Franz Kafka: "Die Verwandlung"

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Franz Kafka: "Die Verwandlung"
BRP Deutsch; 3. Semester
Kafka : Verwandlung
© E. Mathis 2015
Martin Walser:
Am Morgen wacht ein Handlungsreisender auf, merkt, dass er seinen Zug versäumt hat, gerät in Panik; sieht sich
sofort als Ungeziefer. Als Parasit. Er ist sich ekelhaft. Diese Geschichte hat offensichtlich eine Vorgeschichte.
Denn sonst könnte der erste Satz nicht zu diesem Ergebnis führen. Es wäre, glaube ich, ein Fehler, anzunehmen,
die Verwandlung sei damit abgeschlossen. Sonst könnte die Geschichte mit diesem ersten Satz aufhören. Gregor
Samsa wehrt sich. Er fängt sofort an, zu räsonieren, wenn er merkt, dass er plötzlich dieses Käferhafte hat, und
auch noch auf dem Rücken liegt, was für einen Käfer nicht die beste Lage ist. Narrheiten, sagt er, das kommt
wahrscheinlich von dem frühen Aufstehen, das macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf
haben. Sie werden zugeben, dass Käfer so nicht zu räsonieren pflegen am Morgen, das ist menschliche Identität;
wenn auch eine bedrohte. Er ist unfähig, auf seine Dienstreise, auf seine Vertreterreise zu gehen. Er ist ein
Vertreter, der seinen Beruf immer besonders ernst genommen hat. Er vergleicht seine Kollegen mit
Haremsdamen, die so durch die Gegend reisen und in den Cafes herumsitzen, während er ununterbrochen auf
Achse ist: er hat nämlich eine Schuld abzuzahlen.
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Kafka : Verwandlung
© E. Mathis 2015
1. Aussagen Kafkas zur Verwandlung
„Die Verwandlung“ ist neben den Erzählungen „Das Urteil“ und „Der Heizer“ die dritte größere Erzählung der
Jahre 1912/13. Sie entsteht zwischen dem 17. 11. 1912 und dem 6. 1.1913. An Hand der Briefe an Kafkas
Verlobte Felice Bauer lassen sich ihre Entstehung und die Einstellung Kafkas zu seinen Text relativ genau
verfolgen.
Zum ersten Mal erwähnt Kafka die Idee zu seiner Geschichte in einem Brief vom 17. 11. 1912. Er erwähnt, dass
ihm diese Idee „in dem Jammer im Bett“ eingefallen sei und ihn bedränge. In einem weiteren Brief vom 23. 11.
1912 erwähnt Kafka, dass er den Umfang seiner Geschichte unterschätzt habe. Weiters schreibt er: „ ... die
Geschichte ist ein wenig fürchterlich. Sie heißt „Verwandlung“, sie würde dir tüchtig Angst machen. ... Dem
Helden meiner kleinen Geschichte ist es heute gar zu schlecht gegangen und dabei ist es nur die letzte Staffel
eines jetzt dauernd werdenden Unglücks.“ An einer späteren Stelle im selben Brief bezeichnet er seine
Geschichte in weiter gesteigerter Form als „ekelhaft“: „Was ist das doch für eine ausnehmend ekelhafte
Geschichte, die ich jetzt wieder beiseite lege, ... Sie ist jetzt schon ein Stück über ihre Hälfte fortgeschritten und
1
ich bin auch im allgemeinen mit ihr nicht unzufrieden, aber ekelhaft ist sie grenzenlos ...“
Die Entstehungszeit fällt in eine krisenhafte Lebensphase Kafkas. Befürchtungen über das von
Trennungsängsten überschattete Verhältnis zu Felice Bauer, das Gefühl, von der Familie abgelehnt und vom
Vater verurteilt zu sein, alles das verdunkelt die Existenz Kafkas in dieser Zeit und gibt der Erzählung ihren
düsteren Charakter. In seinen Tagebüchern notiert Kafka, er fühle sich „mit einem Fußtritt aus der Welt
geworfen“. An anderer Stelle schreibt er: „Ein Bild meiner Existenz in dieser Familie gibt eine nutzlose, mit
Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe
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aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht“
Der Druck der Verwandlung verzögert sich bis ins Jahr 1915, wohl auch, weil Kafka unentschlossen ist, ob er „Die
Verwandlung“ überhaupt publizieren soll. Sie erscheint in der Monatszeitschrift „Die weißen Blätter“.
2. Verwandlungsmotiv und Tiermetaphorik in der Literatur
Allgemeines
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Das Motiv der Verwandlung ist in der Literatur aus dem antiken Metamorphosendichtung der Antike und aus den
Volksmärchen vielfach bekannt.
Im Volksmärchen verwandelt sich der Held / die Heldin vielfach in die Gestalt eines Tieres, meist unter dem
Einfluss einer negativen Macht oder eines negativen Zaubers. Die Verwandlung blockiert und lähmt jede
Entwicklung. Sie kann als Krisenzeit, als Zeit der Lähmung, als Zeit des Wartens gesehen werden. Wichtig ist,
dass der verwandelte Held / die verwandelte Heldin im Märchen Erlösung findet. Die Verwandlung ist also
lediglich Durchgangsstadium, nicht Endstadium.
Auch die Literatur der Romantik im 18. und frühen 19. Jahrhundert greift das Motiv der Verwandlung vielfach auf.
Vor allem in den Werken ETA Hoffmanns und in den Werken der russischen spätromantischen Dichter wie Gogol
oder Dostojewsky wird die Verwandlung zu einem persönlichkeitspsychologischen Symbol. In der Verwandlung
zeigt sich die zweite, die Tiefenpsychologie würde heute sagen: die unbewusste oder verdrängte Schicht der
Persönlichkeit.
Verwandlungsmotiv bei Kafka
Diese Ansätze werden von Kafka weiter zugespitzt. Tierische Verwandlungsmotive tauchen in seinen Texten
immer wieder auf. Auch das Motiv des Käfers erscheint bereits 1906/07 in der Erzählung
„Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ in der Gestalt des Käfers Rabanauf. Hier stellt der Ich-Erzähler sich in
einer Art Tagtraum vor, wie er sich vor einer unangenehmen Aufgabe drückt, indem er seine Existenz aufspaltet.
„Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land zu fahren, das ist nicht nötig, ich schicke meinen angekleideten Körper
... ich liege inzwischen im Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke, ausgesetzt der Luft, die durch das wenig
geöffnete Fenster weht. Die Wagen und Leute auf der Gasse noch ... Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt
eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder Maikäfers, glaube ich ... Eines Käfers große Gestalt, ja. Ich stelle es
dann so an, als handle es sich um einen Winterschlaf, und ich presse meine Beinchen an meinen gebauchten
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Leib“
Während in „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ das Tiermotiv allerdings als Tagtraum, als
