Geschlechterrollenbilder in Polen im späten 19. und frühen 20.

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Geschlechterrollenbilder in Polen im späten 19. und frühen 20.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .....................................................................................................................
Carmen Scheide, Natali Stegmann
Einleitung ......................................................................................................
7
9
Geschlechterrollenbilder in Polen im späten 19. und frühen 20.
Jahrhundert
Natali Stegmann
Zwischen feministischem Kampf und nationalem Opfer: Weibliche
Leitfiguren der polnischen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg ..
Mariola Siennicka
Die Warschauer Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (unter besonderer Berücksichtigung des Heiratsverhaltens) ................................................................................................
Katarzyna Sierakowska
Mutterschaft und Vaterschaft in Familien der inteligencja während der
Zwischenkriegszeit – Modell und Wirklichkeit .........................................
19
35
49
Geschlechterordnung im Umbruch: Rußland und Sowjetunion
zwischen Erstem Weltkrieg und Spätstalinismus
Elke Beyer
"Richtet den Soldaten aus, daß wir sie lieben, daß wir an sie denken
und für sie beten...". Kriegskrankenschwestern im Russischen Reich
während des Ersten Weltkrieges im Spiegel ihrer Selbstdarstellungen ... 65
Almut Bonhage
Frauenbiographien im Moskauer Arbeitermilieu in den zwanziger Jahren .................................................................................................................. 85
Carmen Scheide
Delegiertenversammlungen als "Schule des Kommunismus" .................. 105
Susanne Conze
Weiblichkeit und Männlichkeit im sowjetischen Industriebetrieb der
vierziger Jahre. ................................................................................................ 119
Biographische Beispiele aus Serbien und Galizien
Nataša Miškoviæ
”Dragi moj Mileta”. Geschlechterverhältnisse in der serbischen Jahrhundertwende im Spiegel der Familienkorrespondenz von Jelena No- 137
vakoviæ ..........................................................................................................
Dietlind Hüchtker
Subjekt in der Geschichte? Emanzipation und Selbstbehauptung,
Flucht und Verfolgung in der Autobiographie von Minna Lachs (1907- 151
1993) .................................................................................................................
Autorinnenverzeichnis ............................................................................................... 169
Vorwort
Dieser Sammelband basiert auf einer Tagung, die unter dem Titel „Emanzipationswege und -hemmnisse in den Geschichten polnischer, russischer und jüdischer Frauen“ am 2. und 3. Oktober 1998 in Frankfurt am Main stattfand. Mit Hilfe des damaligen Vertretungsprofessors Christoph Schmidt wurde dieses Projekt im Rahmen eines
Schwerpunktprogramms des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst
„Frauenbewegungen – kultureller und sozialer Wandel“ am zwischenzeitlich geschlossenen Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Frankfurt
durchgeführt. Mittels des genannten Schwerpunktprogramms konnte auch der
Sammelband realisiert werden.
Ich danke dem Ministerium und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für
ihre Initiative und die finanzielle Förderung des Vorhabens. Mein besonderer Dank
gilt Christoph Schmidt für seine Unterstützung und Carmen Scheide für ihre Bereitschaft, den vorliegenden Band mit mir zu planen und zu redigieren. Auf diesem Wege möchte ich auch den Referentinnen und Autorinnen ein herzliches Dankeschön für
ihre Mitarbeit aussprechen. Die angenehme und produktive Tagungsatmosphäre
verdankten wir außerdem den Diskutantinnen Sophia Kemlein (Deutsches Historisches Institut Warschau), Angela Rustemeyer (Seminar für Osteuropäische Geschichte, Universität Köln) und Ulla Wischermann (Zentrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse, Universität Frankfurt am Main). Schließlich
danke ich dem Verlag für die reibungslose Zusammenarbeit und dem Geschäftsführer des Palais Jalta, Matthias Vetter. Er stellte den Tagungsraum und unterstützte
mich bei den Vorbereitungen.
Ich wünsche uns allen, daß die vorliegende Aufsatzsammlung ein reges Echo findet.
Russische Wörter werden im folgenden nach der im deutschsprachigen Raum üblichen wissenschaftlichen Umschrift wiedergegeben, soweit sich nicht allgemein eine
andere Schreibweise eingebürgert hat.
Natali Stegmann
Carmen Scheide, Natali Stegmann
Einleitung
Der vorliegende Sammelband beinhaltet einige Studien zur Geschlechtergeschichte aus
dem Bereich der Osteuropäischen Geschichte.1 Erstmals wird hier in einer deutschsprachigen Publikation dieser neuere historische Forschungsansatz auf die Region
Osteuropa angewandt. Unter Osteuropa verstehen wir dabei ein Gebiet gemeinsamer
kulturhistorischer, struktureller und politischer Traditionen.2 Der behandelte Zeitraum
des 19. und 20. Jahrhunderts ist durch einschneidende Entwicklungen wie Industrialisierung, Entstehung und Aufstieg einer bürgerlichen Mittelschicht, Auflösung der
Ständegesellschaft, Emanzipationsbestrebungen und Demokratisierungsversuche gekennzeichnet. Das bürgerliche Gleichheitspostulat, welches seit der Deklaration der Menschenrechte von 1789 als Grundlage eines modernen, gerechten Zusammenlebens gilt und in
unterschiedlicher Stringenz den europäischen Reformen des 19. Jahrhunderts zugrunde
liegt, kennt historisch gesehen nur den männlichen Bürger.3 Seine Grundvoraussetzung
ist das Ende der Ständegesellschaft, welche in Preußen 1807, in Rußland 1861 und in
Russisch-Polen 1863 jeweils unvollständig auf den Weg gebracht wurde. Die Idee, daß die
bürgerliche Freiheit auch die Emanzipation der Juden, Arbeiter und Frauen umfassen
sollte, war zwar fortan nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Ihre Umsetzung erfolgte
jedoch zögerlich und spärlich. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Rußland waren
Frauen seit 1917, in Deutschland und Polen seit 1919 stimmberechtigt, jeweils im Rahmen
eines Stimmrechtes, welches auch den Klassenzensus abschaffte. In Deutschland wurde
1874/75 die Zivilehe eingeführt, in Rußland und Russisch-Polen gab es bis zum Ende des
Ersten Weltkrieges nur konfessionelle Trauungen mit allen Konsequenzen etwa für die
Unauflösbarkeit der Ehe.4
1 Zusätzlich zu den überarbeiteten Referaten der o.g. Tagung konnten wir die Beiträge von Almut Bonhage und Nataša Miškoviæ gewinnen. Leider mußte Sabine Strebel (Basel) ihren Beitrag über Berta
Pappenheims Engagement gegen den internationalen Mädchenhandel aus zeitlichen Gründen zurückziehen. Zu Tagungsbeiträgen und Diskussionsverlauf siehe ELKE BEYER Emanzipationswege und hemmnisse in den Geschichten polnischer, jüdischer und russischer Frauen (von den Reformen des 19.
Jahrhunderts bis zum Kalten Krieg). Bericht über eine Tagung des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Frankfurt am Main vom 2.-3. Oktober 1998, in: Feministische Studien 17 (1999)
H. 1 (Geschlechterverhältnisse in Rußland), S. 112-117.
2 KLAUS ZERNACK Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte. München 1977, hier besonders S. 2030; ZBYNÌK A. B. ZEMAN The Making and Breaking of Communist Europe. Oxford 1991, S. 15-26.
3 UTE GERHARD Grenzziehung und Überschreitung. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichheit, in: DIES. (Hrsg.) Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis
zur Gegenwart. München 1997, S. 64-81; UTE FREVERT „Mann und Weib und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995.
4 Zu Rußland: RICHARD STITES The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminsm, Nihilism and
Bolshevism, 2. Auflage. Priceton 1991; NATALIA PUSHKAREVA Women in Russian History. From the
Tenth to the Twentieth Century. New York u. a. 1997; zu Polen gibt es bislang keine geschichtswissenschaftliche Überblicksdarstellung. Eine kappe Einführung zur Durchsetzung des Gleichheitspostulats
10
Carmen Scheide/Natali Stegmann
Diese oben skizzierten allgemeinen Entwicklungen waren in Osteuropa spezifischen Bedingungen unterworfen. Hierzu zählt ein langes Festhalten an der Autokratie im Zarenreich und ein später Aufbruch der ständischen Gesellschaftsordnung.
Damit ging in Rußland und Polen ein langes Festhalten an Adelsprivilegien einher.
Dies führte u.a. zu einer schwachen Ausbildung des Bürgertums. Ein weiteres wichtiges Merkmal war eine im Vergleich zu Ländern wie England, Frankreich oder
Deutschland spät einsetzende Industrialisierung. Für Rußland spricht man erst seit
den 1880er Jahren von einem sogenannten take off. Im wichtigsten Teilungsgebiet Polens, dem unter russischer Verwaltung stehenden Königreich Polen, erlebten die Industriezentren £ódŸ und Warschau zu dieser Zeit einen wirtschaftlichen Aufschwung. Diese strukturellen Begebenheiten hatten ihre spezifischen Auswirkungen
auf die Gestaltung der Geschlechterverhältnisse, etwa ein starkes Bildungsstreben als
einen Weg weiblicher Emanzipation oder die enorme Radikalisierung von Frauen in
der revolutionären Bewegung in Rußland.
Es ergeben sich damit für den Zeitraum vor der Russischen Revolution im OstWest-Vergleich große Unterschiede in Wertorientierung, Lebensstandard und Alltagspraxis. Dennoch schien bis 1917 das grundsätzliche Emanzipationsstreben einer
schmalen Schicht gebildeter Frauen weitgehend den gleichen Postulaten zu folgen.
Seine Eckpfeiler waren Bildung und Stimmrecht. Mit Beginn der sozialistischen Ära
treffen wir dagegen auf einen neuen Emanzipationsbegriff, der nicht mehr den Bürger, sondern den Proletarier als gesellschaftliche Norm setzt. Während die bürgerliche Geschlechterideologie dualistische und komplementäre Männlichkeits- und
Weiblichkeitsbilder tradierte, erforderte die sozialstische Gleichheitsideologie eine
weibliche Orientierung am Ideal des männlichen Arbeiters.
Die sowjetische Geschichte, welche im Rahmen dieses Sammelbandes als einziges Beispiel sozialistischer Gesellschaften steht, verschließt sich daher aus westeuropäischer Sicht dem direkten Vergleich. Zwar ist es möglich, die Situation von Frauen „im Sozialismus" und „im Kapitalismus" miteinander zu konfrontieren. Auf diese
Art lassen sich strukturelle Benachteiligungen von Frauen in beiden Systemen nachweisen. Deren Begründung stößt jedoch schon an die analytischen Schwierigkeiten
eines direkten Systemvergleichs. Schließlich war ja gerade die Teilung Europas der
Ausgangspunkt des Interesses westlicher Forscherinnen an Osteuropa. Dabei galt die
Russische Revolution als Beginn einer neuen Gesellschaftsordnung. Der Anspruch
des Sozialismus, durch die Befreiung der "Arbeiterklasse" den "Nebenwiderspruch",
nämlich die doppelte Unfreiheit der Frauen als Lohnabhängige und Angehörige des
weiblichen Geschlechts, aufzuheben, wurde dabei auf seine Tauglichkeit, Umsetzungsversuche und Hindernisse überprüft. Manche behaupteten, die Revolution sei
der Beginn der Frauenbefreiung in Rußland gewesen. Andere sahen hier das Ende
jeglicher Emanzipationsmöglichkeiten. Zunächst schien aber eine Betrachtung der
findet sich in: SYLWIA BUJAK-BOGUSKA (Hrsg.) Na stra¿y praw kobiety. Pamiêtnik Klubu Politycznego
Kobiet Postêpowych, 1919-1930. Warszawa 1930, S. 5-27; aus literaturwissenschaftlicher bzw. philosophischer Perspektive vgl. GRA¯YNA BORKOWSKA Cudzoziemki. Studia o polskiej prozie kobiecej.
Warszawa 1996; S£AWOMIRA WALCZEWSKA Damy, rycerze i feministki. Kraków 1999.
