Behinderte - Historisches Lexikon der Schweiz

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Behinderte - Historisches Lexikon der Schweiz
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01/12/2006 |
Behinderte
Als Bezeichnung für Menschen mit beeinträchtigten körperl.,
sinnesmässigen, geistigen oder psych. Fähigkeiten hat sich der Begriff
B. erst in der 2. Hälfte des 20. Jh. durchgesetzt - unter Einfluss der
Behinderten- oder Sonderpädagogik einerseits und der sozialpolit.
Massnahmen zugunsten dieser Personengruppe andererseits. Der
Begriff betont das Defizit eines Menschen und impliziert eine
Einheitlichkeit der gesellschaftl. Einstellungen zu den
Behinderungsarten, die allerdings nicht der hist. Realität entspricht.
Angemessener wäre es, von "Menschen mit einer Behinderung" zu
sprechen.
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In früheren Zeiten wurden B. entweder nach der Art des Gebrechens
mit z.T. abwertenden Begriffen (Krüppel, Narr) oder nach breiteren
Kriterien (arm, krank, bedürftig) benannt. Einäugige oder
gehbehinderte Gottheiten aus der germ., griech. und röm. Mythologie
zeugen davon, dass Behinderungen in diesen Kulturen, je nach
kulturellem Kontext unterschiedlich, thematisiert wurden. Im Gebiet der
Schweiz lässt sich die Geschichte von B.n erst vom ausgehenden MA an
nachzeichnen. Immer wieder erstaunten B. als armlose Schreiber,
blinde Musiker oder taubstumme Maler ihre Umgebung mit Fähigkeiten,
die sie trotz oder wegen ihrer Behinderung besassen. Die bereits in den
ma. Städten verbreitete Arbeitsteilung erlaubte v.a. Menschen mit einer
Gehbehinderung ein Auskommen in gewissen handwerkl. Berufen. Doch
die Mehrheit der B.n war seit jeher auf gesellschaftl. Unterstützung
angewiesen. Die ma. Almosenlehre wies den behinderten Bettlern
(Bettelwesen) als Objekte der Caritas einen Platz in der Gesellschaft zu.
In den Städten konnten sie, sofern sie Bürger oder zumindest
ortsansässig und die Ursachen der Behinderung nicht unehrenhaft
waren (z.B. verstümmelnde Leibesstrafen, die v.a. im SpätMA vollzogen
wurden), durchaus zu einem Existenz sichernden Einkommen gelangen.
Doch viele B. waren als umherziehende Bettler zu einem ehr- und
rechtlosen Dasein gezwungen (Randgruppen). Als Schau-B. auf
Jahrmärkten, als Hofnarren, durch Mitleid erregendes Ausstellen ihrer
Gebrechen vor Kirchen oder mit allerhand Betteltricks mussten sie sich
durchs Leben schlagen. Während im MA B. einen obrigkeitlich
geschützten und z.T. mit Bettelbriefen geförderten Anspruch auf
Almosen hatten, versuchten die Behörden vom 16. Jh. an, das Betteln
zu verbieten. Die Bemühungen, auch behinderte Bettler aus dem
Strassenbild zu bannen, indem man sie zur Arbeit anhielt, in Spitäler
aufnahm oder sie auf die knappe Unterstützung in ihrer Gemeinde
(Fürsorge) verwies, hatten wenig Erfolg: Das Betteln blieb für viele B.
die einzige Möglichkeit, um zu überleben.
Die Betreuung der B.n war in erster Linie Sache ihrer Angehörigen, die auch für die Kosten aufkommen
mussten, wenn sie die B.n in einem Spital verpfründeten. Konnten die Angehörigen ihrer Aufgabe nicht
nachkommen, galt schon im späten MA als Norm, dass Bedürftige von ihren Gemeinden unterstützt werden
sollten. Die Leistungen waren unterschiedlich, beschränkten sich aber auf gelegentl. Geldspenden, die
Austeilung von Mahlzeiten und Lebensmitteln oder die Gewährung von Spitalpfründen. Städte und
Dorfgemeinden sorgten v.a. dafür, dass sie nur ansässigen Bedürftigen helfen mussten. Ortsfremde Bettler
wurden vertrieben, auch wenn sie behindert waren.