Fluchtmöglichkeit vor der Realität phantasiert wird, wird diese Verwandlung – obwohl im Motiv und in der
Intention viele Parallelen erkennbar sind – in der Erzählung „Die Verwandlung“ zur Realität für den Protagonisten
Gregor Samsa. Ob die Verwandlung auch Flucht, diesmal Fluchtrealität ist, wird zu diskutieren sein.
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Briefe an Felice Bauer, S 143
Tagebuch 1914
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Metamorphose = Verwandlung
2
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Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S 33
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Arbeitsaufgabe 1
Gestalte einen kurzen Text / eine kurze Ideensammlung zum Thema Verwandlung im Leben und Verwandlung in
der Literatur.
Welche unterschiedlichen Richtungen / Merkmale kann eine Verwandlung haben (äußerliche Verwandlung 
innere Verwandlung)
Beschreibe, in welcher Form das Verwandlungsmotiv als Leitmotiv in der Erzählung „Die Verwandlung“ auftaucht.
Berücksichtigen Sie dabei möglichst viele Textmerkmale, zum Beispiel Titel, Form der Verwandlung, Ursachen
der Verwandlung, Gregors Reaktion auf die Verwandlung, Reaktion der Familienmitglieder auf Gregors
Verwandlung, Folgen der Verwandlung für Gregor, Folgen der Verwandlung für die Familienmitglieder, ….
3. Analyse einzelner Textausschnitte
Vorbemerkung
Kafkas Texte lassen sich, wie jede gute Literatur, nicht erschöpfend interpretieren. Dazu sind sie zu komplex, zu
vielschichtig, zu hermetisch.
Sehr viele ErstleserInnen werden bei der Lektüre von Kafka-Texten von Gefühlen begleitet, die man als Mischung
aus Faszination und Hilflosigkeit beschreiben könnte. Die Texte Kafkas fesseln durch die plastischen, scharf
gezeichneten Bilder, durch die Nachvollziehbarkeit des dargestellten Geschehens, ziehen hinein, ... Gleichzeitig
möchte man gegen den Inhalt rebellieren, fragen, warum die Hauptfigur so geduldig alles geschehen lässt,
warum sie sich nicht wehrt, nicht rebelliert, nicht einfach aus der Handlung „aussteigt“ ....
Im zweiten Schritt kommt dann oft die Frage, wie diese Texte denn jetzt zu lesen und zu verstehen seien. Eine
eindeutige Antwort gibt es natürlich nicht. Und selbstverständlich gibt es mehrere Möglichkeiten, Kafkas Texte zu
interpretieren.
Ich möchte Sie mit einer Mischung
Interpretationsmethode vertraut machen.
aus
biographischer
und
(tiefen)psychologisch
fundierter
Die biographische Methode versucht sich den Kafka-Texten über einen Rückbezug zum Leben Kafkas und zu
seinen Lebensthemen (problematische Vater-Sohn-Beziehung; Unzufriedenheit mit dem eigenen Beruf;
gescheiterte Frauenbeziehungen, vor allem die wiederholte Ver- und Entlobung mit Felice Bauer, das
Grundthema des Versagens im Selbstverständnis der Person Kafkas).
Die tiefenpsychologische Methode geht an literarische Texte in Analogie zu Träumen heran. Träume hinterlassen
oft eine Gefühlsmixtur von seltsamer Vertrautheit und eigenartiger Fremdheit, ähnlich wie das bei Kafkas Texten
der Fall ist. Und mit ein paar „Handgriffen“ lassen sich Träume oft erstaunlich leicht in einen verständlichen
Kontext stellen, wenn das auch nicht heißt, dass das dann DIE richtige Interpretation des Traumes ist.
Textausschnitte
Textanfang ...
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem
ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein
wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich
die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu
seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. …
„Was ist mit mir geschehen?“, dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines
Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine
auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –‚ hing das Bild,
das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen
untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht
dasaß und einen schweren Pelzmuff in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer
entgegenhob.
.....
„Ach Gott“, dachte er, „was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise. Die
geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch
diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein
immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender Verkehr. Der Teufel soll alles holen“ ....
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Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. „Dieses frühzeitige Aufstehn“, dachte er, „macht einen ganz
blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum
Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen
diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle
hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern
zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich würde vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung von
Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! ... Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich
aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzutragen – es dürfte noch
fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schritt gemacht. Vorläufig
allerdings muss ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.
Arbeitsaufgaben 2
1.
Wie ist die Erzählperspektive?
2.
Wie reagiert der Protagonist Gregor Samsa auf die Tatsache, dass er sich in einen Käfer verwandelt im Bett
vorfindet? Welche „normale“ Reaktion würde man demgegenüber erwarten? Was lässt sich daraus auf die
Persönlichkeit Samsas schließen?
3.
Was symbolisiert das Bild eines Käfers, zumal wenn er auf dem Rücken liegt, im Hinblick auf die
Lebenssituation? Inwiefern „schützt“ die Käfergestalt? Inwiefern belastet sie?
4.
Was verändert sich durch die Verwandlung Samsas zum Käfer?
5.
Wie ist die Sprache Kafkas? Welcher Eindruck von der Hauptfigur entsteht durch die sprachliche Qualität
des Textes?
Arbeitsaufgabe 3:
Beschreibe einem kurzen Text ein Persönlichkeitsportrait Gregor Samsas bis zum Zeitpunkt der Verwandlung.
Stelle dabei auffallende Wesenszüge in den Mittelpunkt. Lass dabei auch andere Informationen aus dem Text
einfließen. Gehen Sie auf folgende Gesichtspunkte ein:






Lebensdaten: Name, Geschlecht, ungefähres Alter, ....
äußere Lebenssituation: Beruf
äußere Lebenssituation: Familie; Beziehung zu den einzelnen Familienmitgliedern; Stellung innerhalb der
Familie
äußere Lebenssituation: Beziehungsleben
äußere Lebenssituation: Privatleben, Hobbys, Interessen, besondere Neigungen, besondere Vorlieben, .....
Persönlichkeit, Charakter: wesentliche Persönlichkeitszüge; Defizite in der Persönlichkeit (Was „fehlt“ Gregor
Samsa)
S 30 ff
Da er die Türe auf diese Weise öffnen musste, war sie eigentlich schon recht weit geöffnet, und er selbst noch
nicht zu sehen. Er musste sich erst langsam um den einen Türflügel herumdrehen, und zwar sehr vorsichtig,
wenn er nicht gerade vor dem Eintritt ins Zimmer plump auf den Rücken fallen wollte. Er war noch mit jener
schwierigen Bewegung beschäftigt und hatte nicht Zeit, auf anderes zu achten, da hörte er schon den Prokuristen
ein lautes „Oh!“ ausstoßen – es klang, wie wenn der Wind saust – und nun sah er ihn auch, wie er, der der
Nächste an der Türe war, die Hand gegen den offenen Mund drückte und langsam zurückwich, als vertreibe ihn
eine unsichtbare, gleichmäßig fortwirkende Kraft. Die Mutter – sie stand hier trotz der Anwesenheit des
Prokuristen mit von der Nacht her noch aufgelösten, hoch sich sträubenden Haaren – sah zuerst mit gefalteten
Händen den Vater an, ging dann zwei Schritte zu Gregor hin und fiel inmitten ihrer rings um sie herum sich
ausbreitenden Röcke nieder, das Gesicht ganz unauffindbar zu ihrer Brust gesenkt. Der Vater ballte mit
feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurückstoßen, sah sich dann unsicher im
Wohnzimmer um, beschattete dann mit den Händen die Augen und weinte, dass sich seine mächtige Brust
schüttelte.
Gregor trat nun gar nicht in das Zimmer, sondern lehnte sich von innen an den festgeriegelten Türflügel, so dass
sein Leib nur zur Hälfte und darüber der seitlich geneigte Kopf zu sehen war, mit dem er zu den anderen
hinüberlugte. Es war inzwischen viel heller geworden; klar stand auf der anderen Straßenseite ein Ausschnitt des
gegenüberliegenden, endlosen, grauschwarzen Hauses – es war ein Krankenhaus – mit seinen hart die Front
durchbrechenden regelmäßigen Fenstern; der Regen fiel noch nieder, aber nur mit großen, einzeln sichtbaren
und förmlich auch einzelnweise auf die Erde hinuntergeworfenen Tropfen. Das Frühstücksgeschirr stand in
überreicher Zahl auf dem Tisch, denn für den Vater war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er
bei der Lektüre verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog. Gerade an der gegenüber liegenden Wand hing
eine Photographie Gregors aus seiner Militärzeit, die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen,
sorglos lächelnd, Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte. Die Tür zum Vorzimmer war geöffnet, und
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man sah, da auch die Wohnungstür offen war, auf den Vorplatz der Wohnung hinaus und auf den Beginn der
abwärts führenden Treppe.
...
Gregor sah ein, dass er den Prokuristen in dieser Stimmung auf keinen Fall weggehen lassen dürfe, wenn
dadurch seine Stellung im Geschäft nicht aufs äußerte gefährdet werden sollte. Die Eltern verstanden das alles
nicht so gut; sie hatten sich in den langen Jahren die Überzeugung gebildet, dass Gregor in diesem Geschäft für
sein Leben versorgt war, und hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun, dass ihnen
jede Voraussicht abhanden gekommen war. Aber Gregor hatte diese Voraussicht. Der Prokurist musste gehalten,
beruhigt, überzeugt und schließlich gewonnen werden; die Zukunft Gregors und seiner Familie hing doch davon
ab. Wäre doch die Schwester hier gewesen! Sie war klug, sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem
Rücken lag. Und gewiss hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen; sie hätte die
Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausgeredet. ....
....
„Mutter, Mutter“, sagte Gregor leise und sah zu ihr hinauf. Der Prokurist war ihm für einen Augenblick ganz aus
dem Sinn gekommen; dagegen konnte er sich nicht versagen, im Anblick des fließenden Kaffees mehrmals mit
den Kiefern ins Leere zu schnappen. Darüber schrie die Mutter neuerdings auf, flüchtete vom Tisch und fiel dem
ihr entgegen eilenden Vater in die Arme. Aber Gregor hatte jetzt keine Zeit für seine Eltern; der Prokurist war
schon auf der Treppe; ... Leider schien nun auch diese Flucht des Prokuristen den Vater, der bisher
verhältnismäßig gefasst gewesen war, völlig zu verwirren, denn statt selbst dem Prokuristen nachzulaufen oder
wenigstens Gregor in der Verfolgung nicht zu hindern, packte er mit der Rechten den Stock des Prokuristen, den
dieser mit Hut und Überzieher auf einem Sessel zurückgelassen hatte, holte mit der Linken eine große Zeitung
vom Tisch und machte sich unter Füßestampfen daran, Gregor durch Schwenken des Stockes und der Zeitung in
sein Zimmer zurückzutreiben. Kein Bitten Gregors half, kein Bitten wurde auch verstanden, er mochte den Kopf
noch so demütig drehen, der Vater stampfte nur stärker mit den Füßen. Drüben hatte die Mutter trotz des kühlen
Wetters ein Fenster aufgerissen, und hinausgelehnt drückte sie ihr Gesicht weit außerhalb des Fensters in ihre
Hände. Zwischen Gasse und Treppenhaus entstand eine starke Zugluft, die Fenstervorhänge flogen auf, die
Zeitungen auf dem Tische rauschten, einzelne Blätter wehten über den Boden hin. Unerbittlich drängte der Vater
und stieß Zischlaute aus, wie ein Wilder. Nun hatte aber Gregor noch gar keine Übung im Rückwärtsgehen, es
ging wirklich sehr langsam. Wenn sich Gregor nur hätte umdrehen dürfen, er wäre gleich in seinem Zimmer
gewesen, aber er fürchtete sich, den Vater durch die zeitraubende Umdrehung ungeduldig zu machen, und jeden
Augenblick drohte ihm doch von dem Stock in des Vaters Hand der tödliche Schlag auf den Rücken oder auf den
Kopf ....
Leitfragen/Arbeitsaufträge 4
1.
2.
3.
4.
5.
Zeige an diesem Textausschnitt das eingeschränkte Wahrnehmungsvermögen, das eingeschränkte
Handlungsvermögen und die Kommunikationsmöglichkeiten der Hauptfigur.
Welche Denkmuster, welche Handlungsimpulse und welche Emotionen lässt die Hauptfigur erkennen?
Wie ist die Beziehung Gregors zu seiner Familie und zu den einzelnen Familienmitgliedern? Wie nimmt er sie
jeweils wahr?
Wie ist die Beziehung der einzelnen Familienmitglieder zu Gregor? Wie verhalten sie sich Gregor
gegenüber?
Wie verändert sich die Beziehung zur Familie durch die Verwandlung?
Der Apfelschuss … (Wendepunkt)
Der Vater war gekommen. „Was ist geschehen?“, waren seine ersten Worte; Gretes Aussehen hatte ihm wohl
alles verraten. Grete antwortete mit dumpfer Stimme, offenbar drückte sie ihr Gesicht an des Vaters Brust: „Die
Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr schon besser. Gregor ist ausgebrochen.“ „Ich habe es ja erwartet“, sagte
der Vater, „ich habe es euch ja immer gesagt, aber ihr Frauen wollt nicht hören.“ Gregor war es klar, dass der
Vater Gretes allzu kurze Mitteilung schlecht gedeutet hatte und annahm, dass Gregor sich irgendeine Gewalttat
habe zuschulden kommen lassen. Deshalb musste Gregor den Vater jetzt zu besänftigen suchen, denn ihn
aufzuklären hatte er weder Zeit noch Möglichkeit. Und so flüchtete er sich zur Tür seines Zimmers und drückte
sich an sie, damit der Vater beim Eintritt vom Vorzimmer her gleich sehen könne, dass Gregor die beste Absicht
habe, sofort in sein Zimmer zurückzukehren, und dass es nicht nötig sei, ihn zurückzutreiben, sondern dass man
nur die Tür zu öffnen brauche, und gleich werde er verschwinden.
Aber der Vater war nicht in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken; „Ah!“, rief er gleich beim Eintritt in
einem Tone, als sei er gleichzeitig wütend und froh. Gregor zog den Kopf von der Tür zurück und hob ihn gegen
den Vater. So hatte er sich den Vater wirklich nicht vorgestellt, wie er jetzt dastand; allerdings hatte er in der
