unbekannte zu folgen. Da die Luft in der
Höhle zwar etwas muffelig, aber keinesfalls stickig
erscheint und zudem eine seltsame, unerklärliche
diffuse Helligkeit, selbst im Innern des Berges, herrscht,
beschliessen Arist, Lyssandro und Cynric, die
Wendeltreppe zu erklimmen, während Bildugan und
Leon, der durch seinen verknacksten Fuss noch immer
etwas behindert ist, an ihrem Fusse warten. Ihr Aufstieg
erfolgt in einem zunehmend beengtem, erstickenden
Dunkel. Nur
ab und zu dringt durch kleine,
schartenartige Fensteröffnungen etwas Helligkeit ein
und lässt verrostete Rüstungsteile, halbvermoderte
Leichen und ähnlich Unangenehmes sichtbar werden.
Nach einem scheinbar endlosen Anstieg von etwa 400
111
Metern gelangen sie plötzlich wieder ans Tageslicht.
Die Wendeltreppe hat in eine ziemlich grosse,
halbkreisförmige Plattform, umrahmt von Felsen,
gemündet. Das Licht, das Arist, Lyssandro und Cynric
empfängt, ist blendend, und ein beeindruckender
Anblick erwartet sie. Gegen Süden gerichtet ist die
Plattform mit Zinnen befestigt, und sie bietet eine
atemberaubende Aussicht auf den Süden und Fränzi,
friedlich am Fusse der Felswand grasend, auch das Dorf
Glok und die Berge sind ersichtlich. Im Rücken der
Gefährten windet sich die Treppe noch ungefähr 30
Meter hoch, um dann scheinbar im Nichts zu enden.
Sie gelangen zu einem kreisrunden Innenhof, der
mosaikartig geplättelt ist. Es ist jedoch nicht das
Mosaik, dass die Blicke von Cynric, Lyssandro und
Arist auf sich zieht, sondern eine gewaltige, schwarze
Türe, die wiederum ins Innere des Berges zu führen
scheint. Ein vorsichtiges Rütteln an der Türe erbringt,
dass diese verschlossen ist. Cynric und Arist sehen dies
als eine persönliche Herausforderung an, doch die Tür
ist nicht unbewacht: Einige Meter darüber duckt sich
eine grosse haarige Spinne, die aus misstrauisch
zusammengekniffenen acht Augen zu ihnen niederspäht.
Cynric eilt sofort auf sie los, obwohl Lyssandro ihn
zurückzuhalten versucht. Das ist der Moment, in dem
die Spinne, die sich vorsichtshalber ausser Cynrics
Reichweite hält, zu sprechen beginnt. Sie stellt sich als
Shirley, Wächter des Rashun vor. Den Namen Rashun
zieht sie zischelnd in die Länge. Während sie noch
spricht, versucht sich Arist, unbeeindruckt durch den
112
unschönen Anblick der Spinne, bereits am Schloss der
Türe. Er kommt nicht weit, denn mit einem leisen
Zischen schliesst sich ein klebriger und überaus
massiver Spinnenfaden um sein Handgelenk. Sehr zum
Leidwesen von Arist: So sehr er sich auch bemüht, seine
Hand freizukriegen, es gelingt ihm nicht. Cynric, der
mit unverkennbar kriegerischen Absichten noch immer
versucht, in die Nähe der Wächterin des Rashun zu
gelangen, fragt die Spinne nach ihrem Appetit, und sie
beklagt sich jammernd, dass sie hier oben nie etwas
Anständiges in die Zangen kriegt und schon ganz
abgemagert sei. Sie wisse sehr wohl, dass es viel
bessere Jagdgründe gäbe als dieser lausige Felsen, aber
sie müsse nun einmal Rashun gehorchen und könne
niemanden durch die Tür lassen. Es ist wohl ihrer
Langeweile zuzuschreiben, dass sie schliesslich listig
blinzelnd ein Spiel, genauer gesagt, ein Rätsel
vorschlägt. Sie verlangt, dass Cynric, Arist und
Lyssandro mindestens zwei von ihren drei Rätseln zu
lösen vermögen, dann will sie sie (sehr zur
Enttäuschung Cynrics übrigens) ungehindert durch das
Tor marschieren lassen. Falls jedoch zwei oder mehr
ihrer Rätsel ungelöst bleiben, will sie einen ihrer
Kontrahenten verzehren dürfen. Sofort und ziemlich
bedenkenlos überlegen sie sich, auf den Handel
einzugehen, da Cynric mit charakteristischer Logik
feststellt, dass man die Spinne im Ernstfall sowieso
erledigen könne. Arist fügt hinzu, dass man dem Tier ja
Fränzi, die noch immer am Fusse des Felsens grast und
nichts von der Gefahr ahnt, in der sie so plötzlich
schwebt, verfüttert. Dieser Vorschlag stösst bei Cynric
113
natürlich auf taube Ohren, und heftigst verteidigt er sein
geliebtes Vieh. Er ist, Abmachung hin oder her, dafür,
die Spinne sofort zu vernichten und beginnt, die Wand
hinaufzuklettern, um an sie heranzukommen.
Unterdessen ist es auch Arist gelungen, seine Hand zu
befreien. Beide Entwicklungen werden von der Spinne
misstrauisch beäugt. Zum Glück scheint sie nicht zu
verstehen, worüber ihre Widersacher gerade streiten.
Diese sind sich uneinig, ob man a) die Spinne sofort
killen b) ihr auch ein Rätsel stellen oder c) Fränzi zum
Frass vorwerfen soll, obwohl doch eigentlich die Spinne
Herr der Situation zu sein scheint. Lauernd verharrt sie
in ihrer abwartender Haltung, bis Arist, Lyssandro und
Cynric endlich auf ihre Bedingungen eingehen. Dann
stellt sie ihre erste Frage: Was geht zuerst auf allen
Vieren, dann auf Zweien, zuletzt auf Dreien ? Sie kann
nicht einmal ganz zu Ende sprechen, ist die Antwort
bereits heraus: Der Mensch. Etwas irritiert stellt sie ihr
nächstes Rätsel: „Im Süden selten, im Norden oft, der
Bauer regelmässig auf ihn hofft“. Auch die Antwort auf
diese Frage ist sehr schnell gefunden: Der Regen.
Wütend zischend verkündet die Spinne ihr letztes
Rätsel: „Grau und nicht so schlau, meistens störrisch,
hört nie zu, weisst Du es nicht, dann bist es Du!“ Gross
ist ihre Enttäuschung, als die Lösung ihres Rätsels
locker aus dem Ärmel geschüttelt wird: Ein Esel. Mit
einem metallischen Klirren fällt der Schlüssel zur Türe
den Gefährten vor die Füsse, und rasch schliesst Cynric
diese auf, bevor Arist noch länger seine Fähigkeiten als
Taschendieb üben kann. Die Spinne scheint derweil zu
schmollen und zieht sich zurück.
114
Cynric marschiert sogleich forsch drauflos, ohne
sich mit irgendwelchen Bedenken nach den Risiken des
unbekannten Weges aufzuhalten, und Arist schliesst
sich ihm an. Lyssandro bleibt – vorerst noch - zurück .
Ein lauter Ruf von ihm hält Arist und Cynric
schliesslich auf. Leon ist es am Fusse des Felsens
unterdessen zu langweilig geworden, und zusammen
mit Bildugan hat auch er sich an den kräftezehrenden
Aufstieg gemacht. Die treue Fränzi war noch bis zur
Wendeltreppe mitgeschleppt worden, blieb dann aber in
einer der Anfangswindungen stecken. Dieser Ausgang
wird also in Zukunft nicht mehr als Fluchtweg dienen
können, sollte plötzlich ein überstürzter Abgang nötig
werden!
Doch Vorsicht scheint hier unangebracht, die Tür
führt ziemlich direkt auf die Spitze des Berges, wo sich
Rashun aufhalten soll. Eigentlich kann man nicht
wirklich von Spitze sprechen, denn vor den Gefährten
öffnet sich ein grosses, waldbewachsenes Plateau.
Dieses macht einen friedlichen, wenn nicht sogar
idyllischen Eindruck: Zwitschernde Vögel, blühende
Blumen und Bäume, plätschernde Bäche, Licht und
Sonne, wohin man auch blickt. Zudem lässt sich auch
ein schmaler Weg ausmachen, der in den Wald hinein
führt. Arist, durch den Anblick des Waldes sofort
inspiriert, begibt sich auf die Suche nach ein paar
Pilzen, muss diese aber bald erfolglos abbrechen.
Lyssandro hält unterdessen Ausschau nach einem
geeigneten Opfer, da er noch immer nicht für den
Verzehr des unreinen Yarikfleisch gebüsst hat, aber
115
ausser ein paar schattengleich vorbeihuschenden Rehen
erspäht er nichts Brauchbares. Die Rehe könnten wohl
als Opfer dienen, aber die Tiere erscheinen flink, und
für eine richtige Jagd fehlt leider die Zeit. Nach einer
Stunde lichtet sich der ohnehin nicht allzu dichte Wald
weiter und geht schliesslich in eine Lichtung über. Sie
umrahmt eine gewaltige Höhlenöffnung, aus der fühlbar
kühle Luft strömt. Sie ist so gross, dass man schon auf
den ersten Blick einen Gang erahnen kann, der sich
weiter hinten verschmälert und schliesslich nach links
abbiegt. Ob die Höhle bewohnt ist, lässt sich nicht recht
sagen, doch hat sie der Weg, dem sie gefolgt sind,
ziemlich direkt hierhergeführt. Es liegt also nahe, auch
diese Höhle etwas genauer in Augenschein zu nehmen!
Schliesslich gilt es noch immer, Rashun zu finden. Im
Innern der Höhle ist es jedoch mit der kühlen Luft
vorbei, kaum haben sie sich, dem Höhlengang folgend,
etwas nach links gewandt. Plötzlich weht ein
glühendheisser Lufthauch auf sie zu, gefolgt von
züngelnden Flammen: Ein riesiger blauer Drachen, den
furchterregenden Rachen weit aufgerissen, taucht vor
ihnen auf. Voller Begeisterung und Jagdfieber saust
Cynric sofort auf ihn los, doch ein einziger Atemhauch
des Drachen lässt ihn meterweit zurücktaumeln. Der
missglückte Angriff scheint den Drachen zu reizen:
Fauchend marschiert er langsam auf die Gefährten zu.
Cynric hat sich bereits aufgerappelt und will, keinesfalls
beeindruckt von seinem Misserfolg, erneut angreifen,
doch Lyssandro hält ihn zurück. Eine Idee formt sich in
seinem Kopf: Könnte es sich bei diesem unfreundlichen
Lindwurm nicht gar um den gesuchten Rashun handeln?
116
Dies raunt er Cynric zu, und der befragt denn auch
sofort den Drachen: „Nennst Du Dich Rashun?“ Dies
lässt den Drachen innehalten, und augenscheinlich
verblüfft antwortet er mit einem Ja. Darauf rennt Cynric
erneut auf ihn zu, diesmal, um ihn vor Freude zu
umarmen, hält dann aber doch inne und fragt
vorsichtshalber nach, was Drachen denn so fressen. Die
Antwort „Zum Beispiel Fränzis“ lässt ihn von weiteren
Freudesbekundigungen absehen. Er denkt bei sich, dass
Rashun sicher ganz anders ist als er sich Drachen im
allgemeinen vorgestellt hat. Nun, solche Wissenslücken
gilt es zu beseitigen, und sofort beginnt er, sein
neugefundenes Opfer mit Fragen zu löchern: „Sind
Drachen gut oder böse? Gibt’s noch grössere Drachen
als dich?“ und dergleichen mehr.
Arist weiss immerhin genug über Drachen, um zu
wissen, dass diese Gedanken lesen können, und er
bemüht sich, strikt nur an Fische und ans Angeln zu
denken, rein vorsichtshalber. So ganz hat er seine
Gedanken aber doch nicht unter Kontrolle, denn vor
seinem inneren Auge schwimmen plötzlich muntere
Goldfische hin und her. Zum Glück scheint dies dem
Drachen nicht aufzufallen. Das Gespräch kreist
schliesslich um den Extyrannen Fortor, der gestürzt
wurde, und die Gefährten erzählen, dass an dessen
Stelle jetzt König Edwin herrscht.
Die Erzählung scheint den Appetit des Drachens zu
wecken, denn dieser bekundet plötzlich Appetit auf ein
paar Kühe. Er möchte Edwins Land einmal zwecks
Nahrungsaufnahme besuchen. Das ist nun nicht gerade
117
im Interesse von Edwins Freunden: Einen
herdenplündernden Drachen möchten sie ihm eigentlich
ersparen, und deshalb lenken sie das Thema rasch auf
den eigentlichen Grund ihres Kommens. Lyssandro
spricht Rashun auf die skurrilen Invasoren an, gegen die
Xirx etwas unternommen haben möchte. Cynric erhofft
sich zudem, dass Rashun ihm dabei hilft , Fränzi zu
dressieren, was der Drache nur zu gern verspricht,
wobei
seine
Ansichten
zur
Yarik-Dressur
wahrscheinlich ganz anders sind als die Cynrics. Der
Drache stösst ein paar Denk-Rauchwolken aus und fragt
dann nach der Gegenleistung für seine Mühen. Cynric
schlägt vor, die „hässliche unnütze Spinne“, die vor dem
Tor wacht, zu beseitigen, doch Rashun winkt mit einem
Schmunzeln ab. Er mag Shirley als Wächter gegen die
Orks, und obwohl sie ziemlich beschränkt ist, bekennt
er, dass er sie liebend gerne ärgert.
Doch trotz den fast freundschaftlichen Gesprächen
scheint der Drache noch immer etwas misstrauisch und
beunruhigt, als sie ihm tiefer in die Höhle folgen. Ist er
ärgerlich, weil Arists Gedanken noch immer von golden
glänzenden Fischen beherrscht werden? Im nächsten
Gang der Höhle wechselt dieser jedenfalls lieber von
imaginären Fischen auf ebenso imaginäre Vögel.
Immerhin gibt es ja keine „Goldvögel“... Während sie
im Dunkel der Höhle langsam voranschreiten, hat
Cynric wiederum Gelegenheit, den Drachen mit ein paar
weiteren Fragen zu löchern: „Haben alle Drachen einen
Namen? Wie alt werden Drachen?“ (Denkpause des
Drachens, gefolgt von einem Monolog über die
118
Stammbäume von Drachen und ihr ungefähres Alter).
Auf die Frage nach seinem Geschlecht ist er mit der
Antwort um einiges schneller parat: Unter verlegenem
Gekicher bezeichnet er Cynric als Schlingel.
Cynric ist es auch, der dem Drachen – im Namen der
ganzen Gruppe, wie üblich, ohne die andern wirklich zu
konsultieren – den gewünschten Gefallen zu erweisen
verspricht.
Darauf hat Rashun nur gewartet, um jetzt mit seinem
Problem herauszurücken: Er hat familiäre Sorgen. Auf
einer kleinen Insel im Nordosten, die den Namen
Ormania trägt, lebt ein Neffe Rashuns. Respektlos wird
der Drache aber gleich zu Beginn seiner Geschichte von
Cynric mit der Frage unterbrochen, ob sie diesem
Neffen das Fliegen beibringen sollen. Der Drache
scheint ob Cynric Vermutung ziemlich geplättet, und
erst nach einer Pause, in der er Cynric erstaunt mustert,
fährt er fort zu erzählen. Sein Neffe namens Sharin, mit
seinen gerade mal 100 Jährchen eigentlich noch ein
Baby-Drache, wurde vom bösen Herrscher von Ormania
gefangengenommen. Die Züge des Drachen werden bei
der Erwähnung dieses Namens sichtlich düsterer und
grimmiger. Zwar hat er schon die halbe Flotte des
Herrschers mit seinem Feueratem verbrannt, doch damit
hat er nichts für die Befreiung seines Neffen, der des
Fliegens noch unkundig ist, erreichen können. Soll er,
Rashun, ihnen ein wirksames Mittel gegen die
Invasoren verraten, so sollen sie im Gegenzug seinen
Neffen befreien. Gespannt schaut er in die Runde: Wird
er seinen Willen bekommen?
119
Arist denkt für sich, dass sie Xirx ja nur versprochen
haben, Rashun nach den eindringenden Pflanzen zu
fragen. Auf Antworten oder irgendwelche Vorschläge
brauchen sie gemäss des Versprechens also gar nicht zu
warten! Die andern fühlen sich Xirx gegenüber zu etwas
mehr Anstrengung verpflichtet. Dennoch haben auch
Bildugan und Lyssandro Bedenken, diesen dubiosen
Auftrag sofort anzunehmen. Nur Cynric steht nach wie
vor zu seinem vorschnell gegebenen Versprechen. Der
Drache verfolgt die aufkeimenden Diskussionen mit
steigendem Zorn, schon raucht er bedenklich aus den
Ohren. Er ist es nicht gewohnt, seinen Willen nicht zu
bekommen. Bildugan bietet ihm ein zwecks Beruhigung
ein Pflänzchen an, dies wird aber von Rashun unwillig
sogleich abgefackelt, worauf sich ein aromatischer Duft
auszubreiten beginnt.
Arist erklärt dem Drachen telepatisch seine Theorie
vom Versprechen an Xirx, scheint dann aber willig, dem
Drachen gegen eine Bedingung zu helfen: Dieser soll
seine, Arists Gedanken niemandem verraten. Zudem
sucht Arist schon lange nach magischen Gegenständen
eines berühmten Zauberers, und falls der Drache sich
ein bisschen für ihn umhört, wäre er bereit dem Drachen
zu helfen. Der Drache ist bereit, wenn er seinen Neffen
dafür wieder in die Flügel schliessen kann, Arist auf der
Suche nach einem solchen Gegenstand zu helfen. Von
diesem Gedankenaustausch haben die andern nichts
mitbekommen. Ihnen ist nicht bewusst, dass Drachen
Gedanken lesen können und dass man auf diese Weise
mit ihnen kommunizieren kann. Arist erzählt - wieder
120
so, dass es alle verstehen können - von seiner 166jährigen Versteinerung und möchte, dass der Drache
einen Vertrag mit Edwyn schliesst, damit dieser das
Land auf Kühesuche nicht total verwüstet. Rashun will
zwar von einem Vertrag nichts wissen, aber er
verspricht, im Küheverbrauch massvoll zu sein.
Schliesslich will er ja seine eigene Nahrungsgrundlage
nicht zerstören!
Einzig Bildugan ist nicht bereit, dem Drachen das
gewünschte Versprechen zu geben. Cynric sieht ihn
darauf bereits gefressen oder als Höhlenputzer
versklavt. Die Aussicht, als Höhlensklave alt und grau
zu werden, behagt Bildugan ganz und gar nicht,
trotzdem schaltet er auf stur. Eine Haltung, die er
allerdings bereut, als der Drache kurz wütend auffaucht
und ihn mit einer raschen Bewegung gegen die
Höhlenwand quetscht. In seinem Klammergriff kann
sich Bildugan kaum rühren, und ziemlich angstbleich im
Gesicht erklärt er sich schliesslich doch bereit, seine
Mission anzunehmen. Als Gegenleistung, so versichert
ihm Rashun freundlich, will er ihn am Leben lassen.
Nun ergibt sich die Frage, wo denn Ormania liegt. Man
bittet den Drachen, den Weg dorthin zu beschreiben.
Laut Rashun ist die Insel nicht weit entfernt, und er
verspricht, am nächsten Tag eine Karte „aus seinem
Vorrat“, wie er es nennt, zu liefern. Schliesslich
beschliessen die Gefährten, sich schlafen zu legen.
Cynric zieht ein kleines Wäldchen einer der Nebenhöhle
des Drachens zum Schlafen vor, und Leon schliesst sich
ihm an. Die andern verbringen die Nacht in einer der
121
dunkeln, doch angenehm trocken und warmen Höhlen
Rashuns. Es könnte dies ja die letzte Nacht in so ruhiger
und angenehmer Umgebung sein...
122
4. Spielsitzung , 16. Juni 2002
Auch Bildugan hat noch ein Anliegen, der Drache
wendet sich ihm zu und Bildugan eröffnete ihm dass er
seine Bedingungen nicht annehmen kann. Er verlangt
eine Gegenleistung von ihm doch Rashun meinte er
würde Xirx schon helfen. „Dass ist zuwenig!“ getraut
sich Bildugan mit allem Mut von sich zu geben. Die
Höhle fängt an zu wackeln durch das Gelächter von
Rashun. Er geht nahe zu ihm hin und erklärt ihm dass
man einem Drachen keine Bedingungen stellt. Eventuell
könne er ihm eine kleine Bitte erfüllen wenn er seinen
Job gut mache. Bildugan möchte seine Heilkunst
verbessern doch auch das bringt die Höhle wieder zum
wackeln durch Rashuns Gelächter. Doch der Drache
würde ihm ein kleines Musikinstrument schenken wenn
er etwas dazu beiträgt seinen Neffen zu retten. Was das
denn für ein Instrument sei möchte Bildugan wissen und
der Drache verdreht seine Augen und hört Arists
Stimme die ihm gedanklich bestätigt dass er es hier mit
einem Idioten zu tun hat.
Leons Versprechen fehlt noch, denn auch er hat eine
Bitte und möchte Informationen über eine gewaltige
Explosion, die vor Jahren seine Heimat in
Mitleidenschaft gezogen hatte. Ein grössenwahnsinniger
Magier hatte experimentiert und eine Explosion
verursacht. Es gab einen Dimensions-übergreiffenden
Riss und viele Monster hatten sich in unsere Welt verirrt
die jedoch innert Kürze ausgeschaltet werden konnten.
123
Doch der Drache hatte sich nie gross darum
gekümmert da dieses Land weit im Norden liegt und es
nichts Schönes dort hat. Leon gibt seine Zustimmung
und meint es wäre eine Freude für ihn helfen zu können.
Rashun ist zufrieden doch als die Frage nach der Karte
auftauchte die er ihnen versprochen hatte runzelte er die
Stirn und meint dass sie doch Abenteurer wären und
diese keine Karte bräuchten. Den Rest könne man auch
später noch regeln und er wendet sich am um sich
schlafen zu legen. Doch Lyss fragt höflich, ob es nicht
einen geeigneten Schlafplatz gäbe in oder ausserhalb
der Höhle. Rashun ist erzürnt und im Begriff ihn zu
grillieren wenn er ihm jetzt nicht gerade den Schwanz
zugedreht hätte. Ein intensiver Schwefelgeruch macht
sich breit und Lyss hat die Antwort durchaus
verstanden.
Auf leisen Solen und mit viel Herzklopfen verlassen
sie die Drachenhöhle. Arist sucht sich im Wald einen
Platz, genau wie Cynric und Leon. Arist bietet Lyss von
seinem Parfüm an um den schrecklichen Gestank zu
mindern doch Cynric hat Bedenken dass es nachher
besser riecht. Lyss nimmt dass Angebot allerdings
dankbar an.
Während einige schon zu schlafen scheinen schaut
sich Lyssandro um nach Tauben oder Zweizehern wie
Gämsen oder Ziegen um. Doch es hat keine Spuren und
selbst wenn es hätte könnte er sie nicht sehen weil es
unterdessen dunkel geworden ist. Bildugan ist immer
noch auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz
während Lyss am beten ist. Es gibt viele Dinge die ihn
124
beschäftigen für die er, mit Hilfe Javes, Klarheit sucht.
Bei Cynric raschelt es weil der Nimmersatt das
getrocknete Fleisch isst. Nach und nach schlafen alle.
Es wird Morgen. Der Tau liegt noch in den Wiesen,
aber der Morgennebel hat sich schon fast verzogen.
Arist wacht auf. Er steht auf und zieht unbemerkt davon
um sich zu erleichtern; wie es zumindest den Anschein
macht. Er kehrt aber nicht zurück. Er geht zu der Türe
wo sie hergekommen waren und hinter welcher die
Spinne Shirley wacht. Es ist ein massives Metalltor und
daneben führen steile Felswände in die Höhe. Arist
zaubert eine Illusion, es sieht so aus als würde er da
stehen doch in Tat und Wahrheit ist er dabei sein
Werkzeug auszupacken um sich die Metalltüre
vorzunehmen. Er betastet mit den Fingern das Schloss,
es fühlt sich kompliziert an, er vergisst aber nicht auf
seine Illusion aufzupassen und zu kontrollieren ob nicht
von irgendwoher Gefahr lauert. Als er mit einem
Stäbchen im Schloss stochert ertönt plötzlich ein
„pling“ doch nichts hat sich getan. Er stösst und drückt
und es fängt an zu knarren, er stösst und stösst und es
knarrt entsetzlich doch die Türe ist offen. Shirley schein
es sich irgendwo anders gemütlich gemacht zu haben, es
ist auf jeden Fall niemand da. Kaum hat er sich
umgesehen, fällt er in einen Sekundenschlaf. Er sieht
einen Drachen auf sich zukommen bis er ganz nahe ist
und er hört seine Stimme: „Verflixt und zugenäht, jetzt
hört doch mal endlich auf meine Spinne zu ärgern!“.
Arist kommt sogleich wieder zu sich. Er fühlt sich
beobachtet. „Ich wollte mich doch nur im Schlösser125
knacken trainieren.“ Meint Arist ganz unschuldig. In
diesem Moment sieht er die Spinne und Arist sucht das
Weite.
Zurück bei den andern ertönt auf einmal ein
schrecklicher Angstschrei aus der Richtung der
Drachenhöhle. Dann ein intensives Gebrüll dass nach
Drache klingt. Es knackt in der Höhle und ein bleicher
Cynric kommt gerannt. „Ohhh, ich glaube er ist
wütend,“ meint er ganz verdattert. Ein Grummeln
kommt aus der Höhle und eine Tanne fängt sich
langsam an zu neigen. „Ich habe ihn gerufen. Ich
dachte, vielleicht kann er Aysha helfen.“ „Nein Cynric!
Was machst Du denn für dumme Sachen. Früh am
Morgen den Drachen zu wecken,...“ sagt der aus dem
Schlaf gerissene Lyssandro. Cynric erzählt: Ich habe so
viele Monster gesehen, aber ich durfte sie nicht töten.
Das ist so befremdend! Und dann ist mir in den Sinn
gekommen, dass ich den Drachen fragen könnte, ob er
Aysha helfen kann. Ich habe ihn nur ganz leicht
angestupst mit dem Fuss und der Faust. Das hat ihm
wohl nicht so gefallen. Doch Rashun beantwortete mir
die Frage dennoch. Er sagte, dass nach dem Leben der
Tod folgt.“ Darauf entsteht eine Diskussion zwischen
Cynric und Lyssandro über das Leben und vor allem
über den Tod. Cynric interessiert in erster Linie, ob es
im Tod auch so spannend sei wie im Leben. Leon
mischt sich ins Gespräch: „Cynric muss lernen was gut
und was böse ist.“ Nach kurzer Denkpause fügt er an:
„Gott ist der Weg und das Licht.“ Cynric hatte die
Monster im Chaos bekämpft und ist dann selber zu
126
einem geworden. Lyss sagt: „Das Äussere hat nichts mit
dem Charakter zu tun. Cynric möchte nicht böse sein, er
möchte lieb sein.“ Cynric ist beleidigt. Er packt seine
Sachen und marschiert los. Niemand bemerkt das.