Einleitung
11
sowjetischen Geschichte außerhalb jener Maßstäbe, welche der Marxismus-Leninismus selbst diktierte, unmöglich.5
Mittlerweile richtet sich der Blick stärker auf die vielfachen Differenzierungen
in der Sowjetgesellschaft im allgemeinen und unter Frauen im besonderen. Die Geschichten von Bäuerinnen oder Fabrikarbeiterinnen in Sowjetrußland lassen sich mit
dem Instrumentarium "marxistischer" Weltauffassung ebensowenig greifen wie mit
den Kriterien des "westlichen" Feminismus. Die Frage, inwieweit der Arbeitsalltag
einer russischen Fabrikarbeiterin im Zweiten Weltkrieg als "emanzipierend" anzusehen ist, führt an die Grenze dieses Begriffes selbst.6
Die sozialistische Bildsprache und Rhetorik rekurrierte auf Geschlechterrollenbilder, welche sich zunächst fundamental von der "bürgerlichen" Ästhetik, Sprache und Norm unterschieden. Dies zeigt sich überdeutlich an den Monumenten, welche sich der Sozialismus selber setzte.7 Frauen repräsentierten nicht mehr das
"andere" Geschlecht. Die "Arbeiterin" hatte vielmehr den Arbeiter zum Vorbild.8 Sie
sollte ihm ähnlich sein. Sie war jedoch ein Stück kleiner als er, stand einen Fußbreit
hinter ihm und unterschied sich zudem durch ihre Gebärfähigkeit von ihm. Gerade
die Frauen galten als nicht "reif" für den Sozialismus, gerade sie sollten aufgeklärt
und erzogen werden, gerade sie waren vom Ideal zu weit entfernt.9
Bei aller Verschiedenheit der Rhetorik lassen sich jedoch immer wieder verblüffende Parallelitäten in der Geschlechterordnung feststellen. Faktisch bedienten
sich sozialistische und kapitalistische Systeme ähnlicher Ausschlußmechanismen gegenüber Frauen. Dies gilt bei der Mobilisierung von Frauen für die Weltkriege, bei
der Restaurierung der Geschlechterrollen in den Nachkriegsgesellschaften und der
Festschreibung von Frauen auf die Mutterrolle, besonders in Zeiten wirtschaftlicher
Repression und demographischer Stagnation.
In die traditionell eher außenpolitisch und politik- sowie teilweise sozialgeschichtlich
ausgerichtete Osteuropäische Geschichte dringen neue historische Konzepte nur
langsam vor. Dies gilt auch für die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Dabei besteht eine Parallelität zwischen Nicht-Rezeption und Desinteresse sowohl in Osteuropa selbst als auch in zahlreichen deutschsprachigen wissenschaftlichen Institutionen.10 Vor dem Hintergrund der momentanen Verunsicherung in vielen osteuropa-
5 LINDA EDMONSON Women’s Emancipation and Theories of Sexual Difference in Russia 1850-1917, in:
MARIANNE LILJESTRÖM, EILA MÄNTYSAARI, ARJA ROSENHOLM (Hrsg.) Gender Restructuring in Russian
Studies. Confernce Papers - Helsinki, August 1992. Tampere 1993, S. 39-52, besonders S. 39-42.
6 Vgl. z.B. den Beitrag von Susanne Conze in diesem Sammelband.
7 Ein prominentes Beispiel ist die Skulptur „Arbeiter und Kolschosbäuerin“, welche 1936 von Vera
Muchina vollendet wurde.
8 Zur sowjetischen Bildsprache in den 1930er Jahren vgl. SUSAN A. REID All Stalin’s Women: Gender and
Power in the Soviet Art of the 1930s, in: Slavic Review 57 (1998) H. 1, S. 133-173.
9 Vgl. den Beitrag von Carmen Scheide in diesem Sammelband.
10 Ein Auseindandersetzung mit dem westlichen Feminismus-Konzept unternimmt die russische Soziologin ELENA ZDRAVOMYLSOVA Die Konstruktion der 'arbeitenden Mutter' und die Krise der Männlichkeit. Zur Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit im Kontext der Geschlechterkonstruktion
im spätsowjetischen Rußland, in: Feministische Studien (1999) H. 1, S. 23-34.
12
Carmen Scheide/Natali Stegmann
bezogenen Forschungseinrichtungen11 verdient die Frauen- und Geschlechtergeschichte besondere Aufmerksamkeit. Nicht nur die wachsende Zahl von Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet bestärkt uns in dieser Ansicht. Die Geschlechtergeschichte ist auch ein innovativer Forschungszweig, der zwei Chancen bietet: Zum einen hält er neue Ansätze für das Verständnis osteuropäischer Gesellschaften bereit.
Darüber hinaus läd er zur vergleichenden Forschung ein. Es existiert auf mehreren
Ebenen Bedarf zum Zusammenfügen disparater Interessenfelder. Zunächst gilt es,
unter Osteurophistorikerinnen und Osteuropahistorikern die Kategorie Geschlecht
als historisches Analysekriterium sichtbar zu machen. Außerdem möchten wir der an
Westeuropa orientierten Geschlechtergeschichte ein vertieftes Verständnis osteuropäischer Gesellschaften und ihrer spezifischen Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse ermöglichen. Bei einer zunehmenden internationalen und vergleichenden Ausrichtung dürfen die osteuropäischen Länder nicht unberücksichtigt bleiben.
Gerade mit Blick auf das historische und aktuelle Europaverständnis erlaubt eine
Einbeziehung dieser Region eine kritische Überprüfung festgefügter Denkmuster.
Schließlich befinden wir uns am Beginn eines Dialogs mit unseren Kollegen und Kolleginnen in Osteuropa. In diesem Kommunikationsnetz kommt den Osteurophistorikerinnen und -historikern eine besondere Vermittlerrolle zu. Insbesondere der Umgang mit Begriffen ist durch die unterschiedlichen historischen und sozialen Voraussetzungen in Ost- und Westeuropa geprägt und bedarf auf beiden Seiten eines vertieften Verständnisses als Voraussetzung einer erfolgreichen Kommunikation.
Die Geschlechtergeschichte als Weiterentwicklung von Frauengeschichte fordert Historiker und Historikerinnen zu einem Überdenken allgemeiner Kategorien,
Ordnungsmerkmale und Wahrnehmungsmuster auf. Dies führt vor dem Hintergrund des Auseinanderbrechens der ‘allgemein’ gedachten Einheit der Geschichte zu
einer Neudefinition des Geschichtskonzeptes.12 So erscheint die Kategorie Geschlecht
als eine grundlegende, allgemeine historische Kategorie. Ebenso wie Klasse und Nationalität dient sie zur sozialwissenschaftlichen Analyse. Dabei wird zwischen biologischem Geschlecht (sex), und sozialem Geschlecht (gender) unterschieden. Dem biologischen Geschlecht haftet ein stets mitgedachter Determinismus an. Das soziale Geschlecht beschreibt die soziale Organisation von Differenz, die alle gesellschaftlichen
Bereiche umfaßt, indem sie körperlichen Unterschieden soziale Bedeutung zuschreibt.13 Das Forschungsinteresse richtet sich nicht mehr allein auf die Sichtbarma11 In der Zeitschrift „Osteuropa“ findet seit August 1998 eine Diskussion über die Legitimität und die
Leistungsfähigkeit des Faches Osteuropäische Geschichte statt. Hintergrund ist die allgemeine Frage,
inwieweit nach dem Ende der Blockbindung und des Sozialismus eine spezifische OsteuropaWissenschaft sinnvoll und notwendig ist. Hiervon ist auch die Politologie betroffen, deren auf Osteuropa bezogenen aktuellen Probleme und Herausforderungen ebenfalls in der genannten Zeitschrift
diskutiert werden.
12 KARIN HAUSEN Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: HANS MEDICK, ANNE-CHARLOTT
TREPP (Hrsg.) Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 15-55.
13 JOAN WALLACH SCOTT Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986) Nr. 5, S. 1053-1075.
Einleitung
13
chung der Geschichte von Frauen sondern umfasst diskursive Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie auf verschiedenen Ebenen von Alltag, Politik, Kultur, Medizin, Bildung, Kunst sowie etwa in nationalen und wissenschaftlichen Diskursen bis hin zur Symbol- und Bildsprache eingeschrieben sind.14 Die Geschlechterverhältnisse unterliegen in ihrer historischen Bedingtheit grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsmechanismen. Sie sind integraler Bestandteil gesellschaftlicher
Machtverhältnisse sowie sozialer Hierarchien und werden hier reproduziert.15
Für den Bereich Osteuropa entstanden in den vergangenen Jahren vor allem im angelsächsischen Raum zahlreiche wegweisende Forschungen unter Anwendung des
Geschlechteransatzes. Dort sind Women Studies und Gender Studies besser in der Wissenschaftslandschaft verankert als im deutschsprachigen Raum, sowohl institutionell
als auch in der allgemeinen Rezeption.16 Kritisch anzumerken ist jedoch, daß sich
dort eine starke Zentrierung auf den europäischen Teil Rußlands und der Sowjetunion abzeichnet und andere Kultur- und Sprachräume innerhalb Osteuropas kaum Beachtung finden. Diese Tendenz läßt sich teilweise auch für die deutschsprachige Forschung feststellen, wenngleich hier innerhalb der osteuropäischen Geschichtswissenschaft besonders die polnische und seit einigen Jahren auch die Geschichte der Juden
und Jüdinnen in Osteuropa den Blick erweitert. Letztere wird oftmals nicht als Teilgebiet, sondern als eigene Disziplin im Verbund Jüdischer Studien betrachtet, wodurch eine institutionelle Abgrenzung stattfindet.17 Auch in Deutschland entstanden
14 Zur Auseinandersetzung mit der Männergeschichte als Teil der Geschlechtergeschichte siehe THOMAS
KÜHNE (Hrsg.) Männergeschichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt/M. 1996; MARTIN LENGWILER
Aktuelle Perspektiven der historischen Männlichkeitsforschung im angelsächsischen Raum, in: traverse (1998) H. 1, S. 25-34.
15 Vgl z.B. KARIN HAUSEN (Hrsg.) Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung: Zur Geschichte ungleicher
Erwerbschancen von Männern und Frauen. Göttingen 1993; ANGELIKA WETTERER Theoretische Konzepte zur Analyse der Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Berufen, in: DIES. (Hrsg.) Profession und Geschlecht. Über die Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Berufen. Frankfurt/M.
1992, S. 13-40. Siehe dazu auch die Arbeit von REGINA WECKER "Weiber sollen unter keinen Umständen
in der Nachtarbeit eingesetzt werden...". Zur Konstituierung von Weiblichkeit im Arbeitsprozeß, in: C.
EIFERT u.a. (Hrsg.) Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen
Wandel. Frankfurt/M. 1996, S. 196-215; REGINA WECKER Zwischen Ökonomie und Ideologie. Arbeit im
Lebenszusammenhang von Frauen im Kanton Basel-Stadt 1870-1910. Zürich 1997.
16 Aus den zahlreichen Veröffentlichen seien hier nur einige genannt. LAURA ENGELSTEIN The Keys to
Happiness. Sex and the Search for Modernity in Fin-de-Si`ecle Russia. Ithaca 1992; ELIZABETH A. WOOD
The Baba and the Comrade. Gender and Politics in Revolutionary Russia. Bloomington 1997; BARBARA
ALPERN ENGEL Between the Fields and the City. Women, Work, and Family in Russia, 1861-1914. Cambridge 1995; WENDY ZEVA GOLDMAN Women, the State and Revolution. Soviet Family Policy and
Social Life, 1917-1936. Cambridge 1993; ANNE BOBROFF-HAJAL Working Women in Russia under the
Hunger Tsars: Political Activism and Daily Life. Brooklyn 1994; BARBARA EVANS CLEMENTS Bolshevik
Women. Cambridge 1997; ANNE E. GORSUCH "A Women is not a Man": The Culture of Gender and Generation in Soviet Russia, 1921-1928, in: Slavic Review 55 (1996) Nr. 3, S. 636-660; MARTHA BOHACHEVSKY-CHOMIAK Feminists Despite Themselves: Women in Ukrainian Community Life, 18841939. Edmonton 1988; HELENA GOSCILO, BETH HOLMGREN (Hrsg.) Russia - Women - Culture. Bloomington 1996.
17 MONICA RÜTHERS Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Köln 1996;
BIANKA PIETROW-ENNKER Rußlands "neue Menschen". Die Entwicklung der Frauenbewegung von den
14
Carmen Scheide/Natali Stegmann
in den letzten Jahren überwiegend Monographien zur Frauen- und Geschlechtergeschichte in Rußland.18
In den vergangenen zehn Jahren setzte sich die Geschichtswissenschaft auch in
einigen Ländern Osteuropas mit dem geschlechterhisorischen Ansatz auseinander.
Die Hinterfragung sozialer Geschlechterdifferenzen stößt dort jedoch oft auf Unverständnis, da die soziale Auslegung biologischer Ungleichheit nicht als eine kulturelle
Praxis, sondern als "natürliche" Gegebenheit verstanden wird. Deshalb sehen es beispielsweise russische Kolleginnen und Kollegen als ausreichend an, Frauen – wenn
sie überhaupt Gegenstand historischer Forschung sind – im traditionellen Kontext
von Familie, Ehe und Kindererziehung darzustellen.19 In Polen entstand um die
Warschauer Historikern Anna ¯arnowska eine Schule zur Frauengeschichte.20
Mit den Begriffen Normsetzung und -überschreitung wurde der Rahmen für die hier
zusammengestellten Beiträge gewählt. Sie behandeln die Frage nach der gesellschaftlichen Verankerung von Geschlechtlichkeit und ihrer Bedeutung für verschiedene
Subjekte und sozial-kulturelle Gruppen an einigen Beispielen. Einerseits sind damit
die sich wandelnden normativen Geschlechterbilder und ihre historiokulturelle Verankerung in den Blick genommen. Andererseits wird Geschlechtlichkeit als eine Facette der subjektiven Identität und der gesellschaftlichen Organisation untersucht.
