SUSANNE SCHUDA

Transcription

SUSANNE SCHUDA
Susanne Schuda
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INhalt
Die Zelle – eine paradoxe Religion5
der Poet – Ästhetik und Weltbild
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selbstinszenierung – Öffentlichkeitsarbeit mit Selbstwirksamkeit
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die schudas – virtuelle Aneignung und Neubespielung
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Technische Angaben, Credits 100
CV
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Im Countdown zur visuellen Wiedergeburt
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Ursula Maria Probst
Unter die Haut gesprochen 108
Franz Thalmair
In Schudas Welt Günther Holler-Schuster
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Die Zelle
eine paradoxe Religion
Installation
Neue Galerie Graz
2009
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one believes
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Das Auto als spiritueller Raum
eine Videobotschaft der Zelle
Die Anbetung der biologischen Zelle bietet dem Menschen eine Loslösung von sinnstiftenden
­G edanken. In der Videobotschaft der Zelle stellen die drei Repräsentanten The King, Huren­s ohn
und Meine Mutter dar, wie die Hingabe an die Sinnlosigkeit zu gestalten ist.
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Sie redet viel.
Erzählerin: They are on the road again, The King,
­Hurensohn und Meine Mutter. Meine Mutter fährt,
sie hat sich das Autofahren selbst beigebracht.
Meine Mutter hat viel Zeit, sie wird ewig leben
und dabei immer gut aussehen, ihr Körper ­gehorcht
ihr ganz.
Meine Mutter: Ich fühle mich leicht und rein. Ich
bin total bei mir, in mir, ich unterscheide das
­Außen und das Innen, ich bin meine Mitte. Ich will,
dass du das auch hast, ich will, dass du dich so
gut fühlst, wie ich es tue. Und das kannst du, wenn
du lernst richtig zu leben.
Insert: Ich bin nicht die Zelle, ich bin die
­Botschaft.
Erzählerin: Sie tut alles, um meine Entwicklung zu
fördern, mir alles beizubringen, damit das Beste
aus mir wird, das Beste, was mir möglich ist zu
sein, das genügt, das bin ich, das akzeptiert sie.
Früher hat Ewigkeit mir Angst gemacht, ich konnte
­sie mir nicht vorstellen. Jetzt denke ich, Ewigkeit
ist das ­Draußen, das alles Umhüllende. Ich bin die
Wiederholung, hier drinnen.
Ihre Reinheit ist mein Schutz, mein Fluchtpunkt.
Aber auf begrenzte Zeit, sie wird mich entlassen.
Ich soll aus mir herauswachsen.
Oft hält sie mich stunden­lang in ihren Armen. Sie
hat gut definierte warme Arme.
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Meine Mutter: Der Alltag ist das Ritual deines
­Lebens. Du musst deinen Alltag rein halten, Rein­
heit ist das Wichtigste für die Perfektion der Exis­
tenz. Permanente Gegenwärtigkeit und entspre­
chende Konzentration schaffen die notwendige
Aufmerksamkeit für Abläufe und Materialien. Du
stehst mit allem, was von dir oder deinem Blick
berührt wird, im Austausch. Alle Produkte, der
­Industrie, der Phantasie oder der Verwahrlosung
versuchen, in dich einzudringen, deinen Willen
zur Reinheit zu konkurrenzieren. Um keinem Täu­
schungsmanöver zum Opfer zu fallen, musst du
die Zusammenhänge verstehen. Der Herkunft auf
den Grund gehen.
Erzählerin: Wenn ich die Augen schließe, höre ich
wie klares Wasser aus allen Poren hervorquillt,
ich lasse mich rückwärts hineinfallen, tauche
­unter, bin für einen kurzen Moment eins, bereit
mich auf­zulösen.
Ich tauche wieder auf, ich brauche Luft. Wasser
löst sich von meiner Haut.
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Hurensohn zu Meiner Mutter: Hast du die neue
Navi­gation installiert? Meine Mutter nickt.
Erzählerin: The King ist nicht mein Vater, Huren­
sohn ist nicht mein Bruder, vielleicht ist er mein
Onkel.
The King: Denjenigen, deren Zellen nicht sterben,
in denen das Leben auswuchert, wird unterstellt,
dass sie ihre Wut und Leidenschaft unterdrücken.
Dass sie zuviel Selbstbeherrschung ausüben, bis
das Leben nicht mehr weiter kann und das
­Geschwür in ihnen ausbricht. Aber das stimmt
nicht, sie sind nur Gefäße des Lebens, in ihnen
leuchtet ein Leben, dass sich dem individuellen
Bewusstsein entzieht, übergeordnetes Leben, das
in der Transzendenz zu einem ­kollektiven ­Geschwür
wird, in immerwährender Zellteilung vernetzt, das
große alles umfassende Prinzip, das Frage und
Antwort zugleich ist, das Prinzip des sinnent­
leerten und ziellosen Lebens.
The King sitzt selbstzufrieden auf der Rückbank.
The King: Macht ist dem Leben immanent. Das
­Leben ist in dir, also ist auch die Macht in dir.
Macht, die du auslebst, und Macht, die sich ­deinem
Selbst entzieht. Fremde Macht, die dich bestimmt.
Sie kann in deinem Körper sein, sie kann ein
­beschissener Persönlichkeitsanteil sein, sie kann
in deinem Unterbewusstsein arbeiten. Die Fremde
Macht verweigert sich deinem ­Wollen. Die daraus
resultierende Orientierungslosigkeit wirft die
Sinnfrage auf, die Sinnfrage kann alles zerstören
und verlangt daher nach ­Kontrolle.
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kuscheln möchte, und dann, aus den warmen dun­
kelblauen Anzugsfalten herausschreien...
Insert: Entgegen allen Annahmen ist Macht
auch dem sinnentleerten Leben immanent,
denn auch dieses Leben gestaltet Räume.
The King beugt sich zum Fenster hinaus: Hey, das
ist mein Auto, du finsteres Arschloch, mach dich
vom Acker und klau dir deine Scheiße doch
­woanders zusammen! Illegale Sau!
The King: An der Spitze der Hierarchie zu stehen,
bedeutet, etwas unter sich zu haben, die Aus­läufer
der Pyramide, den hierarchischen Apparat. Der­
artige Fundamente können zum Ballast werden.
Macht sollte beweglich sein, undemokratisch.
The King lässt sich zurück in den Sitz fallen:
­Diktaturen sind aber auch nicht wirklich beweg­
lich. Da muss man die immer gleiche Massen­
psychose bedienen und sich strikt, bis zur Ver­
nichtung, daran halten.
Demokratie ist ein schwerfälliger Tummelplatz für
Vaterfiguren jedweder Art. Die väterliche Macht,
die tut so gut. Macht, in die man sich hinein­
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nach vorwärts läuft, um wieder rückwärts zu
laufen.­ Es wäre auch unklar, wann ich den Zeit­
punkt zum Zurückspulen setzen sollte, knapp vor
oder nach dem Tod? Am Klimax? Am Klimax ist
man immer noch am Leben.
Erzählerin: Ich mag Hurensohn nicht besonders,
aber er spricht wenigstens nicht viel. Im Moment
denkt er über seinen Auftrag nach.
Hurensohn: Ich kann einen Selbstmord nicht in
einem Loop darstellen, ich mag nur unsichtbare
Loops ohne Anfang und ohne Ende, die Betrach­
tenden wissen nicht, bei welchem Bild der Film
zur Schleife wird. Würde ich einen Selbstmord
loopen, würde das bedeuten, dass ein Leben im
Rückwärtslauf wieder beginnt und dann wieder
Einen Selbstmord kann ich nur in der Potentialität
des Suizids ­­loopen. Sich der eigenen Vernichtung
hinwenden und kurz davor wieder abwenden, pro­
vozieren und über­leben.
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Toten wird Schwarz/Weiß. Scharfstellen, nachden­
ken, was hinter mir ist, nicht jetzt darüber nach­
denken, Tele rein, Tele raus. Ich seh dich, ganz
nah, unscharf, aufgelöst.
Erzählerin: Hurensohn hat einen Flashback, einen
kleinen Traumaburner, eine Eigenheit, die er mit
schizoider Gewissenhaftigkeit pflegt. Er war da­
mals immer weit hinter der Gruppe, es war Som­
mer, es ging ihm nicht schlecht. Aber er hat ein
Recht auf sein Leiden.
Ich zieh den Teleskopring wieder zu mir, ich will
das ganze Bild, ich spüre meinen Atem auf meinem
Handgelenk, ich halte still, die Luft an.
Hurensohn: Standbein, Spielbein, abwarten,
schauen, wo die andern sind, das Foto von der
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Scharf. Abdrücken. Weitergehen, es ist heiß und
ruhig, schlucken, Durst. Der kurze Tribut an die
Tote wird geleistet durch innere Vorsicht beim
Weggehen. Inneres Kathedralengefühl anklicken,
das ist Respekt. Auf Zehenspitzen über den Stein­
boden.
Nach 3 Metern bin ich aus der gefühlten Kathe­
drale draußen, trete wieder voll auf, richte die
­Gedanken nach vorne, Durst, schlucken. Ich mag
die Sonne auf der Haut, ich mag das Gefühl, sie
zu speichern.
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Wir leben im Zeitalter der total vernetzten globa­
len Verschuldung. Die Welt passt in die Funk­
tionsschachtel, was zu einem Gefühl der Sinn­
losigkeit führt, Sinnlosigkeit spüre ich aber nur
dann, wenn ich nach Sinn frage. Die Zelle entzieht
sich dem Sinn, sie ist die Antwort, weil sie keine
Frage stellt.
Insert: Noch ein SchluSSsatz zu Macht, Aus­
beutung, Schuld und Sinn.
The King: Wir unterscheiden moderne und tradi­
tionelle Ausbeutung. Beide werden bedingt durch
Schulden, Schuldhaftigkeit, Verschuldung – von
und für schuldig Geborene. In der Schuld zu ­stehen,
bedeutet Ohnmacht, die Gestaltungsräume kön­
nen bis auf Funktionsschachtelgröße reduziert
werden.