Die Diskussion geht zwischen Arist und Leon
weiter. Nach langer Debatte über Gott und den Glauben
und aus dem Gespräch heraus merkt Arist, dass Leon
für einen Priester herzlich wenig Ahnung hat. Also
gesteht ihm Leon dass er in Tat und Wahrheit ein
Krieger ist. Er sei jedoch an das Gelübde gebunden
nicht zu töten, aber das sei eine lange Geschichte. Er
möchte aber das Geheimnis vor Lyssandro bewahren da
ihn das Buch von Washi brennend interessiert denn er
fürchtet, dass Lyssandro es ihm verweigern könnte
wenn er seinen hässlichen Schwindel erfährt. Leon ahnt
nicht, dass Lyssandro seinen Schwindel schon längst
durchschaut hat.
Nun drängt Leon endlich hier abzuhauen und dem
Auftrag nachzukommen. Lyssandro ist auch der
Meinung und ruft alle zusammen. Bildugan und Cynric
fehlen. „Ich habe Cynric weggehen sehen.“ Sagt Leon.
Da dämmert es Lyssandro und sagt: „Bleibt hier und
wartet auf Bildugan. Ich gehe voraus und versuche
Cynric einzuholen. Wir warten weiter vorne auf euch.“
Lyssandro rennt los, nach Cynric rufend. Er bekommt
keine Antwort. Er geht mindestens zwei stunden
Richtung Nordosten. Die Berge werden flacher und
gelangt zwischen einer Klus hindurch in eine weite
Hügellandschaft. „Das muss das Orkgebiet sein!“ denkt
er sich.
127
Bildugan ist inzwischen wieder zum Vorschein
gekommen. Leon staucht ihn zuerst gleich mal
zusammen, weil sie so lange auf ihn warten mussten.
Bildugan entschuldigt sich mit der Erklärung, er habe
einige wichtige und seltene Kräuter gefunden. Leon
kommt schnell von seiner Aufgebrachtheit herunter und
gibt die Empfehlung nun Endlich loszuziehen.
Lyssandro sieht auf einem Hügel eine Gämse. Er
denkt sofort an ein Opfer und schleicht sich an das Tier
heran. Er lässt sich aber nicht lange verleiten. Das Tier
ist viel zu weit ab von der Route. Die andern könnten
ihn verfehlen und sich verlaufen. Er kehrt um und
wartet auf die andern. Nach knapp zwei Stunden haben
sie ihn aufgeholt. Er hat sie schon von weitem durch die
Klus kommen sehen. Gemeinsam gehen sie der Route
nach weiter.
Cynric ist schon weit im Orkgebiet. Er hat diese
Klus schon vor einer halben Stunde passiert. Es gefällt
ihm, alleine zu reisen. Aber dennoch besinnt er sich,
dass er vielleicht mal auf seine Gefährten warten sollte.
Er bleibt stehen und schaut zurück. Dann plötzlich
erblickt er einige Gestalten. Sie kommen auf ihn zu.
Cynric denkt sofort an Orks. Er ergreift seine Axt und
rennt auf sie zu. Er brüllt. Die Orks wechseln nun auch
in den Sturmangriff über. Sie sind zu fünft. Dem ersten
Ork zertrümmert er mit einem schlag die Schulter, so
dass der gleich kampfunfähig hinfällt. Zwei Orks ziehen
ihre Keulen auf und dreschen auf Cynric ein. Er kann
ausweichen. Die Orks müssen das Gleichgewicht
wieder finden und Cynric haut mit seiner Axt in die
128
Beine des dritten Orks. Seine Beine sind gebrochen, er
sackt zusammen und kann nicht mehr aufstehen. Cynric
weicht etwas zurück um den Überblick zu behalten. Er
geht rückwärts und bemerkt nicht, dass von hinten ein
sechster Ork daher kommt. Der Ork zieht die Keule weit
über seinen Kopf auf und brüllt laut, sodass Cynric fast
weiche knie bekommt. Reflexartig dreht er sich um und
schwingt seine Axt mit. Sie schlitzt dem Ork die
Bauchdecke auf. Der Ork verliert gleich sein
Bewusstsein. Cynric will zurückweiche, aber die Keule
hat schon einen so grossen Impuls, dass sie ihn trifft und
Cynric rücklings zu Boden schmettert. Kurze zeit wird
ihm schwarz vor den Augen. Diesen Augenblick nützt
einer der Orks aus und drescht seine Keule laut brüllend
über Cynrics Brust herunter. Das Blut spritzt
fontänenartig aus seinem Oberleib. Verkrampfte
Zuckungen durchfahren seinen Körper. Er bleibt reglos,
kreidenweiss und blutüberströmt liegen.
Die Orks sind verschwunden und haben Cynric
einfach am Boden liegen gelassen. Leon sieht als erstes
den regungslosen Körper am Boden liegen. Schnell
erkennt er auch, dass es sich um Cynric handelt. „Das
ist Cynric!“ ruft er und rennt zu ihm hin. Die andern
folgen ihm.
Cynric liegt am Boden und ist nahe am Verbluten, er
hat einen eingeschlagenen Brustkorb und ist bewusstlos.
Bildugan sieht sich Cynric an, es sieht schlecht aus, er
deckt ihn soweit zu, dass nicht noch mehr Schmutz in
die Wunde gelangen kann. Lyssandro ist entsetzt er
beugt sich über ihn. Er versucht mit ihm zu sprechen.
129
Bildugan will über seine Aura herauszufinden, wie gut,
respektive wie schlecht es Cynric geht. „Jahve steh ihm
bei“ Lyssandro steht etwas abseits und betet. Leon
macht einen Verband mit dem Mantel von Lyssandro da
der Mantel noch einen sauberen Eindruck macht. Er
desinfiziert ihn mit Alkohol, legt ihn über die Wunde
und lagert seine Beine hoch. Bildugan ist unterdessen
umgekippt, ist kreidenweiss und hat glasige Augen.
Leon hat die Kampfspuren untersucht und schätzt
dass es sich bei den Gegnern um Orks handelte, und
dass mindestens zwei Verletzt wurden. Das Gebiet ist
hügelig, wenige Gebüsche und dürres Gras zeichnen die
Landschaft. Das Wasser wird knapp werden, spätestens
morgen.
Lyssandro denkt aber vorerst noch immer an das
überfällige Opferritual. Da entdeckt er plötzlich eine
Gämse über dem Berghang. Lyssandro sagt „Arist und
Leon geht und besorgt Wasser und Nahrung ich muss
etwas erledigen.“ Lyssandro läuft los und kommt zu
einem Bergsturz, wo es auch einen Wassergraben hat, er
kraxelt auf der Seite so lautlos wie möglich hinunter den
Gämsen hinterher. Die Gämse dreht den Kopf und wird
misstrauisch. In diesem Moment kommt Lyssandro in
den Sinn dass er gar keine geeignete Waffe dabei hat
um das Wild zu erlegen. Die Gämse isst ruhig weiter,
Lyssandro schleicht sich weiter heran, sein Rapier
griffbereit in der Hand. Als er etwa auf 10m am Tier
dran ist bemerkt ihn die Gämse doch und rennt davon.
Lyssandro
wirft
sein
Rapier
und
schiesst
erwartungsgemäss daneben.
130
Lyssandro kehrt zurück und eine heftige Diskussion
entsteht darüber wer jagen soll und wer Wasser zu
organisieren hat, da alle drei noch immer um Cynric
herum stehen. Arist meldet sich für die Jagd. Er will
aber ohne fremde Hilfe Jagen, er besteht darauf, alleine
loszuziehen. „Bildugan, halte ein Auge auf Cynric,
bitte. Leon hilf du Arist bei der Jagd. Ich hole Wasser.
Ich habe vorhin eine Quelle hinter dem Hügel
gefunden“ bestimmt Lyssandro. „Ich kann meine
Verbrechen nicht sprechen!“ Arist wollte das zwar nicht
sagen aber genau das kam heraus beim Versuch zu
erklären dass er seine Versprechen nicht brechen kann.
Er bleibt beim Lager.
Leon macht sich auf den weg. Lyssandro erinnert
ihn nochmals daran, dass er für die Opferung unbedingt
ein lebendiges Tier haben muss. Leon nimmt die
Bemerkung zur Kenntnis. Er sieht die Gämsen in der
Abenddämmerung auf einer Bergkuppe weiden. Einmal
auf der Bergkuppe angelangt, schleicht sich Leon
sorgfältig an die äsenden Tiere heran. Als erfahrener
Jäger hält er sich immer ausserhalb dem Blickwinkel
der Gämsen. Eine aufwendige Kletterei nimmt er dafür
in Kauf. Eine Anhöhe oberhalb der Tiere erleichtert ihm
sein Vorhaben enorm. Bald hat er sich auf 20m
herangearbeitet.
Als sich Arist alleine findet, reinigt Arist als erstes
sein Blasrohr, das von Leon achtlos in die Erde gesteckt
wurde, da er es wie erwartet für einen Wanderstock
hielt. Dann sucht er etwas, womit er die Öffnungen des
Blasrohrs stopfen kann, zur Erklärung, weshalb den
131
andern noch nicht aufgefallen ist, dass es sich bei
seinem Wanderstock um ein Blasrohr handelt. Er will
nicht preisgeben, dass er eine permanente Illusion
darauf gelegt hat.
Lyssandro hat unterdessen alle Wasserbehälter und
Schläuche aufgefüllt. Frustriert über seine Hilflosigkeit,
sucht er nach einem besseren Unterschlupf. Alles, was
er findet, ist eine kärgliche Felsnase, die aber immerhin
ein wenig Schutz bietet. Sorgfältig macht sich Lyss
daran, eine Feuerstelle einzurichten.
Leon unterdessen pirscht sich weiter an seine Beute
heran. Auch er hat dasselbe Problem wie Lyssandro: Es
fehlt eine weitreichende Waffe. Sein Wurfdolch muss
ausreichen. Er konzentriert sich, spannt alle seine Sinne
an und schleudert seine Waffe. Doch auch er hat kein
Glück. Klirrend fällt der Dolch auf einen Felsen und
flutscht ins Gras. In panikartiger Flucht jagen die
Gämsen den Hang hinab. Schon das zweite Mal wird ihr
Frieden jäh gestört. Es ist fraglich, ob sie sich in
nächster Zeit wieder auf diesem Hang zeigen werden.
Im stillen verflucht Leon sein Pech. Aber der
Fehlschuss ist nicht weiter verwunderlich. 17 Meter sind
auch für einen guten Werfer eine gewaltige
Herausforderung. Leon findet seinen Dolch wieder und
zu seiner Erleichterung ist er unbeschädigt geblieben.
Sorgfältig entfernt Leon die haftenden Erd- und
Grasreste und steckt den Dolch wieder in seine Scheide.
Er sieht sich nochmals um, doch wie zu erwarten war,
regt sich weit und breit kein Lebewesen. Erfolglos kehrt
er zurück und erzählt von seinem Pech.
132
Lyssandro lässt nicht locker und bittet nun auch
noch Arist um Hilfe, um endlich an sein langersehntes
Opfer zu gelangen: „Hast du denn eine bessere
Jagdmethode?“ „Ja,“ meint Arist, „das habe ich. Ich
habe sie einfach noch nie in der Wildnis ausprobiert.“
„Gut,“ sagt Lyss erleichtert, „dann lass uns jagen
gehen.“ Doch auch jetzt weigert sich Arist, Lyss zu
begleiten. Arist will alleine gehen und lässt einen
konsternierten Lyssandro zurück: „Weshalb bloss gibt
sich Arist immer so geheimnisvoll?“
Inzwischen ist es dunkel geworden, doch der Mond
spendet ein fahles Licht. Dieses reicht allerdings nicht
aus, um wirklich Spuren von jagdbaren Tieren zu
finden. So marschiert Arist weiter, möglichst lautlos,
und späht dabei angestrengt nach allen Seiten. Unter
den funkelnden Sternen hält er sich von der Gruppe weg
und geht talabwärts. Als er nach einer Stunde nichts
sichtet, beschliesst er, hangaufwärts zu klettern und sich
dann nach rechts zu wenden, wo er nach knapp einer
Stunde eine Kuppe erreicht. Etwas ausser Atem hält er
weiterhin nach Gämsen Ausschau, dann entdeckt er
etwas an einer gegenüberliegenden, sehr steilen und
felsigen Wand. Es handelt sich aber weder um eine
Gämse noch um ein sonst jagdbares Wild. Man erkennt
ein flackerndes Feuer. Arist greift in seinen Beutel und
nimmt eine art Zepter heraus. Er umschliesst es mit
beiden Händen. Wie von der Welt verschluckt, wird
Arist unsichtbar. Nur seine Fussspuren verraten seine
Anwesenheit, aber es ist zu dunkel um sie zu erkennen.
Er nähert sich dem Feuer und entdeckt bald
133
Höhleneingänge, vor denen sich das Feuer befindet. Zu
seinem Erschrecken muss er feststellen, dass es sich bei
den Gestalten, die vor dem Feuer sitzen, um Orks
handelt. Zum Glück hat er sich nicht schon zu nah
herangewagt, so dass er von einer Entdeckung bedroht
gewesen wäre. Rasch und möglichst lautlos zieht er sich
zurück. Erschrocken von seiner Entdeckung, will er die
Suche nach einem Opfertier aufgeben und zum Lager
zurückkehren. Doch jetzt sichtet er endlich seine
langersehnte Gämse: Eine Mutter und ihr Kitz, die sich
auf einem Podestplatz niedergelassen haben. Sie
scheinen zu schlafen. Vergessen sind die Orks und er
schleicht sich von hinten an die ruhenden Tiere an. Er
hält vor dem Felsen kurz inne, um sich zu überlegen,
wie man am besten auf den Vorsprung gelangt. Doch
bevor er sich wirklich herangearbeitet hat, schreckt die
Mutter auf. Lauschend stellt sie die Ohren, scheint sich
dann aber wieder zu beruhigen. Doch jetzt hat sie die
Augen offen, ab und zu dreht sie den Kopf, auch in
Arists Richtung. Arist verharrt in einer unangenehm
verkrampften Haltung im Felsen. Ein Krampf im linken
Bein lässt ihn hoffen, dass die Gämse sich bald
beruhigt.
Lyss beginnt sich Sorgen um Arist zu machen: „Wo
bleibt Arist so lange?“ Er blickt auf Leon, doch dieser
blickt hypnotisiert in die Ferne und gibt keine Antwort.
So hält Lyss weiterhin Wache.
Arist ist mitten in seine Jagd vertieft. Endlich hält er
den Kopf vorsichtig über die Kante und bringt sein
Blasrohr in Position. Leise zischend schiesst er einen
134
Pfeil. Die Mutter jagt sogleich davon, doch das Kitz
folgt ihr nicht. Es blökt zweimal leiser werdend und fällt
hin. Zufrieden, aber völlig erschöpft hebt Arist jetzt
seine wohlverdiente Beute und trägt das Kitz den
anstrengenden Weg nach Hause.
135
5. Spielsitzung , 18. Juli 2002
Die Sonne ist schon seit einigen Stunden unter dem
Horizont und es herrscht eine mysteriöse Dunkelheit.
Die Monde lassen den trockenen Sand in einem silbern
Glanz erscheinen. Von dem Feuerchen ist im Moment
nur ein glühender Haufen Kohle sichtbar. Lyssandro hat
die Glut so verdeckt, dass sie schon aus kurzem Abstand
nicht mehr zu erkennen ist. Es ist ruhig um den
Lagerplatz, wenn man überhaupt von einem Lagerplatz
sprechen kann. Denn bislang hat sich noch niemand zur
Gegenwärtigen Lage geäussert. Jeder geht seinen
eigenen Interessen nach, und dass sie sich mitten in
orkischem Territorium befinden scheint sie auch sehr zu
beeindrucken - woher auch, Cynric hat es ihnen ja noch
nicht sagen können. Cynric liegt nämlich noch immer
regungslos am Boden.
Dem Gefühl nach müsste schon bald Mitternacht
sein. Bildugan wird von Leon schlafen geschickt: “Hau
dich aufs Ohr, ich will die erste Wache schieben.“ Zu
Lyssandro sagt er nichts. Der ist damit beschäftigt, die
letzten Vorkehrungen für das Opferritual zu treffen. Er
legt sein Messer bereit und sammelt Holz. Leon schaut
ihm zu.
Arist kommt von der Jagd zurück. Er trägt eine
Gämse über der Schulter. „Hast du das Tier? Lebt es
noch?“ fragt Lyssandro, bevor er Arist in der
Dunkelheit richtig erkennen kann. Arist streckt ihm das
gelähmte Tier entgegen: „Ja es lebt noch.“ Lyssandro
strahlt über sein Gesicht, sodass der ganze Lagerplatz
136
erleuchtet wird. Er hält das Tier an den Hinterläufen und
sagt: „Ein Prachtstier, danke Arist, jetzt bin ich in deiner
Schuld.“ Lyssandro greift nach dem Messer. Er holt aus
und Schneidet dem Tier mit Schwung die
Halsschlagader auf. Dazu spricht er einige
unverständliche Worte. Fontänenartig spritzt das Blut zu
Boden. Es versickert sofort im staubigen Dreck. Es
dauert einige Sekunden, bis der Druck des Blutstroms
nachlässt. Lyssandro lässt das Tier bis auf den letzten
Tropfen ausbluten.
Arist würde dem Ritual gerne beiwohnen, aber er ist
zu müde. Bevor er sich aber schlafen legt, nimmt er
seinen Wanderstock und entfernt dessen beiden Enden.
Der Wanderstock entpupt sich als das Blasrohr, mit dem
Arist die Gämse gejagt hat. Er legt die Waffe neben
seinen Schlafplatz mit der Absicht, dass jemand darauf
aufmerksam wird.
Lyssandro legt sein Opfertier auf den Boden. Er
greift zum Messer und schneidet dem Tier die
Bauchdecke auf. Sorgfältig nimmt er dem Opfer die
Eingeweiden heraus und legt sie neben das Feuer. Mit
zusätzlichem Holz lässt er das Feuerchen zu einem
Feuer werden. Er schichtet das Holz so, dass sich ein
Rost bildet. Sorgfältig legt er die Eingeweide auf das
brennende Holz und kniet ins Feuer starrend hin. Er
faltet die Hände und hält sie vor seine Brust. Man kann
erkennen, dass er ein Gebet spricht. Dazu macht er
Wippbewegungen mit seinem Oberkörper.
Es dauert etwa zwanzig Minuten bis die
Eingeweiden verbrannt sind, dann steht Lyssandro auf
137
und legt neues Holz an. Wieder tut er das so, dass das
angelegte Holz eine Ablage bildet. Er schichtet es,
damit möglichst viel Luft das Feuer unterstützen kann,
denn so wird das Feuer heisser, und das Opfer brennt
besser. Er nimmt das ausgeweidete Tier und legt es zu
oberst auf das Feuer. Es beginnt zu brennen. Ein
hässlicher Gestank geht durch die Luft von dem
brennenden Fell und den Klauen. Lyssandro stört das
nicht. Er kniet wieder hin und setzt die Gebete fort - die
ganze Nacht.
Am nächsten Morgen ist Leon der erste der aufsteht.
Er wundert sich über die Ausdauer von Lyssandro, der
noch immer am Opfern ist. Leon entfernt sich einige
Schritte von der Gruppe. Er trainiert, genau wie es
Washino Ocurimono damals getan hat. Er wirft Messer
auf Baumstämme, schlägt Luftlöcher mit seinen Fäusten
und Füssen und macht Beweglichkeitsübungen. Er
trainiert nach einem gut eingeübten Schema - etwa eine
Stunde lang. Danach setzt er sich im Schneidersitz unter
einen Baum. Die aufgehende Sonne erhellt sein Gesicht.
Er schliesst die Augen und meditiert.
Zwischendurch unterbricht Lyssandro seine
Opferung um neues Holz zu sammeln. Er bringt in
kurzer Zeit wieder einen ansehendlichen Haufen
zusammen. Er legt gleich vom neuen Holz etwas ins
Feuer, kniet wieder hin und setzt, ohne ein Wort von
sich gegeben zu haben, die Opfergebete weiter fort.
Leon hat fertig meditiert. Er sieht, dass Arist noch
immer schläft. Gleich fällt ihm - genau wie von Arist
beabsichtigt - das Blasrohr neben ihm auf. Er ist sich
138
sicher, dass es ein Blasrohr ist, denn genau so sieht es
aus, aber war das nicht Arists Wanderstock? Neugierig
inspiziert Leon Arists Geheimwaffe, in diesem Moment
erwacht Bildugan ein paar Meter daneben. Hurtig legt er
den Stock wieder neben Arist, als hätte er nichts
gesehen. Bildugan nimmt Leons Inspektionen nicht
wirklich wahr. „Guten Morgen Bildugan, hast du gut
geschlafen?“ fragt er Bildugan mit vorwitzig fröhlicher
Stimmlage. Bildugen ist noch nicht gerade zum
Frohlocken zumute: „Morgen Leon. Danke der
Nachfrage, ich glaube schon.“ Er reibt sich die Augen
und schaut um sich. Er sieht Lyssandro seine Gebete ins
Feuer murmeln. Leon sitzt den Wanderstock bestaunend
neben dem schlafenden Arist. Als seine Augen in
Richtung Cynric schwenken, bleibt sein Blick fixiert. Er
schreitet zu ihm hin um nach seinem Zustand zu
schauen. Cynric liegt noch in der genau gleichen Lage
da wie gestern. Er atmet ganz schwach und sein Puls ist
kaum wahrnehmbar, aber er scheint noch immer am
Leben zu sein. Er hat viel Blut verloren. Bildugan
überlässt ihn wieder dem Schicksal, denn im Moment
kann er nichts für ihn tun.
„Ich geh auf Beerensuche, dann gibt’s mal was
zwischen die Zähne,“ verkündet Bildugan und entfernt
sich Richtung Hügel. „Dann bring noch einen Schlauch
frisches Wasser mit!“ ruft ihm Leon hintennach. Davon
erwacht jetzt auch Arist. „Tag Arist!“ sagt Leon. Arist
wünscht auch Leon einen schönen Tag. „Ist etwas
unvorhergesehenes passiert heute Nacht?“ Leon
schüttelt den Kopf. „...und wie steht’s mit Cynrics
139
Zustand?“ fragt er nach, worauf Leon nur, „...weiss
nicht, ich glaube gut, musst besser Bildugan fragen,...“
zu Antworten weiss. Arist geht zu Cynric hin mustert
ihn und sagt: “Wenn er nicht bald wieder zu sich
kommt, dann haben wir ein ernstes Problem, wenn wir
das nicht jetzt schon haben.“ Er erwähnt aber nichts von
den Orkspuren, die er letzte Nacht bei der Gämsenjagd
entdeckt hatte. „Ja du hast recht, wir müssten schon
längst weiterziehen. Ich geh mal die Umgebung etwas
erforschen, vielleicht finde ich ja etwas nützliches,“ gibt
Leon zur Antwort und Arist stimmt ihm zu: „Ja tu das,
ich halte hier solange Wache.“
Leon ist keine 5 Minuten unterwegs, da findet er
schon die ersten ungewöhnlichen Spuren im sandigen
Boden. Er folgt der Spur. Zwischendurch scheint die
Spur zu verschwinden, aber er findet sie immer wieder
und folgt ihr weiter. Leon ist ein guter Spurenleser,
jeder Andere hätte die Fährte schon längst verloren. Die
Spur führt ihn zu einer Höhle. Er geht ein paar Schritte
in die Höhle hinein. Es ist ihm aber zu finster und zu
unheimlich, also beschliesst er, die Fährte irgendwo
ausserhalb der Höhle wieder aufzunehmen. Vor der
Höhle findet er Knochen und Gebeine von Tieren. Da
scheint sich jemand genüsslich getan zu haben. Er
vermutet, dass es sich um Orkspuren handelt, und dass
hier nicht ein Ork ein Festmahl hatte, sondern mehrere.
Leon erkennt, dass die Spur in einer andern Richtung
noch weiterführt. Er folgt ihnen, aber nicht besonders
lange, denn unterdessen ist er schon recht weit vom
Lager weg. Er beschliesst zum Lager zurückzukehren.
140
Als Leon beim Lager ankommt ist auch Bildugan
schon wieder da. Er hat einen Schlauch mit frischem
Wasser und einen ganzen Korb voll Beeren. Sogar ein
paar Nüsse hat er gefunden. Er stellt seine Beute erstmal
hin und setzt sich neben Arist. „Du bist fündig
geworden wie es aussieht.“ bemerkt Arist und blickt auf
den vollen Korb. „Ja hinter dem Berg ganz in der Nähe
der Quelle hat es Sträucher prall gefüllt mit süssen
Beeren. Sie sind geniessbar, ich kenne sie. Probier doch
mal!“ Arist nimmt ihn beim Wort. Er nimmt sich den
Korb und kostet die Beeren. Sie schmecken ihm, und er
hat Hunger: „Hmm, wirklich lecker. Ganz süss!“
Bildugan reisst ihm den Korb wieder weg: “He, nicht
gleich alle wegessen. Mach uns lieber ein gutes
Mittagsmahl daraus.“ Arist findet das eine
hervorragende Idee. Aber er hat eine kleine Bitte:
„Könntest du etwas gegen meine Blasen tun? Ich habe
mir bei der langen Wanderung riesige Blasen an den
Füssen zugezogen. Es tut so weh, ich kann kaum noch
gehen.“ „Blasen?“ Bildugan lacht, „Gegen Blasen kann
man leider nichts tun, ausser sie heilen zu lassen. Du
musst halt ein wenig auf die Zähne beissen. Wenn sie
dann geheilt sind entsteht daraus Hornhaut, und dann
wirst du nie mehr Blasen bekommen.“ „Lach nicht! Ich
sterbe vor Schmerz, hast du nicht wenigstens eine
Salbe?“ Arist jammert, als liege er auf der Folter. Aber
es zahlt sich aus. Bildugan gibt nach: „Na gut, ich habe
ein Rezept, das dir die Schmerzen etwas lindern könnte,
aber die Heilung geht dadurch nicht schneller!“ Er
nimmt aus seinem Beutel ein paar Teeblätter und wirft
sie in seinen Topf. Den Topf füllt er halb mit Wasser.
141
Nun muss er den Tee noch aufwärmen. Bildugan schaut
rüber zu Lyssandro. Lyssandro ist voll in Trance vor
seinem Opfer. Bildugan stört Lyssandro zwar nur
ungern, aber er fragt ihn, ob es ihn störe, wenn er über
seinem Feuer schnell den Tee heiss mache. Lyssandro
gibt keine Antwort, er scheint Bildugan gar nicht
wahrgenommen zu haben. Also macht sich Bildugan
selbstautoritär und hält den Topf mit einer Stange über
das Opferfeuer. Das Feuer ist heiss genug, um das
Wasser in Kürze zum Kochen zu bringen. Der Tee löst
sich langsam aus den Blättern. Um das Wasser wieder
etwas abzukühlen gibt Bildugan noch den Rest vom
kalten Wasser in den Tee. Zuerst füllt er alle leeren
Wasserschläuche mit dem Tee ab. Was übrig bleibt gibt
er Arist: „Hier! Bade deine Füsse darin, das betäubt
deine Empfindungen von den Blasen.“ Arist stellt den
Topf vor sich auf den Boden und taucht vorsichtig seine
dreckigen Füsse hinein. Er geniesst das Fussbad,
obwohl er dessen Wirkung ein wenig anzweifelt. Aber
er sagt nichts. Tatsächlich, nach kurzer Zeit schon sind
die Schmerzen weg. Bildugan nimmt ihm den Topf
unter den Füssen weg, trocknet sie mit einem Tuch und
sticht mit einer spitzen Nadel in die Blasen. Das
Brandwasser ist unter Druck. Die Hälfte spritzt gleich
von selbst heraus. Was noch unter der Blase bleibt
presst er mit dem Finger heraus. Bildugan ist sehr
geschickt bei seiner Arbeit. Er reinigt die Wunden mit
einem sauberen Tuch, das er mit Alkohol getränkt hat
und Verbindet die Füsse anschliessend. Arist bedankt
sich einige Male bei Bildugan. Keine Ursache für
Bildugan. Er hilft gerne wenn er kann.
