Dr. Wolfgang Hammer Expertenanhörung zur Geschlossenen

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Dr. Wolfgang Hammer Expertenanhörung zur Geschlossenen
Dr. Wolfgang Hammer
Expertenanhörung zur Geschlossenen Unterbringung ( GU )
des Jugendhilfeausschusses Hamburg Altona am 25.3. 2015
Für das Recht in Freiheit erzogen zu werden Nein zur geschlossenen Unterbringung !
Thesenpapier
1. Offenlegung der beruflichen und persönlichen Hintergründe
- Auseinandersetzung mit der Lebenssituation von Heimkindern in offenen
und geschlossenen Heimen als Referent im Landesjugendamt Rheinland
1974 - 1981
- Mitwirkung an der Hamburger Heimreform als Leiter der Leitstelle für
Soziale Dienste 1981 - 1983 in der Hamburger Sozialbehörde
- Koordinierung der Länderposition für den Runden Tisch Heimerziehung
in den 50 er und 60 er Jahren von 2010 - 2012
- Vertreter der alten Länder in der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung
der Deutschen Einheit 1990 - 1991 , in der auch das Thema Heimerziehung
und Freiheitsentzug in Ost und West beraten wurde
- Vertreter der Jugendministerkonferenz ( JMK ) beim Runden Tisch
Sexueller Kindesmissbrauch der Bundesregierung von 2011 - 2012
- Vertreter der JMK in der Lenkungsgruppe zum
Nationalen Aktionsplan für ein Kindergerechtes Deutschland 2010 - 2012
mit dem Schwerpunkt Gewalt gegen Kinder
- Vertreter der JMK und Koordinator der Länder in der AG zur Erarbeitung des
Bundes - Kinderschutzgesetzes ( 2011 - 2012 ). Hier insbesondere:
Schutz von jungen Menschen in Einrichtungen
Fazit : Die Gefahr, dass junge Menschen Opfer von Gewalt und Entwürdigung
werden, besteht generell in allen Einrichtungen und Betreuungsverhältnissen
nicht nur der Jugendhilfe sondern auch in Schulen, Internaten,
Kirchengemeinden, Sportverbänden und am häufigsten in ihren Familien.
Je geschlossener Systeme der Abhängigkeit sind, desto größer ist die Gefahr
von Machtmissbrauch. Je geringer die Beteiligung von jungen Menschen an
allen sie betreffenden Entscheidungen gewährleistet ist, desto weniger
Chancen bestehen, Missbrauch zu verhindern oder zu erkennen und junge
Menschen zu schützen. Das gilt auch für die Kontrolle der Hilfeplanung und
die Heimaufsicht bei stationären und ambulanten Erziehungshilfen.
Bei Freiheitsentzug in der Heimerziehung sind die Systeme extrem
geschlossenen , die Gefahr von Missbrauch und Entwürdigung ist besonders
hoch. Nirgendwo sonst in der Jugendhilfe hat eine erwachsene Bezugsperson
die Macht, Freiheit zu gewähren oder zu entziehen.
2. Ergebnisse von Forschung und Wissenschaft zur Geschlossenen
Unterbringung ( GU )
Nachfolgend wird vor allem auf drei wissenschaftliche Auseinandersetzungen
mit der Thematik aus jüngster Zeit Bezug genommen. Zentrale Bedeutung hat
dabei die Langzeitstudie von Prof. Dr. Schrapper zu Auswirkungen der GU. Sie
ist die einzige aktuelle empirische Grundlage zur Wirkungsweise. In der
Fachlichen Auseinandersetzung nehmen die Abhandlungen von Prof. Dr.
Thole eine zentrale Rolle ein, der sich als Forscher schon lange mit der
Thematik auseinandersetzt. Die politische Auseinandersetzung mit GU wird
insbesondere in der jüngsten Veröffentlichung von Kunstreich/Bittscheidt
geleistet und das mit besonderen Bezug zur Geschichte der Hamburger
Jugendhilfe.