Die Zelle ist ewig und sinnfrei!
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DIE ZELLE IST DER KLEINSTE TEIL MEINER EXISTENZ.
ICH FOLGE IHRER BESTIMMUNG.
SIE IST DAS LEBEN.
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DAS LEBEN IST NICHT FÜR MICH GEMACHT,
ICH BIN DIE VARIIERTE WIEDERHOLUNG.
DIE ZELLE IST EWIG UND SINNFREI.
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meine mutter
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Der poet
Ästhetik und Weltbild
Installation
Linz Trienale 1.0,
Offenes Kulturhaus Linz
2010
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Plus-Poet
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Der Monolog des Minus-Poeten
eine Endlosschleife
Die Tagträume des Minus-Poeten werden bestimmt durch polymorphem Hass, paranoide Isolation
und romantische Erlösungsphantasien.
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Der Poet: Ich hasse den Morgen, da träume ich
immer von Anpassung. Ich bin ein Stück Plastilin,
ein Kinderspielzeug, das nicht die richtige Form
findet.
entlarvt. Aber es gelingt nicht. Ich bin ungenügend,
ich probiere es noch mal, sie lachen mich aus, sie
haben mich erkannt, ich bin ein Fehler.
Dann steigt mir der Hass auf, der macht mich halb­
wach und dann beginnt die Selbstbestrafung.
Ich werde geprüft. Ich versuche, mich in die rich­
tige Form zu bringen, damit mein Ich mich nicht
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Das sind aber nicht so Larifari-SM-Spielchen, wo
man sich aus Versehen beim Onanieren strangu­
liert. Nein, das sind geschärfte Stahlseile, durch die
Achseln laufende Schlingen, die hinter mir fixiert
sind, und ich ziehe mit dem Körper so schnell und
kraftvoll nach vorne, dass es mir ins Fleisch
­schneidet und dann die Arme abtrennt. Selbst­
behandlung. Ich schwöre auf geschärfte Stahlseile,
damit kannst du dir alles abtrennen, du kannst das
Fleisch von den Knochen ziehen. Alles vernichten
und sehen, dass nichts dahinter ist.
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Findest du nicht mehr schön?
Musikzitat: "I’ve got you under my skin” ,
Frank ­S inatra
Na ja, was ist schon schön, und wenn ich mich so
fühle, dann darf ich auch irgendwann mal da­rüber
sprechen. Diese Gedanken sind in mir und ich sag
nie was, ich bleib immer am Lächeln und halte
mich an die Spiel­regeln. Und bei jeder Gelegenheit,
wo ich etwas nicht aussprechen darf, sei es Neger,
Jude, fette Frau, denk ich, Neger, Jude, fette Sau.
Und dann denk ich, du oder ich. Und die denken
sich das auch, das weiß ich, die schauen mich
schon so an. Oder sie schauen weg, weil sie nicht
wollen, dass ich merke, was sie denken, aber ich
weiß es ja schon.
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...aber manchmal gibt es welche, an die kann ich
glauben...
...allen ins Gesicht lachen, und Konsequenzen
­ziehen, die sie in Angst und Gehorsam versetzen...
...die verstehen mich und ich sie. Die sind nicht
angepasst. Die lächeln, aber sie zeigen dabei
Zähne...
...Ich fühl mich dann besser. Ich entspanne mich.
Bin irgendwie freier, leichter, meine Schultern
­fließen nach unten, mein Kiefer wird weich. Ich
­bemühe mich, immer mit diesem Gedanken ein­
zuschlafen, er soll meine Träume bewachen.
...wie ich ihn das erste Mal gesehen habe, wollte
ich so sein wie er. Das war nicht einfach nur Neid,
das war tiefempfundene Verehrung...
Musikzitat: Johannes Brahms, 3. Symph., 3. Satz
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Selbstinszenierung
Öffentlichkeitsarbeit mit Selbstwirksamkeit
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selbstinszenierung ist die erste pflicht des bürgers
ein Werbevideo für mentale Ausstattung
Das einzelne Ich wird zu einem kollektivem Gut, es ist unser größtes Kapital. Susanne Schuda
verkörpert alle, Politiker/innen, Lobbyist/innen, Sportler/innen, Starlets, Jesus, Hostessen, Mütter,
Kinder und Väter...
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Haben Sie sich nicht auch schon mal gedacht, ich
hol’s mir – I want it now? Sich selbst was wert
sein, und es die andern so richtig spüren lassen.
Und ist das nicht auch Ihr Recht?
Insert: Wir glauben, eine Kunst, die von Gott
kommt, sollte vornehmlich zur Darstellung
von Heiligem genützt werden.
Schuda: Als Kinder fühlten wir uns manchmal von
Gott beobachtet. Gott, ein eindrucksvolles Konzept.
Letztlich jedoch nicht ganz überzeugend.
Entscheidend ist doch, was wirklich passiert. Die
­Realität. Und die Realität, das bin immer noch Ich,
eine Firma, ein Produkt, individuell auf Sie zuge­
schnitten. Dieses Ding holt Sie da raus, es macht
Sie frei, und führt Sie dahin, wo Ich ist.
Wo wir gerade dabei sind, wie oft schauen Sie sich
eigentlich selbst zu? Und wenn Sie es mal tun, was
­sehen Sie da? Einige von Ihnen können sich doch
nicht mal selbst ­leiden. Und warum nicht? Weil
Sie nicht bekommen, was Sie brauchen, die Ge­
sellschaft gibt nicht die ganze Wärme, die sie hat.
Bürger sein, Mitgestalter der Gesellschaft, unüber­
sehbar Teilnehmer am öffentlichen Leben. Parti­
zipieren wir ausreichend? Geht die Rechnung auf?
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Schließlich geht es um Ihr öffentliches Auftreten,
und das ist oft mit ganz schön viel Aufwand ver­
bunden, der sich auch rentieren soll. Und diese
Rendite können auch Sie erwirtschaften.
man denkt. Aber wir wollen nicht auf halbem Weg
stehenbleiben. Denn unser Ziel heißt: Selbst­
inszenierung. Selbstinszenierung ist der Dreh- und
Angelpunkt eines erfolgreichen, glücklichen und
zufriedenen Lebens.
Die Pflicht, ein Grundpfeiler der bürgerlichen
­Gesellschaft. Wer Rechte hat, der hat auch Pflich­
ten. Ein Stehsatz, der Ihnen aber nur bedingt ­weiter
hilft. Denn erst als freier Mensch entwickeln Sie
sich im ­großen ­Ganzen und nützen dessen Syner­
gieeffekte.
Das Prinzip:
1. eine Selbst- oder Fremdbewältigung führt zu
2. Verbesserung der Lebensqualität, diese erhöht
3. die Zufriedenheit – und steigert
4. die Ausstrahlung – die verbessert Ihre Selbst­
inszenierung – das schlägt sich auf der Einnah­
menseite ­nieder und führt wieder zur Verbesse­
rung der Lebensqualität – eine schöne gleichmäßige
Aufwärtsspirale.
Insert: Die Freiheit in der Synergie oder das
Mitwirken des Menschen an der Erlangung
des Heils
Zur Freiheit sind es zwei Stufen, sich selbst be­
wältigen und andere bewältigen. Sich selbst zu
­bewältigen, kann manchmal schwieriger sein, als
– und wenn man mal drin ist, ist es relativ einfach
– hin und wieder eine gut dosierte Bewältigung.
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Unser Ich, dieses Set, Sie wollen es. Sie wollen es
um jeden Preis. Es hilft Ihnen, das Prinzip der Frei­
heit im großen ­Ganzen zu verinnerlichen.
werden Sie von Ihrer eigenen Selbstinszenierung
geleitet und geführt.
Textinsert: Selbstinszenierung können Sie in
Und wenn es soweit ist, werden Sie in diesem
Dschungel voller verschiedener Leben und Pro­
dukte das Beste für Sie auswählen, vollkommen
frei, das einzig Wahre. Und wie von Zauberhand
­jedem Bereich einsetzen. Sie hilft überall,
und ist nicht von Publikum abhängig.
Alles kommt in Ordnung!
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Die schudas
virtuelle Aneignung und Neubespielung
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DIE SCHUDAS – DER FORTSCHRITT
Internetnovela auf Video, 1. Teil
Die Schudas und ihre Nachbarn sind mit sich selbst beschäftigt, ihr einziger äußerer B
­ ezugspunkt
ist das Fernsehen. Betty Schuda ist depressiv, was den Fortschrittsglauben von Henry Schuda
behindert. Die Nachbarn, der arbeitslose Biochemiker Hörbi und die Riedl, sind einander in
­E rniedrigung und enttäuschter Erwartung zugewandt.
Im TV verbreitet Mr. Dawn B. Schicksal seine Ansichten über das Wohl der paranoiden Gesellschaft
und moderiert die Tod- oder Verdrängungsshow, während am anderen Kanal die Fortpflanzung
des Anti­m etaboliden von katholischen Schuldexplosionen begleitet wird.
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Game Show
TV-Kanal 1
Moderatorin: Ich begrüße Sie zu unserem ­heutigen
Fern­­­­seh­abend! Unser Sender ist bekannt für
­Geschichten, wie das Leben sie nicht schreiben
darf! Um uns einen vagen Eindruck des Möglichen
zu geben, haben wir auch heute wieder Mr. Dawn
B. Schicksal eingeladen. Aus einem reichhaltigen
Sortiment beeindruckender Gesten für Dinge jen­
seits der Naturwissenschaft wählt er heute Hyp­
nose und eine reizende Version der Dreifaltigkeit.
Name ist Dawn B. Schicksal. Umstritten, widerlegt,
von vielen in die Hand genommen. Tip für Rechts­
händer: mit der Linken fühlt es sich an, als ob es
ein Fremder tun würde. In meiner Show soll
­Menschen die Möglichkeit geboten werden, sich
ganz langsam an die gesamte Bandbreite ihrer
Emotionen heranzuarbeiten. Sich bis zu ­Tabubruch,
Hysterie und Depression hineinfallen zu lassen,
als würde in ihnen ein Wind stürmen, den sie mit
Müh und Not innerhalb ihrer körperlichen ­Grenzen
halten.