142
Wie versprochen fängt Arist damit an, ein
Mittagsmahl zu bereiten. Er schaut nach, was sie alles
Essbares bei sich haben. Höflich fragt er nach Bildugans
frisch gepflückten Beeren: „Ich könnte ein äusserst
leckeres Gericht damit zaubern.“ „Natürlich, dazu sind
sie ja da!“ erwidert Bildugan.
Arist Kocht ein Gericht aus Beeren, Trockenfleisch,
Mandeln und diversen Gewürzen und Kräutchen aus
seinem Repertoire.
Leon kommt gerade von seiner Tour zurück. Er wird
als erstes von Arist angesprochen: „Was hast du
entdeckt?“ „Nichts!“ ist seine Antwort und wechselt
gleich das Thema: „Wie geht es Cynric?“ Arist und
Bildugan werden gleich hellhörig und schauen nach
dem Patienten. Cynric liegt noch immer in derselben
Lage da wie vorhin, aber er hat plötzlich geöffnete
Augen. „Er ist erwacht, schaut, er ist erwacht! Cynric
kannst du uns hören?“ schreit Bildugan. Aber Cynric tut
keinen Wank. Arist holt einen Schlauch mit Tee.
„Cynric, wenn du mich hörst, dann blinzle mit den
Augen!“ sagt Bildugan. Cynric blinzelt fast unmerklich.
„Er leeebt! Cynric leebt, er hat mich verstanden!“ ruft
Bildugan in den Himmel hinauf. Arist kommt mit dem
Schlauch zurück und hebt den Kopf von Cynric etwas
hoch. „Hier, du musst trinken, damit du nicht
verdurstest. Du hast sehr viel Blut verloren.“ Er hält ihm
die Öffnung an den Mund und Cynric trinkt mit ganz
zaghaften Schlückchen von dem Tee. Er verschluckt
sich. Davon ist er so erschöpft, dass er gleich die Augen
143
wieder schliesst und aufhört zu trinken. Arist legt
Cynrics Kopf wieder ab.
Arist schaut kurz nach seinem Gericht. Es scheint
alles bestens zu sein, denn er Nickt mit dem Kopf,
nachdem er mit dem Finger eine Kostprobe genommen
hat. Er geht zu seinem Fussbad und hält seine Füsse
wieder hinein. „Die Wirkung hält aber nicht gerade
lange an,“ sagt Arist zu Bildugan. Leon trifft fast den
Schlag, als er Arist im Tee baden sieht: „Seid ihr denn
von Sinnen! Ihr verschwendet diesen kostbaren Tee für
ein Fussbad! Das kann ja wohl nicht euer Ernst sein.“
Leon staucht Bildugan gehörig zusammen. Bildugan
weiss sich nicht so richtig zu wehren dafür hilft ihm
Arist: „Hör auf Leon, ich habe riesige Blasen an den
Füssen. Das ist Medizin für mich.“ Er jammert Leon
vor, wie sehr er schmerzen von den Blasen hat, und dass
er ohne das Bad gar nicht mehr gehen kann. „Glaubst du
ich hatte noch nie Blasen? Ein Mann sollte das
verkraften können!“ gibt Leon zur Antwort. Der Streit
zwischen den beiden geht los. Sie schreien sich
gegenseitig an. Bildugan versucht zwischendurch den
Konflikt mit lindernden Worten zu unterbrechen. Aber
der Streit endet erst damit, dass Leon Arist eine deftige
Ohrfeige knallt. Darauf ist es mäuschenstill.
Bildugan ist nach gut fünf Minuten der erste, der
wieder etwas sagt: „Was ist eigentlich mit Lyssandro?“
Er schaut zu ihm rüber. Just in diesem Moment sieht er,
wie Lyssandro vor Erschöpfung zusammenklappt und
regungslos am Boden liegen bleibt. Wie von einem Ork
gejagt rennen die drei zum Opferfeuer um nach
144
Lyssandro zu schauen. Er hat Puls und er atmet.
Glücklicherweise ist er nur ohnmächtig. Das war wohl
etwas zu viel des Opferns. Leon legt Lyssandro in eine
bequemere Lage, und lässt ihn schlafen.
Arists Gericht ist mittlerweile fertig. Der Chefkoch
ruft zum Essen. Es mundet. Der Hunger macht sich
bemerkbar, sie essen alles restlos auf. Danach machen
Arist und Bildugan ein Nickerchen. Leon hält solange
Wache.
Arist schläft unruhig. Schon nach einer halben
Stunde erwacht er wieder. „Du hast geträumt Arist.
Kannst du dich an den Traum erinnern?“ fragt Leon, der
Arist bei seinen Zuckungen im Schlaf genau beobachtet
hat. „Ich weiss nicht genau. Es war alles ganz
verschleiert und undeutlich. Eine Horde von
Ungeheuern kam auf mich zu, und schien mich zu
überrennen. Ich glaube es waren Orks, ich konnte es
aber nicht richtig erkennen, es war zu düster.“ „Du hast
von Orks geträumt? Das ist ein schlechtes Ohmen.“ und
Leon erzählt von dem Zehenabdruck, den er bei seiner
Tour hinter dem nahen Hügel entdeckt hat. Sie
philosophieren über die mysteriöse Botschaft und
kommen zur Überzeugung, dass sie sich in grosser
Gefahr befinden. Aber was sollten sie tun. Sie hätten
einfach fliehen können, und die andern im Stich lassen,
aber das wäre Feige.
Es wird Abend und Bildugan und Leon werden von
Arist schlafen geschickt: „Geht schlafen, ich halte so
lange Wache, ich könnte jetzt eh nicht schlafen. Er sitzt
145
an das langsam ausgehende Opferfeuer von Lyssandro
und schaut andächtig in die gläsern klirrende Glut.
Es ist totenstill in der Umgebung. Die Feuerstellen
sind am ausgehen. Allmählich beginnt Arist zu frösteln.
Er hält es aber nicht für klug, das Feuer wieder zu
entfachen. Stattdessen zieht er sich etwas wärmer an.
Es wird schon langsam Morgen aber es ist noch
immer dunkel, da sieht Arist am Horizont eine
Lichterschlange erscheinen. Sie kommt über den Hügel,
und wird immer länger. Es sieht so aus, als käme sie
geradewegs auf das Lager zu. Als erstes weckt Arist die
andern auf. Im ersten Moment ist Leon über die Aktion
mitten in der Nacht ziemlich überrascht und ruft aus. Er
wird aber von Arist zum Schweigen befohlen. Erst jetzt
sieht auch er die nahende Lichterkette. „Was ist das?“
fragt er. Arist antwortet mit gedämpfter Stimme: „Ich
weiss es nicht, aber es sieht genau so aus, wie in
meinem Traum. Ich geh hin und finde es heraus.“ „Aber
sei vorsichtig, geh nicht zu nah heran,“ bittet ihn
Bildugan. Lyssandro kümmert sich bereits um Cynric:
„Wenn du mich verstehst, dann gib mir ein Zeichen.“
Cynric nickt mit dem Kopf. „Gut,“ sagt Lyssandro. „Du
hattest den grössten himmlischen Beistand, den man als
irdisches Wesen bekommen kann, Eigentlich solltest du
nach deinen Verletzungen tot sein. Was ist geschehen,
wurdest du angegriffen?“ Cynric nickt. „Von Orks?“
Cynric nickt wieder. Auf diese Reaktion meint
Lyssandro mit bedrückter Stimme nur: “Du musst einen
aussergewöhnlich guten Schutzengel haben.“ „Der
Kreis ist noch nicht geschlossen,“ gibt Cynric nach
146
kurzer Denkpause und mit ganz schwacher Stimme zur
Antwort. Jetzt ist Lyssandro ein wenig überfordert. Er
freut sich, dass Cynric spricht, weiss aber nicht genau,
was er mit diesen Worten gemeint hat. „Ja, du hast
recht, der Kreis ist für dich noch nicht geschlossen,“
und denkt dabei an den Lebenszyklus.
Bildugan wird langsam unruhig, denn die
Lichterschlange kommt immer näher. Er sieht, dass es
sich um viele einzelne Wesen handelt, die eine Reihe
bilden und Fackeln tragen. „Wir müssen hier weg! So
formiert man sich, wenn man auf einer Treibjagd ist.
Die Suchen etwas ganz bestimmtes. Ich hoffe, dass
nicht wir ihr Jagdopfer sein sollen.“ sagt er. Leon ist
derselben Meinung: „Wenn wir jetzt genau quer zu ihrer
Treibrichtung gehen, dann ziehen sie an uns vorbei,
vorausgesetzt, dass sie ihre Richtung nicht ändern.“ Er
geht zur Feuerstelle hin und verwischt die mittlerweile
ausgebrannte Asche. „Was machen wir mit Cynric? Und
wir können doch Arist nicht einfach im Stich lassen,“
fragt Bildugan ganz verdattert. Lyssandro sagt: „Cynric
legen wir auf meine Bettrolle und tragen ihn damit zu
zweit. Arist findet uns schon wieder, keine Angst. Ich
hoffe nur er kann sich verstecken.“
Leon, Bildugan und Lyssandro versuchen
gemeinsam ganz vorsichtig den halbtoten Cynric auf die
Bettrolle zu legen. Gleich als sie es geschafft haben
kommt Arist zurück: „Es sind Orks. Viele Orks, sicher
hundert. Und sie haben Fackeln. Ich konnte ihr Gerede
leider nicht genau verstehen, aber sie diskutierten leise
über irgendetwas, soviel weiss ich. Ich bin mir sicher,
147
dass sie etwas ganz bestimmtes suchen.“ „Wir müssen
fliehen!“ warnt Arist, aber Cynric ist nicht
einverstanden. Er spricht mit ganz zaghafter Stimme:
„Halt, ihr könnt mich nicht so weit tragen, sie würden
uns entdecken und einholen. Tragt mich zu den
Felsbrocken dort drüben, dann könnt ihr euch unter
meiner Tarnung verstecken!“ Tatsächlich hat es etwa
vierzig Schritte vom Lager entfernt ein paar
Felsbrocken rumliegen. Aber die Tarnfähigkeiten von
Cynric und dessen Wirksamkeit stellen die andern
zunächst in Frage und lehnen den Vorschlag ab. Cynric
beharrt auf seinem Vorschlag. „Los versteckt euch. Ich
will gar nicht wissen, was die Orks genau tun. Ich kann
nicht ausschliessen, dass sie nach uns suchen. Und wenn
sie uns suchen, dann möchte ich erst recht nicht wissen,
was sie mit uns machen, wenn sie uns finden!“ Cynric
wiederholt seinen Vorschlag. Er stösst nun doch auf
Einverständnis,
denn
langsam
beginnt
die
Morgendämmerung und die leuchtende Schlange
kommt immer näher.
Arist zaubert hurtig eine Illusion über den
Lagerplatz, damit die Fussspuren und die Asche der
Feuerstelle etwas erschwerter sichtbar sind. Lyssandro
und Leon tragen Cynric hinter einen der Felsbrocken.
„Legt euch ganz dicht neben mich und bewegt euch
nicht!“ rät Cynric den andern. Lyssandro und Bildugan
legen sich ganz dicht neben Cynric. Leon zieht es vor,
auf einen Felsen hinauf zu steigen und sich auf diese Art
zu verstecken. Der Mantel von Cynric beginnt zu
mutieren und überdeckt seine beiden Gefährten und ihn
148
selbst. Die Tarnung ist perfekt. Der Mantel ist vom
Stein nicht zu unterscheiden.
Arist hat bedenken, dass ihre Fussspuren sie verraten
würden. Sie legen eine Irrfährte von den Felsbrocken
weg, weiter in die Ebene. Nach etwa hundert Metern
lassen sie ihre Spur im Sand verlaufen. Dann kehren sie
auf ihren eigenen Spuren zurück und steigen auf einen
Felsen. Arist macht sich unsichtbar.
Nach ein paar Minuten Ausharren hören sie die
Truppe herannahen. Sie hören ihre Stimmen. Sie
kommen näher, die Stimmen werden lauter und
deutlicher. Man versteht sie nicht, sie sprechen eine
andere Sprache. Sie sind jetzt bei den Steinen und halten
inne. Die Linie verformt sich zu einem Klumpen. Einer
redet, wahrscheinlich der Anführer. Jetzt sprengt sich
die Gruppe auf. Die Orks marschieren von den
Felsbrocken weg, in allen Himmelsrichtungen. Auch der
Anführer. Sie löschen ihre Fackeln allmählich aus. Die
Morgendämmerung ist soweit fortgeschritten, dass sie
kein künstliches Licht mehr gebrauchen. Ein einziger
Ork bleibt bei den Felsen zurück und mustert sie genau.
Er sucht etwas. Er steht genau hinter den Stein unter
dem sich Cynric befindet. Arist kann genau beobachten,
wie er sein Geschlechtsorgan ergreift. Der Ork holt
gerade tief Luft, da Ruft ihm ein Anderer etwas
Unverständliches zu. Es scheint ihn zu beeindrucken. Er
unterbricht sein Vorhaben und geht zu dem anderen
Ork. Sie entfernen sich zusammen von den Felsen weg.
Leon und Arist haben alles genau beobachtet. Sie
müssen sich das Lachen auf den Stockzähnen
149
verbeissen. Sie warten, bis alle Orks ausser Sicht sind.
Leon folgt sofort den Spuren, die von der grössten
Orkgruppe erzeugt wurden um herauszufinden, wohin
sie gehen und was sie suchen. Er folgt der Spur bis auf
einen Hügel. Von Hügel herab hat er eine perfekte
Aussicht, aber er kann ausser einer Spur, die bis zum
Horizont zu führen scheint, nichts sehen. Vor allem
keine Orks mehr. Er kehrt um. Arist ist unterdessen
wieder sichtbar geworden und hat Entwarnung gegeben.
Lyssandro und Bildugan kommen aus ihrem Versteck
hervor. „Das ging noch mal gut!“ sagt er, und steigt auf
einen Felsbrocken. Von weitem kann er Leon sehen. Er
winkt ihm zu.
150
6. Spielsitzung , 15. August 2002
151
7. Spielsitzung , 8. September 2002
Schon von weitem ist sie sichtbar, die Trutzburg von
Calos mit ihren mächtigen Bergfried, und die hohe
Stadtmauer, in deren Schatten sich die unzähligen
Häuser der Stadt eingenistet haben. Ihr Grau hebt sich
deutlich von dem blendenden Blau des Ozeans ab, der
sich hinter dem Städtchen, scheinbar endlos erstreckt.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis sie endlich ans
Stadttor gelangen, das, eingerahmt von zwei Türmen,
ihnen den Weg in die Stadt versperrt. Ihre Begleiter,
augenscheinlich an das Reiten auf diesen seltsamen
Kreaturen gewöhnt (und wahrscheinlich mit keinem
Geruchsinn ausgestattet), sind einiges schneller aus dem
Sattel gerutscht als unsere Abenteurer. Mit mehr oder
weniger steifen Gliedern (Wie zum Geier soll man das
ausdrücken ohne zweideutig zu werden?!?!?) dehnen
und strecken sie sich, um die vom langen Ritt
verkrampften Muskeln etwas zu lockern.
Trotz diesen Unbequemlichkeiten sieht Lyssandro
viel entspannter aus als seit langem schon; jetzt, da sie
das Orcgebiet endlich hinter sich gelassen haben und die
unmittelbare Gefahr überstanden ist. Obwohl er es sich
selbst nicht hat eingestehen wollen, war die dauernde,
doch unsichtbare Bedrohung durch die Orcs doch recht
zermürbend gewesen. Mit ein paar freundlichen Worten
verabschiedet er sich von ihren Begleitern. Beat ist zu
ihm getreten. Lyssandro ahnt, um was ihn dieser gleich
bitten wird, sein Gesicht wird plötzlich sehr
nachdenklich. "Lyssandro, ich möchte mich euch
152
anschliessen!“ Genau das hat Lyssandro geahnt, oder
besser gesagt, befürchtet. Beat muss seine
Zurückhaltung wohl verspürt haben, denn er fährt fort:
„Ich frage nicht für mich. Du erinnerst Dich, das ich
noch ein Kind auf den Hacken habe, für das ich mich
verantwortlich
fühle.“
An
Lyssandros
Verantwortungsgefühl zu appellieren, ist kein dummer
Schachzug, was Arist, der inzwischen nähergekommen
ist und den letzten Satz mitbekommen hat, mit einem
kurzen, anerkennenden Lachen quittiert. Lyssandro
wirft ihm einen kurzen unfreundlichen Blick zu, bevor
er mit einem Seufzen fortfährt: „Vielleicht erinnert ihr
euch, dass einer unserer Freunde vor kurzem einem
feigen Mord zum Opfer gefallen ist. Wir wissen noch
immer nicht, wer dieses Verbrechen begangen hat. So
ist es doch nur natürlich, vorsichtig zu...“ „Du
verdächtigst mich des Mordes?!?“ fällt ihm Beat ins
Word, augenscheinlich ziemlich aufgebracht. Lyssandro
wirkt gequält, als er antwortet: „Ich verdächtige
niemanden. Noch bin ich unsicher, was den Mord an
Cynris betrifft. Doch da ist etwas an Dir... Etwas wie
eine böse Aura...“ Er verstummt. Er kann seine Gefühle,
deren er selbst nicht sicher ist, nicht in Worte fassen.
Beat stampft kurz mit dem Fuss auf. „Und wegen
Deiner... Vorahnungen, oder wie auch immer man deine
Empfindungen nennen sollst, vernachlässigst Du Deine
heilige Pflicht zu helfen?!? Darauf muss Lyssandro eine
Antwort schuldig bleiben. Jetzt sind auch die andern auf
diesen Austausch aufmerksam geworden; und selbst
Arist zollt der Sache jetzt den Ernst, den sie eigentlich
verdient. Er nestelt in einer seiner Taschen und bringt
153
schliesslich etwas zum Vorschein, das er sorgfältig in
seiner Hand hält: Eine Feder. „Vielleicht habe ich hier
eine Lösung zu unserem Problem.“ meint er trocken.
„Diese Feder ist ein magischer Artefakt.“ Er geniesst
die fragenden ( vielleicht auch ungläubigen) Blicke der
andern, bevor er fortfährt: „Diese Feder kann über
bestimmte Ereignisse ein Gedicht schreiben, wenn man
sie darum bittet. Diese Zeilen werden wahr werden,
bevor der Hahn dreimal kräht. Auf diese Weise sollte es
uns möglich sein, denjenigen zu entlarven, der für das
tragische Hinscheiden von Cynris verantwortlich ist.“
Und mit einer grossen Geste überreicht er die Feder
Lyssandro, der sie nur zögernd in die Hand nimmt. Ihm
ist die Warnung auf dem Artefakt nicht entgangen, und
wenn er sie wirklich in seinen Gewahrsam nimmt, lastet
die Verantwortung für das weitere Geschehen
betreffend der Feder auf ihm, dessen ist er sich nur
allzusehr bewusst. Beats Gesicht hat sich verdüstert.
„Ihr wollt tatsächlich eine Feder darüber entscheiden
lassen, was mit Yoshi und mir passiert?“ Sein Ton
macht deutlich, was er von dieser Idee im allgemeinen
und von der Feder im besonderen hält. „Ein
Zauberspruch kann lügen.“ L achtet nicht auf seine
Worte, aufmerksam dreht und wendet er die Feder in
seinen Händen, untersucht sie sorgfältig. „Was ist das
für ein Ding?“ fragt Yoshi, der ihn ungeduldig
beobachtet hat. „Die Feder scheint antik, vielleicht 2300 Jahre alt, soweit ich das beurteilen kann.“
Antwortet L bereitwillig. „Sonst kann ich nichts
besonderes daran entdecken. Woher hast Du diese
Feder, Arist?“ „Aus einer Höhle.“ antwortet Arist auf
154
seine Frage, ziemlich lapidar. „Sie hatte nicht viele
Bewohner. Ausser einem Drachen und ein paar Ratten.“
Lyssandro starrt zuerst ihn an, dann die Feder, bevor er
sie schliesslich in seine Tasche steckt. „Danke.“ „Hört
mal, wollen wir das wirklich hier diskutieren?“ kommt
es vernünftig von Beat, der sich umgesehen hat. Es sind
vor allem Bauern, die durch das Stadttor ein- und
ausgehen, mit ihrem eigenen Tagwerk, ihren eigenen
Sorgen beschäftigt, aber man kann ja nie wissen...
Dann, leiser, sehr eindringlich warnt er L nochmals:
„Glaube mir, solche Artefakte sind gefährlich. Ich
würde davon abraten, sie zu benutzen, oder, falls es
unbedingt sein muss, seine Aussage in Zweifel ziehen.“
Lyssandro nickt ihm zu. Er hat nicht vor, die
Handhabung der Feder auf die leichte Schulter zu
nehmen. Es ist Yoshi, der das aufkommende Schweigen
schliesslich, mit glänzenden Augen, bricht: „Wow. Wir
haben doch bisher noch nie irgendwelche Magie
gebraucht! Ich kann ja gut kämpfen, wirklich, aber mit
Zauberei... also, ich halte es für besser, den gesunden
Menschenverstand zu benutzen!“ Ein leises Lächeln
kräuselt Beat’s Lippen, als er antwortet: „Im Prinzip
hast Du recht, Yoshi. Man sollte immer seinen gesunden
Menschenverstand zuerst gebrauchen. Doch die Magie
kann ein wertvolles Instrument sein, wenn es darum
geht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sie ist
gewissermassen das i-Tüpfelchen auf den Worten, die
Du mit deinen Taten schreibst.“ „Vielleicht sollten wir
über den Gebrauch der Feder in der Gruppe
entscheiden.“ meint Arist. „Aber nicht jetzt.“ Er weist
mit dem Daumen über seine Schulter. Hinter ihnen,
155
beim Stadttor, haben die Wachen damit begonnen, die
ein- und austretenden Bauern zur Eile anzutreiben. Sie
wollen das Tor schliessen, bevor die Dämmerung, und
mit ihr die Dunkelheit, vollends hereinbricht. Es sind
stämmige, robuste, muskulöse Männer mit einer
farbenprächtigen Uniform, die aus gelben Pluderhosen
und einer ledernen Weste besteht. Ihre Gesichter sind
unrasiert, und sie tragen ihre Waffen mit jener
Lässigkeit, die den erfahrenen Kämpfer kennzeichnet.
(Könnte ruhig viiiieeeeeel detaillierter beschrieben
werden, wird dem Leser aber an dieser Stelle erspart! J)
Ein misstrauischer Blick aus verkniffenen Augen
trifft sie vom ersten Wächter, und sein „Woher kommt
ihr?“ klingt nicht gerade freundlich, als sie näher ans
Tor herantreten, doch seinem Kollegen sind bereits ihre
vierbeinigen Begleiter ins Auge gestochen, und in halb
gespielten, halb ernsten Entsetzen tritt er zurück.
„Arghhh! Sie bringen diese stinkenden Lamas aus
Zigmak! Die wollen ganz bestimmt zu Igur!“ Er macht
ein Zeichen, dass sie passieren können, doch der andere
Wächter versperrt ihnen mit seinem Speer den Weg.
„Ich will trotzdem wissen, woher ihr kommt.“ sagte er.
„Ich habe euch noch nie hier gesehen.“ „Wir sind
Abgesandte des Königs von Trochäa!“ wirft Arist ein
und weist mit dem Kind auf Beat und Yoshi. „Die da
sind unsere Begleiter.“ „Ich stamme aus Meek, am
Flusse Tabor.“ Ergänzt Beat, als er den forschenden, ja
verächtlichen Blick des Wächters auf sich ruhen fühlt.
Der Wärter gibt ein Grunzen von sich. „Wie lange
gedenkt ihr zu bleiben, werte Herren?“ „Ein bis zwei
156
Tage.“ Diesmal ist es Leon, der antwortet. „Dann
werden wir per Schiff weiterreisen.“ Fürs erste scheint
das Misstrauen des Wächters beschwichtigt. Vielleicht
ist er auch unsicher, wie er die Leute vor ihm
einschätzen soll, und ob seine Grobheit ihm später
Aerger einbringen könnte. So gibt er einigermassen
bereitwillig Auskunft, als Beat ihn nach Gasthäusern
fragt, die um diese Zeit noch Gäste aufnehmen. „Ha!“
meint er. „Da wäre das hüpfende Maultier zu
empfehlen. Das Bier dort ist ausgezeichnet, und die
Wirtin...“ offenbar ist sein Wortschatz zu beschränkt,
um die Wirtin zu beschreiben, aber sein Gesicht hat sich
zunehmend aufgeheitert. Ob dies dem Bier des
„Maultiers“ oder dessen Wirtin gilt, ist schwer zu sagen.
„Wenn ihr das Haus Igur’s sucht...“ wirft der zweite
Wärter hilfreich ein. „Dann verfolgt gerade die erste
Gasse rechts, wenn ihr zum Tor hineintreten. Dann
braucht ihr nur eurer Nase zu folgen. Das Haus, das am
meisten stinkt....“ Er lacht über seinen eigenen Witz und
grunzt zufrieden, als er wie sein Kollege für ihre
Auskünfte ein Kupferstück in die Hand gedrückt
bekommen. Jetzt endlich steht dem Einzug in die Stadt
nichts mehr entgegen.