Die Forschungen zur Wirkungsweise Geschlossener Unterbringung bieten
unterschiedlich interpretierbare Ergebnisse und nehmen weder Fachleuten
noch der politischen Ebene die Verantwortung ab, wertbezogen entscheiden
zu müssen. In den Schlussfolgerungen kommen die Forscherinnen und
Forscher in keiner aktuellen Veröffentlichung zu der Aussage, dass die
geschlossene Unterbringung alternativlos die geeignete Maßnahme war. In
keiner Veröffentlichung wird geschlossene Unterbringung als institutionelles
Angebot für eine bestimmte Zielgruppe empfohlen. In der aktuellen
Langzeitstudie bleibt die Frage unbeantwortet, wie unter Bedingungen des
Freiheitsentzugs der Umgang mit Freiheit erlernt werden kann .
2.1 Auszüge/Ergebnisse aus aktuellen Veröffentlichungen
Zur Veranschaulichung folgen einige Zitate der wesentliche Ergebnisse aus
den aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Jahre 2013/2014. Die
Zitate der wesentlichen Ergebnisse sind nachfolgend kursiv gekennzeichnet.
2.1.1 Langzeitstudie zu Auswirkungen der GU
Prof. Dr. Christian Schrapper in : Empirische Befunde und pädagogische
Reflexionen zur GU in der Jugendhilfe ( Forum Jugendhilfe 4/2013, erschienen
2014 ). Der Artikel basiert auf der von Schrapper/ Sandra Menk und Vanessa
Schnorr durchgeführten Langzeitstudie zu Auswirkungen der GU , Weinheim
Basel 2013 :
Zitate/Ergebnisse :
Anlass und Auslöser für die geschlossene Unterbringung sind vor allem die
Krisen des Jugendhilfesystems - weniger die Belastungen junger Menschen.
Junge Menschen beschreiben nachträglich oft bedeutsame Erfahrungen von
Selbstwirksamkeit in der GU
Fragen nach Schuld und Verantwortung beschäftigen in besonderen Maße
Eltern, Jugendliche und Jugendämter.
Die GU hat nicht geschadet aber auch kaum etwas genützt.
Im Rückgriff auf das empirische Material haben wir kaum empirische Hinweise
finden können, dass durch die GU eine positive Wendung in lebens - und
hilfegeschichtlichen Verläufen erreicht werden konnte.
Es bleibt die Frage : Woher die Freiheit bei bei all dem Zwange ?
2.1.2 Pädagogische und Soziologische Forschung zur GU
Prof. Dr. Werner Thole ( Uni Kassel ): " Geschlossene Unterbringung
geschlossen "… in Forum Jugendhilfe 4/2013.
Zitate/Ergebnisse :
Wir leben nicht mehr im Mittelalter und das in den zurückliegenden
zweihundert Jahren gewonnene Wissen rät, Erziehung nicht als autoritär
grundierten, lediglich Anpassung bewirkenden Prozess zu verstehen. Ideen
und Konzeptionen, die davon ausgehen, dass Erziehung auf Humanität,
Solidarität, gegenseitige Anerkennung und allseitige Wertschätzung
verzichten kann, sind ein Relikt längst überwundener Zeiten.
Abschliessbare Isolationsräume und Timeout - Zonen, weitgehend
ausbruchssichere Räumlichkeiten mit ausstiegssicheren Fenstern und einem
fixierten Interieur sowie Video und Audioüberwachungssysteme zählen zur
Standardausstattung geschlossener Einrichtungen.
Zimmerdurchsuchungen und Leibesvisitationen … sowie rigide,
disziplinierende Verhaltens- Kommunikations- und Interaktionsregeln " ich gehe immer rechts neben den Erzieherinnen und gehe erst auf
Anweisung los "
" antworte mit ja oder nein "
"während des Wartens in einer Reihe und bei der Ausführung von
Hausarbeiten halte ich den Mund geschlossen"
"wenn kein Erzieher im Raum ist, unterhalte ich mich nicht mit anderen
Jugendlichen"
reglementieren und standardisieren den Alltag.
Angepasstes regelkonformes Verhalten wird mit Punkten oder Chips...positiv,
regelunangepasstes Verhalten negativ mit Chip- respektive Punkteabzug
sanktioniert.
