Nicolas G.Hayek

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Nicolas G.Hayek
Liebe Freunde und Kenner
edler Zeitmesser,
Quai de l’Horloge 39, Paris. An dieser Adresse auf der
Ile de la Cité eröffnete Abraham-Louis Breguet 1775
eine Uhrmacherwerkstatt. Sie war nicht nur der Ort, wo
die für Marie-Antoinette, Napoleon, die Königin von
Neapel, Zar Alexander I., König Georg IV. von England
und andere bedeutende Persönlichkeiten angefertigten
Zeitmesser das Licht der Welt erblickten, sie war auch
die Wiege bemerkenswerter technischer und ästhetischer
Erfindungen, darunter das Tourbillon, die Breguet-Spiralfeder, die Pare-chute-Stoßsicherung, die guillochierten
Zifferblätter, die Pomme- oder Breguetzeiger und die
Breguetziffern, die heute noch zu den Meilensteinen der
Uhrmacherkunst gehören. Wir haben beschlossen, unserer
Geschichte und unserem Erbe die Ehre zu erweisen, indem wir als Titel unserer Publikation diese prestigereiche
Adresse wählten.
Dieser Link zum bedeutendsten Erbe der gesamten
Uhrmacherkunst inspiriert selbstverständlich das heutige
Schaffen von Breguet. Tradition und Erbe machen jedoch
nur Sinn, wenn sie in einem historischen Kontext stehen.
Abraham-Louis Breguet war der größte Uhrmacher aller
Zeiten und mit seiner schöpferischen Kraft nicht nur seiner Zeit, sondern auch den folgenden Jahrhunderten weit
voraus. Wenn wir uns von der Vergangenheit und diesem
Erbe inspirieren lassen, bedeutet das allerdings nicht, dass
wir einfach Breguets Entwicklungen und Konstruktionen
in einem modernen Gewand neu auflegen. Wie der Gründer unseres Hauses widmen wir uns ebenso leidenschaftlich wie unermüdlich der Forschung und Entwicklung im
Dienst der Innovation. Das ist das wahre Erbe von Abra-
ham-Louis Breguet, eine nie endende Suche, um die Grenzen der Uhrmacherkunst zu erweitern.
Quai de l’Horloge möchte Ihnen eine attraktive Auswahl an Beiträgen bieten, die einerseits über das Leben und
die Epoche unseres Markengründers sowie seine zahlreichen Meisterwerke berichten und andererseits über das
Haus Breguet und seine heutige führende Rolle im Spitzensegment der Uhrmacherkunst informieren. Jede Ausgabe widmet sich jeweils den historischen und den modernen
uhrmacherischen Abenteuern. Wie im Leben werfen wir
einen Blick zurück in die Vergangenheit und vorwärts in
die Zukunft.
Diese erste Ausgabe von Quai de l’Horloge enthält eine
Hommage an meinen verstorbenen Großvater, Nicolas G.
Hayek. Seine außergewöhnliche unternehmerische Laufbahn fand in den Medien großes Echo. Weniger bekannt ist
seine persönliche Beziehung zu Breguet und die Art und
Weise, wie er uns dahin führte, wo wir heute stehen. Sein
unerschöpflicher Elan, den er auf Breguet übertrug, ist in
den Neukreationen Hora Mundi, Type XXII und Réveil
Musical verkörpert. Jeder dieser Zeitmesser, denen ein eigener Artikel gewidmet ist, zeichnet sich durch bemerkenswerte uhrmacherische Fortschritte aus. Unsere lange Geschichte
ist natürlich ebenfalls einen Beitrag wert. Ich hoffe, dass
auch das Porträt von Caroline Murat, der Schwester Napoleons und Königin von Neapel, Ihr Interesse findet. Sie war
eine glühende Bewunderin von Breguet, der die erste jemals
hergestellte Armbanduhr der Welt um ihr Handgelenk legte.
Und last, not least werfen wir einen Blick auf das Leben von
Marie-Antoinette und ihr Privatschlösschen Petit Trianon.