Ein starker Kontrast ist es, der sich den Gefährten
jetzt bietet, nach all den weiten, einsamen Landschaften,
die sie bisher durchschritten haben, denn sofort werden
sie von der Stadt mit ihrem geschäftigen Betrieb mit
Beschlag belegt. Haus an Haus reiht sich vor ihren
Augen aneinander, sie rahmen den kleinen Platz ein, auf
dem sie gerade stehen, und nur einige enge, gewinkelte
157
Gassen sorgen dafür, dass diese Steinfront nicht allzu
bedrohlich, beengend wirkt. Trotz der fortschreitenden
Dämmerung sind viele Leute unterwegs, so dass man
rasch den Eindruck bekommt, in einem Ameisenhaufen
gelandet zu sein. Es sind Händler zu sehen, die gerade
ihre übriggebliebene Ware abräumen, und ihre Rufe und
die Scherzworte, die sie einander zuwerfen, hallen
durch die Nacht. Dazu das Lachen von Kindern, das
Klappern von Pferdehufen, die unzähligen mehr oder
weniger wohlriechenden Gerüche – die Stadt hat sie
wieder und nimmt all ihre Sinne in Beschlag. Wie ihnen
beschrieben wurde, folgen die Abenteurer jetzt der
ersten Gasse nach rechts, und tatsächlich bereitet es
ihnen keine Mühe, Igur’s Haus zu finden, wenn auch
nicht aufgrund des Geruchs, sondern wegen des Stalls,
der daneben steht. Da es das einzige Haus ist, das einen
solchen aufweist, müssen sie den gesuchten Igur bereits
gefunden haben. Dieser scheint, dem Haus nach zu
urteilen, in dem er lebt, nicht gerade ein armer Mann zu
sein, es ist zwar an vielen Stellen mit Holz statt mit
Stein gebaut, macht aber dennoch einen robusten
Eindruck. Bildugan klopft als erster an die holzige Türe,
und sogleich erhebt sich eine energische Stimme: „Wer
da?“, deren Lautstärke nicht zu verachten ist. „Wir
bringen Lamas von Suismazz!“ ruft Bildugan zurück
und tritt erschrocken einen Schritt zurück, als die Türe
schwungvoll aufgerissen wird. Vor ihnen steht ein
Wikinger wie aus dem Bilderbuch. Seine massige,
vierschrötige Gestalt füllt den Türrahmen. Ein wilder,
blonder Vollbart ziert sein Gesicht, in den sich die
ersten grauen Strähnen mischen. Von seiner Stirn fallen
158
zerzauste Locken, so dass von seinem Gesicht eigentlich
nur die gutmütig funkelnden Augen sichtbar sind; und
die Spitze einer roten Knollennase, die von reichlich
Alkoholgenuss spricht. Er trägt rote Stoffhosen, die von
einem breiten Ledergürtel gehalten werden, doch sein
Oberkörper ist nackt. (Dies könnte viiiiiiel länger
beschrieben werden, aber... ihr kennt den Rest! J )
„Endlich sind die Lamas da!“ dröhnt er, und seine
Stimme ist seiner gewaltigen Gestalt mehr als
ebenbürtig. „Ich bin Igur.“ „Ich bin Kaitu.“ stellt sich
dieser als erstes höflich vor und streckt dem Wikinger
seine Rechte hin. Schweiss tritt auf seine Stirn, als Igur
sie packt. Er hat das Gefühl, mit seiner Hand in einen
Schraubstock geraten zu sein, dann quetscht er
energisch zurück, was ein Grinsen auf das Gesicht
seines Gegenübers zaubert. Als Igur seine Hand endlich
loslässt, bewegt er probehalber die Finger, um zu
überprüfen, ob sie noch alle dran sind. Bildugan und
Leon erhalten dieselbe Behandlung, und auch ihr
Gesicht verzerrt sich für einige Sekunden vor Schmerz.
Dies scheint Yoshi ausreichend gewarnt zu haben, denn
er verbeugt sich höflich vor dem Riesen, ohne ihm
jedoch die Hand zu geben. „Ich bin Yoshi ben Vihas.“
Ein wohl gutgemeinter Klaps auf die Schulter von
Seiten Igur’s lässt ihn in die Knie sinken. Arist versucht,
diesen Behandlungen zuvorzukommen und gibt
seinerseits
dem
Wikinger
einen
heftigen
Begrüssungsschlag auf die Schulter, ist aber nicht
schnell genug, der „Revanche“ auszuweichen, aber zu
seiner Schadenfreude kann er jetzt immerhin
beobachten, dass Lyssandro sowohl der Handschlag wie
159
auch das Schulterklopfen von dem zunehmend
enthusiastischen Wikinger zuteil werden. „Ach ja, die
Lamas.“ meint Igur dann. „Ihr könnt sie gleich hier
hinüberbringen. Dann sind sie für die Nacht
untergebracht.“ Er geht ihnen einige Schritte voran, um
das Gatter zum Stall zu öffnen. Die Lamas folgen ihm
willig, doch eines kann es nicht lassen, Arist zum
Abschied anzuspucken. Dann zieht es sich mit
unschuldiger Miene schleunigst hinter die anderen
Lamas zurück. „Bin ich froh, diese Viecher endlich los
zu sein." Meint L, lässt aber offen, ob er sich auf den
Geruch oder das Spucken bezieht. Zum Glück hat er
bereits genügend Abstand zu den Tieren, sonst wäre
wohl eine unappetitliche Retourkutsche seitens der
Tiere unmittelbar gefolgt. Igur lässt hinter ihnen das
Gatter zuknallen und weist dann einladend auf sein
Haus hin, dessen Türe noch immer offensteht. „Wollt
ihr noch rasch in meine bescheidene Hütte eintreten?“
meint er. „Mein Haus steht euch offen, so lange ihr
hierbleiben wollt.“ „Eigentlich wollen wir ja nach
Ormanja.“ sagt Arist. „Doch ich bleibe gerne für eine
Weile hier.“ „Eigentlich sollten wir doch sofort weiter!“
protestiert Lyssandro, doch jetzt desertiert „seine“
Truppe. „Ich muss noch meinen Kräutervorrat
ergänzen!“ sagt er. „Wo ich doch einmal in der Stadt
bin.“ Igur, der ihren Dialog amüsiert verfolgt, rät ihm:
„Dann geh doch zur alten Lea an die Küste. Sie wird
sich freuen, jemanden zum Fachsimpeln zu sehen, und
dir gerne etwas von ihren Kräutervorräten abgeben.“
Leon hat unterdessen Lyssandro am Aermel gezupft,
„ich muss weg, meditieren“ geflüstert, und ist
160
verschwunden, ohne diesem die Gelegenheit zu geben,
dazu irgendetwas zu sagen. Nur Kaitu scheint
vernünftiger: „Wir müssen noch für unsere
Uebernachtung sorgen!“ erinnert er. „Diese Wirtin, die
des „Maultiers“, Isabella, scheint ein guter Vorschlag
gewesen zu sein!“ Das Grinsen, das bei diesen Worten
auf seinem Gesicht liegt, scheint ihn sofort in Igur’s
Achtung zu heben. Arist und Yoshi sind bereits Igur in
dessen Haus gefolgt, und als auch Kaitu sich ihnen
anschliesst, bleibt auch Lyssandro nichts anderes übrig,
als ihnen zu folgen. Das Hausinnere ist geräumig,
offenbar aus einem einzigen Raum bestehend, und
schlicht, aber nichtsdestotrotz behaglich eingerichtet.
Ein hell loderndes Kaminfeuer erhellt den halbdunklen
Raum, der zudem mit einem mächtigen Holztisch und
den dazugehörigen Stühlen ausgestattet ist. An einer
Wand sind grosse Fässer gestapelt. Igur winkt ihnen zu,
sich an den Holztisch zu setzen, während er zu den
Fässern eilt und sogleich damit beginnt, ein paar
beachtliche Humpen mit einer goldenen Flüssigkeit zu
füllen, die er ihnen dann schwungvoll vor die Nase
setzt. „Mein bescheidenes selbstgebrautes Bier.“ meint
er, doch der Stolz in seiner Stimme widerspricht seinen
bescheidenen Worten. „Auf den Lamahandel!“ und er
stösst der Reihe nach mit Lyssandro, Kaitu, Bildugan
und Yoshi an, der sich abmühen muss, den Humpen
halten zu können, ohne dazu zu zittern. Das Bier ist kühl
und erfrischend, wenn auch etwas stark, und Igur nimmt
ihre Komplimente dazu strahlend entgegen. Eine Weile
trinken sie schweigend. „In meiner Heimat haben wir
zum Biertrinken immer gespielt.“ unterbricht dann Arist
161
die Stille, ein sentimentaler Klang liegt in seiner
Stimme. Igur klopft ihm lachend auf die Schulter.
„Jawohl, gespielt.“ dröhnt er. „Und in meiner Heimat
haben wir Lieder dazu gesungen, zotige Lieder, versteht
sich.“ Ein dröhnendes Lachen erschüttert seinen
mächtigen Körper. „Bei uns...“ ergänzt Yoshi, als Igur
sich etwas beruhigt hat, „...würde man jetzt tanzen.“
„Ich helfe Dir!“ stellt sich Kaitu hilfreich zur
Verfügung, erntet aber nicht mehr als einen skeptischen
Blick von diesem. „Kannst Du das denn auch?“ fragt
Yoshi nach. „Ich meine, du weißt, wie man
Gesellschaftstänze tanzt?“ „Führst Du oder ich?“
versetzt Kaitu trocken, womit er wohl Yoshis
respektlose Frage beantwortet hat. Nach einigen
Anweisungen, die Yoshi bereitwillig abgibt, wagen die
beiden ein Tänzchen, das nicht einmal allzu ungraziös
aussieht. Igur hat unterdessen ihre Krüge wiedergefüllt,
diesmal aus einem andern Fass. „So, dann wird ich wohl
dann besser aufbrechen.“ sagt Bildugan, als ihm das
Getränk vor die Nase gesetzt wird. „Wenn ich diese Lea
noch aufsuchen will.“ Igur runzelt die Stirn. „Ich glaube
nicht, dass Du die Stadt noch verlassen kannst.“ sagt er.
„Es sei denn, Du möchtest über die Stadtmauer klettern.
Du musst den Besuch wohl besser auf morgen
verschieben... „Na schön.“ antwortet Bildugan etwas
sauertöpfisch, da er seine Pläne durchkreuzt sieht, und
misstrauisch betrachtet er das Getränk in seinem Krug.
„Sag mal, Igur, hast Du auch etwas Wein da?“ Diesmal
ist der Wikinger sichtlich amüsiert. „Nein, das trinken
wir hier nicht. Höchstens die Herren vom Schloss sind
es sich gewöhnt, diesen in die durstige Kehle zu
162
schütten.“ „Dafür hast Du hier ausgezeichnetes Met.“
Unterbricht Kaitu, der schon fleissig dabei ist, den
Grund seines Kruges zu entdecken. „Nicht wahr?“ freut
sich Igur. „Met von dieser Qualität kriegst Du sonst
nicht so schnell. Hab mir extra ein paar Fässchen aus
dem Norden schicken lassen dafür!“ Er macht sich
daran, ein paar Geschichten aus seiner Heimat, dem
Norden zum Besten zu geben, und Kaitu zeigt sich als
interessierter und aufmerksamer Zuhörer, was ihm
schliesslich einen freundschaftlichen Schlag auf die
Schulter von Igur einbringt. „Weißt Du..“ meint dieser
leutselig, „...du bist ja soweit ganz in Ordnung, auch
wenn Du wie eine Frau aussiehst.“ Er grinst in sich
hinein, während die andern offen lachen. Kaitu verzieht
etwas gequält das Gesicht und ist nicht sicher, ob sich
Igur über die Zweifelhaftigkeit seines Komplimentes im
klaren ist.
Die Stimmung wird schnell noch heiterer, als Yoshi,
motiviert wahrscheinlich von der ihm ungewohnten
Menge Alkohol, plötzlich fragt: „Lyssandro, bist Du ein
Held?“ Vor allem Arist grinst sehr breit über diese
Bemerkung. „Naja.“ weicht Lyssandro aus. „Helden
lassen im allgemeinen ihre Taten für sich sprechen...“
„Und würdest Du Dich als Held bezeichnen?“ So leicht
lässt sich Yoshi nicht abwimmeln. „Naja...“ wiederholt
Lyssandro, doch da kommt ihm Arist zu Hilfe. „Helden
bei uns in der Gruppe haben es schwer.“ meint er
leichthin. „Sie müssen sich anpassen.“ „Und das gefällt
Dir nicht?“ wendet sich Yoshi mit grossen Augen an
Lyssandro. „Das ist schon in Ordnung.“ antwortet dieser
163
schliesslich und wirft Arist einen Blick zu, nicht sicher,
was er von dessen Bemerkung halten soll. „Ich weiss.“
seufzt Yoshi. „Man muss überhaupt immer eine Rolle
spielen.“ Obwohl er das sicher aus Erfahrung weiss,
klingt es seltsam altklug aus seinem Mund.
„Ueberhaupt ischt Tugend das Wichtigste, pardon,
Loyalität die gröschte Tugend...“ gibt jetzt Kaitu zum
Besten, seine Zunge stolpert dabei, als wäre er
betrunken. Mit diesem Einwurf ist aber nicht allzu viel
anzufangen, und so fährt Lyssandro nach kurzem
Zögern fort: „Auch die Absichten sind es, die einen
Helden ausmachen. Gute Absichten, das ist es, was ein
Held hat. Ob diese dann auch in gute Taten umgesetzt
werden können, die keine schlimmen Folgen nach sich
ziehen, das liegt nicht immer im Ermessen des
Heldens.“ „Ja, schon, aber...“ wendet Yoshi ein. Sein
Bild eines Helden sieht ein wenig anders aus. Da dieser
Kommentar aber nicht sehr aussagekräftig ist, platzt er
schliesslich heraus: „Kannst Du mich kämpfen lehren,
Lyssandro?“ Als Antwort darauf lacht Arist schallend,
während Lyssandro ob so unverhohlener Bewunderung
in Verlegenheit gerät. „L und kämpfen?“ spöttelt Arist,
als er wieder zu Atem kommt. „Da wirst Du eher lernen,
wie man ewig diskutiert!“ Selbst Bildugan, der
versonnen neben ihnen gesessen hat, rauchend, muss
über diese Bemerkung lachen.
Die Zeit vergeht wie im Fluge, während weiter
fleissig Bier und Met in ihren Krügen schäumen.
Schliesslich scheint sich bei Igur zu dessen
gewaltigem Durst auch noch der Hunger bemerkbar zu
164
machen, denn er fragt: „Nun, meine Freunde, was
würdet ihr von einem kräftigen fetten Lamabraten
halten?“ Er erhält einen anerkennenden Schlag, mit
voller Wucht geführt von Kaitu, für diesen Vorschlag,
aber falls Wikinger dabei etwas spürt, lässt er es sich
jedenfalls nicht anmerken. „Ich hoffe jedenfalls...“
scherzt Arist, „...dass es sich hierbei nicht um MEIN
Lama handelt.“ Igur wischt sich den Mund, wo sich der
Bierschaum in seinem Schnurrbart verfangen hat.
„Wieso? Willst Du als Lehrling bei mir einsteigen?“
Das Angebot ist durchaus ernstgemeint. „Würde mir das
etwas bringen, besser mit Kaitu umzugehen?“ fragt
Arist seelenruhig zurück und weicht einem
wohlgezielten Krug Met aus, der in seine Richtung
flieht. Kaitu verbeisst einen Fluch. „Mein Met!“ ruft
Igur halb erschrocken, halb belustigt, und packt seinen
Humpen fester, bevor Kaitu auch diesen als Flugwaffe
benutzen kann. Durch seinen Fehlgriff verliert Kaitu
seinen Halt und knallt von seinem Hocker, seine
Landung ist mehr als etwas ungraziös. Igur steht jetzt
auf und hilft ihm auf die Füsse. „Hilft mir jemand,
unseren zukünftigen Braten zu schlachten. Für soviele
Leute reicht meine alltägliche Verpflegung nicht!“
Kaitu, den die unsanfte Landung zu ernüchtert haben
scheint, beginnt, seinen Oberkörper zu entkleiden,
wobei einige kunstvolle Tätowierungen zum Vorschein
kommen. (Dies könnte man viiiiiel länger beschreiben
usw. usf. you know the rest) Tatbereit reibt er sich die
Hände. Igur braucht nicht lange, um ein mächtiges Beil
zum Vorschein zu bringen. Er verschwindet in den Stall,
wo er die Lamas eingehend mustert, bevor er sich für
165
ein Tier entscheidet, das er dann in ein dem Stall
angrenzendes Gebäude führt. Sorgfältig bindet er das
Tier fest, das sich überraschend friedfertig verhält und
nichts von seinem Schicksal zu ahnen scheint.
Schliesslich schwingt er das Beil, und zumindest Yoshi
wendet die Augen ab, denn es ist nicht jedermanns
Sache, einer Schlachtung, die zudem auf ziemlich
blutige Art und Weise vorgenommen wird, zuzusehen.
Aber er nickt tapfer, als ihm Igur das blutverschmierte
Beil mit einem kurzen „Putzen!“ reicht, und macht sich
am Brunnen an seine unappetitliche Aufgabe. Allzusehr
kann ihn die Sache dann aber doch nicht mitgenommen
haben, denn anschliessend fragt er eifrig: „Und? Darf
ich auch einmal zuhauen?“ Auch Kaitu kniet neben dem
toten Lama. „Wie häutet man das Tier?“ fragt er
interessiert, und Igur zeigt ihnen, wie man dabei
vorgehen soll. Dann reinigt Yoshi, begierig, etwas
Neues zu lernen, das Tier von seinen Gedärmen, was
erneut eine im wahrsten Sinne des Wortes eine
bluttriefende Angelegenheit ist. Kaitu unterstützt ihn,
achtet aber sorgfältig darauf, dass kein Blut an seine
Hosen gerät. Dennoch lassen sich ein paar Spritzer auf
seiner Hose nicht vermeiden. Während Kaitu und Yoshi
also Igur unterstützen, ihren Braten zuzubereiten,
erinnert Arist Lyssandro noch einmal an die Feder, die
sie bei sich tragen: „Wir sollten darüber abstimmen,
wann und ob wir die Feder benutzen wollen! Ich denke,
das beste wäre morgen, wenn wir alle ausgeschlafen
sind!“ Lyssandro nickt zustimmend. „Ich werde sie bis
morgen sicher verwahren.“ „Ich glaube nicht, dass
Kaitu böse ist...“ meint Bildugan nachdenklich, der
166
ihnen zugehört hat. „Aber das Messer... ich weiss
nicht...“ Aber das ist nicht etwas, das die beiden andern
jetzt diskutieren wollen. Zudem haben Kaitu und Yoshi
gerade ihre Arbeit beendet und waschen sich unter
Prusten und Aechzen das Blut von den Händen und vom
Körper. „He, Igur! Hast Du eine Drahtbürste?“ fragt
Kaitu mit einem wehleidigen Tonfall in der Stimme.
„Meine Hose hat etwas abgekriegt!“ Igur besitzt
tatsächlich eine, obwohl er sie wohl kaum dazu benutzt,
seine Kleider sauberzubürsten. Nachdem Igur dem Tier
ein Stück Braten heruntergeschnitten hat, dass wohl
ausreichen würde, eine ganze Legion zu ernähren,
begeben sie sich zurück ins Haus, froh, der abendlichen
Kühle zu entrinnen. Hier zeigt Yoshi sein wahres Talent
bei der Fleischzubereitung. Er übernimmt sofort das
Zepter in Igurs Küche und fügt ihm einige Kräuter
hinzu, wobei er sich bei dem Wikinger darüber beklagt,
dass kein radix orcus foetissimus vorhanden sei, was
den ganzen Braten verderben könne. Daneben erkundigt
er sich, ob man den Lamakopf essen könne, das Herz,
die Gedärme und so weiter, und Igur nickt jedesmal.
Bald schon dreht sich ein gewaltiger Spiess mit dem so
vorbereiteten Braten über einem kleinen Feuer,
sorgfältig bewacht von Yoshi. Eine willkommene
Gelegenheit für Igur, lauthals zu verkünden, dass die
Vorfreude auf eine kräftige Mahlzeit unheimlichen
Durst in ihm auslöse und dass er gezwungen sei, sowohl
seine eigenen als auch die Krüge seiner Gäste nochmals
zu füllen! Er ist gerade damit beschäftigt, als eine Welle
kühle Luft von der Tür her ihn aufblicken lässt. Es ist
Leon, der von seiner nur Lyssandro bekannten
167
Unternehmung zurückgekehrt ist. Er reibt sich für einen
Augenblick die Hände, um sie zu wärmen, und neigt
dann grüssend den Kopf, während seine Augen die
Szene vor ihm überfliegen. „Immer her mit Dir!“ brüllt
Igur und macht und breitet seine Arme aus. „Da scheine
ich einen guten Riecher gehabt zu haben.“ meint Leon
leichthin. „Wie mir scheint, liegt der Duft nach Braten
in der Luft. Ich komme wohl gerade rechtzeitig zum
Essen!“ Er setzt sich zu den andern an den Tisch.
Tatsächlich ist er hungrig. Er hat die Stadt, kaum dass er
sie betreten hat, gleich wieder verlassen, ohne daran zu
denken, etwas Essbares mitzunehmen. Was vielleicht
auch besser so war, denn Leon wollte, wie er Lyssandro
angekündigt hatte, einen ruhigen Ort für sich suchen, an
dem er seinen aufgewühlten Geist beruhigen, meditieren
und mit seinem Meister in Kontakt treten konnte. Er hat
diesen Ort auch gefunden, in der Form eines kleinen
Olivenhains, wo er sich hingesetzt hat unter einen dieser
uralten, knorrigen, dunklen Bäume, nur beobachtet von
einem misstrauischen Bauern, der nicht recht wusste,
was er von Leons seltsamen Verhalten halten solle.
Seine Gedanken sind beherrscht von einem Gedanken:
Dem an Cynris Tod, und wer dafür verantwortlich sein
könnte. Er hat inbrünstig gehofft, dass sein Meister ihm
in dieser Hinsicht etwas erzählen würde... Doch obwohl
er sehr schnell seine Umgebung, die Olivenbäume samt
dem knurrigen Bauern und seinen hungrigen Magen
vergisst, ist es ihm nicht recht gelungen, eine eigentliche
Antwort auf seine drängendsten Fragen zu erhalten. Ist
dies, weil er – trotz all seiner Bemühungen – viel zu
aufgewühlt ist? Oder weil es ihm nicht gelingt, seinen
168
Meister zu erreichen? Schliesslich hat Leon die
Sinnlosigkeit seines Vorhabens erkannt und aufgegeben,
für den Moment jedenfalls. Er wird später wieder
versuchen, von seinem Meister Rat zu erhalten. Erst
jetzt bemerkt Leon, dass Lyssandro, der zu seiner
Rechten sitzt, ihn fragend anschaut. Er zwingt sich ein
rasches Lächeln ab und erzählt in kurzen Worten, was er
diesen Abend erlebt hat.
Arist, von der anderen Seite des Tisches her, mischt
sich in ihre leise Unterhaltung ein. „Jetzt, da wir alle
endlich wieder vollzählig versammelt sind, können wir
auch überlegen, wie lange wir denn eigentlich hier in
Calos bleiben wollen. Wir müssen uns wirklich für eine
Weile ausruhen! Ich halte drei Tage für angebracht.“
„Ja, ich denke, wir bleiben hier für drei Tage.“
Lyssandro ist ganz Arists Ansicht. „Gut.“ versetzt dieser
mit funkelnden Augen. „Dann können wir ja jetzt auch
darüber entscheiden, wann wir mein kleines Artefakt,
die Feder, einsetzen wollen.“ „Jetzt.“ meint Lyssandro
und vergewissert sich, dass Kaitu noch immer mit dem
Reinigen seiner Hose beschäftigt ist und ihnen nicht
zuhören kann. Und zwar will ich nur wissen, ob der
Mörder sich noch in unserer Gegenwart aufhält.“
Unbewusst wandert sein Blick noch einmal in Richtung
Kaitu. „Vielleicht waren es ja auch böse Trolle!“ mischt
sich Yoshi ein, der seinen Braten für einen Augenblick
unbewacht lässt. Seine Stimme klingt aufgebracht.
"„Wenn ihr wirklich denkt, dass Kaitu euren Freund
ermordert habt, dann überlegt lieber, wie ihr diese
extreme
Anschuldigung
rechtfertigen
wollt!“
169
Glücklicherweise ist er nicht zu aufgeregt, seine Stimme
so gedämpft zu halten, dass Kaitu ihn nicht hören kann.
„Du meinst kleine Arists?“ wirft Arist leichthin ein, um
den aufgeregten Jungen zu besänftigen, jedoch ohne
Erfolg. Yoshi wendet sich sogleich an Leon. „Und wo
hast Du eigentlich die ganze Zeit gesteckt?“ fragt er.
„Sich einfach so davonzustehlen!“ Leon blickt ihn
irritiert an, macht sich aber dann doch die Mühe, sein
Verhalten zu erklären: „Ich brauchte dringend noch ein
bisschen frische Luft. Um meine Gedanken zu orden.“
„Um deine Gedanken zu ordnen!“ äfft ihn Yoshi nach.
„Konntest Du denn das nicht auch hier tun?“ Er ist jetzt
wirklich in Fahrt! Was die andern von Kaitu denken,
scheint ihm am Herzen zu liegen. Seine Inbrunst
beschämt Lyssandro etwas. Tatsächlich scheinen seine
unguten Gefühle gegen Kaitu rational nicht begründbar,
sondern rein persönlich motiviert... Zudem gefällt es
ihm, wie der junge Mann vor ihm seinen Freund
verteidigt. Im Gegensatz zu Arist gelingt es jetzt Igur,
die Stimmung etwas zu lockern. „Die Gedanken ordnen
ist eine gute Tätigkeit für einen jungen Mann.¨ und
begleitet seine Rede mit einem schwungvollen Hieb auf
Leons Schulter. „Das tun wir in unserer Heimat auch
immer. Aber es lohnt sich jedenfalls nicht, sich von
seinen Gedanken traurig machen zu lassen!“ Er sieht
Leon forschend an, welcher darauf ein breites Grinsen
auf sein Gesicht zaubert. Igur ist augenscheinlich
zufrieden gestellt und macht sich daran, auch Leon
einen Humpen Bier zu bringen. „Ich bin dagegen, dass
wir den Artefakt schon jetzt benutzen.“ nimmt jetzt
Arist den fallengelassenen Faden wieder auf. Jetzt wird
170
Lyssandro aufmerksam. Vorher hat Arist die ganze Zeit
auf die Benützung des Artefakts gedrängt, und jetzt will
er sie auf einmal aufschieben. Er wirft diesem einen
forschenden Blick zu. „Nun mal raus mit der Sprache,
Arist!“ sagt er. „Was spricht dagegen, dass wir den
Artefakt schon jetzt...“ Er verstummt, als er einen
warnenden Blick von Arist auffängt, doch zu spät. Die
Stimme Kaitus in seinem Rücken – er hat ihn nicht
näherkommen hören – meint anklagend: „Ihr diskutiert
also, WANN der Artefakt benützt werden soll? Ich
dachte, es wäre noch nicht einmal entschieden, OB dies
der Fall sein wird!?!“ Das Schweigen, das seiner Frage
folgt, ist beredt genug. Finster zieht Kaitu die Brauen
zusammen. Yoshi zieht sich schleunigst zu seinem
Braten zurück. Lyssandro sieht ein, dass es keinen Wert
hat, ihre Unterredung länger vor Kaitu zu verbergen.
„Ja, was ist mit dem Artefakt?“ wiederholt er. „Arist
scheint auf einmal einen Widerstand dagegen zu
entwickeln, ihn zu benutzen! Du denkst also, dass es
jemand von unserer Gruppe war.“ Arists Augen blicken
so finster wie die Kaitus. „Sogar ich könnte es gewesen
sein.“ Es ist leichthin hingeworfen, soll aber davon
ablenken, dass Arist tatsächlich Bedenken hat, die Feder
zu benutzen. Er ist sich über die Fähigkeiten dieses
Gegenstandes nicht recht bewusst, da er ihn sich auf
nicht ganz alltägliche ( und ehrliche ) Art und Weise
beschafft hat. Vielleicht ist die Feder magisch, vielleicht
auch nicht, vielleicht entfesselt man mit ihrer Benutzung
Mächte, mit denen man nicht gerechnet hat... Er gedenkt
die Feder sowieso auf eine andere Art und Weise zu
nutzen. Sollte jemand sie aus Lyssandros Besitz
171
entfernen, dann hat jemand aus ihrer Mitte reichlich
Grund, den Artefakt zu fürchten...