Komplizierter ist die Situation für diejenigen Kinder und Jugendlichen, wo
eine entsprechende Bereitschaft nicht besteht oder aber die Jugendämter der
Auffassung sind, eine offene, die individuelle Freiheit zumindest weitgehend
noch gewährleistende, pädagogische Maßnahme sei aufgrund von Selbstoder Fremgefährdung nicht mehr angebracht. In diesen Fällen kann ein
Familiengericht eine freiheitsentziehende Unterbringung in einer
geschlossenen Einrichtung ermöglichen.
Zu Beginn des zurückliegenden Jahres lebten 1.059 Heranwachsende mit
einer derartigen Familiengerichtsentscheidung, gestalten ihren Alltag also
unter der permanenten Androhung, weggeschlossen zu werden. Für ungefähr
400 bis 500 Kinder und Jugendliche - genauere Zahlen liegen nicht vor - ist
diese Drohung sogar Wirklichkeit.
Pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die in
ihrem Leben schwer verletzt, ausgegrenzt und von einer
Jugendhilfeeinrichtung zur nächsten verwiesen wurden, stellt eine große
Herausforderung dar. Kinder und Jugendliche
einzusperren verletzt und
demütigt sie als Personen. Sie nützt einzig einer naiven Politik und einer
sozialen Administration, die darauf hofft, mit Härte soziale Probleme technisch
lösen zu können. Auf der Strecke bleiben bleiben die Errungenschaften einer
modernen Kinder-und Jugendhilfe und die gegebenen Möglichkeiten , Kindern
und Jugendlichen aus riskanten Lebenssituationen individuelle Wege der
positiven, selbstbestimmten Gestaltung von Leben fernab von Selbst - und
Fremdzerstörung zu eröffnen.
2.1.3 Politische und sozialpädagogische Auseinandersetzung
Prof. Dr. Timm Kunstreich/Dr. Dorothee Bittschrift : Die öffentliche
Delegitimierung ist noch nicht in Sicht - in Forum für Kinder - und
Jugendarbeit 3/2013.
Hinweis. Der Artikel ist die Wiedergabe eines Gesprächs zwischen T.
Kunstreich und D. Bittscheidt. Daher gibt es Passagen , wo auf Fragen
geantwortet wird.
Zitate:
D. Bittscheidt
Das gemeinsame Merkmal derjenigen nämlich, deren Heimkarriere in
Geschlossener Unterbringung endet, ist weder ihre Delinquenz noch ihre
Verweigerung, Hilfen anzunehmen, noch ihre häusliche Situation noch ihre
Schulabstinenz. Das gemeinsame Merkmal ist ihre weit überdurchschnittlich
hohe Anzahl von Verlegungen und Versetzungen .
Die Beendigung der auswärtigen Unterbringungen und die Reduzierung von
Maßnahme- und Einrichtungskarrieren können die Abschaffung
geschlossener Unterbringung deshalb eher befördern als jeder engagierte
pädagogische Diskurs. Die Reduzierung der auswärtigen stationären
Unterbringung aus ökonomischen Gründen ist geeignet, die geschlossene
Unterbringung insgesamt in Frage zu stellen.
T. Kunstreich
Das bedeutet also, eines der liebsten Konstrukte im herrschenden Fachjargon
aufzugeben, das Bild des besonders schwierigen Kindes, des oder der
besonders schwer zu erreichenden Jugendlichen.
Was hältst Du in diesem Zusammenhang von der Initiative der Patriotischen
Gesellschaft , eine trägerübergreifende Initiativgruppe zu bilden, die in all
denjenigen brenzlichen Situationen tätig wird, in denen Fachkräfte eine
Fremdplatzierung ausserhalb Hamburgs überlegen ?
D. Bittscheidt
Davon halte ich viel, auch deshalb, weil der Vorwurf der fehlenden Alternative
zur geschlossenen Unterbringung in einer medialen Debatte schnell das Ende
eines jeden Versuchs bedeuten kann, Barrieren erfolgreich zu nehmen.
Wichtig wäre bei einer solchen Initiative, das sie wirklich trägerübergreifend
arbeitet.
Dass diese Orientierung so sehr an Gewicht verloren hat, , ist vor allem
deshalb erstaunlich, weil doch - andererseits - die Kritik an der Versäulung
der Maßnahmen und die Forderung nach " unspezialiserter "
adressatenorientierter Hilfe im Sozialraum immer mehr fachliche Anerkennung
genießt.