Am Beginn stehen drei Beiträge über Polen, welche aus unterschiedlichen Perspektiven Einblicke in die Geschlechterordnung verschiedener gesellschaftlicher Milieus
geben. Neben der Frauenbewegung (1905-1914) ist dies die Bougeoisie (bis 1914) und
die inteligencja der Zwischenkriegszeit. Im zweiten Teil des Buches sind vier Beiträge
über Rußland bzw. die Sowjetunion enthalten. Zunächst geht es hier um die GeAnfängen bis zur Oktoberrevolution. Frankfurt/M. 1999. Das Deutsche Historische Institut (DHI)
Warschau hat es sich seit einigen Jahren zur Aufgabe gemacht, regelmäßig wissenschaftliche Konferenzen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte durchzuführen.
18 ANGELA RUSTEMEYER Dienstboten in Petersburg und Moskau 1861-1917. Stuttgart 1996; BEATE FIESELER
Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890 bis 1917. Stuttgart 1995; DIANA SIEBERT
Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921-1941). Die Zerstörung patriarchalischer
Familienwirtschaft. Stuttgart 1998; NADA BOŠKOVSKA Die russische Frauen im 17. Jahrhundert. Köln
1998; ANNA KÖBBERLING Das Klischee der Sowjetfrau. Stereotyp und Selbstverständnis Moskauer
Frauen zwischen Stalinära und Perestroika. Frankfurt/M. 1997. Aus aktuellen Arbeiten sind kurze
Einblicke in diesem Sammelband enthalten.
19 Abgesehen von engagierten Sozialwissenschaftlerinnen in verschiedenen feministischen Zentren, etwa
im Moskauer Center for Gender Studies, die v.a. aktuelle Probleme analysieren, beschäftigt sich vorrangig NATAL'JA L. PUŠKAREVA mit der historischen Frauen- und Geschlechterforschung. DIES. Èastnaja
bizn' russkoj benšèiny: nevesta, bena, ljubovnica (10.-naèalo 19. v.). Moskva 1997; DIES. Gendernye issledovanija: robdenie, stanovlenie, metody i perspektivy, in: Voprosy Istorii (1998) Nr. 6, S. 76-86.
20 Es entstanden zahlreiche Sammelbände, zudem finden regelmäßige Tagungen statt. Einen Überblick
bietet: NATALI STEGMANN Von „Müttern der Nation“ und anderen Frauen. Zum Stand der hisorischen
Frauenforschung in Polen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998) H. 2, S. 269-275. Außer
den dort besprochenen Bänden ist inzwischen erschienen: ANNA ¯ARNOWSKA, ANDRZEJ SZWARC
(Hrsg.) Kobieta i kultura ¿ycia codziennego wiek XIX i XX. Warszawa 1997; in den „Feministischen
Studien“ soll ein Bericht von Mariola Siennicka über die Warschauer Aktivitäten erscheinen. In Ungarn existiert seit einigen Jahren an der Central European University eine Abteilung für Women Studies. ANDREA PETÖ, MARK PITTAWAY (Hrsg.) Women in History - Women's History: Central and
Eastern European Perspectives. Budapest 1994.
Einleitung
15
schichte der Rotkreuzschwestern im Ersten Weltkrieg. Die weiteren Beiträge beschäftigen sich mit Arbeiterfamilien während der NµEP (Neue Ökonomische Politik,
1921-1928), den Delegiertenversammlungen (1919-1930) und der Geschlechterordnung sowjetischer Industriebetriebe in den vierziger Jahren. Sie untersuchen die Intentionen und die Tragfähigkeit sowjetischer „Emanzipationspolitik“. Schließlich endet der Band mit zwei biographischen Fallbeispielen. Analysiert werden einerseits
die Biographie der aus Galizien stammenden Jüdin Minna Lachs (1907-1993), geborene Schifman und andererseits die Familienkorrezpondenz der Serbin Jelena Novakoviæ (geb. 1845 unter dem Namen Kujundbiæ). Der letztgenannte Beitrag bietet einen
knappen Einblick in die weitgehend unerforschte serbische Geschlechtergeschichte.
Natali Stegmann
Zwischen feministischem Kampf und nationalem Opfer:
Weibliche Leitfiguren der polnischen Frauenbewegung vor
dem Ersten Weltkrieg
„Feurige und tatkräftige Frauen, aufgewachsen im Sonnenglanz der enthusiastischen romantischen Poesie [....] suchten vergebens in ihrer Umgebung Männer, deren Überlegenheit
sie bewundern und auf deren Kraft sie sich stützen konnten. Sie mussten erkennen, dass sie
nicht nur sich selber raten und helfen, sondern auch selbständig auf das Wohl des Volkes
bedacht sein mussten, dass sie selbst für die Zukunft zu kämpfen haben würden, wenn sie
nicht in trostloser Indolenz und Apathie untergehen wollten.“1
Diese Worte Iza Moszczeñskas (1864-1941) stellen die hohen gesellschaftlichen Anforderungen an Polinnen als Folge männlichen Unvermögens dar. Nach der Niederschlagung des Januaraufstandes 1863 durch die russische Teilungsmacht präsentierten sich polnische Männer demnach in der Rolle des gescheiterten Helden. Frauen
mußten daher im russisch beherrschten Königreich Polen die Alltagsgeschäfte einerseits und die Sicherstellung des nationalen Überlebens andererseits in die Hand
nehmen. Die primäre Sozialisation Moszczeñskas war, wie die zahlreicher anderer
polnischer Feministinnen, durch die sozialen und kulturellen Verhältnisse im verarmten Adel geprägt. Der polnische Kleinadel (szlachta) hatte zwar politisch, nicht
aber ökonomisch die Führungsschicht der 1795 gänzlich unter dem Zarenreich, der
Habsburger Monarchie und Preußen aufgeteilten rzeczypospolita gestellt.2 Er galt als
Trägerschicht der zusehends überlebten romantischen Aufstandsideologie. Der fortschreitende ökonomische und ideelle Bankrott der szlachta kulminierte im Königreich
Polen in den Erfahrungen von 1863. Insbesondere war es den sich auf die Tradition
der sogenannten „Adelsrepublik“ berufenden Aufständischen nicht gelungen, die
polnischen Bauern auf ihre Seite zu bringen. Die von der russischen Teilungsmacht
1863 durchgeführte Bauernbefreiung entsprach dem Versuch, die polnischen Bauern
an diese zu binden. Der polnische Adel verlor in Folge der nun durchgeführten
Landreform seine patrimonialen Rechte auf dem Land. Die harschen Strafmaßnahmen gegen die Aufständischen führten außerdem zu über 11.000 Verschickungen
nach Sibirien. In 1.660 Fällen wurden Güter konfisziert.3 Eine spezifische Folge der
Aufweichung ständischer Strukturen war in Polen die nachhaltige Schwächung der
männlichen Elite. Angehörige des verarmten Adels verdienten in den Intelligenzbe1 I[SABELLA] MOSZCZEÑSKA Die Geschichte der Frauenbewegung in Polen, in: HELENE LANGE, GERTRUD
BÄUMER (Hrsg.) Handbuch der Frauenbewegung, Bd. 1. Berlin 1901, S. 350-360, hier S. 352.
2 Zum Adel: MICHAEL G. MÜLLER Der polnische Adel von 1750 bis 1863, in: HANS-ULRICH WEHLER
(Hrsg.) Europäischer Adel 1750-1950 (=Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 13). Göttingen 1990, S.
217-242.
3 JÖRG K. HOENSCH Geschichte Polens. Stuttgart 1998 (3. Auflage), S. 218; ANDREA SCHMIDT-RÖSLER Polen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 1996, S. 94.
20
Natali Stegmann
rufen nur unzureichend. Im Staatsdienst fanden Polen nur noch selten eine Anstellung. Der politische Einfluß polnischer Männer war sehr gering. Ihr tradierter männlicher Führungsanspruch litt erheblich unter der Fremdherrschaft. Die inteligencja,
welche nun die geistige Anleitung der polnischen „Gesellschaft ohne Staat“ übernahm, zeichnete sich durch ein ungesichertes Dasein in den gesellschaftlichen Nischen aus.4
Da das Projekt eines heroischen Volksaufstandes gescheitert war, waren die
auf die Rolle einer bessergestellten Ehefauen vorbereiteten adligen Töchter nun zur
Erwerbsarbeit gezwungen. So lautet jedenfalls die kaum hinterfragte Grundfigur
zahlreicher Darstellungen zur Genese des polnischen Feminismus.5 Darin werden für
das Elend der Polinnen nicht die polnischen Männer, sondern neben dem Ende der
Ständegesellschaft und der forcierten Industrialisierung auch die politischen Repressionen der Teilungsmächte verantwortlich gemacht, insbesondere die Russifierungsund Germanisierungspolitik der 1860er und 1870er Jahre. Exemplarisch personifiziert
die Titelfigur des erstmals 1873 erschienen Romans „Marta“ von Eliza Orzeszkowa
das Schicksal der nachaufständischen Frauengeneration. Die junge verwitwete Marta
muß auf ihrer Suche nach bezahlter Arbeit feststellen, daß ihre Fähigkeiten nicht gut
genug entwickelt sind, um einen Erwerb für sich und ihre Tochter zu sichern. Ihre
Tragödie kulminiert nach zahlreichen Kämpfen und Kränkungen im Tod der Heldin.
Nachdem sie einen Diebstahl begangen hat, wird sie von einer aufgebrachten Menge
verfolgt und schließlich unter eine Straßenbahn getrieben.6 Der Roman wird allgemein als Appell für bessere Bildungs- und Ausbildungschancen für Frauen verstanden.7 Die Darstellung unausgebildeter ‘höherer’ Tochter als Opfer einer schonungslosen Abrechung der russischen Besatzer mit der polnischen Bevölkerung orienierte
sich an der Misere des Adels. In diesem Milieu führten die sozialen Freisetzungserfahrungen zur Auflösung tradierter Bindungen und Geschlechterrollenzuweisungen.
Die Lage von Arbeiterinnen und Bäuerinnen fand in dieser Anschauung keinen Platz.
4 Zur inteligencja: NORA KOESTLER Intelligenzschicht und höhere Bildung im geteilten Polen, in: WERNER
CONZE, JÜRGEN KOCKA (Hrsg.) Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich (=Industrielle Welt, Bd. 38). Stuttgart 1984, S. 186-206;
RYSZADA CZEPULIS-RASTENIS „Klasa Umys³owa“. Inteligencja Królestwa Polskiego 1832-1862. Warszawa 1973.
5 CECYLIA WALEWSKA Ruch kobiecy w Polsce. Warszawa 1909, S. 10-26; CECYLIA WALEWSKA W walce o
równe prawa. Nasze bojownice. Warszawa 1930, S. 5-11; PAULINA KUCZALSKA-REINSCHMIT Nasze
drogi i cele. Lwów 1897, S. 10-13; DIES. Z historyi ruchu kobiecego, in: G³os kobiet w kwestyi kobiecej.
Kraków 1903, S. 232-339, hier S. 266-272, 311-325; SYLWIA BUJAK-BOGUSKA (Hrsg.) Na stra¿y praw kobiet. Pamiêtnik Klubu Politycznego Kobiet Postêpowych. Warszawa 1930. S. 6-10; BIANKA PIETROWENNKER Women in Polish Society. A Historical Introduction, in: BIANKA PIETROW-ENNKER, RUDOLF
JAWORSKI (Hrsg.) Women in Polish Society. New York 1992, S. 1-30; GRA¿YNA BORKOWSKA Literatura i
„geniusz kobiecy“: Wiek XIX, wiek XX, in: ANNA ¯ARNOWSKA, ANDRZEJ SZWARC (Hrsg.) Kobieta i kultura. Kobiety wœród twórców kultury intelektualnej i artystycznej w dobie rozbiorów i niepodeleg³ym
pañstwie polskim. Warszawa 1996, S. 29-43.
6 ELIZA ORZESZKOWA Marta. Berlin (Ost) 1984.
7 Vgl. z. B. PIETROW-ENNKER Women in Partitioned Poland, S. 20f.; BUJAK-BOGUSKA (Hrsg.) Na stra¿y
praw kobiety, S. 8f.