Wieder entsteht eine seltsame Stille. „Wisst ihr...“
verkündet Leon...“ich fühle mich so schuldig wegen
Cynris Tod. Ich hatte damals die Wache übernommen...
Ich muss eingeschlafen sein...“ Hat ihn das
Gedankenordnen nicht sentimental gemacht, dem Met
ist es gelungen. Igur klopft ihm tröstend auf die
Schultern, was Leon aber die Tränen in die Augen
treibt, wenn auch aus andern Gründen als Igur vermutet.
„Am besten ist es, wir schlafen noch einmal darüber.“
beschliesst Lyssandro. Er ist es leid, das Thema weiter
zu diskutieren. Arist hat schlussendlich seinen Willen,
was die Benutzung der Feder betrifft, bekommen.
Endlich,
als
ihre
Mägen
aufgrund
des
verheissungsvollen Geruchs, der in der Luft liegt, schon
zu knurren beginnen, verkündigt Yoshi mit
verheissungsvollem Gesicht, dass der Braten jetzt
„gerade gut durch“ sei.
Es herrscht ehrfürchtiges, jedoch beredtes
Schweigen, als sich alle hungrig darüber hermachen, die
Stille wird nur ab und zu durch ein „Hmm,
ausgezeichnet!“, „Köstlich“ oder „Schneid mir noch
mal ein, zwei Happen von dem Braten runter!“
unterbrochen. Schliesslich, als alle sich zufrieden
zurücklehnen und mehr oder weniger verstohlen den
Hosenbund lockern, und Igur den letzten Happen
Fleisch in seinem Mund verschwinden lässt, meint er
mit einem anerkennenden Klaps auf Yoshis Schulter:
„Gut gemacht, Bub! Ich könnte dich direkt als meinen
172
Leib-Lama-Koch einstellen.“, und auch die andern
zollen vor allem der ausgezeichneten Würze des
Fleisches ihre Anerkennung. Yoshi sonnt sich in der
allgemeinen Bewunderung, an der nur Kaitu nicht
teilnimmt, da er inzwischen vollkommen betrunken sein
muss. „Der Raum... schwankt die ganze Zeit.“ beklagt
er sich weinerlich. „Muss wohl... krank sein.“ Er macht
Anstalten, aufzustehen. „Muss mehr Met holen...
ausgezeichnete Medizin gegen Schwindel...“ Niemand
beachtet ihn vorerst, denn Igur hat gerade begonnen,
ein, zwei Geschichtchen aus seiner Heimat zu erzählen,
die nicht weniger zotig sind als seine Lieder.
„Thorhammer“ ist eines der Worte, das jedenfalls
ziemlich häufig fällt...
Auch Lyssandro hört den amüsanten Geschichten
Igurs zu, doch seine Gedanken beginnen nach und nach
abzuschweifen, und sein Blick wandert. Er hat von all
den Anwesenden wohl weitaus am wenigsten getrunken
– nicht ohne Bedauern, denn die Qualität von Igurs Met
lässt nichts zu wünschen übrig –
Und er ist wohl der erste, der bemerkt, dass Kaitu
vielleicht nicht so betrunken ist, wie er vorgibt zu sein,
auch wenn er gerade wieder eine hervorragende
Vorstellung abliefert. Taumelnd ist er von seinem Sessel
aufgestanden, verlangt mit gebieterischer Stimme zu
wissen, wo er denn pinkeln könne – dringender Fall! –
bevor seine Knie unter ihm und er unsanft gegen einen
Stützpfosten knallt. Er gibt würgende Geräusche von
sich. Arist steht jetzt auf, um wie Kaitu die Toilette
aufzusuchen. Nur Yoshi ist in der letzten Zeit immer
173
stiller geworden. Er stützt seinen Kopf auf, und ab und
zu rutschen seine Lider, und es gelingt ihm nur noch mit
Mühe, sich aufrecht zu halten. Der Junge hat tapfer
mindestens 1 ½ Liter von Igurs starken Gebräu intus,
eine Menge, die selbst den Erwachsenen zu schaffen
machen würde, zudem ist er eine solche Menge Alkohol
nicht gewöhnt. Es ist eine Frage der Zeit, bis er mit dem
Kopf unsanft auf die Tischplatte knallen wird. Leon ist
es, der sich schliesslich seiner erbarmt. Spielerisch
stupst er Yoshi an, um dann zu verkünden: „Ziemlich
hinüber.“ Kaitu hat sich unterdessen erholt und ist mit
blassem Gesicht an den Tisch zurückgekehrt. Oder hat
er nur die Schauspielerei aufgegeben? „Wir sollten
vielleicht besser aufbrechen, wenn wir bei Isabella noch
ein Quartier finden wollen. Was meint ihr?“ Lyssandro
nickt zustimmend, ebenso die andern, nur Igur, beflügelt
vom Met, zieht ein trauriges Gesicht. Viel hätte nicht
gefehlt, und die Tränen wären über seine Wangen
gekullert. „Was, ihr wollt schon gehen?“ fragt er
ungläubig. „Aber das geht doch nicht.. Die gute Isabelle
wird euch schon noch einlassen... Ja, Isabella...“ Seine
Stimme verstummt. Wahrscheinlich ist Isabella fähig,
sogar ihn das fürchten zu lehren, denn er erhebt
plötzlich keine weiteren Einwände mehr, sondern
verabschiedet sich brüderlich von ihnen und hilft sogar
Leon, den betrunkenen Yoshi auf die Füsse zu zerren.
„Mein Haus ist euer Haus, das wisst ihr!“ ruft er ihnen
nach, als Leon, Lyssandro, Yoshi, Kaitu, Arist und
Bildugan endlich vor seiner Türe stehen, und er winkt
ihnen nach, als sie – langsam und mehrheitlich
schwankend – die Gasse zurück zum Hauptplatz gehen,
174
begleitet vom unmelodiösen Gesang von Yoshi und
Kaitu, die zeitgleich falsch und inbrünstig zwei
unterschiedliche Melodien intonieren. Auch Lyssandros
energisches „Pssst!“ bringt sie nicht zur Ruhe. Auch
Arist ist ihm keine Hilfe. Schwer lehnt er sich gegen
Lyssandro und ruft, ebenfalls ziemlich lautstark: „Lass
uns jetzt die Feder schreiben lassen, wer Cynris‘ Mörder
ist!“ „Nein!“ versucht ihn Lyssandro gereizt zum
Schweigen zu bringen. „Ich will bloss wissen, ob der
Mörder noch unter uns ist, wie schon tausend mal
gesagt!“ Dies wird verhindern, dass Leon sich
verpflichtet fühlt, sich an dem Mörder zu rächen, der
inzwischen längst über alle Berge sein kann, fügt er
gedanklich hinzu. „Naja, so ein Artefakt...ganz schön
gefährliche Sache!“ sagt Arist, dicht neben seinem Ohr,
dann steht er wieder von alleine. Lyssandro ist sich über
den Grad seiner Trunkenheit nicht ganz sicher...
Sie brauchen nicht lange nach dem „Hüpfenden
Maultier“ zu suchen. Auf dem Marktplatz gibt es nur
ein Haus, dessen Fenster noch immer hell erleuchtet
sind, und aus dem Gelächter und das Geklirre von
Gläsern zu hören ist. Sieht das Haus von aussen schon
sehr einladend aus, mit seinen dunklen Balken, den
weissverputzten
Wänden
und
dem
goldenen
Wirtschschild, innen ist es noch einladender. Den
Eintretenden erwartet ein heller Raum mit
weissgetünchten Wänden, in dem runde Holztische
kunterbunt verteilt sind, und ein offenes Kaminfeuer
spendet dem Rastsuchenden freundliche Wärme. Dass
das Wirtshaus gefüllt ist mit Leuten mit lachenden
175
Gesichtern und roten Nasen, ist ein sicheres Zeichen
dafür, dass es hier in der Regel feuchtfröhlich zugeht
und dass gute Getränke ausgeschenkt werden.
Es ist ein buntes Wirrwarr an Leuten, das sich den
Blicken unserer Gefährten bietet. An zwei, drei Tischen
scheint es sich die städtische Nachtpatrouille bequem
gemacht zu haben. Sie sind –trotz des schon
fortgeschrittenen Abends – noch ziemlich nüchtern und
wirken recht bedrohlich in ihren gelben, weit
geschnittenen Hosen, zu denen sie nun, nachts, ein
schweres Kettenhemd tragen. In ihren Ledergürteln
staken metallisch schimmernde Dolche, ihre
Hellebarden sind nicht weit von ihnen an die Wand
gelehnt. (Irgendwann werde ich das ganze WIRKLICH
ausführlich beschreiben, OH YES!)
Die Gruppe Bauern, die sich ebenfalls im
„Hüpfenden Maultier“ eingefunden hat, hält jedenfalls
gebührend Abstand von Ihnen, während sie heissblütig
irgendeine Sache diskutieren, vielleicht die sinkenden
Kartoffelpreise, vielleicht eine Rebellion... Weiter
haben sich drei Edelleute hier eingefunden, und edel
sind
sie,
ihren
prächtigen,
reichverzierten,
fellgeschmückten Kleidern nach zu urteilen, und der
gelangweilten, überheblichen Miene, die sie zeigen, so,
als wären sie über das sonstige gewöhnliche
Wirtshauspack erhaben. Zu ihrer Selbstsicherheit dürfte
die Tatsache beigetragen, dass sie einen bewaffneten
Begleittrupp, in voller Rüstung, bei sich führten, mit
denen nicht gut Kirschen essen zu sein schien. Es gab
einen Tisch mit einigen Handwerkern und ein zwei
176
Lehrlingen, die ihre Sache besonders gut gemacht hatten
und ihren Meister nach Feierabend noch ins Gasthaus
hatten begleiten dürfen. Ein junges Mädchen wuselt
flink zwischen den Tischen herum. Sie ist etwa in
Yoshis Alter, und die Uebung, mit der sie Berge von
Tellern und Gläser zugleich mit sich herumschleppt und
etwaigen tatschenden Händen ausweicht, beweist, dass
sie wohlgeübt als Kellnerin ist. Bei ihrem Anblick
erhellt sich Yoshis Gesicht, und er lallt etwas
undeutliches.
Eine Frau steht hinter dem Tresen und zapft Bier,
und obwohl sie sich keinenfalls auffällig verhält,
dominiert sie auf ihre Art und Weise diesen Raum, so
dass sie sofort die Blicke der Neuankömmlinge auf sich
zieht. Sie ist eine grosse, mütterlich wirkende Frau,
einzelne silberne Strähnen in ihrem prächtigen dunklen
Haar verraten ihre Jahre, aber ihr Gesicht ist apart, und
das Funkeln in ihren lebhaften Augen macht sie zu einer
Schönheit. Sie ist unverkennbar Isabelle, die Wirtin des
Maultiers, von der alle so geschwärmt haben.
Isabelle hat die Ankömmlinge bemerkt, unterbricht
ihre Arbeit und blickt ihnen lächelnd entgegen: „Hallo,
Reisende!“ begrüsst sie sie freundlich, ihre Stimme ist
dunkel und warm und passt zu ihrer Erscheinung.
„Womit kann ich dienen?“ „Hallo!“ grüsst Yoshi zurück
und hätte wohl noch mehr gesagt, wäre er nicht von
einem Schluckauf unterbrochen worden. Ein leicht
tadelnder Blick schleicht sich in die Augen der Wirtin,
als sie Lyssandro fragt: „Ist das Dein Sohn?“ „Nein!“
ruft dieser entsetzt, um dann etwas gemässigter zu
177
wiederholen: „Nein. Nur jemand, der sich schleunigst
schlafen legen sollte.“ „Ihr habt ihm Met gegeben?“
fragt Isabelle mit hochgezogener Augenbraue.
Irgendwie konnte man sich in ihrer Gegenwart schon
wie ein Schuljunge vorkommen... „Gnädige Frau!“
unterbricht jetzt Kaitu mit ausgesuchter Höflichkeit.
„Wir sind auf ihre Hilfe angewiesen. Wenn sie
vielleicht ein paar Zimmer frei hätten für uns...“ Isabelle
wirkt besänftigt. „Ich habe leider nur noch wenige
Zimmer frei.“ meint sie. „Doch mit drei Zweierzimmern
könnte ich den Herren wohl dienen!“ Yoshi schaut
unterdessen mehr als fasziniert in ihr Mieder. Falls sie
es bemerkt, verzieht sie jedenfalls keine Miene. Leon
zerrt ihn schliesslich weg, als die Sache allzu indiskret
wird. Er schüttelt ihn, um ihn zur Vernunft zu bringen,
was Yoshi aber unbeeindruckt lässt. „Wie heisst das
Mädchen?“ fragt er und weist mit dem Finger auf die
Kellnerin, die flink zwischen den Tischen herumhuscht.
„Das ist Sandrine.“ antwortet Isabelle bereitwillig. „Ein
Findelkind, das mir hier hilft, wenn mir die Arbeit über
den Kopf wächst. Nehmen sie die Zimmer?“ Mit einem
Kopfnicken erklärt sich Kaitu, nachdem er sich fragend
nach den andern umgesehen hat, einverstanden. Yoshi,
von keinem Mieder mehr abgelenkt, scheint unterdessen
im Stehen halb einzuschlafen, als sich Isabelle seiner
erbarmt. „Sandrine!“ ruft sie. „Zeig den Herren hier
doch rasch ihre Zimmer!“
Dann beweist Isabelle ihre Geschäftstüchtigkeit,
indem sie auf Vorausbezahlung für die Uebernachtung
besteht, die aus 10 Kräutern pro Nacht und pro Zimmer
178
besteht, ein moderater Preis, falls die Zimmer das
hielten, was der Schankraum versprach. Kaitu bezahlt
ihr den geforderten Preis. Unterdessen steht Sandrine
wartend neben ihrer Chefin, sie wirft scheu ein paar
unverkennbar anhimmelnde Blicke auf Yoshi, der sie
seinerseits anstrahlt. Leichte Röte breitet sich daraufhin
auf ihren Wangen aus. Leon macht Anstalten, Yoshi
erneut zu stützen, um mit ihm so Sandrine zu ihren
Zimmern zu folgen, doch Yoshi reisst sich energisch
los. Vermutlich hält er es für unwürdig, vor den Augen
Sandrines, von der er sichtlich beeindruckt ist, gestützt
zu werden. Leon lässt ihm seinen Willen, und so
stolpert er los, wobei ihn seine schwankenden Füsse
überraschend weit tragen. Aber nicht weit genug. In der
zweiten Hälfte des Raumes schwankt Yoshi plötzlich,
stolpert über seine eigenen Füsse und fällt gegen einen
der Zecher. Dieser hat gerade einen Krug Bier zum
Mund führen wollen. Durch Yoshis Stoss ergiesst sich
dieses aber sowohl auf den Tisch als auch die Hose des
Schmieds, und der Mann muss sich auf die Lippen
gebissen haben, denn als er sich wütend herumwirft,
sich zu seiner vollen Grösse von annähernd zwei Metern
aufrichtet und Yoshi grob packt, verleiht ihm das Blut,
das von seinem Kinn tropft, ein kriegerisches Aussehen.
Das Gelächter seiner Freunde am Tisch mag nicht dazu
beigetragen haben, ihn zu beruhigen. Er schüttelt Yoshi
wie eine Ratte, so dass dessen Zähne klackend
aufeinanderschlagen. „Na, lass mal gut sein, Egon!“ ruft
einer seiner Zechkumpane, doch der mit „Egon“
angesprochene hört nicht auf ihn. Kaitu, versucht, der
Sache ein Ende zu machen, bevor eine wirkliche
179
Schlägerei ausbricht, ruft: „He, Isabelle, bring Egon hier
noch ein Bier auf unsere Kosten, zur Entschuldigung.“
Doch auch seine Geste hat nicht die gewünschte
Wirkung, denn der Schmied verstärkt nur seinen Griff
um Yoshis Kragen. Sein Gesicht ist rot vor Zorn, und er
hebt seine mächtige Faust, um diesem gebührend
Ausdruck zu geben. Zwei Leute fallen ihm in den Arm,
Kaitu und einer der Gäste des Wirtshauses. So plötzlich,
wie er aufgeflackert ist, scheint sich der Zorn des
Mannes zu legen, denn nach ein, zwei tiefen Schnaufern
lässt er den Arm wieder sinken, und sein Griff um
Yoshis Hals lockert sich, was diesem die Gelegenheit
gibt, ein atemloses „Verzeiht, mein Herr!“
hervorzubringen. Der Schmied wischt sich mit dem
Handrücken das Blut vom Kinn. „Lasst ihn.“ sagt der
fremde Gast mit ruhiger Stimme. Er ist sitzen geblieben,
und es ist wohl niemandem aufgefallen, dass er mit dem
Daumen den dunklen Griff einer Waffe etwas
verschoben hat. Er ist grossgewachsen, nur etwas
kleiner als der wütende Schmied, trägt eine schwarze
Hose mit Falten und eine gleichfarbige Jacke mit weiten
Aermeln. Seine Haare sind zu einer kunstvollen
Samuraj-Frisur geschnitten. Ob es nun die Worte des
Gastes sind oder nicht, jedenfalls lässt der Schmied jetzt
Yoshi endgültig los, ohne auf das gemurmelte
„Feigling“ vom ewig provokativen Arist zu achten. Als
Isabelle, die bereits wartend hinter ihnen gestanden hat,
einen Krug ihres allerbesten Biers, wie sie versichert,
bringt, scheint er schon wieder ganz gelassen. Als
Kaitou dieses und noch ein weiteres Bier für den
Schmied im voraus bezahlt, grinst dieser schon wieder,
180
verzieht dann aber schmerzhaft sein Gesicht, in dem
seine Oberlippe schon ziemlich aufgeschwollen ist. Die
zuvor geladene Atmosphäre entspannt sich sichtlich,
nach und nach setzen auch die Gespräche an den
Nebentischen wieder ein. Isabelle und L atmen
zeitgleich erleichtert auf, und Kaitu klopft dem Schmied
zum Abschied vertraulich auf die Schulter. „Na, nichts
für ungut!“ meint er. „Wir waren ja auch mal jung!“
Dann zieht er sich mit dem Fremden, der er immer
wieder interessiert gemustert hat, an einen frei
gewordenen Tisch zurück. Lyssandro überlegt, ob er
sich neben sie setzen soll, entscheidet sich dann aber
dagegen. Zuerst muss erst einmal Yoshi ins Bett
gebracht werden, bevor er noch mehr Unheil anrichten
kann! Sandrine scheint diese Aufgabe zwar willig
übernommen zu haben, doch vielleicht ist es besser,
trotzdem nach dem Rechten zu sehen... Leon, Arist, und
Bildugan schliesslich scheinen des Feierns, oder
zumindest des Trinkens, noch nicht müde, denn sie
setzen sich an einen der wenigen noch freien Tische und
lassen sich von Isabella ebenfalls eines ihres „besten
Bieres“ bringen. Bildugan, der seine Zurückhaltung,
wohl aufgrund des Alkohols, mehr und mehr verloren
hat, hält, wie er ziemlich grosspurig verkündet,
Ausschau nach Frauen, muss aber zu seinem Leidwesen
erkennen, dass ausser Isabella selbst keine mehr
anwesend ist, was in Anbetracht der Uhrzeit ja auch
nicht weiter verwunderlich ist. Zu seinem Glück scheint
Isabella lebhaftes Interesse an ihnen gefunden zu haben,
denn sie setzt sich, wenn die Zeit es ihr erlaubt, immer
181
wieder an ihren Tisch, so dass Bildugan wenigstens
einigermassen auf seine Kosten kommt.
Kaitu und der Fremde sind sehr schnell in eine
persönliche Unterhaltung vertieft und schenken ihrer
Umgebung keine Beachtung mehr. Der Fremde stellt
sich Kaitu mit dem Namen Tsurajuki Takeshi vor, eine
Höflichkeit, die Kaitu sofort erwidert. Dann verbeugen
sie sich formell voreinander, was Kaitu nochmals
Gelegenheit gibt, sein Gegenüber genau ins Auge zu
fassen. Augenfällig ist vor allem das Schwert, dass
dieser an seiner rechten Seite trägt, und Kaitu verbeugt
sich auch vor diesem noch einmal, bevor er ehrerbietig
fragt: „Darf ich Dein Schwert einmal genauer ansehen?“
Der Fremde zögert vielleicht einen Augenblick, dann
sieht er Kaitus ernstes Gesicht, und er tut ihm den
Gefallen und reicht ihm das Schwert. Kaitu dreht und
wendet es ehrfürchtig und betrachtet dessen Signet,
bevor er es seinem Besitzer zurückreicht. „Bist Du ein
Rococcen?“ fragt er dann, während seine Augen
interessiert aufblitzen. „Der Schnitt deines Gesichtes
verrät, dass Du aus dieser Gegend stammen könntest.“
Der Fremde schüttelt den Kopf und blickt fragend, so
dass Kaitu erklärend hinzufügt: „Ich suche nach einem
Land mit diesem Namen, von dem ich weiss, dass es
irgendwo existieren muss, auch wenn ich von dieser
Existenz nur geträumt habe. Es hätte ja sein können,
dass deine Heimat diesem benachbart ist. Hast Du
übrigens schon einmal von meiner Heimat, Mekk,
gehört?“ Und ihre Unterhaltung wendet sich anderen
Dingen zu.
182
Auch wenn der Fremde im Bezug auf Rococco
Kaitu enttäuschen musste, hört dieser doch interessiert
zu, was dieser über seine Heimat zu erzählen weiss. So
erfährt er auch, nach und nach, dass sein Gegenüber
keinem Kaiser dient, sondern ein Schwertschüler auf
Wanderschaft ist und sich in Askese übt.
Sandrine hat es unterdessen geschafft, Yoshi in eines
ihrer Zimmer zu bringen. Ein verzücktes Grinsen liegt
auf dessen Gesicht, und er stützt sich mehr auf das
Mädchen, als es eigentlich notwendig wäre. Es scheint
Sandrine nichts auszumachen. Wahrscheinlich ist Yoshi
für sie der Inbegriff ihrer Träume; ein fahrender Ritter,
der sie aus ihrer Rolle als Schankmagd befreit. Doch sie
ist erfahren genug, diese Träume für das zu nehmen was
sie sind, und verneint lachend, als Yoshi sie fragt, ob sie
ihm noch eine Weile Gesellschaft leisten wolle. Seine
Zunge stolpert noch immer. „Isabelle und viele durstige
Kehlen warten auf mich!“ meint sie, winkt Yoshi zu und
geht nach unten. Sekunden später ist Yoshi bereits
eingeschlafen und schnarcht vernehmlich.
Später erkundigt sich Lyssandro unterdessen bei
Isabelle, ob das Wirtshaus nachts sicher verschlossen
wird. „Nein!“ meint sie. „Der Hinterausgang bleibt auch
nachts offen, für den Fall eines Feuers oder ähnliches.“
Lachend fügt sie hinzu: „Das wissen nur die Leute hier
aus der Gegend. Und von denen würde keiner wagen,
bei mir etwas zu stehlen. Er würde sich den Zorn aller
hier zuziehen!“
Nachdem sich Lyssandro diesbezüglich erkundigt
hat, geht er nach oben, um noch einmal nach Yoshi zu
183
sehen und findet diesen selig schlafend vor. Da er jetzt
selber rechtschaffen müde ist, zieht er sich ebenfalls in
sein Zimmer zurück, in dem Leon seine Sachen schon
ausgepackt hat. Er findet diesen auf dem Bett sitzend, in
einer sehr nachdenklichen Stimmung. „Einen Penny für
Deine Gedanken.“ meint er halb ernst- halb scherzhaft,
und er erhält ein kurzes Lächeln Leons zurück. „Ich
habe gerade den ganzen Nachmittag damit verbracht,
meine Gedanken zu ordnen.“ meint dieser. „Aber noch
bin ich mir selber immer noch nicht ganz im Klaren,
wie ich mich verhalten soll.“ Er ist aufgestanden und
blickt zum kleinen Fenster ihres Zimmers hinaus. Er
wendet Lyssandro den Rücken zu, als er weiterspricht.
„Cynris‘ Tod, verstehst Du? Er hat mir doch das Leben
gerettet! Ich war unsicher, ob ich verpflichtet bin, seinen
Tod zu rächen.“ Er wirft sich herum. „Natürlich wüsste
ich, was ich tun würde, stünde der Mörder jetzt hier vor
mir. Aber soviel hat mein Meister mir immerhin
mitgeteilt: Die Rache für Cynris ist der Mission
unterzuordnen.“ Es ist ein kaltes Licht in seinen Augen,
das keinen Zweifel an seinen Worten aufkommen lässt.
Leon dreht sich wieder zum Fenster hin, aber es ist
zweifelhaft, ob er irgendetwas sieht. „Aber wir kennen
den Mörder nicht, und wir haben eine Mission zu
erfüllen. In eurer Abwesenheit habe ich meinen Meister
befragt, ob ich die Rache für Cynris Tod unserer
Mission unterordnen kann. Ich glaube, der Meister hat
ja gesagt, aber seine Präsenz war nicht deutlich zu
spüren. Nur... über den Mörder hat er nichts, gar nichts
verlauten lassen.“ Er setzt sich aufs Bett, wie Lyssandro
das getan hat. "„Der Gedanke, dass sich der Mörder
184
vielleicht unerkannt unter uns befindet, beschäftigt mich
von Tag zu Tag mehr.“ Lyssandro blickt nachdenklich.
Ihm geht es nicht anders. Und da ist ja noch der Dolch,
der ihn jetzt gar in seinen Träumen heimsucht.
Unwillkürlich seufzt Lyssandro. Warum geraten
eigentlich immer sie in einen solchen Schlamassel?
Leon redet weiter, und es klingt, als würde er eher seine
Gedanken ordnen als wirklich mit Lyssandro reden:
„Einer unserer alten Begleiter kommt – meiner Ansicht
nach – als Täter nicht in Frage. Er hätte früher
Gelegenheit gehabt, Cynris zu töten, auf unauffälligere
Weise.“ Leons Stimme wird leiser, und er senkt den
Kopf. „Warum sollte auch jemand von ihnen Cynris
töten? Es ergibt einfach keinen Sinn.“ „Yoshi halte ich
zu jung für einen Mord.“ Wirft Lyssandro ein, froh, mit
jemanden seine Gedanken teilen zu können, und Leon
nickt zustimmend. „Auf Kaitu hingegen würde ich nicht
wetten.“ „Ja.“ fügt Leon hinzu. „Er war mir von Anfang
an nicht ganz geheuer. Und da ist da noch sein Artefakt,
der Dolch, den er überall mit sich trägt und im Schlaf
noch zu bewachen scheint...“ „Er ist eine Gefahr, die
ganz und gar unnötig wäre.“ pflichtet L ihm bei.