letzten Zeit über dem neuartigen Herumkriechen versäumt, sich so wie früher um die Vorgänge in der übrigen
Wohnung zu kümmern, und hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen, veränderte Verhältnisse anzutreffen.
Trotzdem, trotzdem, war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher
Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden der Heimkehr im Schlafrock im Lehnstuhl
empfangen hatte; gar nicht recht imstande war, aufzustehen, sondern zum Zeichen der Freude nur die Arme
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gehoben hatte, und der bei den seltenen gemeinsamen Spaziergängen an ein paar Sonntagen im Jahr und an
den höchsten Feiertagen zwischen Gregor und der Mutter, die schon an und für sich langsam gingen, immer
noch ein wenig langsamer, in seinen alten Mantel eingepackt, mit stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock sich
vorwärts arbeitete und, wenn er etwas sagen wollte, fast immer stillstand und seine Begleitung um sich
versammelte? Nun aber war er recht gut aufgerichtet; in eine straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet, wie
sie Diener der Bankinstitute tragen; über dem hohen steifen Kragen des Rockes entwickelte sich sein starkes
Doppelkinn; unter den buschigen Augenbrauen drang der Blick der schwarzen Augen frisch und aufmerksam
hervor; das sonst zerzauste weiße Haar war zu einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfrisur
niedergekämmt. Er warf seine Mütze, auf der ein Goldmonogramm, wahrscheinlich das einer Bank, angebracht
war, über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin und ging, die Enden seines langen Uniformrockes
zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, mit verbissenem Gesicht auf Gregor zu. Er wusste wohl
selbst nicht, was er vorhatte; immerhin hob er die Füße ungewöhnlich hoch, und Gregor staunte über die
Riesengröße seiner Stiefelsohlen. Doch hielt er sich dabei nicht auf, er wusste ja noch vom ersten Tage seines
neuen Lebens her, dass der Vater ihm gegenüber nur die größte Strenge für angebracht ansah. Und so lief er vor
dem Vater her, stockte, wenn der Vater stehenblieb, und eilte schon wieder vorwärts, wenn sich der Vater nur
rührte. So machten sie mehrmals die Runde um das Zimmer, ohne dass sich etwas Entscheidendes ereignete, ja
ohne dass das Ganze infolge seines langsamen Tempos den Anschein einer Verfolgung gehabt hätte. Deshalb
blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden, zumal er fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände
oder den Plafond für besondere Bosheit halten. Allerdings musste sich Gregor sagen, dass er sogar dieses
Laufen nicht lange aushalten würde; denn während der Vater einen Schritt machte, musste er eine Unzahl von
Bewegungen ausführen. Atemnot begann sich schon bemerkbar zu machen, wie er ja auch in seiner früheren
Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge besessen hatte.
Als er nun so dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf zu sammeln, kaum die Augen offenhielt; in seiner
Stumpfheit an eine andere Rettung als durch Laufen gar nicht dachte; und fast schon vergessen hatte, dass ihm
die Wände freistanden, die hier allerdings mit sorgfältig geschnitzten Möbeln voll Zacken und Spitzen verstellt
waren - da flog knapp neben ihm, leicht geschleudert, irgend etwas nieder und rollte vor ihm her. Es war ein
Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb vor Schrecken stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der
Vater hatte sich entschlossen, ihn zu bombardieren. Aus der Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die
Taschen gefüllt und warf nun, ohne vorläufig scharf zu zielen, Apfel für Apfel. Diese kleinen roten Äpfel rollten wie
elektrisiert auf dem Boden herum und stießen aneinander. Ein schwach geworfener Apfel streifte Gregors
Rücken, glitt aber unschädlich ab. Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen förmlich in Gregors Rücken ein;
Gregor wollte sich weiterschleppen, als könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel
vergehen; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in vollständiger Verwirrung aller Sinne. Nur mit
dem letzten Blick sah er noch, wie die Tür seines Zimmers aufgerissen wurde, und vor der schreienden
Schwester die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schwester hatte sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht
Atemfreiheit zu verschaffen, wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen
Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und wie sie stolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang
und ihn umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm - nun versagte aber Gregors Sehkraft schon - die Hände an
des Vaters Hinterkopf um Schonung von Gregors Leben bat.
III
Die schwere Verwundung Gregors, an der er über einen Monat litt - der Apfel blieb, da ihn niemand zu entfernen
wagte, als sichtbares Andenken im Fleische sitzen -, schien selbst den Vater daran erinnert zu haben, dass
Gregor trotz seiner gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie
einen Feind behandeln durfte, sondern demgegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den Widerwillen
hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden. …
Arbeitsaufgaben 5
Welche Szene bereitet diesen Zusammenstoß mit dem Vater vor?
Wie agieren Gregor und der Vater in dieser Szene? Welche Gefühle / Gedanken begleiten Gregor?
Wie nimmt Gregor den Vater wahr? Was kennzeichnet sein äußeres Erscheinungsbild? Welche Schlüsse lassen
sich über die Figur des Vaters (in der Wahrnehmung Gregors) ziehen? Wie hat er sich – seiner Einschätzung
nach – gegenüber früher verändert? Was könnte diese Veränderung ausgelöst haben?
Welche konkrete Bedeutung hat der Apfelschuss für die weitere Entwicklung? Inwiefern ist diese Szene ein
„Wendepunkt“?
Der Apfel ist ein starkes Symbol. In welcher symbolischen Bedeutung kennen Sie ihn? Welche symbolische
Bedeutung erhält er in dieser Szene?
4. Gregor Samsa in seiner Entwicklung
Zu Beginn der Handlung ist Gregor Samsa ein nach außen hin unauffälliger, pflichtbewusster, für seine Familie
sorgender, wohl etwas zu angepasster Handlungsreisender (heute würde man Außendienstmitarbeiter sagen) in
Sachen Textilien. Am Ende ist er ein vertrockneter Käfer. Dazwischen stehen mehrere Stationen der EntMenschlichung.
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Zunächst ist da die Verwandlung in die Gestalt eines Käfers, die Gregors Leben dramatisch verändert. Diese
Verwandlung ist zunächst nur eine „körperliche“ - Gregor ist im Körper eines Käfers gefangen – und eine soziale
– Gregor verliert die Fähigkeit zur Kommunikation, seine Fähigkeit, sich den anderen mitzuteilen (so er sie
überhaupt einmal gehabt hat), seine Fähigkeit, aktiv am Leben teilzunehmen. Seine psychische Persönlichkeit ist
von der Verwandlung noch nicht betroffen. Die Käfergestalt schützt Gregor (er muss nicht mehr seinen
ungeliebten Job nachgehen, er muss nicht mehr für die Familie sorgen, er muss sich nicht an seinen Chef
anpassen, …), sie behindert ihn aber auch und macht in hilflos und abhängig.
Schritt für Schritt verliert Gregor jedoch auch seine menschliche Persönlichkeit und seine menschlichen
Bedürfnisse. Seine psychische Ent-Menschlichung holt seine physische im Laufe der Handlung ein. Symbolisiert
ist dies dadurch, dass er lernt, sich als Käfer zu fühlen und beispielsweise immer mehr Gefallen an vergammelter
Nahrung findet.
Arbeitsaufgabe 6:
Untersuchen Sie die Entwicklung der Hauptfigur im Laufe der Handlung und versuchen Sie eine schematische
Darstellung:
Vorgeschichte
Morgen der
Verwandlung
Normalität der
Verwandlung
Konflikt mit dem
Vater (WP, S 35)
Alltag nach dem WP
Ende/Tod Samsas
Arbeitsaufgabe 7
Beschreiben Sie die Verwandlung jeweils unter folgenden Gesichtspunkten …