Mariola Siennicka
Die Warschauer Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 19.
und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (unter besonderer Berücksichtigung des Heiratsverhaltens)
Warschau wurde im 19. Jahrhundert zum wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Zentrum des geteilten Polens. Die Stadt war trotz des Verlustes der Hauptstadtfunktion in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die meist bevölkerte und größte
des Königreich Polens. Ihre Einwohner bildeten im Untersuchungszeitraum, 1850 bis
1914, ein wahres Konglomerat verschiedener Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse.1 Veränderungen in der religiös-nationalen Bevölkerungsstruktur Warschaus
waren die Folge von Bevölkerungsbewegungen, vor allem des Zustroms aus anderen
polnischen Gebieten sowie aus dem Ausland.
In den Jahren 1815 bis 1830 zogen 50.000 Personen ins Königreich Polen zu, angelockt durch die Industrialisierungsiniativen staatlicher Institutionen und privater
Unternehmen. Die damalige stabile politische Situation wirkte sich günstig auf die
wirtschaftlichen Verhältnisse aus, um so mehr, als die Regierung des Königreich Polens die wirtschaftliche Entwicklung des Landes als ein vorrangiges Gebot ansah. In
den polnischen Gebieten entwickelten sich kapitalistische Verhältnisse, vergrößerte
sich das Absorbationsvermögen des Marktes, entstand Geldwirtschaft. In dieser
Konstitutionsphase wuchsen bis zur Jahrhundertmitte die Gewinne der Warschauer
Bourgeoisie2 immer stärker. Unter gesellschaftlichen Aspekten lebte sie jedoch getrennt von den ihnen gegenüber mißtrauischen bis dahin einzig besitzenden Klassen,
der Aristokratie und dem Adel (szlachta).
1 Siehe Tabelle
Religiöse Zusammensetzung der Warschauer Bevölkerung in Prozent
1810
1850
1882
1897
1913
römisch-kath.
72,0
65,0
58,0
57,0
55,0
jüdisch
18,0
26,0
33,0
35,0
37,0
evangelisch
8,8
7,3
4,6
3,0
2,5
andere
0,2
1,7
4,4
5,0
5,5
zusammen
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Quelle: W. PRUSS Sk³ad wyznaniowo-narodowoœciowy ludnoœci Warszawy w XIX i na pocz¹tku XX
wieku w: Spo³eczeñstwo Warszawy w rozwoju historycznym. Warszawa 1977, S. 378; J. WIŒNIEWSKA
Spo³ecznoœci narodowe Warszawy XIX i pocz¹tku XX w., in: PETER SALNER, ANDRZEJ STAWARZ Miasto
i kultura. Warszawa - Bratys³awa. Etniczne i spo³eczne zró¿nicowanie miasta (do 1939 r.). Warszawa
1997, S. 7-24.
2 Anmerkung der Übersetzerin: Der Begriff Bourgeoisie wird als Übersetzung des polnischen Wortes
bur¿uazja synonym mit „Finanzbürgertum“ benutzt.
36
Mariola Siennicka
Die zweite Phase der Entwicklung des Kapitalismus in den polnischen Ländern datiert von 1850 bis 1880. Sie brachte die Fortdauer oder Genese bürgerlicher Karrieren.
Die Bankhäuser engagierten sich in der Industrie, woraus ein Übergewicht des industriellen Kapitals gegenüber dem bis dahin vorherrschenden Handelskapital resultierte. Es entwickelte sich auch ein modernes Kreditsystem: Im Jahre 1870 gründete
Leopold Kronenberg die Handelsbank. In den ersten Jahren ihrer Existenz bearbeitete
sie Kredite im Wert von 300 bis 400 Millionen Rubel. 1871 entstand die zweite private
Bank, die Diskontbank (Hauptteilhaber war die Familie Epstein).
Im besprochenen Zeitraum ist eine zunehmende Differenzierung wirtschaftlicher Tätigkeiten zu beobachten: man entschied sich für finanzielle, industrielle oder
Handelsoperationen. Die Gruppe der Kapitalisten stabilisierte sich unter ökonomischen Gesichtspunkten, war jedoch in sich nicht homogen. Sie umfaßte Millionäre,
Mittelständler und Kleinunternehmer. Im Laufe der Jahre, mit dem Fortbestand des
wirtschaftlichen Systems und einer gleichbleibenden Gruppe von Kapitalisten, vergrößerte sich die Disproportionalität zwischen den gegebenen Vermögensschichten.3
Die Elite, geschätzt auf 10 bis 15 Prozent der gesamten Bourgeoisie, war ökonomisch
erstarkt und überwand nun auch schrittweise ihre vormalige Isolation von der polnischen Gesellschaft.
Die bisherigen Schätzungsversuche zur Zahl der Angehörigen der Warschauer Bourgeoisie im 19. Jahrhundert führten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Da vorliegender Aufsatz die sogenannte Großbourgeoisie betrifft, kann das existierende Zahlenmaterial folgendermaßen ausgelegt werden: Die Schicht der Warschauer Bourgeoisie
umfaßte bis zur Jahrhundertmitte einige tausend, im Zeitraum von 1850 bis 1880 um
die 20.000, an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert (1881 bis 1914) nicht mehr als
40.000 Personen.4 Die Bourgeoisie des Königreichs Polen, und mithin Warschaus,
setzte sich aus einheimischen und eingewanderten Personen zusammen, darunter
Deutsche, Franzosen und Schweizer, oftmals jüdischer Herkunft. 5
Die nationale Zusammensetzung der fraglichen Gruppe erforschte unter Auswertung
der Klientenkarteien verschiedener Notariatskanzleien Joanna Hensel. Die Ergebnisse
ihrer Arbeit stellt Tabelle 1 dar.
Die zitierte Forscherin konstatiert, daß sich im Laufe der Jahrzehnte der Anteil
an Unternehmern polnischer Herkunft verringerte. Ihrer Meinung nach „war der
Übergang zu kapitalistischen Formen der Produktion von der Einwanderung nicht-
3 JOANNA HENSEL Bur¿uazja warszawska II po³owy XIX wieku w œwietle akt notarialnych. Warszawa
1979, S. 149.
4 Auf der Grundlage der Schätzungen von: STEFAN KIENIEWICZ Spo³eczeñstwo Warszawy w okresie
rozbiorów, in: Spo³eczeñstwo Warszawy w rozwoju historycznym. Warszawa 1977, S. 54-67; HENSEL
Bur¿uazja warszawska, S. 105, J. TARGALSKI Warszawa i jej spo³eczeñstwo na prze³omie lat 60- i 70tych XIX wieku, in: Spo³eczeñstwo Warszawy, S. 237; EWA KACZYÑSKA Bur¿uazja, in: WITOLD KULA,
JANINA LESKIEWICZOWA (Hrsg.) Przemiany spo³eczne w Królestwie Polskim 1815-1864. Warszawa
1979, S. 310.
5 R. KO£ODZIEJCZYK Bur¿uazja warszawska do 1918 roku, in: Spo³eczeñstwo Warszawy, S. 431.
Katarzyna Sierakowska
Mutterschaft und Vaterschaft in Familien der inteligencja
während der Zwischenkriegszeit – Modell und Wirklichkeit
Im allgemeinen werden die Begriffe Mutterschaft und Vaterschaft im Zusammenhang mit Betreuungs- und Erziehungspflichten Erwachsener gegenüber Kindern verstanden. Weiterhin lassen sich Vorbilder „guter“ Mütter und Väter anhand einer
Analyse der Massenmedien aufzeigen, in der Zwischenkriegszeit vorrangig der Presse. Dieses allgemeine Verständnis von Vaterschaft und Mutterschaft ist jedoch nur
eine der zu untersuchenden Ebenen. Eine andere Ebene ist die Wahrnehmung der
Mutter und des Vaters aus der Sicht der Kinder. Sie ergänzt unsere Vorstellung von
der sozialen Rolle der Eltern. Einige Forscher verwerfen entsprechende biographische Quellen wegen ihrer großen Subjektivität. Für die vorliegende Fragestellung
scheint jedoch gerade die Einbeziehung subjektiver und emotionaler Elemente aufschlußreich. Dies gilt selbst, wenn man berücksichtigt, daß die eigene Kindheit in der
Rückschau älterer Menschen überwiegend verzerrt wahrgenommen und zumeist
idealisiert, manchmal aber auch auf übertrieben negative Art dargestellt wird.
Mutterschaft und Vaterschaft lassen sich ebenfalls als Teil der sozialen Rollen
von Frauen und Männern betrachten. Die Frage, wie Eltern ihren Erziehungsaufgaben nachkamen, lenkt den Blick auf den Platz von Müttern und Vätern in der für
Männer und Frauen unterschiedlichen gesellschaftlichen Hierarchie. Welchen Einfluß
hatte die Elternschaft auf die beruflichen Karrieren der Mütter und Väter? Wurde es
von anderen Männern anerkannt, wenn Väter Aufgaben der Kinderpflege übernahmen? Wie war die Einstellung zu Müttern und Vätern, die ihre Kinder alleine aufzogen? Wie war schließlich das Verhältnis des Staates zu Mutter- und Vaterschaft?
Dank einer gesetzgeberischen Initiative von weiblichen Abgeordneten und Senatorinnen wurden Gesetze zum Mutterschutz verabschiedet. Sie garantierten Müttern finanzielle Beihilfen zur Geburt und Betreuung. Es wurden ebenfalls bezahlter
Urlaub vor der Entbindung und während des Wochenbettes eingeführt. Arbeitgeber
wurden weiterhin verpflichtet, Stillpausen zu gewähren. In der Verfassung vom
März 1921 wurde die Diskriminierung von Frauen aufgehoben, allerdings wurde die
Gleichberechtigung in der Praxis häufig nicht verwirklicht. Am sichtbarsten war die
Benachteiligung von Frauen im Bereich der Berufstätigkeit. Männer sahen deren Erwerbsarbeit besonders in verantwortungsvollen Positionen nicht gerne. Aber auch
Frauen selbst hatten unterschiedliche Haltungen zur beruflichen Arbeit. Statistiken
besagen, daß unter den beruflich aktiven, geistig arbeitenden Frauen 70 Prozent alleinstehend und jung waren. Mit zunehmendem Alter verringerte sich die Anzahl berufstätiger Frauen in diesem Bereich, vor allem weil diese Familien gründeten und
50
Katarzyna Sierakowska
Kinder bekamen.1 Wahrscheinlich ließen die zusätzlichen Verpflichtungen wenig Zeit
für Aktivitäten außerhalb des Hauses. Die Ausformung der Vaterschaft orientierte
sich an traditionellen Mustern. Der Mann war als Familienoberhaupt in Polen wie
auch in den anderen Ländern Europas nicht für die unmittelbare Kinderbetreuung
verantwortlich. Zwar forderten moderne Postulate eine Ausweitung des väterlichen
Einflusses auf die Erziehung der Kinder. Es wurde jedoch noch keine Notwendigkeit
gesehen, gesetzgeberisch in diesen Prozeß einzugreifen.
Die innerfamiliären Beziehungen, die von den unmittelbar beteiligten Personen
oft als intim behandelt wurden, sind eine aus den Quellen schwer zu erfassende Materie. Bestimmte Aspekte werden absichtlich verschwiegen, andere gehen als ganz
normale Vorkommnisse neben bedeutenderen Lebensereignissen unter. Gewöhnlich
ist die Rolle des Vaters als eine Autorität, als Person, die auf die Wahl des Lebensweges Einfluß nimmt, in den Quellen stärker exponiert als die alltäglichen von der Mutter verrichteten Tätigkeiten.
Quellengrundlage der folgenden Betrachtungen sind Artikel aus Zeitschriften
sowie Frauenmagazinen, die sich mit der Erziehungsproblematik beschäftigten. Zu
erwähnen sind dabei Periodika wie Dziecko i Matka (Kind und Mutter), M³oda Matka
(Junge Mutter), Rodzina i Dziecko (Familie und Kind), Wiek Szkolny (Schulalter), Moje
Dziecko (Mein Kind), und Bluszcz (Immergrün). Die hierin erschienenen Artikel sowie
Informationen aus verschiedenen Ratgebern erlauben eine Rekonstruktion der für eine gute Mutter und ein guten Vater als grundlegend angesehenen Charaktereigenschaften. Sie ermöglichen auch eine Analyse der aus den Bedürfnissen des Kindes
hergeleiteten Pflichten beider Elternteile. Briefe an die Redaktion erlauben, wenn
auch nur teilweise, Einblicke in das tägliche Familienleben und eine Einschätzung,
welche Postulate verwirklicht wurden und welche nur mit Widerstand angenommen
wurden.