Plötzlich ist ihm kalt. „Er kommt mir vor wie ein
Magnet des Bösen.“ Leon denkt pragmatischer. „Gibt es
einen Weg, einen solchen Artefakt zu vernichten?“ L
blickt nachdenklich, als versuche er, sich an etwas zu
erinnern. „Es gibt Rituale, die, wenn sie exakt
ausgeführt werden... aber es darf nichts dabei
schiefgehen, wenn man diese anwendet! Magie kann
sich immer auch gegen den selbst richten, der sie
auszuüben versucht, vor allem, wenn er dies mit
185
unerfahrenen Händen macht...“ Leon schaut ihn
gespannt an. „Hast Du so etwas schon einmal
gemacht?“ „Nein.“ meint Lyssandro. „Aber bei meinem
Lehrmeister habe ich so etwas schon beobachtet. Bei
IHM sah alles sehr einfach aus...“ Leons Gedanken
wandern zurück zu Yoshi, und er bemüht sich, dem
Gespräch eine weniger ernste Wendung zu geben. „Was
hältst Du davon, Yoshi mit uns ziehen zu lassen?“ fragt
er. „Er, mit seiner leichten Art, und seinem Rapier,
könnte eine Bereicherung für unsere Gruppe sein!“ „Er
ist zu zierlich für diese Waffe!“ versetzt Lyssandro
trocken. „Aber die Idee finde ich nicht schlecht.“
Danach wendet sich ihr Gespräch andern Dingen zu.
Trotz der fortschreitenden Nacht beschliessen sie, noch
einmal nach unten zu gehen, um zu sehen, was die
andern so treiben. Sie finden Kaitu noch immer im
Gespräch mit dem Fremden. Dieser erhebt sich gerade
und sagt: „Wir haben die Zeit vergessen. Ich muss noch
einen Platz für meine Schlafmatte finden.“ Isabella, die
sich noch immer mit Bildugan unterhält, erhebt sich und
meint bedauernd: „Leider sind im Augenblick alle
Zimmer vergeben. Wenn ihr mit einer Dachkammer
oder dem Keller vorlieb nehmen wollt...“ „Das ist doch
kein Problem.“ mischt sich Kaitu ein. „Ihr könnt bei uns
im Zimmer schlafen, bei mir und Yoshi. Die Kammer
ist ausreichend geräumig. Zu Isabella gewandt, macht er
eine kleine Verbeugung und meint: „Wir werden dafür
natürlich extra bezahlen. Isabellas Gesicht hellt sich auf.
„Ich werde Decken bringen lassen und Waschgeschirr
extra.“ Verspricht sie.
186
Arist hat sich unterdessen zu den würfelspielenden
Soldaten gesellt und sieht ihnen eine Weile schweigend
zu. „Kann ich mitspielen?“ fragt er schliesslich, bemüht,
seine Vorfreude nicht zu zeigen. Ein halbes Dutzend
misstrauische Blicke sind sofort auf ihn gerichtet,
abschätzend, ob er als Opfer überhaupt etwas hergibt.
Arist lässt die Musterung ohne mit der Wimper zu
zucken über sich ergehen. Schliesslich winkt ihm einer
der Soldaten, sich zu setzen, an den Platz eines
Offiziers, der so betrunken ist, dass er nicht mehr
mitwürfeln kann. Rasch werden ihm die Regeln des
Spiels, das gerade im Gange ist, erklärt, und Arist zückt
seine Würfel, um mitzuhalten. Sofort ist das Misstrauen
der Soldaten wieder erwacht. Eigene Würfel? Hier
könnte es sich um jemanden handeln, der kein so
leichtes Opfer zum Ausnehmen ist. „Die Würfel meines
Onkels mütterlicherseits.“ meint Arist erklärend, der die
Verstimmung der Soldaten wohl bemerkt hat. „Er war
ein begnadeter Spieler, seinerzeit.“ „Gut, gut!“
unterbricht ihn einer der Soldaten ungeduldig. „Willst
Du jetzt spielen oder was? Zum doppelten Preis?“ Die
Gier in seinen Augen ist unverkennbar, doch Arist
willigt bereitwillig ein. Sie würfeln. Die finsteren
Gesichter der Soldaten hellen sich zunehmend auf, als
Arist die erste, dann die zweite Runde verliert. Einer
von ihnen versteigt sich dazu, enthusiastisch der
Glücksgöttin zu danken. Es ist jedoch fraglich, ob die
Dame seinen Slang versteht, denn dann wendet sich das
Blatt. Arist gewinnt, mehrmals hintereinander, was für
zunehmend rote Köpfe bei den Soldaten sorgt. Unter
187
gemurmelten Flüchen bestehen sie darauf, dass von jetzt
an wieder ihre eigenen Würfel verwendet werden.
Während sie würfeln, brennen die Kerzen langsam
immer weiter hinunter. Stunde um Stunde vergeht, und
weder Arist noch die Soldaten zeigen Neigung, ihr Spiel
zu unterbrechen. Arist, weil er eine Glückssträhne hat,
die Soldaten, weil sie ihre Verluste zurückgewinnen
wollen. Doch langsam beginnen die Soldaten, zuerst
murmelnd, dann immer deutlicher, dass bei Arist nicht
nur die Glücksgöttin für sein Würfelglück
verantwortlich ist. Es ist sein Glück, dass plötzlich
einem von ihnen auffällt, dass ihre Rückmeldung in der
Kaserne erwartet wird. Die Soldaten erheben sich eilig,
wobei sie vor sich hinfluchen, raffen eilig ihre Waffen
zusammen, packen ihre betrunkenen Kameraden unter
den Armen und machen sich mehr oder weniger
schwankend zum Ausgang hin. Ein drohender Händel
wird dadurch vermieden, und mehr als zufrieden packt
Arist seine Würfel ein – und einen beträchtlichen
Gewinn dazu. Jetzt, da die Soldaten das Gasthaus
verlassen haben, halten sich nur noch unsere Freunde im
Gasthaus auf, die Freude darüber, endlich wieder einmal
in der Stadt zu sein, lässt sie noch immer keine
Müdigkeit verspüren. Selbst Isabella zieht sich jetzt
zurück, sehr zum Bedauern Bildugans, der von ihr
hingerissen scheint.
Bildugan benutzt die Gelegenheit, Takeshi zu
gratulieren, dass es ihm gelungen ist, den Streit
zwischen dem Schmied und Yoshi im Keim zu
188
ersticken, bevor sich ein ernsthaftes Problem daraus
entwickelt hat.
Ihre Unterhaltung nimmt jetzt wieder privaten
Charakter an.
Wie immer, wenn dies der Fall ist, kommen rasch
zwei Themen zur Sprache: Der Mord an Cynris oder der
Artefakt, die Feder. Wiederum ist es Arist, der diese als
erster in den Mund nimmt, sehr zum Missvergnügen
Kaitus, der, wütend darüber, dass Lyssandro ziemlich
offen seine Vorbehalte gegenüber ihm deutlich gemacht
hat, alles dafür tut, einen etwaigen Verdacht von ihm
abzulenken. So hat er am Nachmittag gegenüber Yoshi
erwähnt, dass er Leon für sehr verdächtig hält, und jetzt
meint er: „Kann sich eigentlich jemand von unserer
Gruppe unsichtbar machen? Vielleicht ist ja Leon bei
seiner Wache gar nicht eingeschlafen?“ Bei der
Erwähnung seines vermeintlichen Versagens blickt
Leon gequält. „Ich verstehe bis heute nicht, wie das
passieren konnte.“ brummt er. „Noch weniger verstehe
ich, dass mich mein Meister, der mich kämpfen lehrte,
nicht vor dem Mord an Cynris gewarnt hat!“ „Das hast
Du also heute nachmittag unternommen.“ Wirft Arist
ein. „Du hast deinen Meister befragt, stimmt’s?“ Leon
nickt. „Wenigstens habe ich seine Präsenz noch gespürt.
Ich hatte schon Zweifel bekommen, ob ich den Meister
noch erreichen kann. Aber zu dem Mord hat er mir
nichts – oder nicht viel – sagen können.“ „Was genau
hat er dann gesagt?“ fragen Arist und Kaitu wie aus
einem Munde, beide vielleicht etwas zu schnell. Leon
zuckt die Achseln. „Ich erinnere mich nicht an den
189
genauen Wortlaut. Es war alles so verworren... Wie dem
auch sei, zur Zukunft hat der Meister nichts, aber auch
gar nichts verlauten lassen.“ Er senkt seinen Blick für
einen Augenblick auf die Tischplatte, nicht bereit, mehr
zu diesem Thema zu sagen. Die andern scheinen ihn zu
verstehen, denn sie bohren nicht weiter nach.
„Lyssandro glaubt nicht, dass es Yoshi war.“ wirft er
ein, vielleicht, um von sich selber abzulenken, was ihm
auch gelingt, denn Arist runzelt unwillig die Stirn.
„Lyssandro sollte niemandem vertrauen.“ meint er. „Mir
nicht, Dir nicht und auch Yoshi nicht, so jung und
harmlos er scheinen mag. Jeder von uns könnte Cynris
ermordet haben. Bildugan, um einen Behandlungsfehler
seinerseits zu verbergen, ein Gegenstand, den jemand
von uns bei sich trägt und der sich verselbstständigt hat,
selbst Lyssandro, weil er seine Position als Führer
gefährdet sah!“ Arist wäre nicht Arist, würde er nicht
die wütenden Blicke, die ihm nun von allen Seiten
zufallen, geniessen... Verträumt fährt er fort: „Falls so
was der Fall wäre, dann droht uns weitere Gefahr...
Vielleicht sollten wir die Feder doch benützen...“
Lyssandro hat das ewige Hin und Her um die Feder satt.
„Das ganze Theater hält uns doch nur auf!“ meint er
grob. „Und überhaupt: Woher können wir wissen, dass
keine Gefahr mit der Benutzung der Feder verbunden
ist? Und ob wir glauben können, was dieses Ding
schreibt?!?“ „Etwas genau zu wissen, ist immer mit
Gefahr verbunden.“ Kommt es sanft von Leon, aber
Lyssandro hat jetzt wirklich genug. Mit einem kurzen
Gruss verlässt er die Runde, um sein Zimmer
aufzusuchen. Sein Aufbruch hat Signalwirkung. Zwar
190
fragt Leon Kaitu noch: „Was hältst eigentlich Du von
dieser Feder?“ erhält aber nur ein unwilliges Knurren
als Antwort. Dass Kaitu nichts, aber auch gar nichts von
dieser Feder hält, ist offensichtlich. Bildugan ist
unterdessen Lyssandros Beispiel gefolgt, und auch
Kaitu und Takeshi ziehen sich zurück. Yoshi schläft tief
und fest, wobei er leise schnarcht, und so muss Takeshi
seine Vorstellung auf den Morgen verschieben. Leon
folgt Lyssandro aufs Zimmer. Er ist noch immer
aufgewühlt genug, dass er es vorzieht, seine Decken zu
holen und auf dem Dach zu schlafen. Der Nachthimmel
über ihm übt eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Als
er ihr Zimmer betritt, bemerkt er, dass es Lyssandro
ähnlich ergeht, denn dieser hat sich zum Ausgehen
angezogen. „Ich möchte noch einen Augenblick alleine
sein, um zu beten.“ meint er, und Leon nickt
verständnisvoll. Das, was in den letzten Tagen passiert
ist, lässt sich nicht so einfach verarbeiten. Das hat er am
eigenen Leib erfahren.
Kurze Zeit später verlässt Lyssandro das Gasthaus
durch den offenen Hinterhof. Beim Klang seiner
Schritte klirrt plötzlich eine Kette; und aus einem
kleinen Holzhäuschen auf dem Hof lässt sich plötzlich
ein dumpfes Grollen vernehmen. Ein Hund, fast so
gross wie ein Kalb, erhebt sich von dem Platz, an dem
er bisher geschlafen hat. Noch bellt er nicht, aber seine
entblössten Zähne sind im Mondlicht deutlich sichtbar.
Lyssandro muss unwillkürlich grinsen. Also verlässt
sich Isabella doch nicht nur auf ihren Ruf, um ihren
Gasthof gegen Diebstahl zu feien! Der Hund erweist
191
sich als gut trainert – oder er ist an einiges gewöhnt. Da
Lyssandro vom Gasthof her kommt, knurrt er nur
weiterhin dumpf, bricht aber weder in wildes Gebell
aus, noch versucht er Lyssandro anzuspringen, als
dieser ihn passiert. Dann steht Lyssandro auf der rauh
gepflasterten, jetzt menschenleeren, von mannigfaltigem
Abfall übersäten Gasse. Er blickt sich suchend um.
Einen Kirchturm kann er von hier aus nicht ausmachen,
überhaupt kein höheres Gebäude profaner Natur wie
einen Bergfried oder einen Wachtturm. Lyssandro
seufzt und wickelt sich fester in seinen Mantel, während
er die Gasse entlang schlendert und weiterhin Ausschau
nach einer heiligen Städte hält. Sein Bedürfnis nach
einem Gebet ist so gross, dass er selbt die Kälte der
Nacht in Kauf nimmt, um es zu stillen. Und andere
Gefahren. Er ist so in seine Suche versunken, dass er die
Schritte hinter sich, die ihm seit geraumer Zeit folgen,
völlig überhört hat. Erst ein energisches „Halt! Wer
da?“ weckt ihn aus seiner Träumerei. Lyssandro dreht
sich rasch um und sieht sich einer Gruppe Soldaten
gegenüber, gleich gekleidet der, die sich die Zeit ihrer
Nachtwache mit Würfeln im „Hüpfenden Maultier“
vertrieben hat. Nun, diese Patrouille hier scheint ihre
Pflicht ernster zu nehmen. Ihr Anführer, ein noch
junger, bulliger, muskulöser Mann, dem seit einer
Schlägerei beide Vorderzähne fehlen, hat diese Worte
gesprochen und blickt ihn misstrauisch an. Ein
Misstrauen, das durchaus berechtigt ist, muss sich
Lyssandro eingestehen, wenn man bedenkt, um welche
Uhrzeit er es sich in den Kopf gesetzt hat, eine Kirche
zu finden. „Guten Abend!“ meint er und versucht, seiner
192
Stimme einen gelassenen Klang zu geben. „Ich halte
nach einer Kirche Ausschau, in der ich beten könnte.
Vielleicht könnt ihr mir helfen.“ Einer der Soldaten
bricht darauf in schnaubendes Gelächter aus, wird
jedoch von seinem Kommandanten mit einer raschen
Bewegung zum Schweigen gebracht. Dieser mustert
Lyssandro noch immer mit durchdringendem Blick.
Anscheinend fällt diese Musterung zugunsten
Lyssandros aus, denn der Hauptmann meint schliesslich.
„Ihr müsst die Burgkapelle aufsuchen, welche, wie es
Gott vorschreibt, die ganze Nacht geöffnet ist.“ Er
grinst. „Nur die Burg, die ist es nicht. Ihr könnt heute
nicht mehr zur Kapelle gelangen.“ Er blickt plötzlich
finster. „Wenn ich euch einen Rat geben darf: Kehrt zu
eurer Unterkunft zurück. Die Strassen sind um diese
Zeit nicht sicher. Für euch oder wegen euch.“ Lyssandro
verzieht das Gesicht, aber der Rat des Hauptmanns ist
vernünftig, und so beschliesst Lyssandro, mit dem
Hinterhof des Gasthauses als Gebetsstädte vorlieb zu
nehmen. Er lauscht den verklingenden Schritte der
Soldaten, dann macht er sich auf den Rückweg. Der
Hund wacht bei seiner Rückkehr erneut auf, knurrt,
milde diesmal, und richtet seine dunklen Augen
unverwandt auf Lyssandro, als sich dieser im
Schneidersitz hinsetzt, um seine Gebete zu beginnen. So
sitzt er vielleicht für eine Stunde, ohne die Kälte
wahrzunehmen, betet, beschreibt das Dilemma, in dem
sie sich befinden, ohne jedoch eine konkrete Frage
bezüglich der Zukunft zu stellen. Er ist tief in Gedanken
versunken, während die Bilder der letzten Tage vor
seinem innern Auge wieder erstehen und die Gedanken
193
in seinem Kopf durcheinander purzeln. Seine Gebete
haben nichts klares, wohlgeordnetes an sich, und
dennoch ist Lyssandro überzeugt, dass sein Gott ihn
versteht und ihm helfen wird, seine Probleme zu lösen.
Vor allem Yoshis, Kaitus und Arists Gesichter
tauchen immer wieder in seinen Gedanken auf. Den
ersteren hält Lyssandro für unschuldig, bei den andern
beiden ist er sich nicht so sicher. Zu extrem, zu
unnatürlich kommt ihm Kaitu vor, so verdächtig
zwiespältig benimmt sich Arist, obwohl Lyssandro nicht
wirklich überzeugt ist, dass Arist etwas mit dem Mord
zu tun haben könnte. Die Zwiespältigkeit gehört zu
seinem Wesen. Ob dies nun eine Antwort seines Gottes
ist oder einfach das Resultat seiner geordneten
Gedanken: Lyssandro fühlt auf einmal neue Tatkraft in
ihm erwachen, und er beschliesst, der Nachtzeit zum
Trotz, Kaitu aufzusuchen. Dieser öffnet auf sein
Klopfen auch tatsächlich die Tür zu seinem Zimmer,
sein Gesicht ist aber nicht eben freundlich, schliesslich
ist es noch immer mitten in der Nacht. Vielleicht ahnt er
auch aufgrund von Lyssandro’s ernstem Gesicht, was
dieser von ihm will, und sein Gesicht wird noch
düsterer, als dieser unverblümt zum Kern seines
Anliegens kommt: „Kaitu, ich möchte, dass Du deinen
Dolch herausgibst!“ „Nein.“ knurrt er, augenscheinlich
unbeeindruckt. „Das werde ich nicht tun. Ich bin der
Wächter des Dolches.“ Seine Stimme ist fest, er wird
von diesem Entschluss nicht abweichen. Lyssandro
seufzt innerlich. Er hat nichts anderes erwartet. „Darf
ich ihn wenigstens nochmals sehen?“ Schweigend holt
194
Kaitu darauf den Dolch aus seiner Scheide, beobachtet
dabei aber aufmerksam Lyssandro’s Gesicht,
angespannt und wachsam. Lyssandro bemerkt dies
nicht, seine Augen sind unverwandt auf den Dolch
gerichtet, und so sehr er diese Waffe auch verabscheut,
weil er ihre Verderbtheit instinktiv spürt, schon immer
gespürt hat, fühlt er dennoch eine seltsame
Anziehungskraft von ihm ausgehen. Fast unbewusst
versucht er, mit seiner Rechten danach zu fassen. Kaitu
zuckt mit einer hastigen Bewegung zurück, blitzschnell,
in einer weiten Bewegung, so, als hätte sich der Dolch
auf einmal selbstständig gemacht, und steckt ihn wieder
in seine Umhüllung. Lyssandro erwacht wie aus einer
Trance, und er bemerkt den kleinen Kratzer an Kaitus
Hals, aus dem jetzt einige Blutstropfen quillen und in
Kaitus Kragen rinnen. Dieser scheint das nicht zu
bemerken. Er atmet schwer. „Der Dolch ist verflucht.“
Sagt Lyssandro mit einer Stimme, die fremd klingt
selbst in seinen Ohren. „Beseelt.“ widerspricht Kaitu. Er
sieht sich rasch um in dem verlassen wirkenden
Schankraum, dann packt er Lyssandro am Arm und
schiebt ihn auf den Hinterhof des Gasthauses. Es ist
offensichtlich, dass er bei dem, das er weiter zu sagen
hat, keine Zeugen braucht. Dort lässt Lyssandro Kaitu
dieselbe Behandlung angedeihen. Sein Griff um dessen
Arm ist fast schmerzhaft. „Was ist das Problem dieses
Dolches?“ zischt er wütend. Er hat ja nicht geschlafen
die letzte Zeit. „Weshalb weigerst Du dich, ihn auch nur
einmal aus der Hand zu legen?“ „Ich würde töten, damit
genau das nicht geschieht.“ Antwortet Kaitu, und man
kann am Klang seiner Stimme erkennen, dass er genau
195
das meint, was er sagt. Lyssandro lässt seinen Arm los.
„Ich habe über deinen Dolch nachgedacht. Und
meditiert.“ Für einen Augenblick scheint er gedanklich
weit weg zu sein, mit einer Hand berührt er unbewusst
seine Schläfe. „Ich habe schreckliche Visionen gehabt.
Dein Dolch hat immer die Hauptrolle gespielt. Ich
werde zu verhindern wissen, dass diese wahr werden.“
„Dann haben wir ja dasselbe Ziel.“ Noch immer scheint
Kaitu gelassen. „Gut. Dann lass uns den Dolch
irgendwo vergraben.“ Lyssandro hat eine unruhige
Wanderung auf dem Hof aufgenommen. Drei Schritte
hin, drei Schritte zurück. „Das geht nicht. Der Dolch
würde schreien, bis ein anderer Besitzer sich seiner
annimmt. Nicht jeder ist dazu geschaffen, diesen Dolch
zu tragen. Was, wenn es sich um eine schwache Person
handelt? Ich kenne die Seele dieses Dolches. Sie würde
den unglücklichen Finder vernichten, und käme frei. Ich
habe das Schreien gehört.“ Als Kaitu nicht weiterredet,
fragt Lyssandro: „Woher hast Du denn diese seltsame
Waffe? Wenn wir sie nun dorthin zurückbringen, wo sie
herkommt? Und – in Gottes Namen – von was für einer
Seele sprichst Du?“ Seltsamerweise fällt es ihm aber
nicht ein, an Kaitus Worten zu zweifeln. Zum ersten
Mal verliert Kaitus Gesicht seine Gleichgültigkeit, und
seine Augen blicken gequält. „Um Deine Fragen
zeitgleich zu beantworten: Es handelt sich um die Seele
eines Mannes aus Mekk. Von dort stammt auch der
Dolch. Ich nehme nicht an, dass Du von dieser Stadt
schon gehört hast, obwohl sie mächtig ist, und schön,
sein Volk zwar verwegen und wild, misstrauisch
gegenüber Fremden, aber grosszügig und edelmütig.“
196
„Und wie bist Du an den Dolch gekommen?“
wiederholt Lyssandro seine erste Frage, ahnend, dass
Kaitu letztere bewusst nicht beantwortet hat. „Ich habe
ihn gestohlen.“ „Also doch!“ ruft Lyssandro spontan
aus, verstummt aber, als Kaitu mit monotoner Stimme
fortfährt. „An dem Tag, an dem ich den Dolch stahl, ist
Mekk gefallen. Seine Schlösser, seine Häuser, seine
Höfe, sie alle wurden noch am selben Tag von den
wilden Horden aus dem Norden dem Erdboden
gleichgemacht. Es war das Ende der Welt; als wäre der
Himmel über Mekk eingestürzt. Ich bin schuld daran.“
Es ist eine einfache Feststellung, doch ein kalter
Schauer überläuft Lyssandro. Er kann sich vermutlich
nicht einmal vorstellen, wie es wäre, für eine solche Tat
verantwortlich zu sein, wie sie Kaitu andeutet.
Abgründe müssen in dessen Seele lauern... (Meine
Güte, ich hab definitiv zu viele Kitschromane gelesen,
macht die verantwortlich, nicht mich J ) Unwillkürlich
weicht er zurück. Die Visionen, die er zuvor gehabt
hat... Bilder von brennenden Häusern, Plünderungen,
Raub, Morde, Vergewaltigungen... sie alle bekommen
plötzlich Sinn. „Das Volk von Mekk.“ sagt er, plötzlich
seltsam atemlos. „Sind das ihre Schreie, die man hört,
wenn der Dolch vergraben wird? Und meine Visionen...
Ich glaube, ich habe die Qualen des Volkes von Mekk
gesehen...“ „Du hast sie nicht einmal berührt.“ Versetzt
Kaitu, obwohl er eigentlich nicht ahnen kann, was
Lyssandro mit seinen kryptischen Anmerkungen meint.
Ein unheimliches Grauen hat Lyssandro bei dieser
ganzen Unterredung gepackt. Ob vor Kaitu, dem Dolch
oder dessen Geschichte, vermag er nicht zu sagen.
197
Mühsam reisst er sich zusammen, bemüht, sich seine
Gefühle nicht anmerken zu lassen, auch kein Mitleid,
weil er sicher ist, dass dies Kaitu nicht willkommen
wäre. „Nun denn.“ meint er. „Unsere Mission hat für
uns noch immer Vorrang. Wenn du uns begleiten
willst... Wir müssen sicher sein vor deinem Dolch.“
Kaitu fixiert ihn noch immer aus schmalen Augen. Für
einen Augenblick fühlt sich Lyssandro erneut wie
gelähmt, er hat das seltsame Gefühl, als könne Kaitu
seine Gedanken lesen. „Die Seele des Dolches ist in ihm
gefangen. Solange dieser in seiner Scheide steckt, ist er
ungefährlich.“ „Und wenn Du ihn aus der Scheide
ziehst? Oder jemand anders das tut?“ „Dann wird er
gegen den Dämon des Messers kämpfen müssen. Er hat
die Macht der gefangenen Seele entfesselt, und wird den
Preis dafür zahlen müssen.“ Lyssandro klammert sich
hartnäckig an seine ursprüngliche Idee fest: „Und wenn
wir den Dolch mitsamt der Scheide verstecken?“ „Das
Risiko ist zu gross!“ braust Kaitu auf. „Das habe ich Dir
doch schon einmal erklärt. Wenn der Dolch nun
gefunden wird und in unwürdige Hände gerät... Er
würde nur noch mächtiger werden! Möchtest Du das
verantworten?!?“ „Und es gibt keine Möglichkeit, den
Dolch zu exorzieren?“ Kaitu scheint die Idee zu
erwägen, dann erbittet er sich Bedenkzeit. Etwas, dass
Lyssandro nicht genau erklären kann, scheint in ihm
vorzugehen. „Hältst Du dich für stark genug, so etwas
zu tun?“ fragt er dann. „Bedenke, es ist eine mächtige
Seele, die der Dolch beherrbergt...“ „Ja.“ Antwortet
Lyssandro nur, doch die Zuversicht in seiner Stimme
scheint ermutigend auf Kaitu zu wirken. „Vertraust Du
198
mir?“ hakt Lyssandro erneut nach. „Vielleicht nicht mit
meinem Leben.“ Antwortet Kaitu, als wäre er selber
davon überrascht. „Ein bisschen.“ Aber er hält etwas
zurück, das fühlt Lyssandro genau, und deshalb wartet
er geduldig, bis Kaitu schliesslich auch damit
herausrückt.
„Der Dolch ist ein Teil auch meines Wesens
geworden, damals, als ich ihn ohne seine Scheide
ergriffen habe. Wenn du ihn exorzierst... dann wird auch
ein Teil von mir davon betroffen sein.“ „Wenn dein
Wunsch nach... nach...“ Lyssandro sucht nach dem
richtigen Wort...“Heilung gross genug ist, wirst du es
überstehen.“ „Nein.“ antwortet Kaitu und zerstört damit
jählings die beginnenden Hoffnungen Lyssandros, dem
verfluchten Dolch ein Ende zu machen. „Ich bin damals
aus Mekk nur entkommen, weil ein Freund von mir sein
Leben dafür geopfert hat. Er hat mir so ermöglicht,
wenigstens die Seele des Dolches zu bannen.“ „Aber
wenn wir nun den Dolch und dich exorzieren...“
Lyssandro ist verzweifelt. „Du verstehst nicht.“
unterbricht ihn Kaitu. „Dann war das Opfer meines
Freundes vergeblich. Auch seine Präsenz ist irgendwo
da, mit der Existenz des Dolches verknüpft. Darüber
hinaus: Woher nimmst Du bloss die Zuversicht, den
Dolch kontrollieren zu können? Es wird dir nicht
gelingen.“ „Das ist alles verdammt nochmal so
kompliziert!“ ruft Lyssandro, und in seiner Frustration
wird er laut. Er ist müde, und sein Kopf schwirrt von
dem, was er alles erfahren hat. „Ich muss zumindest
wissen, ob es dieser verfluchte Dolch ist, der Cynris auf
199
dem Gewissen hat!“ Kaitu bringt ihn mit einer wilden
Geste zum Schweigen. „Leise!“ zischt er. „Der Dolch
hat, glaube ich, nichts damit zu tun. Ausserdem war
Cynris‘ Zunge zerschnitten.“ „Was soll das denn wieder
heissen?“ „Es ist das traditionelle Zeichen, mit dem man
einen Lügner oder Verräter straft.“ antwortet Kaitu.