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Die Industrialisierung führte durch Kinderarbeit, die schlechten Arbeitsbedingungen oder Unfälle in den
Fabriken zu neuen Behinderungsursachen. Gleichzeitig wurde der Gedanke der gegenseitigen Hilfe im Falle
einer behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit, der in Ansätzen bereits im ma. Zunft- und
Bruderschaftswesen ausgebildet war, für die Gründung von Kranken-, Invaliden- und Sterbe-Kassen
bestimmend, die in Fabriken, Gewerbezweigen oder einzelnen Quartieren entstanden und ihre behinderten
Mitglieder z.T. lebenslang finanziell unterstützten. Zu Beginn des 20. Jh. wurde die Forderung nach einer
Invalidenversicherung (IV) im Rahmen der Alters- und Hinterlassenenversicherung laut und 1919 im
Parlament, mit negativem Ausgang, diskutiert. Im darauf folgenden Jahr gründeten jedoch versch. in der
Behindertenfürsorge tätige Gruppen und Vereine die Schweiz. Vereinigung für Anormale (seit 1935 Pro
Infirmis) als Dachverband. Bis zur Einführung der Eidg. Invalidenversicherung 1960 leistete Pro Infirmis v.a.
finanzielle Hilfe, z.T. mit Bundesgeldern. Die IV versucht, die finanziellen Folgen behinderungsbedingter
Erwerbsunfähigkeit mittels einer Rente oder der Eingliederung B.r ins Erwerbsleben durch berufl. Ausbildung
oder Umschulung zu lindern.
Bereits im 17. Jh. kam in der Schweiz die Idee auf, Taubstumme gezielt zu fördern. In die Tat umgesetzt
wurde sie jedoch erst 1777 mit der Gründung einer Taubstummenanstalt in Schlieren. Um 1800 wurde in
kant. Zählungen das Bedürfnis nach einer gezielten Schulung von Sinnes-B.n nachgewiesen. Durch private
und religiös motivierte Initiative entstanden anfangs des 19. Jh. weitere Institutionen zur Förderung
behinderter Kinder (Anstaltswesen). Den Anstalten für Sinnes-B. (Blindenschule in Zürich, 1809) folgten im
Verlauf des Jahrhunderts weitere für geistig (Anstalt für kretine Kinder bei Interlaken, 1840) und später auch
für körperlich behinderte Kinder (Mathilde-Escher-Heim in Zürich, 1864). B. waren von der allg. Schulpflicht
ausgenommen und blieben auf private Förderung angewiesen. Erst die Finanzierung durch die IV ermöglichte
den Ausbau eines umfassenden Sonderschulnetzes (Hilfs- und Sonderschulen) für B., das durch die aktuelle
Integrationsdiskussion wieder in Frage gestellt wird.
Die Geschichte der B.n ist weitgehend eine Geschichte ihrer Ausgrenzung. Im MA wurden gewisse
Behinderungsarten mit dem Wirken teuflischer bzw. überirdischer Kräfte in Verbindung gebracht. Abergläub.
Vorstellungen über B. reichen bis ins 20. Jh. hinein. Uralt ist das Motiv des Behindertenspotts, das bis ins 13.
Jh. zurückverfolgt werden kann. Eine explizite Diskriminierung erfuhren B. auch durch das kanon. Recht, das
sie von der kirchl. Laufbahn ausschloss. Die aus der griech. Antike stammende Physiognomielehre, die einen
Zusammenhang zwischen Aussehen und moral. Eigenschaften einer Person herstellt, prägte die Situation B.r
in grossem Ausmass. Hinweise auf die Aussetzung (Kindesaussetzung) oder Tötung (Kindesmord) behinderter
Neugeborener finden sich in MA und Neuzeit. Unter dem Einfluss der Rassenlehre wurden auch in der Schweiz
eugenisch begründete Sterilisationen von geistig und psych. B.n vorgenommen (Eugenik): Das waadtländ.
Sterilisationsgesetz von 1928 war das erste dieser Art in Europa. Auch heute wird durch die Diskussion um
pränatale Diagnostik und Euthanasie das Lebensrecht schwer geburtsbehinderter Menschen in Frage gestellt.
Neu ist allerdings, dass B. in diese Diskussion eingreifen und sich zur Wehr setzen. In versch. Vereinigungen,
Verbänden, Stiftungen, Selbsthilfe- und Arbeitsgemeinschaften organisiert, vertreten sie Forderungen nach
einer Existenz sichernden IV-Rente, einem heimexternen, selbstbestimmten Leben und wehren sich gegen die
vielfältigen Formen ihrer Diskriminierung. Die neue BV trug diesem Anliegen Rechnung und verankerte im Art.
8 Abs. 2 und 4 das Diskriminierungsverbot von körperl., geistig oder psych. B.n sowie Massnahmen zur
Beseitigung von Benachteiligungen von B.n. Dem Abbau von Lebenserschwernissen und der Förderung der
gesellschaftl. Integration B.r dienen u.a. Ausbildungs-, Eingliederungs-, Beschäftigungs- und geschützte
Werkstätten, der Einsatz für behindertengerechtes Bauen und der z.T. breite Beachtung findende
Behindertensport.
Literatur
– H.J. Uther, B. in populären Erzählungen, 1981
– W. Fandrey Krüppel, Idioten, Irre: zur Sozialgesch. behinderter Menschen in Deutschland, 1990
– C. Wolfisberg, B. im SpätMA, Liz. Zürich, 1995
– C. Wolfisberg Heilpädagogik und Eugenik. Zur Gesch. der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz
(1800-1950), 2002
– Traverse, 2006, H. 3
Autorin/Autor: Carlo Wolfisberg
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