Ergänzend zum publizistischen Material wurden auch Memoiren und gedruckte sowie ungedruckte Tagebücher ausgewertet, die sich in den Sammlungen
der Biblioteka Narodowa (Nationalbibliothek in Warschau) befinden. Auf dieser
Grundlage wird analysiert, inwiefern die den Eltern zugeschriebenen Eigenschaften
und Pflichten ihre Entsprechung im realen Leben der zur inteligencja gehörenden
Familien fanden. Es scheint, daß sich die autobiographischen Quellen trotz oder
vielleicht gerade wegen ihrer Subjektorientierung gut für die Rekonstruktion des
„Lebensstils“ verschiedener Familien eignen. Neben anderen Informationen können
wir bei aufmerksamer Lektüre erfahren, welches die Motive für bestimmte Verhaltensmuster waren, welche Grundlagen den Verhaltenskodex bestimmten.2 Die oben
angegebenen Quellen zeigen hauptsächlich die Verwirklichung der Erziehungspostulate, wie sie aus der Sicht der Kinder dargestellt wurden. Zu den Ausnahmen gehören Erinnerungen, in denen sich Eltern in ihrer Rolle als Mütter und Väter präsentieren.
1 TADEUSZ BARTNICKI Tomasz Czajkowski: Struktura zatrudnienia i zarobki pracowników umys³owych,
Warszawa 1936, S. 40.
2 Zum „Lebensstil“ ANDRZEJ SICIÑSKI Problemy teoretyczne i metodologiczne badañ stylu ¿ycia, Warszawa 1980.
Elke Beyer
"Richtet den Soldaten aus, daß wir sie lieben, daß wir an sie
denken und für sie beten..."
Kriegskrankenschwestern im Russischen Reich während des Ersten
Weltkrieges im Spiegel ihrer Selbstdarstellungen
Frauen aller Schichten arbeiteten während des Ersten Weltkrieges freiwillig als
"Schwestern des kranken Kriegers"1 für die rußländische Armee. Sie nahmen eine
wichtige Position in der Struktur und in der Ikonographie der Kriegsgesellschaft ein,
die sich in vergleichbarer Weise in praktisch allen am Ersten Weltkrieg beteiligten
Staaten und Nationen herausgebildet hat. Wie freiwillige Soldaten zogen sie eine Uniform an, ließen ihr bisheriges Leben zurück und stellten sich in den Dienst einer Gemeinschaft, die für sie durch die Armee repräsentiert und verteidigt wurde. Diese
Frauen wurden von Menschenmengen bejubelt, in der Kirche gesegnet und begaben
sich in die grausame Wirklichkeit des Krieges. Sie nahmen eine Mittlerfunktion zwischen der zivilen Welt und der Armee ein, in der ihnen auch emotionale Botschaften
an die Soldaten anvertraut wurden. Viele von ihnen erhielten Orden für ihre Tapferkeit. Im Gegensatz zu den Soldaten lag ihre Aufgabe jedoch nicht darin, Krieg zu
führen, sondern in der Sorge für die Kämpfenden und für die Opfer.
Einige Frauen, die im Laufe des Ersten Weltkrieges als Militärkrankenschwestern im Russischen Reich tätig waren, haben schriftliche Zeugnisse hinterlassen, die
veröffentlicht wurden oder in Archiven zugänglich sind. Diese Erfahrungsberichte
stellen eine einzigartige Quelle für die Stellung und das Selbstverständnis dieser
Schwestern gegenüber und innerhalb der kriegführenden Armee dar. Sie sind umso
mehr von Interesse, da die Erfahrungen von Frauen im Ersten Weltkrieg bisher noch
selten anhand ihrer persönlichen Äußerungen analysiert wurden. Dies gilt auch für
die europäischen Staaten, die nicht durch eine Revolution mit den Traditionen der
Kriegszeit brachen.2 Obwohl in der Ikonographie des Ersten Weltkrieges den Soldaten oft Krankenschwestern als weiblicher Gegenpart zugeordnet waren,3 trugen die
1 REGINA SCHULTE Die Schwester des kranken Kriegers: Krankenpflege im Ersten Weltkrieg als
Forschungsproblem, in: BIOS 7 (1994), S. 83-100.
2 Wichtige Ausnahmen bilden: MARGARET H. DARROW French Volunteer Nursing and the Myth of War
Experience in World War I, in: American Historical Review 101 (1996), S. 80-106; ANGELA WOOLLACOTT Sisters and Brothers in Arms: Family, Class and Gendering in World War I Britain, in: MIRIAM
COOKE, ANGELA WOOLLACOTT (Hrsg.) Gendering War Talk. Princeton 1993, S. 129-147; CLAIRE TYLEE
The Great War and Women's Consciousness. Images of Militarism and Womanhood in Women's
Writings, 1914-1964. London 1990; SCHULTE Die Schwestern des kranken Krieges.
3 HUBERTUS JAHN Patriotic Culture in Russia during World War I. Ithaca, London 1995, S. 7, 21, 35, 42.
Siehe auch KLAUS THEWELEIT Männerphantasien, Bd. 1. Frankfurt/M. 1977, v.a. S. 107-112, 121-132,
141-149, 154, 161-176.
66
Elke Beyer
Erinnerungen letzterer nicht annähernd so stark zu Form und Inhalt von Kriegsgedächtnis und Kriegsmythos bei wie die der Soldaten.4
Die verschiedenen hier untersuchten Selbstzeugnisse stammen von Krankenschwestern mit denkbar unterschiedlichem persönlichen und sozialen Hintergrund.
Die Spannweite reicht von Tagebuchnotizen und Briefen, die das unmittelbare Erleben der Verfasserinnen wiedergeben,5 über wenige Monate nach den Ereignissen
(und vor allem vor der Revolution) veröffentlichte Tatsachenberichte in mehr oder
weniger literarischer Ausformung und politischer Überzeugungsabsicht,6 bis hin zu
mehr als zehn Jahre später im Rückblick verfaßten Memoiren,7 deren Struktur die
erinnerten Erlebnisse meist deutlich in den Sinnzusammenhang einer Geschichte (der
Verfasserin, des Russischen Reiches) stellt. Die Texte unterscheiden sich damit hinsichtlich der Überlieferungsabsicht, des Abstandes vom Geschehen und vor allen
Dingen stilistisch, so daß sie einen vielseitigen Querschnitt durch verschiedene Möglichkeiten der Selbstreflexion und Selbstdarstellung bieten. Die aus so unterschiedlicher Perspektive wiedergegebenen Informationen können selbstverständlich nicht
repräsentativ für alle Militärkrankenschwestern im Russischen Reich stehen. Die eingesehenen Selbstzeugnisse stammen bis auf eines8 von Frauen aus der Oberschicht,
während anzunehmen ist, daß unter den Rotkreuzschwestern Frauen anderer Schichten bei weitem überwogen. Die Quellenlage diktiert damit eine schichtenspezifische
und stark subjektorientierte Herangehensweise, die spezifische kulturelle Muster in
individuellen Texten herauszuarbeiten sucht.
Im folgenden wird zunächst das Berufsbild der Krankenschwester im Russischen Reich vor dem Krieg und die Beschäftigung von Zivilistinnen für die Armee
seit 1914 skizziert.9 Vor diesem Hintergrund werden die Selbstdarstellungen von
4 DARROW French Volunteer Nursing, S. 83. Vgl. die fast ausschließlich auf Soldaten bezogenen Studien
von PAUL FUSSELL The Great War and Modern Memory. London 1977, und GEORGE L. MOSSE Fallen
Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars. New York, Oxford 1990.
5 FLORENCE FARMBOROUGH Nurse at the Russian Front. A Diary 1914-18. With 48 Photographs by the
Author. London 1974; FRANCIS ELINOR RENDEL World War I Papers, Unveröffentlichte Manuskripte,
und KATHERINE HODGES Memoiren, Unveröffentlichtes Typescript, beides in der Women's War Work
Collection, Archiv des Imperial War Museum, London. Farmborough lebte bereits seit 1908 bei einer
russischen Familie und arbeitete während des Krieges in einer russischen Ambulanzeinheit, Rendel
und Hodges hingegen waren bei einer britischen Ambulanzeinheit in Südrußland beschäftigt, die mit
dem Rußländischen Roten Kreuz kooperierte.
6 LIDIJA ZACHAROVA Dnevnik sestry miloserdija. Na peredovych pozicijach (1914-1915gg.). Petrograd
1915, und TATIANA ALEXINSKY With the Russian Wounded... With an Introduction by Gregor
Alexinsky. Translated by Gilbert Cannan. London 1916.
7 MARIE [ROMANOVA], GRAND DUCHESS OF RUSSIA, Education of a Princess, New York 1931; SOPHIE
BOTCHARSKY, FLORIDA PIER The Kinsmen know how to die, New York 1931; FEOKTISTA NIKANDROVNA
SLEPÈENKO Iz vospominanii, in: Oteèestvennye Archivy, 1994, H. 6, S. 58-72.
8 SLEPÈENKO Iz vospominanii.
9 Hier besteht bislang eine sozial- und kulturgeschichtliche Forschungslücke. Der sehr überblickshafte
Artikel von ALFRED G. MEYER, The Impact of World War I on Russian Women's Lives, in: BARBARA E.
CLEMENTS, BARBARA A. ENGEL, CHRISTINE D. WOROBEC (Hrsg.) Russia's Women. Accomodation,
Resistance, Transformation. Berkeley u.a. 1991, S. 208-225, widmet den Schwestern lediglich drei
Almut Bonhage
Frauenbiographien im Moskauer Arbeitermilieu in den
zwanziger Jahren
„Die brennendste Tagesfrage ist die der Gleichberechtigung der Frau. Hierüber äussern sich
alle verschieden. Im Prinzip sind alle mit der Gleichberechtigung einverstanden und fügen
dann hinzu: A b e r – die Familie, die Kinder, der Haushalt usw.“1
Die Frage der Emanzipation der Frauen im Sozialismus wurde von vielen Theoretikern nicht als besonderes Problem wahrgenommen. Man ging davon aus, daß mit
der Einführung des Sozialismus automatisch auch die Gleichberechtigung der Frau
erreicht sei. Ein gesondertes Engagement für die Sache der Frauen stand immer unter
dem Verdacht des Separatismus, der die Einheit der Arbeiterbewegung gefährde.
Feminismus wurde als eine Erscheinung, die nur die Bourgeoisie betreffe und über
die Köpfe der Arbeiterinnen hinweggehe, abgelehnt.2 Dem Kampf gegen die Unterdrückung der ganzen Arbeiterschaft als sozialer Schicht sollte vor der Bekämpfung
der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts Priorität eingeräumt werden.
Zu dieser Regel gab es Ausnahmen, so etwa August Bebels Klassiker «Die Frau
und der Sozialismus» aus dem Jahr 1879. Bebel sah in der Entlastung der Frau vom
Joch der Hausarbeit die Voraussetzung für den Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit. Dies gewähre Frauen Unabhängigkeit und führe zu ihrer Emanzipation. Eine ins
Vergessen geratene Theoretikerin war Aleksandra Kollontaj, die sich ganz besonders
mit den Lebensverhältnissen von Arbeiterinnen und Bäuerinnen im Zarenreich und
in der Sowjetunion beschäftigte. Von besonderem Interesse ist ihre 1916 erstmals
veröffentlichte Schrift Obšèestvo i materinstvo (Gesellschaft und Mutterschaft). Hier
argumentierte sie, daß in einer sozialistischen Gesellschaft die Verantwortung für die
Kinder von der Familie auf das Kollektiv übertragen werden müsse, und entwickelte
ein dieser Forderung entsprechendes sozialistisches Modell einer Mutterschaftsversicherung. Ein drittes Beispiel eines Textes, der sich mit der Frage der Rolle der Frau in
einer sozialistischen Gesellschaft beschäftigt, ist ein Theaterstück von Sergej Michailoviè Tret'jakov. Das 1926 verfaßte Diskussionsstück „Ich will ein Kind haben“
stellt einen experimentellen Zugang zu den Fragen dar, welche Konsequenzen die
Auflösung der bürgerlichen Familie und die Übernahme der Verantwortung für die
Kinder durch das gesellschaftliche Kollektiv auf die zwischenmenschlichen Bezie-
1 LEV TROCKIJ Fragen des Alltagslebens. Reprint. Dortmund 1977 (erste Ausgabe: Hamburg 1923), hier S.
121.
2 Für Russland zeichnet sich diese Diskussion im Zusammenhang mit der Organisation des Ersten Allrussischen Frauenkongresses von 1908 ab. Die Idee, einen solchen Kongress zu organisieren, war in
feministischen Kreisen entstanden, denen es aber nicht gelang, die sich zögerlich entwickelnden Arbeiterinnenzirkel zu integrieren.