Mr. Dawn B. Schicksal: Herzlich Willkommen,
meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein
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Erzähler: Sam, ein Mann, der sein Leben mit den
Bereichen Kultur & Natur auskleiden will. Er ist
überzeugt, dass mit den einfachsten Mitteln selbst
der kleinste Mann dazu befähigt ist, seine Credos
in die Weltgeschichte einfließen zu lassen.
Unsere heutigen Gäste: Melany und ihr Mann Sam!
Erzähler: Melany findet sich auf ihrem Platz ein.
Melany: Das Schicksal hat mich an der Hand
­ enommen und mich zur mittleren Tür begleitet.
g
Das war ein Applaus. Es konnte nur besser werden.
Alle waren da.
Mr. Dawn B. Schicksal: Und hier ihre erste Frage:
Tod oder Verdrängung?
50
Erzähler: Sam und Melany haben zwanzig Sekun­
den, um sich zu besprechen. Sam schlägt auf das
rote Lämpchen: “Wir nehmen die Verdrängung!”
Mr. Dawn B. Schicksal: Und hier ist Ihr Gewinn:
ein Kellerausbau im Stil der bestechenden Analo­
gieklarheit und ideal als Stauraum.
Melany: Nur wer gesund ist, kann sich Ungesund­
heit leisten.
51
Henry
Betty
Wohnzimmer Schudas
Wohnzimmer Schudas
Erzähler: Henry schweift ab. Es war sehr gut
­ elaufen, seit das Schicksal ihn entlassen hatte. Es
g
war fast schon zu schön. Wer hätte gedacht, dass
ihn die Siebziger so freudig aufnehmen, dem
­Tüchtigen ein Heim geben mit Tapeten, praktische,
fröh­liche Designs zum Nachbauen, elegante
­schnell­­­­­ge­machte Lampenschirme, die guten gro­
ßen Ein­­bau­kästen. Gerade Flächen, die allem einen
Abschluss liefern mit verdammt viel rein. Die Sieb­
ziger sind im hintersten Winkel des Wiederauf­
baus angekommen. Und sie bringen den Fort­
schritt. ­Jeder spürt, dass es aufwärts geht, aber
nicht nur das: der Fortschritt steht, zumindest
­zwischenzeitlich, in direktem Zusammenhang mit
super ­Löchern. Hohe Häuser sind wunderbare
Symbole für den Fortschritt, und je höher das Haus,
umso ­tiefer der Keller. Henry liebte den Fortschritt
von Tag zu Tag mehr.
Erzähler: Betty hört in sich hinein und sie bemerkt
­ twas in ihrem unfassbaren Riesen-Ich: Fäkal­
e
humor, Körpergeräusche. Betty will fliehen. Sie
muss raus, denn es ist klar, dass sie Henry das
nicht zu erzählen braucht, ihrem angetrauten Mr.
Kultur/Natur. Bei dem klappt alles, der steht so
da in seinem Leben, hat sich die Rolle des Fels in
der Brandung ausgesucht: “Da vorne ist geradeaus,
du musst nur hinschauen.”
Da war furzen nicht angebracht.
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Betty
Betty und Riedl
Stiegenhaus
Stiegenhaus
Erzähler: Betty schaut sich um, niemand zu sehen.
Sie senkt ihren Kopf in den Wagen und ist sofort
ergriffen. “So ein süßes Würmchen!” Ein verhal­
tener Stubser auf die Nase und plötzlich setzt ein
Getätschel ein. Betty vergisst sich völlig, die reine
Freude am Körpergeräusch macht sich aus ihr
­heraus über dem kleinen Bengel breit. Sie reibt
ihm den Bauch, er macht sein Bäuerchen. Betty
greift etwas härter zu und lässt nicht mehr so recht
los. Dabei gurrt sie ihre Liebkosungen. Das kleine
Schatzi-Putzi lässt sich einen Furz rausdrücken,
Betty kichert, und das Baby lacht, was die Stim­
mung noch mehr hebt. Betty ist nah dran alles
rauszulassen. Sowas kannte sie bisher noch nicht.
Ein Räuspern von links beendet das Ganze abrupt.
Erzähler: Erstkontakt, ein Humor, dass es kracht,
die Riedl. Ein demnächst alterndes Luder, eine
Vettel, die sich auf ihre Opfer draufschmeißt und
auf eine ordinäre Art den Kampf ums Überleben
durchzieht. Das ist nicht schön zum Anschauen,
das will man eigentlich gar nicht sehen und das
merkt die.
Betty versteckt ihre ängstliche Irritation sehr
schlecht, und sie weiß nicht, dass diese irritierende
Angst sie öffnet, sie manipulierbar macht. Men­
schen können in ihr etwas besetzen. Ohne spür­
baren Widerstand dringen sie ein, und da drin
sieht es nicht gut aus, was der Riedl sehr schnell
klar wird.
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Dokumentation, thema: biologie
TV-Kanal 2
Erzähler: Der Antimetabolide, den wir hier be­ob­
achten können, hat Süßigkeiten an seinem Körper
versteckt und lässt zunächst die Buben danach
suchen. Wie wir deutlich erkennen können, windet
er sich und kichert.
Er dringt in den Metaboliden ein und kann sich
jetzt sicher sein, sein Genmaterial weitergegeben
zu haben. Daran können wir deutlich erkennen,
dass selbst ein Geschwür nur leben will, das die
unwillkürliche Fortpflanzung ein libidinöser Aus­
druck der Schöpfung ist.
Danach schmeißt er mit Komplimenten für die
Damen um sich.
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Der Metabolide hat also nun das Wunder des
­Lebens empfangen, bald darauf findet eine Zell­
vermehrung statt, die den Metaboliden deutlich
wölbt. Die unüberwindbare Liebe zwischen Mutter
und Kind entsteht. Und hier kommen die himm­
lischen Heerscharen ins Spiel und schreien, mehr
Seife, noch mehr Seife, wir nehmen das volle Pro­
gramm: Peeling, Ölung, Waschung, schrubben,
vielleicht sogar ein bißchen härter schrubben, eine
Darmspülung, mal ordentlich ausheulen, und dann
wieder rein ins Leben.
55
die Riedl
Vorzimmer Riedl
lich sollte sie ihn direkt in der Wanne ersäufen.
Oder mit etwas weniger Körpereinsatz: die gute,
alte Föngeschichte. Oder am besten gleich der
Fernseher. Ist so leicht und schnell passiert und
macht doch nur Umstände.
Erzähler: Die Riedl hört die Selbstgespräche von
Hörbiger schon im Vorraum. Er sitzt wieder im
Bad und erzählt dem Fernseher, was Wahrheit ist.
Kopfschüttelnd steht die Riedl vorm Badezimmer
und hört ihm zu. Er ist lächerlich, sie spürt die
Wut in sich hochsteigen. Sie kennt den Mann
schon auswendig, er wird es nie schaffen. Eigent­
Die Riedl ist vernunftbegabt.
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Hörbiger
Badezimmer Riedl
knapp dran, das Duale aufzubrechen, zu durch­
dringen, Kontakt aufzunehmen. Ich sah es schon
vor mir, das andere Muster, das du erst begreifen
kannst, wenn du das bestehende verstandesmäßig
überwunden hast. Und das andere gibt dir die
Informationen, die du brauchst, um dein eigenes
Muster zu revolutionieren. Und dann nie wieder
Hunger und Krieg, stattdessen perfekte Systeme,
Mechanismen und Organismen voller Frieden,
Wohlstand für alle, ewiges Leben.
Hörbiger: Es muss eine Ordnung sein in dem
­ anzen. Die ist nicht für jeden sichtbar, aber sie
G
ist selbst dem Laien spürbar. Wenn die das diesem
Mr. Schicksal mal erklären könnten. Sie könnten
diesen Einzellerpornos etwas geben, was die
­Menschen begreifen lässt, sie auf das Wunder des
Lebens blicken lässt, so wie es wirklich ist: ein
genetischer Schleimhaufen, dessen innere Ord­
nung alles erklärt und alles ermöglicht. Ich war so
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Hörbiger und Riedl
Badezimmer Riedl
die Riedl: Jaa, dein gottverdammter Doktorvater.
Ich kann die Leier nicht mehr hören, von wegen
wissenschaftliches Weltbild und der Möglichkeit,
Katholik zu bleiben. Mit diesen elenden künstle­
risch gestalteten Rosenkränzen. Ich hab es so satt.
Und dann die Schuldgefühle, “ich habe tiefe
Schuldgefühle gegenüber der Schöpfung”. Scheiß
auf Schöpfung, die ist doch nur dazu da, dass du
dich in Alk und Selbstmitleid ersäufen kannst. Des­
wegen kriegst du ihn auch nicht mehr hoch. Wenn
du wenigstens so ficken könntest, wie du jammern
kannst.
Erzähler: Die Riedl stößt entnervt die Tür auf: “Es
reicht!” Die Riedl schreit und doch fühlt sie sich
so klar und beherrscht.
die Riedl: Sie hätten die Finanzierung verloren,
wenn sie dich nicht rausgeschmissen hätten, weil
du durchgedreht bist, weil du es nicht mehr auf
die Reihe gebracht hast, weil keiner mehr verstan­
den hat, wovon du redest.
Hörbiger: Dr. Mellow konnte bloß nicht verstehen,
dass ich nur durch Destruktion überwinden kann,
was er nicht verbessern konnte.
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Erzähler: An dieser Stelle passiert etwas Eigen­
artiges. Des Hörbigers Augen beginnen zu glänzen.
Anmut und Aura umgeben ihn, ein leises Hoch­
glimmen vergangener Tage. Er lässt seine Zauber­
hände mit den vielen Zauberfingern langsam über
seine vermeintlichen Marzipanlenden gleiten.
die Riedl: Das hat dir gefallen, das glaub ich. Bild
dir bloß nichts ein, Mann, du brauchst doch eine
Therapie. Von wegen “die Wahrheit der Dinge”
Herr Professor. Du kriegst doch nicht mal einen
simplen Amöbenporno auf die Reihe. Wann wirst
du das Ding endlich machen, ha?