die Verwandlung in ihrer Funktion als Entlastung / Schutz / Flucht
die Verwandlung in ihren einengenden persönlichen Lebensmöglichkeiten
die Verwandlung in ihren einengenden sozialen Lebensmöglichkeiten
die Verwandlung im Hinblick auf das familiäre System und Gregors Rolle in diesem System
die Verwandlung im Hinblick auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn
die physische Verwandlung im Laufe der Handlung
die psychische Verwandlung im Laufe der Handlung
die soziale Verwandlung im Laufe der Handlung
Arbeitsaufgabe 8
Was bedeutet Gregors Tod am Ende der Handlung für Gregor selbst? Was bedeutet er für die Familie?
für die Familie?
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Inwiefern zeichnet sich dieser Tod vorher bereits ab? Was lässt diesen Tod nur als Endpunkt einer langen
Entwicklung erscheinen?
Arbeitsaufgabe 9
Woran Gregor gestorben ist, lässt sich im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte diskutieren, zum Beispiel
Gregor verhungert und verdurstet
Gregor stirbt an seiner Unfähigkeit, sich selbst und seine Interessen zu verteidigen, an seiner Überangepasstheit
Gregor stirbt an seiner Unfähigkeit, sich aktiv dem Leben zuzuwenden und sein Leben selbst in die Hand zu
nehmen
Gregor stirbt an der Verständnislosigkeit und am Egoismus seiner Familie, insbesondere seines Vaters
Suchen Sie für die einzelnen Thesen Textbeispiele und Begründungsmöglichkeiten. Bauen Sie mindestens zwei
der Thesen zu vollständigen Argumenten aus
5. Tiefenpsychologische Analyse literarischer Texte
5.1. Vorbemerkung
Kafkas Schreiben erinnert in vielfacher Hinsicht an die Sprache der Träume. Wie in Träumen vermischen sich
Vertrautes und Befremdendes, wie in Träumen werden einzelne Elemente überklar beschrieben, wie in Träumen
werden in Kafkas Texten psychische Grundsituationen beschrieben.
Träume lassen sich – wie Märchen oder Mythen – verstehen, wenn wir sie nicht in erster Linie mit den Augen
eines Erwachsenen lesen, sondern mit den Augen eines Kindes. Das hört sich auf den ersten Blick
wahrscheinlich etwas seltsam an, ist aber ganz einfach. Wir müssen vor allem den kritisch-rationalen Blick, mit
dem Erwachsene versuchen, die Welt zu begreifen, ein Stück weit hintan stellen, und das, was wir erzählt
bekommen, einfach einmal so akzeptieren, wie es ist. Die Frage WARUM bringt uns nicht weiter.
Weiter bringen uns hingegen die Fragen nach dem WIE und dem WOZU. Diese Fragen können uns helfen
Erzählstrukturen, Bilder und Themen des Textes herauszuschälen und diese in einen Kontext zu stellen.
Solche Leitfragen können sein:

Wer ist die Hauptfigur im Text? In was für einer Lebenssituation wird uns diese Hauptfigur vorgestellt?

Was ist die Vergangenheit der Hauptfigur? Wie geht sie mit dieser Vergangenheit um?

Wo spielt das Geschehen? Welche Merkmale weist dieser Ort auf?

Mit welchen Personen steht die Hauptfigur in Beziehung? Wie ist diese Beziehung?

Was sind die zentralen Stellen im Text? (Meist ist es der Einstieg, der die Situation „definiert“, der Schluss,
der den Endzustand festmacht, und Stellen, in denen ein vorübergehend stabiler Zustand wieder
aufgebrochen wird)

Was für Symbole kennzeichnen den Text?

Wozu dient das Geschehen?

Welche (quasi gesetzmäßige) Entwicklung nimmt das Geschehen?
.......
Mit Leitfragen wie diesen ausgestattet, können wir uns der „Verwandlung“ jetzt langsam nähern.
5.2. Sprache von Märchen // Mythen // Träumen: Annäherung
Die Beschäftigung mit Trauminhalten spielt vor allem in der Tiefenpsychologie eine wichtige Rolle. Sie geht davon
aus, dass sich in Träumen unbewusste Anteile der menschlichen Persönlichkeit zeigen.
S. Freud:

Träume sind der Königsweg zum Unbewussten.
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BRP Deutsch; 3. Semester
Kafka : Verwandlung
© E. Mathis 2015
C. G. Jung:
 "Träume zeigen uns die verlorenen Teile des Selbst und unsere Entwicklungsmöglichkeiten" (Individuation)

In Träumen zeigen sich - wie in Märchen und Mythen - archetypische Grundmuster menschlichen Daseins
Erich Fromm:
 Träume können alle uns nicht bewussten Anteile unserer Persönlichkeit (Gefühle, Ängste, Wünsche, ....)
spiegeln