86
Almut Bonhage
hungen habe.3 In diesem literarischen Werk arbeitete Tret'jakov die Konsequenzen
dieser sozialistischen Vorstellungen für das Alltagsleben heraus. Die aus diesem Verfahren resultierenden Szenen überschritten oft die Grenzen des Vorstellbaren, wirkten absurd. Das Stück sollte provozieren, die Gemüter aufheizen. Zu einer Aufführung kam es allerdings nicht. Ende der zwanziger Jahre gab es für derartige Beiträge
bereits keinen Platz mehr.
Die Debatten über die radikale Veränderung der Familienstruktur und der
damit verbundenen Rolle der Frau im Sozialismus blieben Theorie. In der Familienpolitik der Sowjetunion hinterließen sie in den zwanziger Jahren nur ansatzweise
Spuren. Es fehlte nicht nur an einer klaren Zielsetzung, sondern überhaupt am politischen Willen. Die Entwicklung einer neuen Familienpolitik war zwar weiterhin ein
wichtiges Thema, aber der Diskurs änderte sich. Die sozialistischen Ideen einer fundamentalen Umgestaltung mußten einer Realpolitik weichen, die zwar die Familie
und dabei ganz besonders die Rolle der Frau zwischen Familienverpflichtungen und
Erwerbsarbeit grundlegend veränderte, aber nicht auf den eingangs zitierten Ansätzen basierten. Kollontaj oder auch Tret'jakov wurden politisch immer mehr an den
Rand gedrängt. Sie machten sich unbeliebt, weil ihre Gedankenexperimente über das
Zusammenleben in anderen Formen als der Familie mit den strengen Moralvorstellungen der Mehrheit der Bolschewiki nicht vereinbar waren.
Die theoretischen Debatten über eine sozialistische Gesellschaftsform, welche
die bürgerliche Familie ersetzen könnte, sollen an dieser Stelle jedoch nicht im Zentrum stehen.4 Vielmehr geht es hier um eine lebensweltliche Analyse5 der Geschlechterrollen und Emanzipationsmöglichkeiten von Frauen im Moskauer Arbeitermilieu
in den zwanziger Jahren. Der Familienalltag befand sich in einer Umbruchsituation,
einerseits bedingt durch rechtliche Reformen, andererseits durch die Veränderungen
der Lebensverhältnisse, die Industrialisierung, Land-Stadt-Migration und Kriege mit
sich brachten. In diese Welt, in der sich ein tiefgreifender Wertewandel vollzog, soll
der vorliegende Artikel einen Einblick verschaffen. Wie nahmen Arbeiterinnen und
Arbeiterfrauen diesen Wandel wahr? Wie fanden sie ihren Platz in der sich transformierenden Gesellschaft? Nicht zuletzt muß auch die Wahrnehmung des Umbruchs in Frage gestellt werden. Für wen wurde er in welcher Form spürbar? Wurde
er als Fortschritt oder als Rückschritt wahrgenommen?
In den zwanziger Jahren publizierte Elena Osipovna Kabo eine soziologische
Untersuchung unter dem Titel ”Studie des Arbeiteralltags”. Diese hatte sie mit ihrem
3 Vergleiche dazu auch Kollontajs Belletristik aus den zwanziger Jahren. ALEKSANDRA KOLLONTAJ Wege
der Liebe. 5. Aufl. Berlin 1992; DIES. Dorogu krylatomu erosu! in: Molodaja Gvardija, 1923 Nr. 3, S. 111–
124. Deutsche Übersetzung in: CHRISTIANE BAUERMEISTER, HELENE IMENDÖRFER UND KRISZTINA
MÄNICKE-GYÖNGYÖSI (Hrsg.). Alexandra Kollontai. Der weite Weg. Erzählungen, Aufsätze, Kommentare. Frankfurt 1979, S. 105–126.
4 WENDY Z. GOLDMAN Working-Class Women and the ‹Withering Away› of the Family: Popular Responses to Family Policy, in: SHEILA FITZPATRICK, ALEXANDER RABINOWITCH, RICHARD STITES Russia in
the Era of NEP: Explorations in Soviet Society and Culture. Bloomigton 1991, S. 125-143.
5 Zum Konzept Lebenswelt siehe die Einleitung von: OLIVIA HOCHSTRASSER Ein Haus und seine Menschen 1549–1989. Ein Versuch zum Verhältnis von Mikroforschung und Sozialgeschichte. Tübingen
1993.
Carmen Scheide
Delegiertenversammlungen als "Schule des Kommunismus"1
Die von den Bolschewiki durchgeführte russische Oktoberrevolution eröffnete 1917
den neuen Machthabern die Möglichkeit, eine zum damaligen Zeitpunkt einmalige,
fortschrittliche Emanzipations- und Gleichstellungspolitik für Frauen einzuleiten.
Ausgehend vom Marxismus als theoretischer Grundlage sollte eine neue Gesellschaft
errichtet werden, in der alle Mitglieder gleichberechtigt waren und keine Unterdrükkungsmechanismen existierten. Die neue Regierung erließ zahlreiche Gesetze und
Verordnungen, die Frauen aus ihrer doppelten Unterdrückung durch die Herrschaft
des Mannes und durch die bisherige Arbeitsordnung befreien sollten. Zusätzlich bedurfte es konkreter Umsetzungen, Aktionspläne und Handlungsanweisungen, denn
schnell wurde deutlich, daß eine progressive Rechtsgrundlage wie die Einführung
von Zivilehe und Ehescheidungen, Legalisierung von Abtreibungen und gleicher
Lohn für gleiche Arbeit allein nicht ausreichten. Konkret stellte sich die Frage, wie eine Übergangsgesellschaft auf allen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen
Ebenen zu gestalten und zu organisieren sei, um in einem weiteren Schritt den Sozialismus aufzubauen. Auf der Suche nach einem geeigneten Weg fanden in den zwanziger Jahren zahlreiche, lebhafte und oft kontroverse Diskussionen statt, die aber seit
der Durchsetzung Stalins ab 1929 fast vollkommen endeten.
Die Frauenabteilung, 1918-1930, als Motor der Emanzipation
Die Bolschewikinnen2 Inessa Armand3 und Aleksandra Kollontaj4 setzten sich 1917
und 1918 trotz heftiger Widerstände aus den Reihen ihrer Genossen maßgeblich für
1 Als wichtigste Maßnahme in der Frauenpolitik betrachtete die letzte Leiterin der Frauenabteilung,
Aleksandra Artjuchina, 1889-1969, die Delegiertenversammlungen, die sie 'Schule des Kommunismus'
nannte. ALEKSANDRA ARTJUCHINA Delegatskie sobranija - škola kommunizma, in: Kommunistka 1925,
Nr. 7, S. 4-9.
2 Zur Geschichte von Frauen in der russischen Sozialdemokratie und bei den Bolschewiki siehe BEATE
FIESELER Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890 bis 1917. Eine kollektive Biographie. Stuttgart 1995; BARBARA EVENTS CLEMENTS Bolshevik Women. Cambridge 1997.
3 Armand, 1874-1920, benutzte auch das Pseudonym Jelena Blonina. ROBERT C. ELWOOD Inessa Armand.
Revolutionary and Feminist. New York, Cambridge 1992.
4 Aleksandra Michajlovna Kollontaj, 1872-1952. BEATRICE BRODSKY FARNSWORTH Aleksandra Kollontai.
Socialism, Feminism, and the Bolshevik Revolution. Stanford 1980; BARBARA EVENTS CLEMENTS The Life of Aleksandra Kollontai. Bloomington 1979. Es existiert keine Werkausgabe der Schriften von Kollontaj. Ich verweise auf einige zentrale Titel. ALEXANDRA KOLLONTAI Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der
Sverdlov-Universität 1921. Übersetzung aus dem Schwedischen. Frankfurt/M. 1975; DIES. Ich habe
viele Leben gelebt... Autobiographische Aufzeichnungen. 3. Auflage, Köln 1986; DIES. Der weite Weg.
Erzählungen, Aufsätze, Kommentare. Hrsg. v. CHRISTIANE BAUERMEISTER u.a. Frankfurt/M. 1979.
106
Carmen Scheide
die Gründung einer eigenen Abteilung zur Agitation unter Arbeiterinnen und Bäuerinnen beim Zentralkomitee der Partei ein, die ab Dezember 1918 ihre Arbeit aufnahm. Die vorgebrachten Vorwürfe bezichtigten die Frauenabteilung (Ienskoe otdelenie po rabote sredi Ienšèin, Ienotdel)5 des Separatismus und Feminismus, einem negativ
besetzten Begriff.6 Die Kommunistin Kollontaj sah jedoch keinen Widerspruch zwischen den allgemeinen revolutionären, egalitären Zielen und einer eigenen Arbeit unter Frauen. Sie leitete Argumente für die Existenz der Ienotdely aus den spezifischen
weiblichen Lebenszusammenhängen, besonders von Arbeiterinnen, ab. Unter einem
großen Teil der weiblichen Bevölkerung müsse zunächst ein proletarisches Bewußtsein durch die Einbindung in die Arbeiterschaft geschaffen werden. Um diesen
Schritt zu vollziehen, solle die Arbeiterin von der Last der Haushalts-, Familien- und
Erziehungsarbeit befreit werden, indem vom Staat ein Netz von Institutionen zur
Übernahme der Reproduktionsarbeit errichtet werde. Weiter trat Kollontaj für den
Schutz der Frau als Mutter ein. Das Gebären von Kindern sah sie als eine gesellschaftliche Pflicht, Erziehung und Betreuung des Nachwuchses sollten jedoch staatliche Stellen übernehmen. Sie nahm an, die Familie löse sich durch den Wegfall dieser
zentralen sozioökonomischen Funktionen von selber auf. Ausgehend von diesen Ideen regte Kollontaj im November 1917 die Gründung einer eigenen Abteilung zum
Schutz von Mutter und Kind an (otdel ochrany materinstva i mladenèestva, OMM), die
sich als eine feste Institution in der Sowjetunion etablierte.7
Zusätzlich zu praktischen Maßnahmen galt es nach der Revolution, die mobilisierten Massen politisch weiterhin zu motivieren und zu erziehen. Dafür existierten
zwei konkurrierende Modelle einer "Schule des Kommunismus": Zum einen das System von Arbeiterklubs8, die über die Gewerkschaften einen Transmissionsriemen
herstellen sollten, zum anderen Delegiertenversammlungen für Frauen, die ebenfalls
durch die Ienotdely als Vermittler einen Austausch zwischen Partei und Masse aufbauen sollten. Grundlegende Aufgabe war eine Anhebung des Kultur- und Bildungsniveaus der Bevölkerung. Da einerseits nur ein Teil der Arbeiterinnen Gewerkschaftsmitglieder waren und dort nur wenig auf ihre spezifischen Belange durch die
5 Die Umbenennung in Frauenabteilung erfolgte im August 1919.
6 Gegner der Frauenabteilung sahen in ihr ein Überbleibsel aus der kapitalistischen Zeit. Bürgerliche
Feministinnen seien auch davon ausgegangen, es gebe unterschiedliche Interessen von Frauen und
Männern innerhalb einer Klasse, was als falsch erachtet wurde. Zur Geschichte der Frauenabteilung
siehe die neueste Studie von ELIZABETH A. WOOD The Baba and the Comrade. Gender and Politics in
Revolutionary Russia. Bloomington 1997, hier S. 166.
7 Zur Geschichte der OMM siehe ESTHER M. KONJUS Puti razvitija sovetskoj ochrany materinstva i mladenèestva. Moskau 1954. Eine kritische Geschichte und Untersuchung über die Abteilung in Bezug auf
die Entwicklung der sowjetischen Frauen- und Geschlechterpolitik steht noch aus.
8 GABRIELE GORZKA Arbeiterkultur in der Sowjetunion: Industriearbeiter-Klubs 1917-1929. Ein Beitrag
zur sowjetischen Kulturgeschichte. Berlin 1990. Mitte der zwanziger Jahre gingen nur wenige Frauen
in Klubs. Die Gründe waren unterschiedlich und vielfältig. Arbeiterinnen fühlten sich vom Programm
nicht angesprochen, verfügten durch Familienarbeit und Kindererziehung über keine freie Zeit, hatten
niemanden, der während ihrer Abwesenheit auf ihre Kinder aufpaßte oder betrachteten den Klub als
einen Raum, in dem Männer ihre Freizeit verbrachten. JOHN HATCH Hangouts and Hangovers: State,
Class and Culture in Moscow's Worker's Club Movement, 1925-1928, in: The Russian Review 53 (1994)
Nr. 1, S. 97-117.