Erzähler: Hörbiger fällt wieder in sich zusammen.
Wasser schwappt aus der Wanne, und er über­
schwemmt das Badezimmer. Ein letzter vernichten­
der Blick der Riedl genügt und er verlässt das Bad.
Hörbiger: Ich weiß noch genau wie es war, bevor
du dich durch den unschuldigen Mädchenkörper
meiner Frau durchgearbeitet und ihn in pure
Gnaden­losigkeit verwandelt hast.
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Riedl
Badezimmer Riedl
spürt wie dieses ganze Ambiente sie umschmei­
cheln kann, sie taucht ein, das Glitzern der Gesell­
schaft spiegelt sich in ihrem Paillettenkleid. Jede
ihrer Bewegungen ruft Erwiderung hervor, alles
wird zu einem Fluss. Die Unruhe wird zur enthu­
siastischen Gewissheit. Es war soweit, sie fühlte
sich wie angekommen.
Erzähler: Die Riedl sieht sie, all diese Schönen,
­Reichen, Begehrenswerten, mit sich selbst Befrie­
digten.
Eine alles möglich machende Unruhe befällt sie,
sie spürt mit der Gewissheit jeder einzelnen Faser
ihres Körpers, dass sie ein Teil davon ist, sie wird
nicht nur einfach magnetisch angezogen, sie weiß,
dass das ihre eigentliche Welt ist, in der ihr Körper
von Reflektionsflächen umhüllt sein wird. Die Riedl
Ich und mein Körper, eine von kosmischen ­Gnaden
befruchtete strategisch perfekte Einheit.
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Society Magazin
TV-Kanal 3
Gesprächsfetzen: ...Ich stell mir da eine ganz sim­
ple invasive Strategie vor, zum Beispiel genital ori­
entiert...
...Ein ganz neues Format, jede Menge Anregung
zum Fortbestand sichern, ein breites Themenfeld,
von ­Silikoneinspritzungen für Wimperntierchen
über Titel wie “Na, dann teil dich doch nicht”, das
bringt jede Menge Gegner und eine Quote, von
der träumst du nur...
...Eigentum, ich sag nur Eigentum. Du musst in all
dem Untergang ein Zeichen setzen. Ein Zeichen
des neuen mittelständischen kreditfinanzierten
Aufbaus. Das ist voll im Kommen...
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...ich kann euch 100 und Publicity anbieten. Mehr
geht nicht...
...die Weltherrschaft erreicht man durch Ver­
schwörung in Theorie und Praxis, Schulden, Kauf­
kraft, Vergewaltigung und Sex. Fragen sie mich
nicht, warum das so ist. Es ist so...
...Sie war in diesem “Ich bin Mutter und ich liebe”Kurs, da sitzen sie auf Spiegeln und lernen den
Schrei der Supermamavagina. Das unhörbare Ge­
brüll ist eine Art Hundepfeife für weggelegte Kin­
der. Und du glaubst es nicht, nach zwei Wochen
war das Kind wieder da...
...mein Name ist Susi und dein Arsch merk‘ i‘­ma‘...
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Erzähler: Mr. Dawn B. Schicksal lehnt leger an
einer virtuellen Bar und monologisiert, einige der
Partygäste hängen an seinen Lippen.
und langsam ist es wirklich jedem normal denken­
den Menschen scheißegal, was mit denen los ist.
Und hier haken wir ein, wir pushen die Paranoia.
Die bringt frischen Wind, Paranoia, das ist kritisch,
kreativ und hat einen enormen Energieaufwand,
vor allem im Vergleich zur Depression. Das gibt
Synergieeffekte ohne Ende, erhöhte Energie, er­
höhte Produktion, erhöhter Gruppendruck, Kauf­
kraft, et volià Werbekunden.
Mr. Dawn B. Schicksal: Wir haben alle schon ein­
mal von den hysterischen Patientinnen der Jahr­
hundertwende gehört, und heutzutage gibt es ein
ansehnliches Grüppchen von depressiven Klien­
tinnen. Ein Haufen schlapper unansehnlicher
­Figuren, die sich selbst weggeworfen haben wie
den Lappen, den sie seit Wochen nicht mehr be­
nutzt haben. Diese Leute verstopfen unsere Kanäle,
In der Paranoia liegt die Zukunft!
63
Betty
Wohnzimmer Schudas
Erzähler: Ich bring mich um. Der erste Gedanke,
der sie Morgens weckt, der letzte Gedanke, wenn
sie abends ihre Augen schließt. Die Signation ihres
Lebens, seit sie die Geschlechtsreife, wie ihre
­Mutter sagt, erreicht hatte. Sie nahm den Gedan­
ken nicht wirklich ernst, sie wusste ja, die die
­darüber reden, tun es nicht. Sie sprach zwar in
erster Linie mit sich selbst, aber das machte keinen
großen Unterschied. Es machte sie einfach nur
ruhiger.
schließlich ist auch deren Leben nicht zwingend
notwendig, wofür schon, und wenn die Welt auf­
hören würde, sich zu drehen, weil keine Menschen
mehr da sind, die das dann auch nicht bemerken
und sich gegenseitig als Meldung des Tages ver­
kaufen könnten. Was soll’s, alles ein Brei.
Ich bring mich um, ich bring mich um, ich bin
nicht da, ich löse mich auf.
Ihre Mutter hatte gesagt, dein Leben wird reich
durch die Hingabe an Andere, diene mein Kind,
was Besseres wird nicht aus dir, pflege meinen
Garten, pflege deinen Mann, schenke ihm Kinder
und erfreue dich an der Verpflichtung, aus ihnen
brauchbare Menschen zu machen.
Ich bring mich um. Ich bring mich um. Ich bring
mich um.
Darin lag auch die große Weisheit über die Ver­
gänglichkeit des Seins, und die Unnotwendigkeit
eines einzelnen Lebens. Es machte wirklich keinen
großen Unterschied, ob ich jetzt da bin oder nicht,
ob mein Tod, wenn ich schon mal da bin und dann
eben tot, für irgendjemanden ein Ereignis darstellt,
Wie sie gehört hatte, übersprang die Anlagenver­
erbung immer eine Generation.
64
Henry
Wohnzimmer Schudas
Erzähler: Henry beobachtet seine Frau, wenn sie
wie erstarrt vor dem Fernseher sitzt, es macht ihn
beinahe aggressiv, es gab soviel zu tun, zu erschaf­
fen. Und bei ihr hatte man den Eindruck einer
­weißen Masse, gefüllt mit sonderbaren Gefühls­
innereien, die aus ihr rausdrängten und dann
zusammen­hangslos im Raum hängen. Selbst wenn
sie nur so da saß und nichts, wirklich, definitiv
nichts tat, hatte er den Eindruck, davon erschlagen
zu werden. Und mit ihm alle Gedanken an Fort­
schritt, den Hoch- und den Tiefbau, die große
weite Welt, die seines Gestaltungswillens harrte.
Sein Beitrag war gefragt und er war bereit.
Ein Mann wie er, ein Mann wie ich, einen Mann
dieser Art sexuell im Regen stehen zu lassen,
wider­­sprach allem, was die Zeichen der Zeit klar
ersichtlich anzeigten.
Henry: Ich lass die Betten runter...
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betty
henry
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betty
sam
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die riedl
statist 1
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statist 2
statist 3
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the bir(d)th – aka die schudas reloaded, ich lass die betten runter
Internetnovela auf Video, 2.Teil
Die Schudas sind verstummt, ihre Emotionen implodieren jetzt musikalisch. Henry hat die Betten
herunter gelassen, er und Betty bereiten sich auf den Akt der Fortpflanzung vor. Sie haben eine,
soweit man das behaupten kann, “klassische” heterosexuelle Begenung. Henry schaltet das Licht
aus, Betty wartet im Bett auf ihn… im Verlauf des Aktes wird die Kamera durch Betty‘s Mund in
ihr “Inneres” gezogen. Nach einer psychedelischen Kamerafahrt schlüpft der subjektive Blick mit
einem Blopp zwischen Bettys Beinen hervor und wird so wiedergeboren.
Im TV diskutiert Mr. Dawn B. Schicksal mit Hörbi Riedl das Wesen der Angst, William Baum von
Great Solutions bewirbt Weltuntergangsanpassungen und “die Society” quietscht auf Kreppsohlen
durch heruntergekomme Charity-Veranstaltungen.
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Talkshow
TV-Kanal 1
Frauenstimme aus dem Off: You are alone? No
one cares for you?
Why do you close your eyes? Because Fear wants
to save your eye sight, so you can see her beauty.
What you need is Fear. Fear wants to care for you,
Fear lives to care for you.
Why do you open your mouth without a scream?
Because Fear wants to feed you.
Why do you flinch when you are afraid? Because
Fear wants to save your vital organs.
Fear cares for you like a mother. Join the extended
­family of Fear now!
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Dawn B. Schicksal: Guten Abend, meine Damen
und Herren, mein Name ist Dawn B. Schicksal, und
ich heiße sie auch heute wieder ohne jede Ironie
willkommen. Sie alle kennen den soeben ­gespielten
Spot, und viele von Ihnen haben sich schon gefragt,
wer oder was steckt dahinter? Dazu darf ich heute
3 Gäste be­­­grüßen, Dr. Hörbi Riedl, ein wissen­
schaftlicher Komet, der schon als verglüht galt.
Beginnen wir bei Ihnen, Herr Dr. Riedl, was können
Sie uns über die Angst sagen?
Dr. Hörbi Riedl: Nun, die Angst ist eine Art Vogel,
wenn sie so wollen, ein unterkühlter Nistvogel, der
nach sich selbst und etwas Wärme sucht.
Dawn B. Schicksal: Ich habe angenommen, die
Angst ist ein omnipräsentes Wesen.
Dr. Hörbi Riedl: Na ja, guten Abend.