3. Gesellschaftspolitische Einordnung
- GU im Spannungsfeld von Gesellschaft, Politik und Pädagogik-
3.1 GU als Folge des Scheiterns von Jugendhilfe
In einem sind sich Forschung und Praxis schnell einig. Die Entscheidung,
einen jungen Menschen mit Freiheitsentzug in Einrichtungen der Jugendhilfe
unterzubringen, ist nahezu immer eine Folge des Scheiterns vieler
misslungener Hilfeansätze, die oftmals bis in die Frühe Kindheit
zurückreichen und mit ambulanten Hilfen begannen, denen eine Reihe von
gescheiterten Fremdunterbringungen in
Inobhutnahme - Einrichtungen ,
Pflegestellen, Heimen und/ oder Wohngruppen folgte.
Den jeweiligen Bezugspersonen ist es häufig nicht gelungen , einen
tragfähigen Zugang zu diesem jungen Menschen zu finden. Zum Teil wurden
aber auch wichtige Bezugspersonen (Oma, Patentante, Pflegeeltern ,
Fachkraft ) nicht ausreichend unterstützt oder gingen durch Krankheit, Tod
oder berufliche Veränderung verloren.
Dies ist besonders häufig bei Fachkräften der Fall durch den Wechsel des
Arbeitsplatzes, Umzug und Eintritt in den Ruhestand. Umso wichtiger ist nicht
professionelle geeignete Bezugspersonen in das Hilfesystem einzubeziehen.
In den meisten Fällen gab es institutionelle Gründe für die Beendigung einer
Maßnahme - die jungen Menschen waren an der Entscheidung meist nicht
oder nur unzureichend beteiligt. Dadurch sind viele junge Menschen
willkürlich oder aus institutionellen Gründen von wichtigen Bezugspersonen
getrennt worden.
Für die fallverantwortlichen Fachkräfte bestand in diesen
Schlüsselsituationen zudem meist das Problem, dass bei der Suche nach
einer aufnahmebereiten Einrichtung alle angefragten Einrichtungen die
Aufnahme ablehnten, häufig mit der Begründung der betreffende junge
Mensch passe nicht in das Konzept der Einrichtung.
Wenn dann noch die Vermutung einer Selbst- oder Fremdgefährdung bestand,
schien die GU die einzige Lösung - als ultima Ratio . Selbst bei der Suche
nach einem Platz in einer Einrichtung mit geschlossener Unterbringung
besteht das Problem, dass Einrichtungen die Aufnahme aus konzeptionellen
Gründen ablehnen.
Fazit : GU ist Ausdruck eines Systemversagens und einer Notsituation immer
im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte - zumeist aber auch im Hinblick
auf die akute Platzierung in einer Einrichtung.
Die Ablehnung der Freiheitsentziehung als pädagogische Maßname greift
daher zu kurz, wenn nicht gleichzeitig das gesamte System der Jugendhilfe so
verändert wird, dass Orte und Personen, die Bindung und Wohlbefinden
ermöglichen, gestützt werden und junge Menschen in die Hilfeplanung
massgeblich einbezogen werden. Dazu sind sowohl veränderte Haltungen und
neue Angebotsstrukturen notwendig als auch die Stärkung der Rechte junger
Menschen, die bisher noch nicht mal ein Recht auf Hilfen zur Erziehung
haben.
3.2 Die Allmachtszuschreibung - Jugendhilfe muss immer eine Lösung haben
Das Kinder-und Jugendhilfegesetz setzt darauf, dass was immer ein junger
Mensch an Belastungen erfahren hat, die Jugendhilfe eine geeignete Hilfe
anbieten kann und muss. Diese verordnete Fürsorglichkeit weisst die
staatliche Gemeinschaft als Aufgabe ausschliesslich den Jugendämtern zu.
E l t e r n k ö n n e n s i c h v o n e i n e m a u f d e n a n d e r e n Ta g I h r e r
Erziehungsverantwortung entziehen, Schulen können Kinder wegen ihres
Verhaltens zeitweise oder auf Dauer von der Unterrichtspflicht befreien und
selbst Kindergärten und Jugendhilfeeinrichtungen können " auffällige "
Kinder ablehnen.