„Das ist unmöglich!“ wirft ihm Lyssandro, dessen
Augen zornig aufblitzen, an den Kopf. „Du hast Cynris
ja kaum gekannt.“ „Das habe ich nicht.“ pflichtet Kaitu
ihm bei. „Ich weiss nicht, was da passiert ist.“ Es hört
sich irgendwie hilflos an, und Lyssandros Wut fällt in
sich zusammen, hinterlässt ihn müde und aufgewühlt.
„Ich glaube, es hat keinen Sinn, das hier noch länger
zu diskutieren.“ meint er. „Ich werde mich
zurückziehen, um über das Gehörte nachzudenken. Gute
Nacht.“ Und er lässt Kaitu stehen, ohne dessen Antwort
abzuwarten. „Ich auch.“ sagt Kaitu zu Lyssandros
Rücken. „Und es ist ohnehin schon morgen.“
Es ist auf jeden Fall verständlich, dass Lyssandro
nach diesem mehr als aufwühlenden Gespräch lange
keinen Schlaf findet. Als er endlich einschlummert,
dämmert bereits der Morgen.
So ist er gerade erst eingeschlafen, als der
Frühaufsteher Leon, der ohnehin nicht viel Schlaf
braucht, seine Decken auf dem Dach zusammenrollt und
sich in den Hinterhof begibt, um dort sein mörgentliches
Training zu absolvieren. In Takeshi scheint er einen
Artverwandten zu haben, denn auch dieser gesellt sich
nach einer Viertelstunde zu ihm, so dass der Hofhund,
dessen Schlaf diese Nacht schon mehrfach unterbrochen
200
wurde, zu seiner Verwunderung zwei statt einem
umherhüpfenden Menschen zusehen kann. Er hat längst
aufgegeben, das Verhalten der Zweibeiner verstehen zu
wollen. Bildugan ist unterdessen auch aufgestanden. Er
ist ein wenig grau im Gesicht und fühlt sich von den
Strapazen der letzten Tage wie gerädert. Vor allem die
Anstrengung des Hebens eines Metkruges hat ihn
gewaltig mitgenommen. Er klagt sein Leid Isabella, die
schon geschäftig dabei ist, frisches Brot für den
heutigen Tag bereitzustellen und neue Fässer Bier
anzuzapfen, und diese erbarmt sich seiner prompt. Sie
heisst Sandrine an, das vorbereitete warme Wasser, das
sie für alle Fälle immer morgens bereit hält, in die
Wanne zu giessen; und ein Bad für Bildugan
vorzubereiten. Sie lächelt zufrieden, als Bildugan’s
Gesicht sich bei dem Gedanken an ein gemütliches Bad
aufhellt. Etwas länger wird sein Gesicht allerdings, als
Bildugan bemerkt, dass sein Bad in aller
Oeffentlichkeit, in einer Ecke der Gaststube stattfinden
wird, und dass Isabella von ihm zu erwarten scheint,
dass er sich gleich hier und jetzt umzieht. In dieser
Hinsicht scheint man es hier jedenfalls ziemlich locker
zu halten. Er wartet, bis zumindest Sandrine die
Gaststube für einen Augenblick verlässt, zieht sich dann
rasch aus und lässt sich erleichtert in die Wanne mit
dem wohlig warmen Wasser sinken. Er ist jedoch nicht
in Sicherheit, denn dann nähert sich Isabella, ganz die
perfekte Gastgeberin, um ihm mit einer rauhen Seife
den Rücken zu schrubben. Die Röte der Verlegenheit
schiesst Bildugan in die Wangen, doch er kann nicht
leugnen, dass das warme Wasser, das Gefühl der
201
Sauberkeit, das Schrubben Isabellas (an dezenten
Plätzen, versteht sich) und vor allem ihre Nähe,
angenehme Empfindungen in ihm auslösen. Die
Verlegenheitsröte auf seinen Wangen vertieft sich, als
die Empfindungen angenehmer und angenehmer
werden, doch Isabella erspart ihm zumindest die
Verlegenheit, etwas zu diesem Thema zu sagen. Ihr
wissendes Grinsen kann er ja nicht sehen, da er ihr den
Rücken zuwendet.
Ein viel kälteres Bad nimmt zu diesem Zeitpunkt
gerade Leon, der sein Training beendet hat und in die
Nähe des Hafens marschiert ist, um sich mit einem Bad
im Meer den Schweiss vom Körper zu spülen. Takeshi
ist ihm gefolgt und tut es ihm nach. Als sich beide
genug erfrischt haben, beginnt Leon, Takeshi neugierig
über die verschiedenen Formen seines Training
auszufragen, da er genügend Gelegenheit hatte, dieses
aus den Augenwinkeln zu beobachten. Takeshi gibt ihm
bereitwillig Auskunft, während sie zum Gasthaus
zurückkehren, während der Wind ihre nassen Haare
trocknet. Unterdessen ist auch Bildugan wieder
vollständig entkleidet, froh, seiner etwas peinlichen
Situation entronnen zu sein, und setzt sich mit dem eben
erschienen Kaitu an den Frühstückstisch. Dessen Augen
sind vom mangelnden Schlaf dunkel umrandet, doch er
verkündet voller Tatendrang, dass er bald in die Stadt
aufbrechen wird. „Ich begleite dich.“ meint Bildugan.
„Ich möchte ja die alte Lea aufsuchen, um von ihr
einige Kräuter zu erhalten.“ Kaitu hat nichts dagegen
einzuwenden, und nach einem spärlichen Frühstück –
202
Ihr Hunger ist nach dem Festmahl bei Igur, sehr zur
Enttäuschung Isabellas, nicht allzu ausgeprägt – brechen
sie gemeinsam auf. Bildugans Unternehmung wird nicht
von Erfolg gekrönt sein: Er wird zwar Leas Hütte
auffinden, doch auf sein Klopfen wird niemand
reagieren, und so wird er unverrichteter Dinge wieder
zurückkehren. Vielleicht ist Lea gerade auf
Kräutersuche, oder sie ist bereits so taub, dass sie
Bildugans Klopfen nicht gehört hat. Was Kaitu in der
Stadt will, hat er nicht verlauten lassen, und er kehrt
auch sehr bald wieder ins „Hüpfende Maultier“ zurück,
gerade als Yoshi aufgestanden ist und etwas mürrisch
die Treppe hinunterpoltert. Sein Kater ist nicht von
schlechten Eltern, doch Yoshi bemüht sich männlich,
dies nicht zu zeigen. Er beginnt sogar, einige Uebungen
mit dem Rapier zu machen, beifällig beobachtet von
Kaitu, er muss jedoch immer wieder innehalten, um sich
mit
kaltem
Wasser
zu
erfrischen,
seinen
„unerklärlichen“ Durst zu löschen und mit äusserlichen
Anwendungen sein Kopfweh zu behandeln. Nur von
Arist oder Lyssandro ist noch weit und breit nichts zu
sehen, während Leon und Takeshi jetzt auch gerade von
ihrem Badeausflug zurückkehren.
Nachdem sich Leon noch einmal richtig gestreckt
hat, fühlt er sich fit genug, den Tag zu beginnen. Sein
Blick fällt auf Yoshi, der etwas blass um die Nase ist
und sein Waschen gerade unter Gepruste und Geächze
beendet hat. Sein Gesicht hellt sich auf. „He, Yoshi!“
ruft er. „Was hälst Du davon, ein wenig zu trainieren?
Bis alle von uns aufgestanden sind, wird es ohnehin
203
noch eine ganze Weile dauern. Du mit deinem Rapier,
gegen mich. Ich werde mich ohne Schwert verteidigen.“
Yoshi zieht eine Schnute, was wohl eine beleidigte
Miene darstellen soll. „Das würde total unfair sein!“
entgegnet er empört, da er seine Fähigkeiten durchaus
nicht gering einschätzt. Leon grinst kurz, was nicht dazu
beiträgt, Yoshis gerechten Zorn zu mildern. Er macht
sich für das Duell bereit, mustert Yoshi wachsam, der
unterdessen sein Rapier geholt hat. Dieser scheint das
Duell zu geniessen, und zumindest eines ist er ganz und
gar nicht: Zögerlich. Schon in der ersten Sekunde greift
er Leon direkt an, und dieser muss seine ganze
Beweglichkeit aufwenden, um dem gezielten Stoss von
Yoshis Waffe auszuweichen. Unbeeindruckt schlägt
Leon gleich darauf zurück; doch Yoshi ist ebenso
beweglich, wie er zielgerichtet ist: Mit einem Hüpfer
bringt er sich vor Leons schwingenden Armen in
Sicherheit. Dies macht für Leon deutlich, falls ihm dies
nicht schon vorher klar gewesen ist, dass er es hier mit
einem beachtlichen Gegner zu tun hat. Man darf Yoshi,
trotz seines jugendlichen Alters, als Kämpfer nicht
unterschätzen... Nun geht es Stich auf Stich, Schlag auf
Schlag, ohne dass es einem der beiden Kontrahenten
gelingt, den andern in wirkliche Bedrängung zu bringen,
und zwischendurch weichen beide zurück, umkreisen
sich lauernd, beobachten sich mit schmalen Augen,
darauf lauernd, dass der andere sich eine Blösse gibt. Ihr
Kampf hat unterdessen ein paar interessierte Zuschauer
angezogen. Gerade hat Yoshi einen etwas wilden Stoss
versucht, der Leon mit einem wahrscheinlich
schmerzhaften Schwinger auf Yoshis Rapierarm
204
quittiert. Er verzieht schmerzhaft das Gesicht, aber er
hält seine Waffe, seine Knöchel weiss vor Anstrengung.
„Yoshi, Yoshi!“ kommt es ermunternd von Kaitu, und
wie durch diese Rufe beflügelt, weicht Yoshi einem
weiteren Schlag von Leon blitzschnell aus, hebt sein
Rapier und piekst seinerseits gegen Leons rechten Arm,
spielerisch, um seinen Treffer zu markieren. „Yippieh!“
schreit er dann triumphierend und wirft jubelnd die
Arme hoch. Leon ist kein schlechter Verlierer.
„Gratuliere!“ meint er zu Yoshi. „Schade, dass
Lyssandro nicht hier ist. Ich würde zu gern sehen, wie
Du dich gegen ihn schlagen würdest. Gut, ohne
Zweifel.“ Dann wird Yoshi auch von Kaitu
beglückwünscht: „Ein schöner Kampf! Obwohl ihm
natürlich die Seele eines wirklichen Duells fehlte...“
Dann tritt er zurück, da Leon nun seinerseits Yoshi ein
paar Griffe zeigt, wie man sich auch ohne Waffe
verteidigen kann. Begierig schaut Yoshi zu. Solche
Verteidigungskünste sind für einen zukünftigen Helden
sicher mehr als wertvoll!
Auch Lyssandro hat Leon und Yoshis
morgendliches Training, zumindest dessen Ende,
interessiert verfolgt. Leon ist wohl dabei, den „Neuen“
auszutesten! „Ah, Lyssandro!“ meint denn dieser auch
mit einem Zwinkern. „Möchtest Du nicht auch Dein
Glück an Yoshi probieren?“ „Jawohl!“ ruft Yoshi
begeistert und hebt sein Rapier, als würde Lyssandro
schon kampfbereit vor ihm stehen. Dieser zögert aber
noch, erklärt sich schliesslich aber doch bereit.
205
Nach einer höflichen Verbeugung voreinander
beginnen sich die beiden Gegner lauernd zu umkreisen,
beide abwartend, ob der andere den ersten Schritt, den
ersten Angriff wagen würde. Lyssandro hat eine
ziemlich klare Vorstellung von Yoshis Können,
nachdem er dessen Vorstellung mit Leon beobachtet
hat, und nimmt deshalb die Begegnung nicht auf die
leichte Schulter. Doch das schützt ihn nicht davor, nach
einigen kleineren Gefechten mit Yoshi von diesem
einen Stich abzukriegen; heute morgen zeigt sich der
Junge in blendender Form. Seine Flinkheit erweist sich
als sehr wertvoll, Lyssandros Degen (?!?)
auszuweichen, sie ist ein Ausgleich zu Yoshis
Zierlichkeit und noch fehlender Kraft. Schweratmend,
nichtsdestotrotz freudestrahlend, hält Yoshi schliesslich
inne, während Leon und Lyssandro einen beifälligen
Blick austauschen. Als Lyssandro Yoshi auch noch
beglückwünscht, platzt er beinahe vor Stolz. Leon
verkneift sich ein Grinsen: Er ist nicht der Einzige, der
heute morgen Prügel abgekriegt hat! Er fragt Yoshi:
„Sag mal, was hältst Du davon, wenn wir Deine
Bewaffnung noch ein wenig vervollständigen?“ Yoshi
blickt plötzlich grimmig. „Du bist zwar ausgezeichnet
mit dem Rapier, dieses ist aber als Fernwaffe (und für
Gamsjagd) ungeeignet.“ Yoshi blickt besänftigt. „Wie
wäre es zum Beispiel mit einer Armbrust für Dich? Ich
könnte gerade hier in der Stadt eine für dich machen
lassen!“ Yoshi blickt begeistert. „Wirklich?“ fragt er
atemlos. Endlich erlebt er jene Abenteuer, von denen er
schon so lange träumt! Und wenn er eine Waffe wie
eine Armbrust von Leon erhält, so heisst das wohl, dass
206
man ihn vielleicht länger bei der Gruppe behalten will...
Er wird aus seinen hochfliegenden Plänen abgelenkt, als
Lyssandro ihn fragt: „Hast Du uns eigentlich schon mal
von deiner Familie erzählt? Wer waren denn deine
Vorfahren?“ „Aithan! Der grosse Held Aithan!“
sprudelt es sofort aus Yoshi heraus. „Ich meine, das ist
der berühmteste meiner Vorfahren. Mein Onkel.
Sicherlich habt ihr schon von ihm und seinen
Heldentaten gehört!“ Weder Lyssandro und Leon
bringen es übers Herz, Yoshi zu erzählen, dass ihnen
dieser Name keinesfalls geläufig ist. „Er ist mein
grosses Vorbild. Ich will so werden wie er.“ „Und
deshalb reist Du allein durch die Gegend? Um ein Held
zu werden?“ erkundigt sich Lyssandro vorsichtig. Diese
Sache ist ihm schon immer ein wenig suspekt
gewesen... Yoshis Gesicht verdüstert sich schlagartig.
„Nein!“ meint er zögernd, dann entscheidet er, dass er
Leon und Lyssandro vertrauen will, und rückt endlich
mit seiner wahren Geschichte heraus. Sie ist alles
andere als fröhlich und lässt den Jungen plötzlich in
einem andern Licht erscheinen, als jemanden, der schon
sehr viel mitgemacht hat in seinem Leben.
„Aufgewachsen bin ich mit meinen Eltern auf einem
grossen Gutshof in Sihrl, den wir von unserem
Grossvater geerbt hatten. Es hat mir dort sehr gut
gefallen. Wir konnten reiten und fechten lernen, hatten
viele Freunde in der Umgebung und ein schönes,
geräumiges Haus, in dem wir Feste geben konnten.
Doch später wurden wir von einem meiner Onkel von
unserem Hof verjagt.“ Sein Gesicht verzieht sich. „Mein
207
Vater hatte vier Brüder. Er war der drittälteste. Der
älteste war schon lange von zu Hause weggegangen,
und niemand wusste, wo er steckte, und Aithan, mein
Lieblingsonkel, fand es auf dem Gutshof viel zu
langweilig, wie er sagte. Er ist lieber um die Welt
gezogen, um Abenteuer zu erleben.“ Was natürlich die
einzig wahre Lebensart in den Augen Yoshis darstellt.
„Dann ist mein ältester Onkel zurückgekehrt und hat
den Hof übernommen, ohne uns irgend etwas zum
Leben zu lassen. Wir hätten lange genug auf seinen
Gütern geprasst, meinte er.“ Die gerechte Empörung
über dieses erlittene Unrecht schwingt noch immer in
seiner Stimme. „Von da an waren wir oft unterwegs. Ja,
und auf einen dieser Reisen lernte ich dann SIE
kennen.“ Das „Sie“ wurde in einem anbetenden Ton
gesprochen, und Yoshi bekommt einen verklärten Glanz
in die Augen. „SIE ist die Lippe meines Lebens. War
die Lippe meines Lebens.“ Der letzte Satz klingt so
traurig, dass es Leon, Lyssandro, und Arist, der jetzt
auch sehr interessiert zuzuhören scheint, davon abhält,
darüber zu lächeln, dass ein 14-Jähriger erzählt, er habe
die Liebe seines Lebens getroffen. Yoshis Gesicht nach
zu urteilen, ist es dem jungen Mann jedenfalls sehr ernst
damit. Seine Schultern sind nach unten gesunken. „Wir
haben geheiratet, da sie mich natürlich auch geliebt
hat.“ Die überraschten Gesichter seiner Zuhörer scheint
er zu übersehen. Er schweigt für eine Weile, aber
niemand drängt ihn darauf, weiterzusprechen, da er
sichtlich mit seinen Gefühlen kämpft. Schliesslich
strafft Yoshi die Schulter. „Sie wurde entführt, mitten in
Sihrl, und von da an habe ich nichts mehr von ihr gehört
208
oder gesehen, obwohl wir verzweifelt nach ihr gesucht
haben, ich und meine Familie und auch ihre Familie.
Die Entführer müssen sehr geplant vorgegangen sein
und viele Helfer gehabt haben...“ Yoshi schiebt das
Kinn hoch, doch seine Stimme ist brüchig, als er
schliesslich abschliessend meint: „Deswegen will ich
ein Held werden. Um SIE zu finden.“ Darauf wissen die
andern nichts zu sagen.
Inzwischen ist es Mittag geworden, und Isabella hat
eine Menge hungriger Gäste zu versorgen. Sie bewirtet
„die fremden Abenteurer“, wie sie sie bezeichnet, mit
Hühnchen in Gemüsesauce, frischem Brot und
Kartoffeln, und findet dennoch genügend Zeit, um hier
und da mit ihren Gästen zu schwatzen.
Nach dem Essen vertreibt sich Arist die Zeit auf eine
für ihn übliche Weise: Er holt seinen magischen
Kompass und überprüft, ob in seiner Umgebung
vielleicht ein magischer Gegenstand zu finden sei.
Natürlich hat er sich zu diesem Zweck etwas von den
andern abgesetzt, um bei seinen Aktivitäten
unbeobachtet zu bleiben. Der Hinterhof des „Maultiers“
scheint ihm dazu passend, denn wiederum beobachtet
ihn da nur Isabellas riesiger Hund, der jetzt genüsslich
an einem Knochen, der der Grösse nach von einem
Elefanten stammen muss. Tatsächlich schlägt der
Kompass aus, und zwar in der Richtung, in der Arist die
Trutzburg weiss, obwohl man sie von hier aus nicht
sehen kann, wie Lyssandro schon nachts festgestellt hat.
Er beschliesst, dass es an der Zeit ist, der Burg einen
Besuch abzustatten. Ohne die andern vorher zu
209
informieren, macht es sich auf den Weg zur Burg, die
nur eine Viertelstunde weit entfernt ist. Als er zum
eisernen Tor kommt, das über den mit fauligen,
stinkenden Wasser gefüllten Burggraben führt, sieht er,
dass dieses von ungewöhnlich vielen Soldaten bewacht
wird. Sie tragen dieselben Pluderhosen und Westen wie
ihre Kollegen von der Stadtwache, nur sind ihre Hosen
rot, um sie als Burgwachen auszuzeichnen. (Endlich
wieder mal was über Uniformen!!!) Arist beschliesst,
unbefangen an ihnen vorbeizuschlendern, ein Vorhaben,
dass aber im Keim erstickt wird, als fünf oder sechs
Speere sich vor ihm kreuzen und so seinen Weg
wirksam blockieren. Arist seufzt. Er hat sich seine
Unternehmung einfacher vorgestellt. „Nun, meine
Herren...“ meint er. „Ich glaube nicht, dass eine solche
Be...“ „Wohin des Wegs, mein Herr?“ wird er barsch
unterbrochen. „Zum Gottesdienst, in die Kirche.“
Versetzt Arist spontan, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Anführer der Soldaten, derjenige, der gesprochen
hat, grinst hämisch. „In die Kirche wollt ihr, so?“ meint
er, während seine Stimme vor Bedauern trifft. „Es tut
mir leid, ihnen zu sagen, dass diese schon angefangen
hat. Und da ihr zu spät kommt, kann ich nicht erlauben,
dass ihr den Ablauf der Heiligen Messe durch euer
Hereinplatzen stört.“ Seine Untergebenen grinsen, und
Arist runzelt unwillig die Stirn. Ob der Soldat ihn aus
purem Vergnügen schikaniert, ob er einfach einen
schlechten Tag hat oder ob ihm Arists Anblick nicht
gefällt, lässt sich schwer sagen, doch eines ist sicher:
Auf diesem Weg ist es Arist unmöglich, in die Burg zu
gelangen. Mit einem aufblitzenden Lächeln zieht er sich
210
zurück, während das Gelächter der Soldaten hinter ihm
herschallt. Der Zorn beflügelt jetzt seine Schritte, so
dass Arist ziemlich rasch ans westliche Meer gelangt,
auf die Rückseite der Burg. Hat er gehofft, auf dieser
Seite leichter (und auf illegale Weise) in die Burg zu
gelangen, so sieht er sich getäuscht: Calos Burg ist eine
Wehrburg, die ihrer Umgebung nichts als hohe,
unerklimmbare Wände bietet. Zudem sind sämtliche
Mauervorsprünge und Zinnen mit Wachen besetzt, die
deutlich sichtbar sind, da ihre Rüstungen gelegentlich
hell in der Sonne aufblitzen. Unverrichteter Dinge kehrt
Arist schliesslich zu den andern zurück.
!!!Hier sind meine Notizen unklar: Gespräch
Yoshi/Lyss!!!
Leon macht unterdessen sein Versprechen war, dass
er Yoshi gegeben hat, und macht sich auf, für diesen
eine Armbrust auszusuchen. Unterwegs trifft er auf
Arist, der von seiner Artefakt-Suche zurückgekehrt ist,
und der sofort beschliesst, ihn zum Schmied zu
begleiten. Nach einigem Suchen werden sie auch
fündig: In der Nähe der Burg finden sie ein grosses
Haus, das an der Front das Zeichen der Schmiedezunft
trägt, dem Baustil nach ist sein Besitzer kein armer
Mann. Das Klingen von Metall und beissender
Rauchgeruch verraten ihnen, dass hier tatsächlich ein
Schmied gerade bei der Arbeit ist. Sie betreten das
dämmerige Haus, das gefüllt ist mit unzähligen Waffen
aller Art, die, ordentlich gestapelt, den Besitzer als
211
einen Mann mit grossem Ordnungssinn ausweisen. Alle
sind sie blank poliert; offensichtlich ist ihr Hersteller
jemand, der stolz auf sein Handwerk ist. Dies wird er
auch gleich unter Beweis stellen. Das Hämmern im
Hinterzimmer ist beim Klang ihrer Schritte verstummt,
und ein ziemlich kleiner, aber enorm breitschultriger
Mann mit mächtigen Muskelwülsten auf den Armen
baut sich vor ihnen auf. Sein Oberkörper ist unbekleidet
und von Schweiss überströmt. Obwohl er
augenscheinlich bei der Arbeit gestört wurde, lächelt er
freundlich. „Ich bin Argus, der Schmied.“ stellt er sich
höflich vor. „Was kann ich für euch tun?“ „Ich möchte
eine Armbrust erstehen.“ antwortet Leon. „Von denen
es hier, wie ich sehe, genügend gibt.“ „Die Waffe eines
Feiglings!“ fügt Arist hinzu, aber beide, sowohl Leon
als auch der Schmied, entschliessen sich, diese
Bemerkung geflissentlich zu überhören. Der Schmied
straft jedenfalls in der Folge Arist mit vollkommener
Nichtbeachtung und wendet sich während des ganzen
Gesprächs nur an Leon. „So, eine Armbrust wollt ihr
kaufen.“ wiederholt er. „Ich hoffe, ihr könnt eure
Wünsche noch etwas präzisieren, denn ich habe eine
Menge Armbrüste hier, und jede hat ihre persönlichen
Vorteile und Nachteile.“ Er ist zu den aufgereihten
Armbrüsten hingetreten und tätschelt die vorderste von
ihnen, als wäre sie eines seiner Kinder. Stolz glänzt in
seinen Augen, berechtigter Stolz, soweit Leon dies
beurteilen kann, denn die Waffen sind alle wunderschön
gearbeitet. „Bedenkt: Eine Waffe ist kein Spielzeug. Sie
muss zu seinem Besitzer passen." Er kommt ins
Dozieren. „Hier seht ihr eine Armbrust mit grosser
212
Durchschlagskraft, die, von einem guten Schützen
geführt, sogar vermag, einen Kettenpanzer zu
durchschlagen. Sie ist jedoch sehr schwer zu spannen.
Hier haben wir eine, die leicht spann- und handhabbar
ist, ihre Reichweite und ihre Durschlagskraft ist jedoch
dementsprechend geringer.“ Er geht einen Schritt
weiter. „Und hier haben wir eine Hebelarmbrust... Doch
sagt jetzt, was für Anforderungen stellt ihr an eure
Waffe?“ „Es ist nicht meine Waffe.“ versetzt Leon. „Sie
ist für einen jungen Burschen gedacht, der mit dieser
Waffe noch keine Uebung hat. „Ein junger Bursche,
sagt ihr.“ wiederholt der Schmied nachdenklich und holt
schliesslich eine Armbrust von weiter hinten. In seinen
riesigen Händen, die dennoch sehr kunstvolle Dinge
herstellen können, macht sich die Waffe beinahe
zierlich aus. „Da hätte ich dieses Modell zu empfehlen.
Es ist eine Spezialanfertigung für eine junge Frau, die
Nichte eines ansässigen Edelmannes, die unbedingt die
Waffen erlernen wollte. Ich habe für sie ein leicht tragund spannbares Modell hergestellt. Dumm nur, dass das
verwöhnte Gör, als ich sie fertiggestellt hatte, nichts
mehr vom Armbrustschiessen wissen wollte und statt
dessen Schwertunterricht nehmen wollte.“ Er knurrt bei
diesen Worten erbost. Offensichtlich hält er nicht
allzuviel von dieser edlen Nichte. „Also eine Armbrust
für Schwächlinge!“ kommt es wiederum von Arist, was
den Schmied noch einmal knurren lässt, bevor er sich an
Leon wendet. „Die Waffe ist auf 50-70 Meter brauchbar
und vermag einen Lederpanzer, oder einen schlechten
Spiegelpanzer glatt zu durchschlagen – immer
vorausgesetzt, die Hand, die sie führt, ist geübt. Was
213
meint ihr dazu?“ Leon wiegt die Waffe in seiner Hand.