Dr. Hörbi Riedl: Ja, das stimmt natürlich auch, die
Angst ist eigentlich immer und überall, aber das
Paradox ist, dass sie trotzdem Wege hat und zwar
zwei: Den von Innen nach Außen und den von Außen
nach Innen. Zum Beispiel, ich bin jetzt das Drinnen
und Sie sind das ­Draußen, aber genauso gut ist in
der Kamera da das Drinnen und wir sind das
­Draußen, das kann man endlos weiterspinnen.
Dawn B. Schicksal: Ich darf Ihnen Susi aus der
Abteilung Eins unseres Senders vorstellen!
Susi: Guten Abend!
Dawn B. Schicksal: Und last but not least, in Ver­
tretung von Great Solutions, William Baum.
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­ ürden. Und so war es dann auch. Es wurde einer
w
dieser Drehtage, an ­denen es schwer war, die jour­
nalistische Distanz zu wahren. Das Bild, das sich
uns offenbarte, war herunter­ge­kommen und Mit­
leid erregend. Und dann passierte das, was eigent­
lich nicht passieren darf, ich überschritt die Grenze
der Objektivität.
Dawn B. Schicksal: Herr Baum, Great Solutions
steht ja für die großen Zusammenhänge und der
Sicherheit mittendrin. Wie stehen sie zur Angst?
Baum: Wir kennen natürlich die Analysen des
Herrn Riedl, und ja, auch wenn sein Stern schon
verglüht ist, können wir seine Annahmen aus der
Praxis bestätigen. Die Angst ist tatsächlich ein un­
terkühlter Nistvogel, und als solcher auf der Suche
nach sich selbst, und die Welt ist ihr Labyrinth.
Ich holte eine Decke für die Angst aus unserem
Mannschaftsschrank. Aber kaum hatte ich den
Schrank geöffnet, fing die Angst an so zu glimmen
und dann glühte sie richtig, und so schwamm sie
an mir vorbei in den Schrank hinein, verkroch sich
ganz hinten und gurrte. Ich hab dann einfach die
Tür zugemacht. Das ganze Team hat sich danach
besser gefühlt.
Textinsert: Die Angst ist auf der Suche nach
sich selbst und die Welt ist ihr Labyrinth.
Dawn B. Schicksal: Susi, du warst ja bei einer
dieser ersten Visualisierungen der Angst dabei.
Dr. Hörbi Riedl: Ich habe daraus abgeleitet, dass
­Kästen, vor allem große, Wandschränke, Einbau­
schränke ein idealer Ort für die Aufwärmung der
Angst sind. Ein geordneter, in unser Leben inte­
grierter Stauraum. Denn, die Angst sucht die abge­
standene Wärme unseres Alltags.
Baum, Riedl, gleichzeitig: Ja, das stimmt.
Susi: Danke. Ja, ich war damals noch nicht in der
Abteilung Eins und die These von Riedl war noch
ganz neu, und da haben wir beschlossen, auch zu
recherchieren. Uns war dann bald klar, dass wir
die Angst auch hier bei uns im Sender finden
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sequenzen berechnen wir die Position des ­jeweiligen
Stau­bereichs. Alles wird beschriftet und ist jederzeit
überprüfbar. Besonders konsequent ist es, wenn
sie sich für einen Einbaukasten mit integrierten
Betten entscheiden. Da werden sie quasi mitforma­
tiert und sie sparen natürlich noch mehr Platz.
Baum: Und hier hakt Great Solutions ein. Einbau­
kästen sind das neueste Tool im Lebensbewälti­
gungsprogramm von Great Solutions. Denn wir
wollen nicht nur Ihnen, sondern auch der Angst
helfen. Great Solutions denkt an alle. Wir ­analysieren
Ihr persönliches Leben und teilen es in verschie­
dene Themenbereiche und Zeitphasen ein, daraus
ergibt sich die Konstruktion Ihres persönlichen
Einbauschranks. Die Größen der unterschiedlichen
Staubereiche ergeben sich aus der Präsenz­des The­
menbereichs. Aus den Zeitphasen und Bedarfs­
Dawn B. Schicksal: Mein Name ist Dawn B.
­Schicksal und ich gehe jetzt die Angst für Sie vor­
wärmen.
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Society-Magazin
TV-Kanal 2
Stimme aus dem Off, männlich (A): Wir sind heute
auf dem Charity-Event des Jahres, zu Gast auf der
Privatinsel von Angelika und Harald Wischnewski.
nie gedacht hätte, der andere könnte so mies aus­
sehen, keinerlei Zahnhygiene, geraucht wie doof,
Tee, Kaffee, Rotwein, schlechte Drogen.
Stimme aus dem Off, weiblich (B): Eine staub­
trockene Veranstaltung, totale Betretenheit,
schlechte Outfits, ausgeperltes Mineralwasser,
trockene Kekse, Plastikbecher, durchfeuchtete
Pappteller, Plastikgabeln, miese Servietten. Lino­
leum unter billigen Kreppsohlen.
B: Gefressen und zu enge Hosen, halbtransparente
Oberteile mit entsetzlichen Prints und darunter
miese Unterwäsche, die an allen nur denkbaren
Stellen Fettüberschuss rauspresst.
A: Keine Frisur, graue Haare, weiße Haare, verfärbte
Haare, stinkende Haare...
A: Das stell ich mir unter einer anständigen ­Charity-­
Party vor, eine miserable Veranstaltung. Man mag
sich gegenseitig gar nicht anschauen, weil man
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B: ...und Körperbehaarung, auch im Gesicht.
A: Die wenigen, die sich für den einmaligen Anlass
­geschminkt haben, richtig Kacke, zuviel, zu grell,
miese bröcklige Qualität.
nicht verlassen. Aber tatsächlich kleben ein paar
trans­­zendentale­ Selbstwahrnehmungen am
­Plafond, kleben mit dem Arsch am Plafond, und
starren sich selbst an, wie sie da unten stehen, als
Ameise, deren Hässlichkeit man von hier oben gar
nicht mehr sehen kann. Einfach nur unbedeutend
und weit entfernt, aber immer noch spürbar: “Das
bin ich und daran halt ich mich jetzt fest”.
B: Aber, die Männer haben Tennissocken in den
­Hosen. Ein gewisses Niveau wird auch bei dieser
Veranstaltung nicht unterschritten.
A: Aber das hilft nicht, das Graue aus dem Ambi­
ente zu entfernen. Wir befinden uns in einer über­
dimensionalen Turnhalle, das Licht der Dämme­r­ung fällt durch Fenster in 15 Meter Höhe und
reicht kaum bis zum ­Boden.
A: Und wenn das nicht mehr hält, halte ich mich
an der Deckenkonstruktion fest, und dann spür
ich, dass mein Arsch langsam durchlässig wird,
dass ich keinen Wider­stand mehr durch Materie
spüre. Dass mich quasi das Nichts von hinten auf­
löst und mich so durch das Dach zieht, in Dunkel­
blau und dann Schwarz.
B: In so einem Raum wirken die Menschen klein,
um das zu empfinden, muss man seinen Körper
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Werbung / Informationssendung
TV-Kanal 3
männliche Stimme aus dem Off: Das ist ja noch
kein Weltuntergang!
­ ächsten über, eine Art Canon der versinkenden
n
Welten. Da macht sich Unsicherheit bemerkbar, auch
Ihre kleine Welt könnte bereit sein, in diesen Chor
mit einzustimmen. Solange Sie nicht wissen, dass sie
untergeht, ist sie ja noch da, in dem Moment, indem
Sie es merken, ist sie weg.
Die Welt geht unter. Und dann nichts mehr. Alles
bisher gekannte verschwindet im großen schwarzen
Nichts. Unvorstellbar, und doch, es passiert perma­
nent. Ein Weltuntergang greift förmlich in den
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Guten Abend, meine Damen und Herren, mein
Name ist Baum, William Baum von Great Solutions.
Great ­Solutions legt großen Wert darauf, Ihr
Sicher­heits­gefühl zu erhalten und hat sich mit den
Gefahren und ­Chancen Ihres Weltuntergangs aus­
einandergesetzt.
wird das Ereignis zu einer Bestätigung des eigenen
Weltbildes. Dieser Vorgang ist mental absolut
energetisierend, was Ihnen die Kraft gibt, Ihre Welt
auch weiterhin optimal abzusichern.
Das Slo-Mo-Rundumpaket:
Ideal für alle, die sich selbst als Mittelklasse bezeich­
nen. Die Wahrnehmung des Weltuntergangs wird
hier so stark verlangsamt, dass das Ereignis vernach­
lässigbar wird. Das Slo-Mo-Rundumpaket bietet ver­
schiedene Module an, entsprechend ihrer persön­
Das U-Turn and Up-Paket:
Durch potenzierte Umkehrung wird hier der
­Untergang schnell revidiert. Mit kreativem
­Gestalt­ungs­­­­willen und konzentrierter Ideologie
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lichen Vorlieben und Möglichkeiten. Modische
Inszenierungen, zeitaufwendiger Körperkult, Drogen
und/oder Psychopharmaka, Freude an den kleinen
Dingen und in speziellen Fällen eine hohe Toleranz
für Minimierung der Ansprüche.
Großes Misstrauen prägt ihren Alltag und ihre
Zukunftsplanung, die insofern keine ist. Es ist
nicht, Es wird nicht, Es ist nicht einmal sicher, ob
irgendetwas überhaupt jemals war. Mit etwas Ge­
schick und unserem Paket erhalten Sie im Fall
eines endgültigen Weltuntergangs erhöhte Auf­
merksamkeit und können so endlich reüssieren.
Als Glamour-Zombies, die es schon immer wussten.
Das Glamour-Zombie-Paket:
Ein Angebot für Menschen, die eigentlich nie ganz
überzeugt waren von Existenz an und für sich.
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henry
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betty
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betty
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henry
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theorie und anhang
Technische Angaben, Credits 100
CV
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Im Countdown zur visuellen Wiedergeburt
106
Ursula Maria Probst
Unter die Haut gesprochen 108
Franz Thalmair
In Schudas Welt Günther Holler-Schuster
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technische angaben und credits
Die zelle
2009, Neue Galerie Graz – Studio
Installation bestehend aus zwei Videos, drei Bildobjekten,
Wandtext und einer dreiteiligen Bildserie.