Das Jugendamt muss bis zur Volljährigkeit eine Lösung finden auch dann
wenn kein Träger bereit ist, eine Betreuung zu übernehmen oder die
Betreuung kurzfristig beendet wird. Auch bei starken psychischen Problemen
gibt es keine letzte Zuständigkeit bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die
Kinder-und Jugendhilfe ist dadurch der einzige gesellschaftliche Bereich , von
dem immer erwartet wird, eine Lösung zu finden.
Bei jedem jungen Menschen , der dann durch sein selbst -oder
fremdgefährdendes Verhalten öffentlich auffällt ( z. B. durch schwere
Straftaten ) hat dann die Jugendhilfe oder zumindest das Jugendamt versagt
wenn es nicht gelingt zu " reparieren " , was zuvor über viele Jahre weder
Eltern, noch Schule noch sozialpädagogischen Fachkräften gelungen ist.
Diese Zuschreibung oder die Angst davor, ist oftmals der Grund, der dazu
führt, einen jungen Menschen in einer geschlossenen Einrichtung
unterzubringen.
Die rechtliche Letzt - Verantwortung für Minderjährige kann nicht abgegeben
werden - wohl aber muss sich die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion
entscheidend verändern, die bei jedem "gescheiterten Fall" nach einen
Schuldigen sucht und eine ungute Form der Politisierung nach sich zieht. Was
wir brauchen, ist eine öffentliche und politische Diskussion über eine bessere
kind - und jugendgerechtere Jugendhilfe im Bewusstsein , dass in der
Pädagogik nicht mehr Erfolgsgarantien gegeben werden können als in allen
anderen Politikfeldern , denn niemand ist allmächtig !
4. Belastungen und Nebenwirkungen im Betrieb geschlossener Einrichtungen
Folgende spezifische Risiken und Nebenwirkungen sind mit dem Betrieb von
Einrichtungen verbunden, auch wenn sie nicht beabsichtigt sind.
4.1 Verstärkung von selbst -und fremdgefährdenden Verhalten durch die
Ballung von Problemen in einer Einrichtung
4.2. Eigendynamik negativer Zuschreibungen
- Negative Identität durch sich selbst erfüllende Prophezeiungen " Wir sind die Harten "
4.3. Paradoxon: In Unfreiheit den Umgang mit der Freiheit lernen
4.4. Schaffung extremer Abhängigkeiten und Machtgefälle
4.5. Entwürdigende " Erziehungspraktiken " als institutionelle
oder individuelle Folge von Hilflosigkeit und Überforderung
oder als Folge von Angst oder Provokation - schlimmstenfalls
als konzeptionelles Merkmal
4.6. Probleme des Beschwerdemanagement und der Heimaufsicht
bei der Innen- und Aussenkontrolle
4.7. Kontrolle der Hilfeplanung
4.8. Entlastung des Jugendhilfesystems - wenn es nicht anders geht, wird
GU zur ultima Ratio
5. Zur Rolle von Eltern/Vormündern, Jugendämtern und Gerichten
Die Geschlossene Unterbringung von Minderjährigen in Einrichtungen der
Jugendhilfe ist keine Hilfe aus dem Maßnahmenkatalog des Kinder-und
Jugendhilfegesetzes. Zusätzlich zur Entscheidung über eine Hilfe zur
Erziehung auf Antrag der Sorgeberechtigten ( Eltern, Vormünder ) durch das
Jugendamt bedarf es einer Entscheidung des Gerichts , die
Freiheitseinschränkung als Eingriff in das Grundrecht zu legitimieren. Die
Beschränkung der Freiheit wird als Grundrechtseingriff bei Volljährigen
ausschliesslich als Bestandteil der Maßnahmen der Strafjustiz verhängt. Für
die Jugendhilfe besteht das Paradoxon, dass die Maßnahme pädagogischen
Charakter bekommen soll, obwohl ein über Wochen und Monate sich
hinziehender Freiheitsentzug selbst bei kleinen Kindern niemals pädagogisch
gerechtfertigt wurde und wird.