„Es scheint mir ein gutes Modell zu sein.“ meint er.
„Was verlangt ihr für sie?“ „Da es sich um eine
Spezialanfertigung handelt, muss ich schon 15
Goldstücke für sie verlangen.“ Kommt es bedächtig
vom Schmied. „15 Goldstücke?“ gibt Leon zurück.
„Wahrlich ein fürstlicher Preis!“ „Bedenkt, dass ihr
dazu einen Köcher mit speziellen Bolzen erhalten
werdet!“ „Was für spezielle Bolzen?“ wirft Arist spitz
ein. „Vielleicht vergoldete?“ Der Blick, mit dem der
Schmied diese Bemerkung quittiert, hätte Eisen zum
Schmelzen bringen können. „Sie sind aus Olivenholz
gefertigt.“ erklärt der Schmied, nun endgültig
verstimmt, und er spart sich die weiteren Erklärungen
dazu. „Wie wäre es mit sieben Goldstücken?“ fragt
Arist ungerührt. „Für sieben Goldstücke könnt ihr eine
der schweren Armbrüste haben, wie sie von der
Burgwache getragen wird. Eine Massenanfertigung. Ich
bezweifle allerdings, dass euer junger Bursche sie wird
heben können.“ Er lächelt verhalten. „Nun gut, kommen
wir später mit Yoshi nochmal vorbei.“ Entscheidet Leon
schliesslich. „Es ist am besten, wenn er die Waffen
selbst einmal in die Hand nimmt, um sie
auszuprobieren. Schliesslich muss er sie ja für den Rest
der Reise bei sich tragen.“ Der Schmied brummt
zustimmend, während sein Blick besorgt an Arist hängt,
der jetzt in der Schmiede herumwandert und vor den
Langbögen stehenbleibt. „Oder sollen wir Yoshi einen
Bogen kaufen?“ ruft er über die Schulter zurück. „Der
Bogen ist eine Waffe für einen Meister!“ weist ihn der
Schmied zurecht. „Es sind besonders wertvolle Stücke,
214
die ich nicht jedem in die Hand gebe.“ „So?“ meint
Arist interessiert. „Darf ich einen ausprobieren?“ „Ihr
seid ein Meister des Bogens?“ fragt der Schmied
ungläubig, aber bevor Arist antworten kann, erhebt sich
draussen plötzlich ein lautes Geschrei, das schnell
näherkommt. Instinktiv greift der Schmied nach seinem
Dolch, während Leon seinen Schwertgriff berührt, doch
der kleine Junge, der plötzlich wie eine Kanonenkugel
ins Innere der Schmiede schnellt, stellt für niemanden
eine Bedrohung dar. Sein Gesicht ist vor Aufregung
gerötet. „Euer Bruder! Euer Bruder!“ japst er aufgeregt.
„Sein Schiff ist gerade angekommen. Er bringt euch Erz
mit und Eibenholz und...“ er gerät ins Stottern, da er
noch immer kurzatmig ist von der Anstrengung, vom
Hafen hierher zu eilen. Wenigstens wird sie gebührend
belohnt, denn der Schmied vergisst nicht, ihm eine
Münze in die schmutzige Hand zu schieben, bevor er
eine Jacke packt und zum Hafen eilt, als Belohnung für
die Benachrichtigung. Vor der Schmiede haben sich
bereits eine Menge Leute eingefunden. Calos ist klein
genug, als das die Rückkehr einer der Ihrigen von den
Gefahren des Meeres ein Volksereignis bedeutet. Der
Junge strahlt glücklich. „Der Laden ist geschlossen!“
ruft der Schmied über die Schulter zurück. „Ich muss
meinen Tunichtsgut von einem Bruder begrüssen.
Kommt morgen wieder!“ Und weg ist er. Leon und
Arist sehen sich an. In der Tat können sie hier nichts
mehr kaufen, so beschliessen sie, es dem Schmied
gleichzutun und ebenfalls den Hafen – den grossen
Hafen, denn in Calos gibt es auch einen kleinen Hafen,
der ausschliesslich Fischerbooten vorbehalten ist –
215
aufzusuchen. Sie brauchen nur der aufgeregten Meute
samt Schmied zu folgen.
Calos Hafen ist nicht riesig, und neben den
unzähligen, bunten Fischerbooten gibt es nur wenige
grössere Handelsschiffe oder hochseetaugliche Segler.
Dennoch fasziniert er den Betrachter mit seinen Farben,
seinem
quirligen
Leben,
den
verschiedenen
Menschenschlägen, die hier ihren Geschäften
nachgehen, den unzähligen Spelunken, die um die
Matrosen wetteifern, und das Kreischen der Möwen
vermischt sich mit einem babylonischen Sprachgewirr,
und der Geruch nach Salz und Fisch erfüllt die Luft.
Leon und Arist schlendern durch das Getümmel; sie
sind auf der Suche nach einem Schiff, das sie nach
Ormanja bringen kann. Eine ganze Weile sehen sie sich
vergeblich nach einem passenden Schiff um, dann
stechen ihnen zwei grössere Schiffe ins Auge. Ein
bauchiger Zweimaster, deren Besatzung gerade dabei
ist, ihre Ware auszuladen, schaukelt gemächlich neben
einem schlanken, wendigen Einmaster auf den Wellen.
Leon und Arist brauchen nicht lange zu überlegen,
kurzentschlossen klettern sie an Bord des Einmasters.
Dieser scheint verlassen, erst nach kurzem Suchen
entdecken
sie
einen
kleinen
Jungen,
der
gedankenverloren und ohne allzu viel Energie dabei ist,
das Deck zu schrubben, das ohnehin schon ziemlich
sauber ist, im Gegensatz zu dem Jungen selbst, der in
zwar farbenfrohe, doch salzverkrustete Lumpen
gekleidet ist. Als er ihre Schritte hört, schreckt der
Junge hoch und mustert sie aus runden Augen. Ihr
216
Anblick scheint ihn aber zu beruhigen, denn sein Mund
verzieht sich zu einem Grinsen. „Was ist Euer Begehr,
meine Herren?“ ruft er und macht eine jungenhafte
Verbeugung. „Wir möchten den Kapitän dieses Schiffes
sprechen.“ Informiert ihn Leon. Der Junge verzieht das
Gesicht, kratzt sich hinter dem Ohr und spuckt auf das
sauber geputzte Deck. „Meister Andiamus ist ein viel
beschäftigter Mann. Er unterhält sich nicht mit jedem“
Meint er bekümmert. „Er ist in seinem Gemach und
widmet sich seinen Studien. Ich glaube nicht, dass er
euch empfangen kann!“ „Vielleicht hilft das, Andiamus
für uns empfänglicher zu machen.“ Meint Arist trocken
und schiebt dem Jungen zwei Kupferstücke in die
zweifelhaft saubere Hand. Das Gesicht des Jungen
erhellt sich sofort. „Meister Andiamus ist noch immer
ein vielbeschäftigter Mann!“ strahlt er. „Aber vielleicht
kann ich ihn überzeugen, euch anzuhören!“ Und er flitzt
davon, Richtung Schiffbauch, und verschwindet über
eine Treppe. Leon und Arist hören ein Pochen, ein
ärgerliches „Wer stört mich denn nun schon wieder?“
und ein hastiges Gemurmel des Jungen, der den Grund
seines Klopfens erklärt. Leon und Arist warten
geduldig, und werden schliesslich damit belohnt, dass
Meister Andiamus persönlich vor ihnen steht. Er ist ein
grosser, hagerer mann in weiter, teurer Kleidung, die
allerdings um seine Gestalt schlottert. Sie muss einiges
gekostet haben. Er hat ein langes, ebenso hageres
Gesicht, umrahmt von schulterlangen Haaren. Auf dem
Kopf trägt er einen kleinen Hut mit zwei Federn, im
selben dunkelgrün gehalten wie sein Wams, und in
seiner Hand hält er eine kleine zierliche Lesebrille. Auf
217
seinem Gesicht liegt ein wehleidiger Ausdruck, als er
Leon und Arist mustert. „Ich liebe es ganz und gar
nicht, gestört zu werden.“ Sagt er, er hat eine hohe,
durchdringende Stimme. „So frage ich Euch denn: Was
ist euer Begehr, Fremde?“ Unter dem hochmütigen
Blick des „Meisters“ platzt Leon sogleich heraus: „Wir
suchen eine Ueberfahrt nach Ormanja. Wann fahrt ihr?“
Ein schockierter Ausdruck breitet sich auf Andiamus
Gesicht aus, er hebt seine Brille und beäugt Leon
ausgiebig durch diese. Mit spitzer Stimme weist er Leon
dann zurecht: „Ihr befindet euch auf keinem
gewöhnlichen Passagierschiff, sondern auf dem
„Eilenden Schwan“, dessen Kapitän ich bin. Und ich bin
mein eigener Herr. Ich werde diese Gestade verlassen,
aber erst, wenn die kulturellen Bedürfnisse dieser
Leutchen hier befriedigt sind. Ich bin ein fahrender
Poet, müsst ihr wissen.“ Mit affektierten Schwung wirft
er seine Haare zurück. Leon scheint nicht besonders
beeindruckt von dieser Zurechtweisung. „Und wann
dürfte dies etwa der Fall sein?“ Dies scheint Andiamus
in Rage zu bringen, denn er fährt fort: „Ich und meine
Kunst, wir packen die Leute bei der Seele. Nirgends, ich
wiederhole, nirgends wollen sie mich überhaupt je
wieder gehen lassen! So zügelt eure Ungeduld, mein
Freund! Habt ihr keine Ehrfurcht vor der Kunst?“
Auch diese Standpauke verfehlt jedoch die
gewünschte Wirkung auf Leon. Gnädig fügt dann der
Künstler noch hinzu: „Fragt doch den Händler da,
nebenan. Er ist, soviel ich weiss, unterwegs nach
Ormanja. Er wird vielleicht bereit sein, euch
218
mitzunehmen. Soweit alles klar?“ Eine abschätzige
Geste auf den Zweimaster, der neben ihm vor Anker
liegt, folgt. „Ich werde mich jetzt jedenfalls wieder
meinen Studien widmen, Gentlemen.“ Das „Gentlemen“
ist eine Spur zu spitz betont. „Wenn sie jetzt den
„Eilenden Schwan“ verlassen würden... Ich glaube
nämlich, dass ich das Grundbedürfnis dieser Leute hier
– unter uns gesagt, sie sind ziemliche Barbaren – bereits
gestillt habe; und deswegen bald aufbrechen werde –
ohne Euch. Ich liebe die Seefahrt, weil sie mir Ruhe,
Musse und Einsamkeit bringt – und genau das brauche
ich für meine Kunst!“ „Ihr solltet Euch Eure
Entscheidung noch einmal überlegen.“ meint Arist.
„Leute abzuweisen, die eurer Hilfe bedürfen, scheint
mir – mit Verlaub – ebenso barbarisch, wie die
Kulturbedürfnisse der Einwohner von Calos euch
scheinen mögen. Ihr solltet euch als der galante Herr
verhalten, als den euch eure Flagge auszeichnet.“ Er
weist auf die beachtliche Flagge, die den einen Mast des
„Eilenden Schwans“ schmückt. Andiamus ist ob dieser
Zumutung blass geworden. „Wenn ihr meine Flagge
gesehen habt...“ meint er, „... so wisst ihr, dass ihr es
mit einem Künstler zu tun hat, der nicht nur die Poesie,
sondern auch die Heraldik versteht. Also jemanden, der
weit über euch steht!“ „Ich sehe die Flagge eines
Wichtigtuers.“ versetzt Arist lächelnd. Andiamus
verschlägt es die Sprache. Als er sie widerfindet,
explodiert er fast: „Das ist ein Affront!“ brüllt er. „Ein
Affront gegen den „Eilenden Schwan“ und mich selbst!
Wärt ihr ein Edelmann, hätte ich schon lange
Genugtuung von euch verlangt!“ Sein hageres Gesicht
219
ist vor Zorn rot überlaufen. „Ach ja? Wie wäre es dann
mit einem Wettstreit, in dem ihr euch auch mit jemand
unter eurem Stand messen könnt? Zum Beispiel, wer
von uns beiden das längere Gedicht über eine berühmte
Sage erdichten kann?“ versetzt Arist ungerührt.
Andiamus hat sich jetzt wieder gefasst. Seine Stimme
ist kalt, als er antwortet: „Ich bin in berühmten Tempeln
und gar vorn Königshöfen aufgetreten. Ich gebe mich
nicht mit Pöbel und Hergelaufenen ab. Schaff Dir erst
einen Namen, bevor Du dich mit mir messen willst!“
„Hast du etwa Angst vor wahrer Kunst?“ erhält er
postwendend die Retourkutsche von Arist, doch diesmal
lässt sich Andiamus nicht mehr auf Diskussionen ein.
„Runter von meinem Schiff.“ befiehlt er eisig. „Bevor
ich die Wachen rufen lasse.“ Leon hat genug von
Andiamus und dessen Hochmut, hier werden sie
garantiert nichts erreichen. Er packt Arist am Aermel.
„Lass uns gehen.“ meint er. „Hier erreichen wir sowieso
nichts.“ Arist lässt sich mitziehen, während er im
Herzen finstere Rachepläne schmiedet.
...
Yoshi und Lyssandro kommen vom Übungsplatz
zurück zum Gasthaus, wo sie zur Zeit gerade logieren.
Die Kirchturmuhr schlägt sechs mal. Im Gasthaus ist
viel Betrieb. Die meisten Leute verköstigen sich gerade.
Auch die Gefährten sind da und haben schon für alle
bestellt. Yoshi und Lyss setzen sich hinzu. Abendessen
ist angesagt. Es gibt Schaffleisch und Rübenwürfel,
garniert mit Kandover, einem streng nach Knoblauch
riechenden einheimischen Gewürz. Es schmeckt
220
vorzüglich.
Alle
Mahlzeiten
sind
im
Übernachtungspreis inbegriffen.
Sie informieren sich gegenseitig über ihre heutigen
Taten. Sie beschliessen am Abend dann noch einmal
zum Hafen zu gehen und nach einer Mitfahrgelegenheit
nach Ormania zu suchen. Vor allem den komischen
Künstler namens – wie hiess er denn? – wollen sie
unbedingt nochmals besuchen. Yoshi, Kaitou und
Bildugan sind ganz neugierig auf diesen komischen
Kauz, nachdem, was Arist und Leon über ihn berichtet
haben, besonders Kaitou.
Kaum fertig gespeist machen sie sich auf die Socken
zum Hafen. Sie steuern gleich zuerst auf das Schiff des
Künstlers zu. Sein Gehilfe ist am Steg. Er ordnet Bänke
in einem Halbkreis an. „Gebt ihr heute Abend eine
Vorstellung?“ fragt ihn Yoshi. „Ja, heute Abend.
Kommt vorbei und seht es euch an,“ antwortet der
Junge. „Wie oft habt ihr denn eine Vorstellung an einem
Ort?“ will Arist wissen. Der Junge antwortet mit leiser
Stimme: „Meistens nur eine. Die Euphorie der
Zuschauer hält sich in engen Grenzen. Am zweiten Tag
hat es meistens zu wenig Zuschauer, dass es sich lohnt
eine Vorstellung zu machen. Aber kommt doch heute
Abend und überzeugt euch selbst.“ Yoshi bedankt sich:
„Gut, dann bis später.“
Etwas entfernt halten sie die Köpfe zusammen. Sie
sind sich einig, dass das Schiff des Künstlers das
schönste ist im Hafen und besonders Arist würde gerne
mit diesem Schiff nach Ormania reisen. Yoshi sieht drei
Möglichkeiten. Entweder sie schauen seine Vorstellung
221
und streichen ihm anschliessend gehörig Honig um den
Mund, so dass er Weich wird, oder sie Buhen ihn aus
und schleichen sich an Bord, oder sie Kapern das Schiff
mit Gewalt. Der Samurai hat noch einen weiteren
Vorschlag: „Ich könnte ihm eines meiner Gemälde
anbieten. Wenn er etwas von Kunst versteht, dann
gefallen sie ihm bestimmt, und er wird uns mitnehmen.“
Lyssandro will mit der ‚Organisation’ eines Schiffs
nichts zu tun haben: „Bitte entschuldigt mich, ich muss
noch was erledigen. Ich überlasse es euch, eine
Überfahrgelegenheit nach Ormania zu beschaffen.“ Er
entfernt sich Richtung Zentrum. Arist überlegt sich
kurz, ihm zu folgen. Aber er wird von den andern gleich
zum nächsten Schiff gerufen.
Lyssandro geht zur Burg, denn da befindet sich die
Kirche. Vor dem Tor ist eine Wache, die ihn
zurückdrängt und will ihn zuerst nicht in die Kirche
hinein lassen. Nachdem Lyssandro aber von seiner
Beziehung zu Jahwe und der Wichtigkeit seiner Präsenz
in der Kirche gesprochen hat lässt ihn die Wache mit
entschuldigenden Worten durch: „Im Normalfall
werden keine Fremdlinge in die Kirche gelassen. Nichts
für Ungut.“ Lyssandro geht durch das Kirchentor. Der
Priester hält gerade eine Messe. Lyss setzt sich in die
hinterste Reihe und wartet, bis die Messe vorbei ist.
Die andern debattieren gerade mit dem Kapitän des
einen Handelsschiffs: „Ihr wollt 5 Goldstücke für die
Überfahrt und auf dem anderen Schiff bezahlen wir nur
zwei Goldstücke. Mach uns ein besseres Angebot!“ Der
Kapitän ist verdutzt: „Na gut, ein Goldstück pro Person
222
und ihr könnt mit mir mitreisen. Das ist mein letztes
Angebot.“ Auch ein Goldstück pro Person erachten sie
als Wucher. Klar, Reisen ist teuer, aber doch nicht so.
Sie schlagen vorerst nicht ein und beschliessen zurück
zum Gasthaus zu gehen, um noch eins zu trinken. Die
Suche nach einem Schiff können sie morgen wieder
fortsetzen, die Motivation für heute scheint verbraucht
zu sein. Ausserdem ist Heute nicht mehr lange, die
Kirchenglocken schlagen halb zwölf. Arist trennt sich
heimlich von der Gruppe ab. Er will zuerst Lyssandro
suchen, um das Ritual zu vollziehen. Er weiss, dass
Lyss ein der Kirche sein muss. Er geht zur Burg um ihn
abzuholen.
Die Messe in der Kirche ist unterdessen vorbei.
Lyssandro geht nach vorne und spricht den Priester an:
„Dürfte ich vielleicht euren Altar benutzen? Ich
bräuchte ihn für ein Ritual. Ich muss mein gewissen mit
Jahwe in Einklang bringen.“ Der Priester ist skeptisch:
“Nun, ihr müsst verstehen, dass ich den Altar nur
geweihten Personen überlassen kann, seid ihr ein
Priester?“ „Nein, bin ich nicht...“ gibt Lyss ehrlich zur
Antwort. „Ihr könnt gerne bei mir eure Beichte ablegen,
und euer Gewissen so ins Reine bringen. Aber den Altar
kann ich euch nicht zur Verfügung stellen.“ Lyssandro
ist einverstanden und erzählt dem Priester die Vorfälle
im Orklager, die Sache mit der Feder, seine Vision von
dem Dämon und dem besessenen Dolch von Kaitou.
Der Priester hört ihm aufmerksam zu. Nach
ausführlicher Beichte ist er von der Geistlichkeit
Lyssandros überzeugt und gewährt ihm nun doch, den
223
Altar zu benutzen. Lyss ist erfreut. Er macht sich gleich
an die Arbeit. Er zündet auf dem Altar sechs Kerzen an,
die er kreisförmig anordnet. Dann nimmt er einen
Büschel geweihte Gämsenhaare aus seinem Beutel und
streut sie auf den Altar. Er kniet nieder, faltet die Hände
und beginnt mit wippendem Oberkörper zu beten. Er
versucht die gleichen Worte und Gedanken zu
formulieren wie letzte Nacht im Hinterhof. Nur dass er
diesmal die konkrete Frage anfügt, ob sich der Mörder
unter den Gefolgsleuten befindet. Diesmal ist die
Stimme ganz deutlich guter Natur. Aber sie macht lange
Zeit keine klare Aussage. Aber plötzlich und für ganz
kurze Zeit ist Lyss der vollen Überzeugung, dass sich
der Mörder nicht in seinen Reihen befindet. In diesem
Moment spürt er Fingertipper auf seiner Schulter. Ein
Wachmann steht neben ihm und will Lyss mitteilen,
dass ein gewisser Arist vor der Kirche auf ihn wartet.
Lyss räumt seine Sachen zusammen, bedankt sich
herzlich beim Priester für seine Dienste und geht zur
Tür. Da steht Arist ganz ungeduldig: „Endlich hab ich
dich gefunden. Die Kerle wollten mich einfach nicht in
die Kirche hinein lassen. Komm lass uns das Ritual
vollziehen. Dann wissen wir endlich, wer der Mörder
ist.“ Lyssandro schüttelt den Kopf: „Nein Arist, wir
werden das Ritual nicht durchführen. Es ist nicht mehr
nötig. Ich weiss, dass sich der Mörder nicht unter uns
befindet!“ Arist wird lauter: „Was soll das, wir haben
abgemacht, dass wir das Artefakt befragen werden. Gib
mir die Feder! Dann tu ich es eben alleine.“ Lyssandro
gesteht, dass er die Feder nicht bei sich trägt, aber dass
sie sich an einem sicheren Ort befindet, der aber
224
unerreichbar ist: „Das Artefakt ist unschädlich, aber es
ist unerreichbar.“ Arist wird wütend und beschimpft
Lyssandro: „Ich habe dir vertraut. Ausgerechnet du
missbrauchst mein Vertrauen.“ Er geht mit schnellen
Schritten zurück zur Gaststube. Lyssandro versucht ihm
noch nachzurufen, aus welchem Grund er die Feder
nicht mehr bei sich trägt. Aber Arist ist zu zornig um
Lyss’ Worte zu hören und ignoriert ihn. In der
Gaststube angekommen fragt er jeden der Gruppe, den
er findet, ob er mitkomme das Artefakt nach dem
Mörder zu befragen. Er hat Lyssandro nämlich ein
falsches Artefakt gegeben. Die Feder wäre eigentlich
nur ein Trick gewesen, um den mutmasslichen Mörder
zu verleiten die Feder Lyssandro zu entwenden und zu
vernichten. Das richtige Artefakt hat er immer noch bei
sich. Leon und der Samurai begleiten ihn. Kaitou, Yoshi
und Bildugan bleiben in der Gaststube.
Als Lyssandro in der Gaststube ankommt gönnt er
sich als erstes einen Krug Bier nach so einem
anstrengenden Tag, der aus seiner Sicht erfolgreich zu
Ende ging. Schliesslich ist er jetzt überzeugt, dass
keiner der Begleiter die Sünde begangen hat.
Leon und der Samurai stehen unterdessen auf einem
Platz in einem Hinterhof. Es ist dunkel und Arist
vermutet unbeobachtet zu sein. Er legt das Artefakt – es
verkörpert eine Schriftrolle – auf den Boden und zieht
einen Notizzettel aus seiner Westentasche. Er
wiederholt noch einmal, wie das Artefakt funktioniert.
Man kann ihm eine Frage in dichterischer Form stellen
und die Erfüllung hält so lange, bis der Hahn drei mal
225
Kräht. Der Samurai möchte wissen, wo denn der Haken
an dem Artefakt sei. Arist meint, es gäbe keinen. Er
verschweigt Kaitou, dass mit einer geringen
Wahrscheinlichkeit der Dämon, der in der Schriftrolle
gefangen ist, befreit werden kann.
Arist kniet vor das Artefakt und spricht seine Verse:
Blabla...(Matter fragen)
Es ist still. Die Schrift rolle beginnt zu qualmen. Sie
wird rotglühend und empor schiesst eine Gestalt des
Schreckens. Ein Dämon.
Zur gleichen Zeit in der Gaststube spürt Lyssandro
einen fürchterlich stechenden Schmerz auf der Brust.
„Böses ist in der Stadt!“ Er rennt aus der Gaststube. Er
folgt der Herkunft des Schmerzes. Kaitou folgt ihm.
Lyss rennt immer schneller, denn die Präsenz wird
immer stärker. Um die dritte Hausecke sieht er das rote
Licht, das der Dämon ausstrahlt. Er hört seine
Gefährten, wie sie mit ihren Waffen erfolglos auf den
Dämon einschlagen. „Flieht!“ ruft Lyssandro durch die
Gasse, die er her gerannt kommt. Er packt sein Buch mit
beiden Händen und streckt es aus, so dass das Bild auf
seinem Buch, ein sechszackiger Stern, genau auf den
Dämon zeigt. Mit dem Buch macht er sternförmige
Bewegungen. Der Dämon bemerkt ihn sofort. Er lenkt
seine volle Aufmerksamkeit auf Lyssandro. Lyssandro
verlangsamt seine Schritte, und er beginnt
unverständliche Phrasen zu sprechen:
226
Exorcizo te, omnis spiritus immunde, in nomine
Dei Jahve omnipotentis, et in nomine Domini et
Judicis nostri, et in virtute Spiritus Sancti, ut
descadas ab hoc plasmate Jahve, Daemon quod
Dominus noster ad templum sanctum suum vocare
dignatus est, ut fiat templum Dei vivi, et Spiritus
Sanctus habitet in eo. Per eumdem Jahve Dominum
nostrum, qui venturus est judicare vivos et mortuos,
et saeculum per ignem...
Diese Worte wiederholt er fortlaufend. Es macht den
Anschein, als hätte der Dämon Schmerzen. Er reckt
sicht und fuchtelt mit seinen Pranken um sich. Es macht
den Anschein, als versuche er auf Lyssandro zu
zugehen, aber irgendetwas hält ihn ab. Hie und da wirft
Lyss von den geweihten Gämsenhaaren auf den Dämon.
Wenn er das tut, dann heult das Biest laut auf, als hätte
es unheimlichen Schmerz. In der Aufruhr merkt
Lyssandro nicht, wie sehr er selbst von Schmerzen
geplagt ist, als würde es ihm den Brustkorb
zerquetschen.
Kaitou stösst Lyss zur Seite und wirft Reis auf den
Dämon. „Was soll das?“ fragt Lyss. „Jetzt muss er
zuerst die Reiskörner zählen! Das hält ihn auf!“ gibt er
zur Antwort. Lyssandro schüttelt den Kopf und fährt mit
seinem Austreibungsritual fort.
Auf einmal spürt er Fingertipper auf seiner Schulter
und eine knöchrige alte Hand streckt ihm ein Pfännchen
227
entgegen. Lyssandro schaut zurück; der Priester von der
Kirche. „Das ist Weihwasser!“ Lyssandro nimmt das
Gefäss und sprüht Tropfen von Weihwasser auf den
Dämon. Dazu spricht er fortwährend diese
unverständlichen Verse. Es nützt, die Kraft des
Dämonen lässt nach.
Minuten Später befindet sich an dem Ort, wo der
Dämon stand noch ein Häufchen qualmender Asche.
Lyssandro fällt in die Knie. Er atmet heftig und man
kann den schnellen Puls in seinen aufgeblähten
Blutadern sehen. Der Priester klopft ihm auf die
Schulter und verschwindet alsbald in der Gasse
Richtung Burg, ohne ein Wort zu sagen. Arist, Leon,
der Samurai und Lyss starren wie paralysiert auf die
Asche.
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