Text, Collagen, Animationen: Susanne Schuda
Das Gebet
3D-Video, 12:00 min., loop
Sprecher/innen: Ildiko Babos, Kathrin Maria Bernet,
4-stimmiger Canon, Sounddesign
­Alexander Braunshör, Julian Loidl
Lektorat, Regie Sprachaufnahme: Nehle Dick
Das Auto als spiritueller Raum
Sounddesign: Florian Schmeiser
2D/3D-Video, 09:50 min.
Musikzitat: “Water”, The Who
3D-animierte digitale Fotocollagen, gesprochener Text,
Sounddesign
Kurator: Günther Holler-Schuster
drei Bildobjekte:
Dank an: Peter Koger, Thomas Kuehberger, ­Clemens Mair,
The King, Hurensohn, Meine Mutter
Nicolas Lackner, Karin Oberhuber, Bernhard Seiter, ­Christian
digitale Fotocollage, C-Print auf Bütte, auf Leichtschaumplatte,
Thüringer – Fox Studios, Felix V
­ odnansky
Papiermesserschnitt, je 140 cm hoch, verschiedene Breiten
Realisiert mit Unterstützung von BMUKK, Medienkunstbeirat
dreiteilige Bildserie:
Glaubende I-III
Fotografie, digitale Bearbeitung, C-Print, variable Größen
100
der poet
2008, in passing 3, Künstlerhauspassage, Wien
2010, Triennale 0.1, Offenes Kulturhaus, Linz
Installation bestehend aus einem Video, einem Bild, einem Bild­
Text, Collagen, Animationen: Susanne Schuda
­objekt und Wandtext.
Sprecher: Alexander Braunshör
Der Monolog des Minus-Poeten
Sounddesign: Florian Schmeiser
2D/3D-Video, 04:10 min., loop
Musikzitate: “I’ve got you under my skin”, Frank S
­ inatra;
3D-animierte digitale Fotocollagen, gesprochener Text,
Johannes Brahms, 3. Symphonie, 3. Satz
Lektorat, Regie Sprachaufnahme: Nehle Dick
Sounddesign
Kuratorin, in passing 3, 2008: Ursula Maria Probst
Kurator, Triennale Linz, OK, 2010: Sandro Droschl
Bildobjekt:
Minus-Poet
Dank an: Walter Krennmayer, Nadine Wille
digitale Fotocollage, C-Print auf Bütte, auf Leichtschaumplatte,
Papiermesserschnitt, 78 cm x 180 cm
Bild:
Plus-Poet
digitale Fotocollage, C-Print auf Alu, 224 cm x 110 cm
101
Die Schudas – der Fortschritt
2005/06
Texte, 3D-Räume, Collagen, Animationen: Susanne Schuda
Parallel zur interaktiven Internetanwendung wurden ein Video
und eine 15-teilige Bildserie entwickelt.
Komposition, Sampling, Sounddesign, 3D-Kamera: ­­
Internet:
Florian Schmeiser
www.dieschudas.at
interaktive Narration, Shockwave-3D-Anwendung,
Sprecher: Christian Rainer
2D/3D-­Videos, gesprochener Text, Sounddesign
Programmierung Shockwave-3D-Anwendung: Christoph Fuchs
Video:
Die Schudas – Der Fortschritt
Dank an: Harald Bauer, Hans Bernhard, Sylvia E
­ ckermann,
2D/3D-Video, 19:00 min.
Eva Eckert, Philipp Haupt, Peter Koger, Walter K
­ renmayer,
3D-animierte digitale Fotocollagen, gesprochener Text,
Rosa von Suess, Christa Ziegler
­Komposition, Sampling, Sounddesign
Realisiert mit Unterstützung von Neue Medien, MA-7, Stadt Wien
15-teilige Bildserie:
Familie, Nachbarn und Statisten
digitale Fotocollagen, C-Print in Plexiglas,
je 15 cm x 15 cm x 1 cm
102
The Bir(d)th – aka die schudas reloaded, ich lass die Betten runter
2007/08
Texte, 3D-Räume, Collagen, Animationen: Susanne Schuda
Parallel zur interaktiven Internetanwendung wurden ein Video
und eine 15-teilige Bildserie entwickelt.
Komposition, Sounddesign: Florian Schmeiser
Internet:
Sprecher/innen: Christian Rainer, Monika Maria Pawel
www.dieschudas.at
interaktive Narration, Shockwave-3D-Anwendung,
2D/3D-­Videos, gesprochener Text, Sounddesign
Regie Sprachaufnahme:: Nehle Dick
Video:
Programmierung Shockwave-3D-Anwendung: Christoph Fuchs
The Bir(d)th – aka Die Schudas reloaded, Ich lass die B
­ etten runter.
2D/3D-Video, 22:34 min.
Dank an: Elisabeth Zimmermann, Anna Soucek
3D-animierte digitale Fotocollagen, gesprochener Text,
Komposition, Sounddesign
Realisiert mit Unterstützung von Neue Medien, MA-7, Stadt
Wien und Medienkunstbeirat, BMUKK
5-teilige Bildserie:
Betty und Henry
digitale Fotocollagen, C-Print in Plexiglas,
je 30 cm x 30 cm x 2 cm
103
Selbstinszenierung
2001
Animations-/Realvideo, 04:50 min.
14-teilige Bildserie:
C-Print auf Bütte, 20 cm x 17 cm
Text, Darstellerin, Kamera, Fotocollagen, Videomontage:
Susanne Schuda
Sounddesign: Florian Schmeiser
Dank an: Eva Schmeiser-Cadia, Mikki Muhr, Rosa von Suess
Bildnachweis
alle Bilder © Susanne Schuda, soweit nicht anders gekenn­zeichnet
Cover-Hintergrundbild: Håkan Dahlström; Seite 6, 8: Installationsansicht, Die Zelle, Neue Galerie Graz – Studio, 2009, Foto: ­Universalmuseum
Joanneum / N. Lackner; Seite 10: One Believes I / Die Zelle; Seite 11: Still (produziert für dieses Buch) / Die Zelle; Seite 12-19: Videostills,
Das Auto als spiritueller Raum / Die Zelle; Seite 20, 21: Videostill, Das Gebet / Die Zelle; Seite 22, 23: Meine M
­ utter / Die Zelle; Seite 26,
28: Installationsansicht, Der Poet, Offenes Kulturhaus, Linz, 2010, Foto: Otto Saxinger; Seite 30: Plus-Poet / Der Poet; Seite 32-37: Videostills, Monolog des Minus-Poeten / Der Poet; Seite 40-43: Videostills, Selbst­inszenierung; Seite 46-48: Webstills (­hochaufgelöst produziert für dieses Buch) / Die Schudas; Seite 49-65: Videostills, Die Schudas; Seite 46-71: aus Bildserie, Die Schudas; Seite 72, 73, 7781, 84-86, 90-92: Webstills (hochaufgelöst für dieses Buch) / Die Schudas; Seite 74-76, 82-83, 87-89: Videostills, Die Schudas; Seite
93-96: aus Bildserie, Die Schudas; Seite 100: One Believes III / Die Zelle; Seite 101: Der Poet, Installationsansicht ­in passing 3, Künstlerhauspassage, Wien, 2008; Seite 102: Webstill (hochaufgelöst produziert für dieses Buch) / Die Schudas; Seite 103: Still (produziert für
dieses Buch); Seite 106: Betty, aus Bildserie, Die Schudas; Seite: 108: Der Poet; Seite 110: The King / Die Zelle.
dank an
Christa Benzer, Håkan Dahlström, Nehle Dick, Richard Ferkl
104
cv
Studium der visuellen Mediengestaltung an der Universität für Angewandte Kunst, Wien, bei Karel Dudesek, Valie Export, Peter Weibel.
Arbeiten in den Bereichen Neue Medien, digitale Fotocollage, Installation, und, in Zusammenarbeit mit Florian Schmeiser, Kunst im ­öffentlichen
Raum unter dem label schuda/schmeiser.
Auswahl, Einzelausstellungen: 2009: Studio der Neuen Galerie Graz; 2008: in passing 3, Künstlerhauspassage Wien; 2007, 2009: G
­ alerie
Dana Charkasi, Wien; 2005: Projektraum Dana Charkasi, Wien;
Auswahl, Gruppenausstellungen: 2010: Medienturm, Graz; Triennale Linz 0.1, OK, Linz; EMAF, Osnabrück; 1000 Plateaus Gallery,
Chengdu; 2009: Medianoche, New York City; “Curated By”, Wien; Neue Galerie Graz; 2008: Slought Foundation, Philadelphia; Paraflows,
Wien; CAN / Centre d’art Neuchâtel; Lothringer Laden, München; 2007: Second Life, Künstlerdorf Schöppingen; 2005: Rencontres
­internationales, Paris; Kunstpanorama Luzern; Stuttgarter Filmwinter; 2004: Kunsthalle Exnergasse, Wien; Salzburger Kunstverein; viper,
Basel; 2001: Kunsthalle, Wien; Generali Foundation, Wien;
Auswahl, Screenings: 2010: Videovisionen, Edith-Russ-Haus für Medienkunst, Oldenburg; 2009: Video des Monats, Ursula Blickle ­Archiv,
Kunsthalle Wien;
Auswahl, schuda/schmeiser, Kunst im öffentlichen Raum: 2010: “das Ende”, temporäre interaktive Installation, Liquid Music, Judenburg; 2008: “der Tempelschläfer”, interaktive Wander-Installation, Steiermark; 2007: “ValYou”, Intervention, Wien; 2004: “Chaos im Regal”
­permanente interaktive Installation, LBS für Handel, Theresienfeld, Kunst am Bau NÖ; 2001: “Österreich ist frei”, temporäre interaktive
­Installation, im Rahmen von Stadttore 2000, Wien; 2000: “instant island”, Installation, Musikprogramm, Videoprogramm; 1999: “instant
­living”, Installation, Musikprogramm, Videoprogramm; 1997: “taste the waste”, Off-Space, Wien;
Preise, Stipendien: 2008: Staatsstipendium für Medienkunst BMUKK, Österreich; Marianne von Willemer Preis für digitale Medien, Frauenbüro Linz; 2002: ­vienna video award, Sonderpreis der Werbung;
Sammlungen: Neue Galerie Graz; Kunsthaus Zürich; Sammlung der Stadt Wien, Artothek des Bundes, Österreich;
Theaterproduktionen: 2006: “Playing Mums”, Regie: Nehle Dick, Kosmos-Theater Wien; “Hikikomori”, Regie: Dana Csapo, TAG, Wien;
Radioproduktion: 2007: OE1, Kunstradio, “Die Schudas” in Zusammenarbeit mit Florian Schmeiser.