Susanne Conze
Weiblichkeit und Männlichkeit im sowjetischen Industriebetrieb der vierziger Jahre
"In der Pause (der Betriebsparteikonferenz 1948, S.C.) standen wir, Frauen aus dem Präsidium, im Hintergrund am Fenster, als Ivan Alekseeviè mit einigen Genossen zu uns kam und
sich an uns wandte: "Nun, chozjajki,1 wie geht es Euch?" Einer der Männer spottete: "Hört
Euch Ivan Alekseeviè an! Wo sind hier chozjajki?" – "Du lachst unüberlegt," antwortete
Lichaèev. "Sie sind wirkliche chozjajki. Erinnere Dich an den Krieg. Auf ihren Schultern ruhte
sowohl die Arbeit in der Fabrik als auch in den Familien."2
Die galante Bemerkung I.A. Lichaèevs, Direktor der Stalin-Automobilwerke in Moskau, entsprach dem Tenor der Zeit. Reminiszenzen an die heroischen Leistungen der
Frauen im "Großen Vaterländischen Krieg" gehörten in der UdSSR nach 1945 zum
beständigen Inventar der ideologischen Rhethorik. Die Frauen als die Stütze der sowjetischen Heimatfront und die "Heldinnen" im Hinterland zu bezeichnen, bedeutete
zumindest die verbale Anerkennung ihrer Leistungen. Lichaèevs chozjajki hatten – so
die zahlreichen Propagandadarstellungen – alle Entbehrungen tapfer ertragen, mit
patriotischem Eifer gearbeitet, Produktionsrekorde aufgestellt, die Front mental und
materiell unterstützt und für ihre Familien gesorgt. Mit dieser stereotypen Charakterisierung als Arbeiterinnen und Mütter wurden sie in die heroische Geschichte des
"Großen Vaterländischen Krieges" eingeschrieben und ihre letztlich untergeordnete
Stellung in der Gesellschaft und in den Betrieben über das Kriegsende hinaus legitimiert.3 Sie galten als mütterlich, und trotz allem zugeschriebenen Heroismus und hohen physischen Arbeitseinsatzes repräsentierten sie eine Weiblichkeit, die Inferiorität
implizierte. Galten Frauen in den vierziger Jahren auch nicht mehr pauschal als
"rückständig",4 so erschien ihre Weiblichkeit noch immer als die Ursache dafür, daß
sie den allgemeingültigen Leistungsnormen kaum entsprechen könnten. Lichaèevs
Kollege bezweifelte, daß man die Arbeiterinnen und Genossinnen, die vor ihm standen, als chozjajki bezeichnen könne. Er sah in den Frauen, die mehrheitlich eine marginale Position in der betrieblichen Hierarchie einnahmen, nicht die "Herrinnen" der
Fabrik. Ihm fehlte die Gabe zur Galanterie, die es seinem Vorgesetzten ermöglichte,
eine schmeichelnde Anrede unabhängig von ihrer Realitätsferne zu gebrauchen. Die
1 Der Begriff der chozjajka trägt mehrere Bedeutungen: Besitzerin, Herrin, Wirtschafterin, Hausherrin,
Gastgeberin oder auch Arbeitgeberin.
2 Direktor. I.A. Lichaèev v vospominanijach sovremennikov, Moskva 1971, S. 199.
3 Vgl. zur legitimatorischen Funktion der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges AMIR WEINER
The Making of a Dominant Myth: The Second World War and the Construction of Political Identities,
in: The Russian Review 55 (1996), S. 638-660.
4 Vgl. ELIZABETH WOOD The Baba and the Comrade. Gender and Politics in Revolutionary Russia.
Bloomington 1997.
120
Susanne Conze
Norm betrieblicher Leistungen war und blieb auch für Lichaèev männlich, und die
Frauen der Kriegsgeneration leisteten "Männerarbeit", obwohl sie Frauen waren.
Weiblichkeit ist ein schillernder Begriff: Er umspannt alle Erwartungen, die in einer
Gesellschaft an Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts (sex) gestellt werden.
Er ist kaum von seinem historischen und kulturellen Kontext zu lösen oder durch einen überhistorischen Merkmalskatalog zu definieren. Auch ist er nicht von dem
ebenso vagen Begriff der Männlichkeit zu trennen. Die Definitionen der Geschlechtscharaktere (gender), die eine Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhalt prägen,5
bewegen sich in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander. In Zeiten gesellschaftlicher
Veränderungen sind sie gleichermaßen von Kontinuitäten und Brüchen geprägt. Die
vierziger Jahre waren in der Sowjetunion eine Zeit des fortgesetzten gesellschaftlichen Ausnahmezustands. Sowohl der Kriegsbeginn 1941 als auch der Übergang zu
einer zivilen Nachkriegsgesellschaft nach 1945 stellten die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes vor neue Anforderungen und beeinflußten die Rollenzuweisungen
an Frauen und Männer.6
Anhand der Arbeitssituation von Industriearbeiterinnen in den vierziger Jahren sowie ihrer Darstellung in der zeitgenössischen Propaganda möchte ich aufzeigen, welche Bedeutung Weiblichkeit, in Abgrenzung von der "männlichen" Normsetzung, im sozialen Handlungsfeld des Betriebs7 hatte. Gerade hier und unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Ausnahmezustandes zeigt sich die Funktionalität
und Reziprozität der Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen im Stalinismus.
Auf ihnen basierte auch die Entwicklung der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft,
die eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses kaum zuließ.
Frauenarbeit – Männerarbeit
Anfang der sechziger Jahre befragte eine Kommission zur Werkgeschichte bei den
Stalin-Automobilwerken in Moskau8 Arbeiterinnen zu ihren Erfahrungen in der
Kriegszeit. In den Berichten der Frauen spiegeln sich viele bekannte Versatzstücke
der zeitgenössischen Propaganda, doch trotz ihrer bemühten Konformität verweisen
5 Joan W. Scott definiert gender als die soziale Organisation sexueller Differenz, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfaßt und durchdringt und den körperlichen Unterschieden Bedeutung zuschreibt.
JOAN WALLACH SCOTT Gender and the Politics of History. New York 1988, S. 2.
6 Vgl. zur Entwicklung des Geschlechterverhältnisses im Krieg: MARGRET R., PATRICE L. HIGONNET
(Hrsg.) Behind the Lines. Gender and the Two World Wars. New Haven 1987. Zur gesellschaftlichen
Situation in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg siehe SHEILA FITZPATRICK Postwar Soviet
Society. The "Return to Normalcy", 1945 - 1953, in: SUSAN LINZ (Hrsg.) The Impact of World War II on
the Soviet Union. New Jersey 1985, S.129-155.
7 Vgl. THOMAS WELSKOPP Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungen in der Industrieund Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S.118-142.
8 Bei den Stalin-Automobilwerken handelt es sich um die große, seit 1956 nach deren eingangs zitierten
Direktor Lichaèev benannte Automobilfabrik ZIL (zavod imeni Lichaèeva). 1966 erschien eine von ihr erarbeitete Geschichte der Automobilwerke, in die die Berichte der Frauen z.T. einflossen. Istorija
Moskovskogo avtozavoda im. Lichaèeva. Moskva 1966.
Nataša Miškoviæ
”Dragi moj Mileta”
Geschlechterverhältnisse in der serbischen Jahrhundertwende im
Spiegel der Familienkorrespondenz von Jelena Novakoviæ
1864 veröffentlichte die 19jährige Belgrader Kaufmannstochter Jelena Kujundbiæ in
der beliebten serbischen Literaturzeitschrift Danica (Morgenstern) ein Gedicht unter
dem Titel Devojaèke pesme (Mädchenlieder):
”Stani, beljo, stani, –
Kud si nagla tako?
Stani, beljo, stani,
Hajde lakše malko.
Ali kuda letiš?
Kud li æeš da sletiš?
Oh, da hoæeš, mila,
Draganu na krila.
Da mu kabem reècu –
Ali koju, koju?
Oh, ta da ga ljubim
Kao dušu svoju.”1
Jelena adressierte diese Zeilen an ihren Verlobten Stojan Novakoviæ, den sie vermutlich 1862 im Jugendzirkel ihres dichtenden Bruders Milan Kujundbiæ-Aberdar, der
Omladina 2, kennen und lieben gelernt hatte. In der Omladina verkehrten patriotisch
gesinnte Studenten der Belgrader Velika škola (Hochschule), die gemeinsam von der
Befreiung vom ”türkischen Joch” und der Vereinigung der christlichen serbischen
Bevölkerung des Balkans unter dem Fürsten Mihailo Obrenoviæ träumten. Doch die
Omladina diente auch der Geselligkeit, und zu diesen Anlässen waren die Schwestern
und Freundinnen der Mitglieder willkommen. Der jungen Jelena bot dies eine Gelegenheit, ihre einsamen Dicht- und Schreibversuche der Kritik eines wohlgesinnten
Publikums auszusetzen, war ihr doch im Gegensatz zum älteren Bruder der Zugang
1 JELENA KUJUNDvIÆA Devojaèke pesme [Mädchenlieder], in: Danica [Morgenstern] 4 (1864) S. 297. Zitiert in: PAVLE POPOVIÆ Mladi Novakoviæ (1842–1873), in: Spomenica St. Novakoviæa, Srpska Knjibevna
Zadruga, Kolo 23 (1921), Nr. 157, S. 7–46, hier S. 30f.; Die Ubersetzung lautet:
Bleib stehen, Wunsch, bleib stehen, — / Wohin so schnell des Weges? / Bleib stehen, Wunsch, bleib
stehen, / Auf, ein wenig langsamer. //Aber wohin fliegst Du? / Und wo wirst Du landen? / Oh, Liebes, wenn es doch / der Schoß des Geliebten wäre. // Damit ich ihm ein Wörtchen sage — / Aber
welches, welches? / Oh, das, daß ich ihn küsse / Wie die eigne Seele.”
Sämtliche Übersetzungen aus dem Serbokroatischen stammen von der Autorin.
2 Der romantisch-patriotische Jugendverein Srpski omladinski pokret [Serbische Jugendbewegung], kurz
Omladina [Jugend] genannt, brachte einige der führenden Politiker der 1880er und 1890er Jahre hervor.
138
Nataša Miškoviæ
zu den höheren Schulen verwehrt. In Stojan fand sie einen geduldigen Zuhörer, der
ihre Bemühungen ernst nahm und der mit ihr Gedichte austauschte. Als der Widerstand von Jelenas Vater gegen ihre Vermählung mit dem begabten, aber mittellosen
jungen Mann aus der Provinz gebrochen war, stand ihrem Glück nichts mehr entgegen. Die zwei heirateten ein halbes Jahr nach der Verlobung im Sommer 1864 jung
und mittellos, so wie das in Serbien üblich war.3
Wie gestalteten Jelena und Stojan ihren Ehealltag? Wie entwickelte sich ihre
Beziehung nach der Verliebtheit und Kameradschaft der Brautzeit? Dank einer umfangreichen Sammlung von Briefen Jelenas an ihren Sohn Mileta, die im Nachlass ihres Mannes im Serbischen Archiv (Arhiv Srbije) in Belgrad aufbewahrt wird, ist es
möglich, die Familienverhältnisse und ein Stück weit auch die Liebesbeziehung von
Jelena und Stojan nachzuzeichnen.4 Insbesondere geht es mir dabei um das Spannungsverhältnis zwischen der traditionellen serbischen Familienform der Zadruga
und dem Einfluss des auf der Kernfamilie aufbauenden mitteleuropäischen bürgerlichen Familienmodells, das sich in den serbischen Städten ab den 1860er Jahren verstärkt bemerkbar machte.
Bevor ich mich aber weiter mit der Familie Novakoviæ auseinandersetze, will
ich einige Bemerkungen zu den politischen und sozialen Verhältnissen im Serbien
des 19. Jahrhunderts vorausschicken.
Hintergrund
Serbien war bis 1878 ein Bestandteil des Osmanischen Reiches, seit 1830 als autonomes Erbfürstentum im Gebiet des heutigen Zentralserbiens.5 Der vom Sultan ernannte Erbfürst, Miloš Obrenoviæ, stammte aus einer armen Landarbeiterfamilie und weigerte sich Zeit seines Lebens, lesen und schreiben zu lernen. Eine Reihe wohlhabender Bauern und Dorfkmeten, die sich als militärische und diplomatische Führer in
den zwei großen serbischen Aufständen von 1804 und 1815 verdient gemacht hatten,
wählten ihn Kraft seines Charismas und seiner Autorität zum Anführer. Diese Gruppe um Miloš Obrenoviæ und um seinen Gegenspieler Karaðorðe bildete die Basis einer einheimischen christlichen Oberschicht, die sich mit der Gründung des Fürstentums herauszubilden begann.
3 Das Durchschnittsalter der Eheschließenden betrug in Serbien im Schnitt der Jahre 1891 bis 1895 für
die Männer knapp 25 und für die Frauen rund 21 Jahre. Dies sind die frühesten statistischen Angaben
zum Heiratsalter bei HOLM SUNDHAUSSEN Historische Statistik Serbiens 1834–1914. Mit europäischen
Vergleichsdaten. München 1989. S. 150, Tabelle 27.