Im Traum erkennen wir uns oft in einer Form, die uns im Wachzustand nicht zugänglich ist.
Grundannahmen
Während des Träumens hat der Träumer // die Träumerin Zugang zu unbewusstem psychischem Material, das
ihm // ihr im Wachzustand durch die Funktion der Abwehr nicht zugänglich ist. Träume enthalten so neben
Tagesresten und Verarbeitung momentaner Umgebungsreize (Wecker) oder körperlicher Störreize (Hunger) auch
Material, indem sich unbewusste Konflikte, Wünsche, Ängste, Hoffnungen, .... spiegeln.
Wie zeigt sich das Unbewusste im Traum/Sprache des Traumes
Manifester Traum:
Traumbilder, Symbole
(oft fremdartig, „unlogisch“, ....)
entspricht in der
tiefenpsychologischen
Textinterpretation dem Text!
Verarbeitung durch






Verschiebung
Verdichtung
Symbolisierung
Latenter Trauminhalt:
unbewusstes Wissen über die eigene Persönlichkeit
unbewusste und verdrängte Emotionen
unbewusste und verdrängte Triebe
Die Sprache des Traumes
generell:
Träume sind
 a-kausal/assoziativ
 a-rational
 nicht - zeitlich / nicht-örtlich
 symbolisch
a) Symbolisierung: Symbol:



Bild, das für ein Objekt / ein Gefühl / einen Zustand steht
oft mehrdeutig (Wasser, Feuer, ...)
Unterscheidung von universellen, kulturellen und zufälligen/persönlichen Symbolen
(z. B. Symbol des Käfers, der Zimmers, des Bildes an der Wand, des Apfels, ..... in „Verwandlung“)
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b) Verdichtung:
verschiedene Gestalten mit ähnlichen Merkmalen können zu einem Traumbild "verdichtet" werden
(z. B. Verbindung der Figuren Chef, Prokurist, Vater durch ähnliche Merkmale)
c) Verschiebung:
Ein Gefühl o. ä. wird vom ursprünglichen Kontext auf einen ähnlichen, aber weniger "gefährlichen" verschoben
(Bsp: Verschiebung der Aggressivität vom Vater auf den Chef)
d) weitere Hinweise
Wir alle haben die Traumsprache einmal beherrscht und können sie wieder erlernen, wenn wir gewisse
"Spielregeln" beachten:
I. Die Traumsprache hat Ähnlichkeiten mit der Körpersprache: der Körper ist das erste Medium, mit dem ein
Kind seine Wünsche und Bedürfnisse / sein Befinden äußern kann; diese Sprache ist die direkteste Sprache; der
Körper reagiert über das vegetative System auf Gefühle und Stimmungen (z. B: Kinder schreien, erbrechen,
schlafen nicht, bekommen eine gerötete Haut, Hautausschläge, ....., wenn ihnen psychisch etwas Wichtiges fehlt;
auch wir Erwachsene reagieren psychosomatisch auf unser Erleben, wenn wir keine andere Möglichkeit haben,
unsere Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken) z. B:
Hauterkrankungen,
Erkrankungen des MagenDarm-Traktes, Verspannungen, …
II. Die Traumsprache hat Ähnlichkeiten mit der Sprache der Märchen: (Märchen waren ursprünglich
Erwachsenenliteratur; während der Zeit der Aufklärung wurden sie zur "Kinderliteratur" und in diesem
Zusammenhang
"entschärft" und v. a. von sexueller Symbolik gereinigt). Sie leben von
Bildern (Fee, Schloß, Seen, Flüsse, Tiere, gute und böse Figuren, .....). Sie sind "unlogisch" / "magisch"(Tiere
können denken und sprechen, Wunder, magische Fähigkeiten, Zahlensymbolik wie 3, 7, 12 ...; Kinder (bis zum 5.
Lebensjahr) leben in einer "magischen Phase", sie erleben die Natur als belebt/beseelt). Sie folgen einer
assoziativen Logik, die der Wirkung der Bilder folgt. Sie ist nicht räumlich / nicht zeitlich (Es war einmal ...;
Schneewittchen schläft 100 Jahre, Sieben-Meilen-Stiefel, ......). Sie wecken über Bilder Gefühle (Hexe,
Prinzessin, König, Räuber, .....)
Spielregeln, um Träume, traumähnliche Texte zu verstehen:




Vernunft, Verstand, Logik auf die Seite schieben
Gefühle aufspüren und Gefühlen folgen
Zu Bildern assoziieren
Mehrdeutigkeiten gelten lassen
Übungen um „Die Verwandlung“ traumsprachlich zu erfassen (Arbeitsaufgabe 10)
Welche Gefühle / psychischen Grundsituationen verbinden Sie mit folgenden Textstellen
Gregor fand sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt (19)
.... trotz ihrer Breite und Schwere folgte schließlich die Körpermasse langsam der
Wendung des Kopfes (S23)
Zuerst glitt er einige Male von dem glatten Kasten ab, aber endlich gab er sich
einen letzten Schwung und stand aufrecht da: auf die Schmerzen im Unterleib
achtete er gar nicht mehr, so sehr sie auch brannten (S 29)
Dann machte er sich daran, mit dem Mund den Schlüssel im Schloss umzudrehen.
Es schien leider, dass er keine eigentlichen Zähne hatte ... (S30)
Da gab ihm der Vater von hinten einen jetzt wahrhaft erlösenden starken Stoß, und
er flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein.
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Früh, als die Türen versperrt waren, hatten alle zu ihm hereinkommen wollen, jetzt,
da er die eine Tür geöffnet hatte und die anderen offenbar während des Tages
geöffnet worden waren, kam keiner mehr, und die Schlüssel steckten nun von
außen.
..., dass er sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größere
Rücksichtnahme der Familien die Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse,
die er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verursachen gezwungen
war.
Außerdem stellte sie zu dem allem noch den wahrscheinlich ein für allemal für
Gregor bestimmten Napf, in den sie Wasser gegossen hatte.
... die frischen Speisen dagegen schmeckten ihm nicht, er konnte nicht einmal ihren
Geruch vertragen und schleppte sogar die Sachen, die er essen wollte, ein Stück
weiter weg (40)
Nun war aber der Vater ein zwar gesunder, aber alter Mann, der schon fünf Jahre
nichts gearbeitet hatte und sich jedenfalls nicht viel zutrauen durfte; er hatte in
diesen fünf Jahren, welche die ersten Ferien seines mühevollen und doch
erfolglosen Lebens waren, viel Fett angesetzt und war dadurch sehr schwerfällig
geworden. (44)
Um ihr auch diesen Anblick zu ersparen, trug er eines Tages auf seinem Rücken ...
das Leintuch auf das Kanapee und ordnete es in einer solchen Weise an, dass er
nun gänzlich verdeckt war... (46)
So nahm er zu seiner Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer über die
Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben an der Decke hing er gern; es
war ganz anders als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete freier; ein leichtes
Schwingen ging durch den Körper; und in der fast glücklichen Zerstreutheit ...
konnte es geschehen, dass er zu seiner eigenen Überraschung auf den Boden
klatschte. (47)
... da sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter
Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und presste sich an das
Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohl tat. Dieses Bild wenigstens,
das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde ihm nun gewiss niemand wegnehmen....
Er saß auf seinem Bild und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht
springen.
...war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag,
wenn früher Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden
der Heimkehr im Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht
imstande war, aufzustehen, .... Nun aber war er recht gut aufgerichtet; in eine
straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet ... unter den buschigen
Augenbrauen trat der Blick der schwarzen Augen frisch und aufmerksam hervor ....
Gregor staunte über die Riesengröße seiner Stiefelsohlen.
Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb vor Schrecken
stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte sich entschlossen, ihn
zu bombardieren. Aus der Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die Taschen
gefüllt und warf nun ... Apfel für Apfel. ... Ein ihm sofort nachfliegender drang
dagegen förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte sich weiterschleppen, als
könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel vergehen;
doch er fühle sich wie festgenagelt und streckte sich in vollständiger Verwirrung
aller Sinne. (54)
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Fäden, Haare, Speiseüberreste schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten
mit sich herum; seine Gleichgültigkeit gegen alles war viel zu groß, als dass er sich,
wie früher mehrmals während des Tages, auf den Rücken gelegt und am Teppich
gescheuert hätte. (63)
Tatsächlich war Gregors Körper vollständig flach und trocken, man erkannte das
eigentlich erst jetzt, da er nicht mehr von den Beinchen gehoben war und auch
sonst nichts den Blick ablenkte.
Gregors Samsas Käfer-Existenz als Bild einer Depression
Was ist eine Depression?
Depressionen und depressive Verstimmungen sind schon seit der Antike – dort vor
allem unter der Bezeichnung „Melancholie“ bekannt. Depressive Verstimmungen kennt
wohl jeder. Eine Depression ist demgegenüber eine psychische Erkrankung, die sich
von einer Verstimmung dadurch unterscheidet, dass sie dauerhafter ist (Das heißt: Sie
vergeht nicht nach ein paar Tagen wieder, sondern dauert wochen- oder monatelang
an; jemand, der depressiv ist, kann seiner Depression auch nicht für Momente
entkommen) und dass sie stärker ist (Jemand der depressiv ist, erlebt sich selbst, sein
gesamtes Leben, die gesamte Welt unter diesem „Filter“)
Jemand, der depressiv ist, verliert die Lebensenergie, das heißt, es fällt ihm sehr schwer oder es ist ihm oft
unmöglich, scheinbar normale und alltägliche Aktivitäten wie Aufstehen, Arbeiten, ..... zu verrichten.
Jemand, der depressiv ist, verliert die Lust an jeglicher Tätigkeit und die Leichtigkeit im Tun. Alles erscheint im
anstrengend, mühevoll, extrem belastend, sinnlos.
Jemandem, der depressiv ist, fällt es sehr schwer, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Das hat mit
seinem Selbstbild, der Überzeugung, die anderen könnten ihn sowieso nicht verstehen, zu tun, aber auch damit,
dass das Verhalten (Bewegung, Sprechen) und das Erleben (Formulierung von Gedanken) oft sehr stark
verlangsamt sind und so eine Kommunikation nur schwer möglich ist. Denken und das Sprechen
Jemandem, der depressiv ist, fehlen alle positiven Energien, zum Beispiel auch eine positive Aggressivität, die
zum Schutz der eigenen Interessen vor Übervorteilungen durch andere dient.
Jemand, der depressiv ist, erlebt seine soziale Umgebung als wenig hilfreich, als überfordernd, als wenig
einfühlsam.
Jemand, der depressiv ist, erlebt sich selbst als seinen Ansprüchen und den Ansprüchen der anderen nicht
genügend. Er ist zum Beispiel davon überzeugt, nichts Wesentliches in seinem Leben zustande gebracht zu
haben, die anderen enttäuscht zu haben, chronisch versagt zu haben.
Jemand, der depressiv ist, sieht den Tod oft als Erlösung (Suizidalität)
Arbeitsaufgabe 11:
Erläutere, inwiefern sich Gregors Lebenssituation mit dem Zustandsbild einer Depression vergleichen ließe
Erläutere, inwiefern die Käfergestalt das Zustandsbild einer Depression symbolisieren könnte
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