Auswahl, Bibliografie: “Kunst im öffentlichen Raum Steiermark”. Projekte 2007-2008, Springer, Wien/New York, 2010; “Wem gehört die
Stadt. Wien – Kunst im öffentlichen Raum seit 1968”, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg, 2009; “Artist Sites”, Umelec, 2009; “Another
Tomorrow: Young Video Art from the Neue Galerie Graz”, Slought Foundation, Philadelphia, 2008; “Rewind/Fast Forward. Die Video­
sammlung der Neuen Galerie Graz”, Graz, 2008; “Video Edition Austria – Release 02”, Medienwerkstatt Wien, 2008; “temporary urban
spaces”, Birkhäuser, ­Basel, 2006; “Public Art, Lower Austria, Volume 7”, Springer, Wien/New York, 2004.
links: www.susanneschuda.net, www.dieschudas.at, www.schudaschmeiser.net
Susanne Schuda wird vertreten durch die Galerie Dana Charkasi, Wien. www.dana-charkasi.com
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Im Countdown zur visuellen Wiedergeburt
eine Familiensaga als ästhetisch-politische Disposition
Susanne Schudas Videos zu ihrer zweiteiligen Internetnovela Die Schudas zeichnen das
computeranimierte Soziotop einer dramaturgisch durchinszenierten Familiensaga. Per Klick
schalten wir uns in die Navigation der Sequenzen von Teil 1 Die Schudas, Der Fortschritt
und Teil 2 The Bir(d)th, aka Die Schudas reloaded, ich lass die Betten runter ein. Der Zwei­
teiler Die Schudas als Shockwave-3D-Internetnovela funktioniert auf der Webpage
­dieschudas.at interaktiv durch navigierbare Zonen. Während wir uns in Der Fortschritt
durch deren ­virtuelle Wohnräume durchzoomen und chronologisch Storys rund um
Familie, Nachbarschaft und Medienkonsum durchlaufen, funktioniert The Bir(d)th
inter­aktiver, indem Perspektivenwechsel vorgenommen und Sound- und Bild­
einspielungen in Geschwindigkeit und Ablauf gesteuert werden können.
Die Künstlerin schreibt den ProtagonistInnen als Einstieg in ihre Familien­
saga Die Schudas, der Fortschritt durch das Ineinanderspielen von
­animierten Fotocollagen und narrativ durchkonstruierten Textpassagen
prägnante Charaktere zu. Henry Schuda verkörpert nicht zuletzt durch
seine Leidenschaft für den Fortschritt ­entschieden den kreativen Part.
Im Gegenzug dazu sendet die suizid­gefährdete Betty ­schizoide
Warnsignale gegenüber einer vermeintlich schönen heilen Welt aus.
Während die Nachbarin der Schudas, die Riedl, einer unge­brochenen
Wirtschaftsgläubigkeit nacheifert, hat ihr Mann Hörbiger mit der
­Realität längst abge­schlossen.
Die zunehmende Isolation einzelner Individuen, das soziale Desaster,
­Depressionen, Ängste, Verdrängungen (erster Teil) und Sex als letzte
­Zuflucht (zweiter Teil) werden von Susanne Schuda visuell und textuell zu
einer Serie miteinander verwoben. Ihre hybride Gestaltung der Pro­­tago­nis­­tInnen­durch Bildcollagen lässt sie als apodiktische M
­ utantInnen ­emotionaler
Ausnahmezustände auftreten. Die überzeichneten, affektgeladenen
­Posen ihrer Animationen im Raum spielen mit dem sozialen Design
unserer Medienkultur und deren Übertragungsgesten, lassen uns
durch das Anklicken eines virtuellen Fernsehers in erweiterte Medien­
räume ­vordringen.
Susanne Schuda wagt mit Interferenzen und Überlagerungen von Sprachsystemen, wie wir
sie aus der Literatur von Elfriede Jelinek oder Marlene Streeruwitz kennen, den Sprung in
die Animation. Ein neues Verständnis von Autorinnenschaft wird g
­ eneriert, indem mediale,
literarische und philosophische Sprach- und Bildkonstrukte eingefangen, dekonstruiert und
neu fokussiert werden. In der sprachlichen Rhetorik ihrer Charaktere und in der Umkehrung
visueller medialer Codes spiegelt sich Susanne Schudas Virtuosität als kritische Gesellschaftsanalytikerin wider.
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Auf Infotainmentshows, in welchen KandidatInnen aufgrund äußerer, oberflächlicher
­Charakteristiken diversen Bewertungssystemen unterzogen werden oder durch O
­ utings
einen Psychostrip absolvieren, wird scharfzüngig mit einem pointierten, g
­ eschliffenen
Sprachduktus gekontert. Jene zunehmende erschreckende Abstrahierung menschlicher
Existenz durch neoliberale, globale Fehlentwicklungen reflektiert hier auf die visuelle
­Gestaltung der Animation zurück, die schablonenhafte Züge trägt. Das Geschäft mit der
Angst, aus dem sich Medien, Politik und Wirtschaft ­bedienen, gerät in dem Talk, der unter der Regie eines Talkmasters namens Mr. Dawn B. Schicksal läuft, zur paradoxen
Angriffs­fläche. Eine weitere Sequenz von D
­ ie Schudas beginnt mit dem Ruf Das ist
ja noch kein Weltuntergang aus dem Off, während Frank Sinatras Song I’ve got
the world on a string eingespielt wird. Eine andere Animation hingegen startet
mit einem Seitenhieb auf die Celebrity ­Culture, indem der latente Zynismus
von Charity­parties aufgegriffen wird.
Teil 1 endet mit Henry Schudas exaltierter Ankündigung: Ich lass die
Betten runter. Teil 2 knüpft mit dem Titel The Bir(d)th, aka die
Schudas reloaded, ich lass die Betten runter direkt an diese Phrase
an. In ihrem Übergang von den ­eloquent agierenden F
­ iguren zu den
wortlosen Körpern vollzieht Susanne Schuda eine Auflösung des
komplexen Ineinanderspiels von Animation, ­Collage und Narration
und erweitert gleichzeitig den interaktiven Spielraum für den
­Internet-User. Die Bewegungsabläufe von Henry und Betty Schuda
­geraten in ein spannungsgeladenes Wechselspiel mit den ­akzentu­ierten
Kompositionen der elektronischen Sounds von Florian Schmeiser. Wie
in einer tänzerischen Performance – einem Tango Mortale – umkreisen
einander ihre Körper­collagen, tauchen ein in ein virtuelles Sexspiel, verwandeln sich zu animalischen Liebhabern und Beauty-Queens. Im Augen­
blick des durch die Animation simulierten Orgasmus werden wir in Bettys
­Körper durch eine visuell abstrahierte Fahrt hineingezogen und gleiten durch
eine Galaxy feuriger Rot- und Orangetöne. Die Bewegung im Raum wird zu einem
­visuellen Ereignis, das wir als User im Abspielen per Internet-Webpage als eine Art
­visuelle “Wiedergeburt” erleben können, wie Susanne Schuda es ­formuliert.
Ursula Maria Probst, 2009
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Unter die Haut gesprochen
Der Poet
Täglich treffen wir Entscheidungen, Entscheidungen zwischen Affirmation und Negation, Ja und Nein, 1 und 0. Susanne Schudas Der
Poet beginnt unvermittelt: Ich hasse den Morgen, da träume
ich immer von Anpassung, ich bin ein Stück P
­ lastilin, ein
Kinderspielzeug, das nicht die richtige Form findet. Ich
werde geprüft. Der innere Monolog des Protagonisten
dieser Videoinstallation durchdringt den öffentlichen
­
Raum genauso wie die Wahrnehmung. Der Text ist
eingebettet in eine Collage aus animierten Fotografien.
Der Bild- und Soundteppich führt zusammen, was
nicht zusammen gehört: psychosoziale Aspekte
alltäglicher Wirklichkeiten – die Lebens­realitäten des
Poeten – paaren sich mit den medial vermittelten
Bildern öffentlicher Wissensproduktion.
I’ve got you under my skin... Und dann denke ich,
du oder ich? Und die denken sich das auch, das
weiß ich. Der Poet versteht sich als Kulturmensch,
er ist sensibel und hat eine harmonische Vision
der Welt, in der er sich so gerne aufhält. Die
­Harmonie und Der Poet werden aber ungemütlich, sobald seine Vision gestört wird. Ungemütlich wird auch die Stimmung, die das Video evoziert, ganz plötzlich: Ich schwöre auf geschärfte
Stahlseile, damit kannst du dir alles abtrennen,
du kannst das Fleisch von den Knochen ziehen.
Alles vernichten und sehen, dass nichts dahinter ist.
Die Fassade beginnt zu bröckeln.
Blut spritzt, zuerst fontänenartig, nur ganz kurz, danach in
Zeitlupe, überästhetisiert. Der Poet entwickelt sich im Lauf
der Videonarration vom feinsinnigen Menschen
zu einem Individuum, das den Hass auf
sich selbst in einen Hass gegen das
Andere verkehrt: Und bei jeder
Gelegenheit, wo ich etwas
nicht aussprechen darf,
sei es Neger, Jude, fette
Frau, denke ich Neger,
Jude, fette Sau.