4 Eine weitergehende Analyse der Lebenswelt und speziell der Geschlechterverhältnisse in der serbischen Oberschicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstelle ich in meiner laufenden Dissertationsarbeit, für die ich mehrere Belgrader Familiennachlässe bearbeite.
5 Das heißt innerhalb der Grenzen der osmanischen Provinz (Pašaluk) Belgrad sowie einiger 1833 annektierter Gebiete. Zur Einführung in die Geschichte Serbiens vgl. MARIE-JANINE CALIC Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941. Der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung. München 1994.
EDGAR HÖSCH Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München 1988.
BARBARA JELAVICH History of the Balkans. 2 Bände. Cambridge, New York 1983. MICHAEL BORO
PETROVICH A History of Modern Serbia, 1804–1918. 2 Bände. New York, London 1976.
Dietlind Hüchtker
Subjekt in der Geschichte?
Emanzipation und Selbstbehauptung, Flucht und Verfolgung in der
Autobiographie von Minna Lachs (1907-1993)
Die Jüdin Minna Lachs wurde 1907 unter dem Namen Schiffmann in der galizischen
Stadt Trembowla geboren. 1914 mußte sie vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien, 1938
vor dem Nationalsozialismus in Österreich in die USA fliehen. Eine zweifache Flucht
ist typisch für das Schicksal derjenigen galizischen Juden, denen es gelang, der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu entkommen.1 Im Ersten Weltkrieg emigrierten viele Juden in die Hauptstadt der Monarchie, da Galizien Kriegsschauplatz war.
Die Flucht aus Österreich nach dem "Anschluß" an das Deutsche Reich war wesentlich schwieriger, da Juden die Ausreise verboten wurde. Über ihr Leben "zwischen
den Welten" schrieb Minna Lachs eine zweiteilige Autobiographie.2 Der erste 1986
erschienene Teil handelt über die Zeit ihrer Kindheit in Galizien und ihre Jugend in
Wien bis 1941. In diesem Jahr kam sie zusammen mit ihrem Mann, dem Kommunalbeamten Ernst Lachs3 und ihrem gemeinsamen Kind nach einer abenteuerlichen
Flucht vor den Nationalsozialisten in den USA an. Der zweite, 1992 erschienene, im
folgenden nicht berücksichtigte Teil der Autobiographie erzählt über ihre Zeit in der
Emigration in den USA. Er endet 1947 mit ihrer Rückkehr nach Wien.
Die Lebensbeschreibung ist als "Lehrstück" für die Jugend gedacht, die den
Nationalsozialismus und den Krieg nicht mehr selbst erlebt hat. Ähnlich den Autobiographien von Holocaust-Überlebenden legt Minna Lachs Zeugnis über die Geschichte der Verfolgung und über die nicht mehr existierende Welt des galizischen
Judentums ab.4 Die Kernstücke des Textes sind zwei Beschreibungen ihrer Heimat
Galizien vor dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Bericht über ihr
Leben verfolgt Lachs die Idee, daß Aufklärung und Wissen über diese Zeit eine Wiederholung von Völkermord und Krieg verhindern könnte.5 Dazu thematisiert sie die
Wege ihrer Emanzipation als Frau und als Jüdin.6
1 Der kriegsbedingten Emigration gingen schon Ende des 19. Jahrhunderts massenhafte Auswanderungen aufgrund von Armut und Perspektivlosigkeit voraus. Neben Wien waren die Vereinigten Staaten
Hauptziel der Migration. Vgl. dazu KLAUS HÖDL Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf
dem Weg nach Wien. Wien u.a. 1994; DERS. "Vom Shtetl an die Lower East Side". Galizische Juden in
New York. Wien u.a. 1991.
2 MINNA LACHS Warum schaust du zurück? Erinnerungen 1907-1941. Wien u.a. 1986; DIES. Zwischen
zwei Welten. Wien 1992.
3 Artikel: Lachs, Ernst, in: WERNER RÖDER, HERBERT A. STRAUSS (Hrsg.) Biographisches Handbuch der
deutschsprachigen Emigranten nach 1933. Band I: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben. München u.a.
1980, S. 408.
4 Vgl. dazu JAMES E. YOUNG Beschreiben des Holocausts. Darstellungen und Folgen der Interpretation.
Frankfurt/M. 1997, bes. S. 21-29.
5 LACHS Warum schaust Du zurück? S. 186; vgl. zu den formulierten Zielen des Textes auch ARMIN A.
WALLAS Kindheit in Galizien. Das galizische Judentum im Spiegel der Autobiographien von Minna
152
Dietlind Hüchtker
Emanzipation erlangte im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Aufklärung eine politische Bedeutung. Seitdem verstand man unter Emanzipation nicht nur
die Freilassung aus einem Zustand der Abhängigkeit, sondern auch einen Prozeß der
Selbstbefreiung.7 Als Mittel zur Emanzipation galten sowohl Wissen mit befreiendem
Erkenntnisinteresse und die Möglichkeiten einer herrschaftsfreien Kommunikation,
als auch politisches Engagement für Unabhängigkeit und Gleichberechtigung. Seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Emanzipation der Juden und der Frauen
aus gegebenen rechtlichen, sozialen und institutionellen Abhängigkeitsverhältnissen
gefordert.8 Worin die Voraussetzungen bestanden, von denen man annahm, sie ermöglichten emanzipatorische Erkenntnis und herrschaftsfreie Kommunikation, dazu
gab es ganz unterschiedliche Konzepte. Während für die Aufklärung Wissen und
Bildung eine entscheidende Rolle spielten, ist die Französische Revolution ein Beispiel für den voluntaristischen Akt einer rechtlichen Gleichstellung der Juden vor
dem Hintergrund einer – oder mehrerer – politischer Bewegungen.
Im habsburgischen Staat war die rechtliche Gleichstellung der Juden Teil einer
allgemeinen Reform von oben. Sie orientierte sich an Konzepten einer "Integration" in
die bürgerliche Gesellschaft und setzte Akkulturationsleistungen der Juden voraus.
Der Ausgleich mit Ungarn und die Verfassung von 1867/1868 brachten ihre rechtliche Gleichstellung als Staatsbürger.9 Dies bedeutete jedoch nicht, daß soziale, kulturelle und institutionelle Benachteiligungen aufgehoben gewesen wären. Sie wurden
im Gegenteil insbesondere durch antisemitische Ideologien seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts noch verstärkt.
Was die Geschlechter betraf, schrieb die Kodifizierung des bürgerlichen Rechts
im 19. Jahrhundert eher Ungleichheit fest, als daß sie Gleichberechtigung brachte.
Frauen wurden in wesentlichen Aspekten der männlichen Autorität, sprich Vätern
6
7
8
9
Lachs und Man`es Sperber, in: Sprachkunst. Zeitschrift zur Literaturwissenschaft XXIV (1993), S. 19-40,
hier S. 37.
Vgl. MICHAEL JAEGER Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith,
Gottfried Benn, Alfred Döblin. Stuttgart, Weimar 1995; Im 18. Jahrhundert wurde im Zuge der Säkularisierung eine neue Einheit zwischen Geschichtsphilosophie und Autobiographie aufgebaut. Die Autobiographie konstruiert ein männliches Individuum, das eins sein will mit der Welt. Eine solche geschlossene autobiographische Erzählung wird Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts mit Bezug
auf Nietzsche infragegestellt. Die Einheit von Geschichte und Individum zerfällt angesichts einer
Fragmentierung der Welt, die mit dem Abschied vom Fortschrittsglauben einhergeht. Vgl. auch
GÜNTER NIGGL Einleitung, in: GÜNTER NIGGL (Hrsg.) Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 1-17; GEORG MISCH Begriff und Ursprung der Autobiographie, in: Ebd. S. 33-54.
KARL MARTIN GRASS, REINHART KOSELLECK Emanzipation, in: OTTO BRUNNER, WERNER CONZE,
REINHART KOSELLECK (Hrsg.) Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Band 2. Stuttgart 1975, S. 153-197, hier S. 153.
Ebd. S. 33-54.
Zur Geschichte der Emanzipation der Juden vgl. REINHARD RÜRUP Emanzipation und Antisemitismus.
Studien zur "Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975, bes. S. 13-36, für Polen z.B.
ARTUR EISENBACH Die Judenemanzipation in den polnischen Gebieten im 19. Jahrhundert vor europäischem Hintergrund, in: STEFI JERSCH-WENZEL (Hrsg.) Deutsche - Polen - Juden. Ihre Beziehungen von
den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 1987, S. 169-189, hier S. 187.
Autorinnenverzeichnis
ELKE BEYER M.A., Studium der Osteuropäischen Geschichte und Slavistik an der
Universität zu Köln und der School of Slavonic and East European Studies, London.
Zur Zeit an der Columbia University, New York. Im Rahmen von Praktika beim
Deutsch-Russischen Austausch, St. Petersburg, und am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien erste Veröffentlichungen zu aktuellen Themen,
u.a. Frauenorganisationen in St. Petersburg und russischen Pressereaktionen auf die
NATO-Osterweiterung. Ihr Forschungsinteresse richtet sich vor allem auf die Sozialgeschichte Rußlands im 19. und 20. Jahrhundert und auf Geschlechterforschung.
ALMUT BONHAGE lic. Phil. I. und M.A. in European Studies. Die in Basel studierte Historikerin beschäftigt sich mit Genderproblemen in der Geschichte Rußlands, der Geschichte der Ostjuden sowie der Gleichstellung von Mann und Frau im EU-Recht.
SUSANNE CONZE Dr. des., Studium der Geschichte, Politologie und Soziologie in Bochum. Promotion am „Graduiertenkolleg Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten,
Klassen und Eliten“ der Universität Bielefeld. Titel der Dissertationschrift:
„Sowjetische Industriearbeiterinnen in den vierziger Jahren. Die Auswirkungen des
Zweiten Weltkriegs auf die Erwerbstätigkeit von Frauen in der UdSSR, 1941-1950“.
DIETLIND HÜCHTKER Dr., Studium der Geschichte und Politologie an der Freien Universität Berlin. Promotion an der Technischen Universität Berlin. Jetzt wissenschaftliche Mitarbeiterin im „Graduiertenkolleg Identitätsforschung“ der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechtergeschichte und Geschichte der Ethnizität in Mitteleuropa. Veröffentlichungen u.a.:
„Elende Mütter“ und „liederliche Weibspersonen“. Geschlechterverhältnisse und
Armenpolitik in Berlin (1770-1850) [=Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Bd. 16]. Münster 1999.
NATAŠA MIŠKOVIÆ lic. Phil. I. Arbeitet über Geschlechter- und Familienverhältnisse
im Serbien des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Städtische Elite, bäuerliches Volk: Vergleichende Untersuchungen der Regionen
Belgrad und Zadar zwischen 1850 und 1914“ am Historischen Seminar der Universität Basel. Verschiedene Veröffentlichungen zur serbischen Geschlechtergeschichte.
CARMEN SCHEIDE Dr. des., seit 1995 Assistentin für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel, 1999 Promotion. Titel der Dissertationsschrift „’Einst war ich Weib und kochte Suppe, jetzt geh’ ich in die Frauengruppe’.
Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von
1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen“.
MARIOLA SIENNICKA M.A., Geschichtsstudium mit Schwerpunkt Sozialgeschichte an
der Universität in Warschau (Abschluß 1996). Darauf Mitarbeiterin im Warschauer
„Muzeum Woli“ (Museum über den Stadtteil Wola). Arbeitet zur polnischen Frauen-
170
Autorinnenverzeichnis
und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Verschiedene Veröffentlichungen zur Familiengeschichte.
KATARZYNA SIERAKOWSKA M.A., Geschichtsstudium an der Warschauer Universität
(Abschluß 1994). Doktorantin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen zur Geschichte der polnischen Frauenbewegung und zur Kulturgeschichte der polnischen inteligencja.
NATALI STEGMANN Dr. des., Studium der Osteuropäischen Geschichte an der J. W.
Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 1999 Promotion an der Eberhardt-KarlsUniversität in Tübingen. Titel der Dissertation „Die Töchter der geschlagenen Helden. „Frauenfrage“, Feminismus und Frauenbewegung in Polen, 1863-1919“.
Petra Stegmann M.A., Kunsthistorikerin und Slavistin, z. Zt. Aufbaustudium „Mandagement und Marketing für Mittel- und Osteuropa“ an der Viadrina-Universität in
Frankfurt an der Oder, mehrjährige Mitarbeit in der Kulturabteilung des Warschauer
Goethe-Instituts. Sie war für diesen Sammelband als Übersetzerin tätig.