Deshalb wurde bei der Entstehung des Kinder-und Jugendhilfegesetzes auch
von keine Seite eine Rechtsgrundlage eingefordert, um Freiheitsentzug als
pädagogische Hilfe im KJHG zu verankern - allerdings wurde auch keine
gesetzliche Regelung geschaffen, den Freiheitsentzug als pädagogische Hilfe
in derJugendhilfe auszuschließen.
6. Handlungserfordernisse
6.1. Jede Jugendhilfemaßnahme muss dem Ziel dienen, Orte des
Wohlbefindens und der Bindung zu
stärken oder neue Orte des
Wohlbefindens zu ermöglichen.
Das geht nur, wenn konsequent das Recht des Kindes im Zentrum steht. Nur
so können Jugendhilfekarrieren vermeiden werden, die als vermeintliche
ultima Ratio GU zur Folge haben.
6.2. Die Neuausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe , in der die Kinder und
ihr Wohlbefinden im Zentrum stehen, muss auf allen Ebenen geschehen. Sie
braucht Träger oder Trägerverbünde, die sowohl im Sozialraum eine Vielzahl
von Leistungen erbringen als auch Hilfen zur Erziehung anbieten. Diese
Träger brauchen den Mut, aber auch die Rückendeckung der staatlichen
Gemeinschaft mit Eltern, Pflegeeltern, Paten und anderen Bezugspersonen
und insbesondere den Kindern und Jugendlichen tragfähige Vereinbarungen
zu treffen und Lebensorte zu sichern, denen nicht durch einen beruflichen
Wechsel einer Fachkraft die Grundlage entzogen wird. Die Belegung von
auswärtigen Heimen kann und darf dabei nur Ausnahme sein.
6.3. Die Hamburger Initiativen der Stärkung von Kinderrechten, der Reform
des Pflegekinderwesens und der Schaffung von Rechtssicherheit für die
Finanzierung solcher kindergerechten Angebote durch Sozialräumliche
Finanzierungsformen zeigen den enormen Reformbedarf in der Kinder- und
Jugendhilfe auf und brauchen eine breite Unterstützung.
6.4. Unabhängige Umbudsstellen, an die sich Kinder und Jugendliche direkt
wenden können, sind zu schaffen , um Hinweisen auf Gewalt ,
Machtmissbrauch und Entwürdigung in Institutionen unmittelbar nachgehen
zu können. Hamburg sollte hiermit nicht lange warten.
Persönliches Schlussplädoyer:
Ich habe sowohl beruflich wie auch in meinen Privatleben durchgängig die
Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche auch bei sehr belasteten
Lebenssituationen und bei hoher Gewaltbereitschaft eine enorme Kraft
entwickeln, an einer Veränderung ihrer Lebenssituation mitzuwirken und
Hoffnung und Perspektive aufzubauen, wenn sie Verlässlichkeit und
Alltagshilfen von Menschen erfahren und ernstgenommen werden. Das gilt
durchgängig auch für Kinder und Jugendliche, die zuvor als nicht
gruppenfähig, familienfähig oder schwer
verhaltensgestört eingeschätzt
worden. Diese scheinbar einfache Erfahrung ist der Schlüssel für die große
Herausforderung, Jugendhilfe neu zu gestalten.
Jugendhilfe ohne Freiheitsentzug ist keine " Kuschelpädagogik " von
Träumern und Gutmenschen, sondern hoch anstrengend, riskant und immer
auch eine Auseinandersetzung mit den persönlichen Verantwortlichkeiten
jedes jungen Menschen für sein Handeln. Aber nur die Erkenntnis eines
jungen Menschen, die
Freiheit zu haben, anders als bisher zu handeln
können, bringt die Wende in sein Leben. Dabei hilft vor allem das Vertrauen in
seine Kraft und Veränderungsfähigkeit durch erwachsene Bezugspersonen
und deren Hilfe bei allen Alltagsproblemen.
Bei dem vorliegenden Forschungsstand würde in der Medizin kein
Medikament und keine Behandlungsform zugelassen werden. Dieser Maßstab
sollte erst recht Grundlage des pädagogischen Umgangs mit Kindern und
Jugendlichen sein.
Der Freiheitsentzug ist keine Lösung sondern ein Irrweg.