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Aggressionen gegen eigene ungeliebte Eigenschaften sind nicht aufzulösen, weil er
sich selbst als Objekt des Hasses nicht los wird. Der ständige Nachschub
an Hass, der aufgrund des eigenen Unvermögens ihn zu bewältigen, auf andere gerichtet wird, ist der Ausgangspunkt dieser
Arbeit.
Die Bilder, die sich entlang der Gedankenwelt des
­Poeten entwickeln, kennt man. Es könnten Bilder aus
Modejournalen und Reisemagazinen sein, es könnte
sich aber genauso gut um Bilder aus Krisengebieten
irgendwo in der Welt handeln, die im Video und in
der Installation einen neuen Kontext finden und
den Imaginationsprozess des Protagonisten
vorantreiben. Susanne Schuda spielt mit dem
kollektiven Unterbewussten, dass sie durch
­erzählerische Elemente in einem medialen Raum
visualisiert.
Die Künstlerin unterstreicht das Unterbewusste
durch ganz bewusste Überinszenierung, Aus­
dehnung und Überspitzung. In Der Poet erzeugt
sie mit ihrer computergenerierten und digitali­
sierten Formensprache eine düstere Atmosphäre,
künstlich. Das schizophrene Wesen des Poeten
spiegelt die Zeit wider, Zukünftiges und V
­ ergangenes,
Hier und Jetzt, gleichzeitig. Der Protagonist ­entspringt
der natürlichen Angst, sich entgegenzustellen: täglich
treffen wir Entscheidungen, Aufstehen oder Liegen­
bleiben, Engagement oder Verweigerung, Leben oder Sterben
– Selbstbehandlung.
Franz Thalmair, 2009
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In Schudas Welt
über das Spirituelle in Susanne Schudas Die Zelle
Susanne Schudas Kunst beschäftigt sich inhaltlich mit der Selbstbehauptung des
Individuums innerhalb der Gesellschaft und mit einer konstruierten Realität.
Übertreibung, Zuspitzung, Neukonstruktion von Bekanntem und Deformie­
rung des Gewohnten lassen die Mechanismen spürbar werden, denen das
Individuum ausgesetzt ist. Die Zwänge und Ängste sowie die damit in
Verbindung stehenden Wünsche und Hoffnungen des Menschen wurden
zunächst von ­Religionen, Ideologien und Lebensphilosophien bestimmt.
Mittlerweile ­haben sich diese “großen Erzählungen” ad absurdum geführt
und die mediale Wirklichkeitsproduktion ist an ihre Stelle getreten. Im damit
einhergehenden Konsumwahn werden Körper und Psyche des M
­ enschen erfolgreich vermarktet. Pseudoreligiöse Konzepte zur Verbesserung des Lebens,
sowie Macht- und ­Gewaltstrukturen vielfältigster Art bestimmen die neuen
Sinnzusammenhänge.
Den Körper zu schützen, ihn nicht zu missbrauchen, schreibt jede Religion vor.
Das kann auch als Grundlage für ein langes und glückliches Leben missverstanden werden. Ein in Aussicht gestelltes Paradies erweist sich als nicht erreichbar,
daher sind wir gezwungen, es hier auf Erden zu realisieren. Man kann den Kampf
um ewige Jugend und ein erfolgreiches Leben an der Akkumulierung von materiellen Werten und an der intensiven Beschäftigung mit Äußerlichkeiten erkennen. Religiöse
bzw. esoterische Elemente zusammengenommen, bilden dabei einen geistigen, ideo­
logischen Hintergrund, vor dem der Umgang mit dem menschlichen Körper fun­ktioniert.
Auf der Basis unserer Existenz werden wir selbst zum Schöpfer und versuchen Gott,
den wir selbst geschaffen haben, zu übertreffen.
In diesem Spannungsverhältnis ist Susanne Schudas Kunst angesiedelt. Nicht mahnend
oder auf Ursprünglichkeit hin orientiert ist ihre Position. Viel mehr entsteht hier eine in sich
funktionierende Parallelwelt, die aus bekannten Versatzstücken besteht und daher unheimlich und abstoßend wirkt. Das Vertraute hat sich zum Monströsen transformiert.
In ihrer Arbeit Die Zelle zeigt Susanne Schuda eine multimediale Installation, die den
Ausstellungs­raum in eine sakrale Situation transferiert. Die Zelle als unverzichtbarer Bau­
stein des Lebens steht dabei im Zentrum der Anbetung. Einen hundertstel Millimeter groß,
nur unter dem Mikroskop zu orten, trägt die Zelle Sorge dafür, dass ein Organismus ins­
gesamt überhaupt lebensfähig ist. Nur Spezialisten können deren Funktionsweisen
­ergründen. Der betroffene Laie ist den Veränderungen fassungslos ausgeliefert.
Die Künstlerin gibt diesem Rätsel einen spirituellen Hintergrund und bedient sich dabei
einer fiktiven Erzählstruktur, in der die Protagonisten – Meine Mutter, Huren­sohn und
The King – das Problemfeld dialogisch reflektieren. Mantraartig sagen sie ihre stereotypen Klischees vor sich her. Ihre tatsächliche Identität haben diese F
­ iguren verloren.
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Sie stehen für Positionen, die einerseits oft in einer Person gleichzeitig wirksam werden,
oder im einen oder anderen Fall überwiegend ausgebildet sind. Sie stehen allesamt in ­Bezug
zur Zellwucherung, die als übergeordnet begriffen wird. Man kann diese
Wucherung als gegeben akzeptieren und will sich ihr nicht entgegenstellen, sondern darin eine neue Möglichkeit sehen. Jedenfalls gibt es hier
eine Bezüglichkeit zur Gottergebenheit. The King entspricht am ehesten
dieser Denkweise. Er ist in höhere Sphären vorgedrungen. Dort gibt er sich
der kollektiven Wucherung hin. Meine Mutter scheint noch an Botox, Pilates und
Size Zero zu glauben. Sie schottet sich ab und ist mit dem Heiligtum ihres Körpers be­
schäftigt. Sie lehnt sich gegen die Auflösung auf, obwohl auch sie schon verloren hat.
­Hurensohn, der mit dem Leben hadert, weiß um die U
­ naufhaltbarkeit der Entwicklung –
letztlich der Wucherung – und versucht, Zeugnis abzulegen. Als Fotograf dokumentiert er
die Vorgänge, die mit der Veränderung einhergehen. Sein Zeugnisabgeben ist ein religiöses
Unter­fangen, ebenso wie der Kampf, den Meine Mutter bereit ist zu führen. The King hat
sich zur größtmöglichen Hingabe entschlossen und wird so – zumindest in der eigenen
Wahrnehmung – zum Erleuchteten, zum Messias.
Man kann somit deutlich sehen, wie sich die Protagonisten spiegelbildlich zum Verhalten
innerhalb der westlich-kapitalistischen Gesellschaft bewegen. Die religiöse Komponente
dabei zeugt von einer Sicherheit, die aber nicht mehr gegeben ist und verzerrt erscheint.
Obsessives Festhalten am Sinnlosen, das man paradoxerweise mit dem Grundsätzlichen
verwechselt, ist das Ziel.
Im Leben ist der Körper durch die Medien zum Bild geworden – für ein besseres Leben.
Teile dieses “Heilsversprechens” versuchen auch Schudas Charaktere einzulösen und
­geraten dabei in immer absurdere Beschwörungen. Sie haben aufgehört – Meine Mutter
nicht ganz – die Zelle gnädig stimmen zu wollen. Susanne Schuda ist mit ihren Protagonisten schon weiter und zieht Konsequenzen aus der realen, gegenwärtigen Entwicklung.
Dazu setzt sie die Geschichte des Bildes vom menschlichen Körper – nicht nur in Bezug
auf die Kunst, sondern bezogen auf die Allgemeinheit des Bildes vom Körper – bewusst ein.
In der Kunst der Moderne begegnet man dem deformierten, manipulierten und zerstörten
menschlichen Körper. Das bis dahin geltende Schönheitsideal in der Nachfolge der Antike
galt plötzlich als obsolet. In totalitären Systemen, wie dem Faschismus, in denen starke,
athletische und gesunde Körper verherrlicht wurden, wurde es aufgenommen und ­pervertiert.
Die Moderne hat dagegen ein dekonstruktivistisches, analytisches Konzept in Stellung
­gebracht. Unter dem Eindruck der kapitalistischen Mediengesellschaft haben wir uns ­wieder
von der Moderne entfernt und verfolgen in Bezug auf unseren Körper grotesk anmutende
Ideale, denen Susanne Schuda mit Spott und eindringlicher formaler Qualität begegnet.
Günther Holler-Schuster, 2009
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Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung
SUSANNE SCHUDA Die Zelle
Neue Galerie Graz – Studio
Universalmuseum Joanneum
18. 09. - 01. 11. 2009
Kurator: Günther Holler-Schuster
Herausgeber: Günther Holler-Schuster, Ivan Mecl
erschienen im Verlag DIVUS, 2010
Layout: Susanne Schuda
Texte: Günther Holler-Schuster, Ursula Maria Probst,
Susanne Schuda, Franz Thalmair
Lektorat: Karin Buol-Wischenau
Bilder © Susanne Schuda,
soweit nicht anders gekennzeichnet
Cover, Hintergrundbild: Håkan Dahlström
Texte: © Susanne Schuda und AutorInnen
Druck: Divus Czech Republic, Prague
Produziert mit Unterstützung von Leder & Schuh AG
und Medienkunstbeirat des BMUKK.
Universalmuseum Joanneum
Neue Galerie Graz
Leitung: Christa Steinle
[email protected]
www.neuegalerie.at
DIVUS, Prague 2010
Křižíkova 34, Prague 8, 186 00, Czech republic
Phone: (+420) 226 216 086
Mobile: (+420) 777 730 230
www.divus.cz, [email protected]
Divus UK, London
Phone: +44 (0) 79 51 14 39 16
www.divus.cz/london, [email protected]
Neue Galerie Graz – Studio
Divus Germany, Berlin
www.divus.cz/berlin, [email protected]
www.divus.cz, [email protected]
ISBN: 978-80-86450-53-7
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