Mit freundlichen Grüßen
Marc A. Hayek, Präsident und CEO der Montres Breguet SA
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INHALT
Inhalt
1.Nicolas G. Hayek
„Ein außergewöhnliches Abenteuer“
2.Classique Hora Mundi
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3. Die erste Armbanduhr
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4. Die neue Limite: 10 Hertz
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5. Die Guilloche 53
6. Das Petit Trianon 71
7. Der Réveil Musical
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8. Breguet im Schweizerischen Nationalmuseum
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NICOLAS G. HAYEK
Nicolas G.Hayek
„Ein außergewöhnliches Abenteuer“
Von Jeffrey S. Kingston
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NICOLAS G. HAYEK
V
isionäre sind eine seltene Spezies. Überlegen Sie mal, was es wirklich heißt, ein Visionär zu
sein … Da ist zunächst einmal das schöpferische Genie, die Fähigkeit, das menschliche Streben
voranzubringen, und zwar nicht nur schrittweise, sondern in gewaltigen Größenordnungen.
Doch wie hochfliegend der kreative Geist auch sein mag, Visionäre agieren auf einer noch höheren Ebene. Denn ein Visionär verfügt nicht nur über schöpferisches Genie, sondern über eine
Weitsicht, die uns Normalsterblichen abgeht. Visionäre sehen voraus, wie man dieses Genie am
besten nutzt, um ein völlig neues Unternehmen aufzubauen oder eine Institution, ja einen ganzen
Industriesektor vor dem Untergang zu retten und wieder auf Vordermann zu bringen.
◆◆◆
Nur wenige Unternehmen können von sich behaupten, in ihrer Firmengeschichte je mit einem Visionär gesegnet worden zu sein. Das Haus Breguet hingegen kann
sich glücklich schätzen, in den nun 236 Jahren seines Bestehens gleich von zwei Visionären profitiert zu haben:
seinem Gründer Abraham-Louis Breguet und seinem Retter Nicolas G. Hayek.
Natürlich haben die heute bei Breguet tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Abraham-Louis Breguet nie
persönlich gekannt. Fast alle haben jedoch mit Nicolas G.
Hayek zusammengearbeitet. Falls Sie eines Tages Gelegenheit haben, die Werkstätten der Manufaktur zu besuchen,
werden Sie zweifellos überrascht sein, wie omnipräsent
Nicolas G. Hayek auch noch Monate nach seinem Tod in
den Büros, Ateliers, Werkhallen und auf den Werkbänken
der Uhrmacher in Form von Fotografien ist. Der „Senior“
– wie er gern genannt wurde, um ihn von seinem Sohn
Nick Hayek junior und seinem Enkel Marc A. Hayek zu
unterscheiden – macht den Eindruck, nach wie vor quicklebendig zu sein und den Betrieb zu führen. Seine Präsenz
ist jedoch nicht von oben gesteuert, die Direktion hat dies8
bezüglich keine Weisung erlassen. Doch die Breguet-Mitarbeiter sind von Nicolas G. Hayek senior und dessen Leben
derart berührt, dass sie die Erinnerung an ihn durch sein
Porträt am Arbeitsplatz wachhalten wollen.
Beim plötzlichen Ableben von Nicolas G. Hayek lobten
die internationalen Medien, die Fach- ebenso wie die allgemeine Presse einhellig seine Verdienste. Nachdem er 1957
eine erfolgreiche Firma für Unternehmensberatung gegründet hatte, wurde er 1980 von einem Schweizer Bankenkonsortium beauftragt, die beiden Uhrenkonzerne SSIH und
ASUAG zu liquidieren, die wie die ganze Schweizer Uhrenindustrie unter massiven finanziellen Schwierigkeiten litten. Doch statt wie vorgesehen die unumgänglich erscheinende Liquidation einzuleiten, schmiedete der Senior einen
Restrukturierungs- und Fusionierungsplan, der ihren Fortbestand ermöglichen sollte. Nachdem die Reorganisation
durchgeführt worden war, erwarb er zusammen mit einer
Investorengruppe das frisch fusionierte Unternehmen: Die
SMH war geboren. Die heute unter der Bezeichnung
Swatch Group bekannte SMH hat nicht nur die legendäre
Swatch hervorgebracht, sie wurde außerdem zur Konzern9
NICOLAS G. HAYEK
NUR WENIGE GESCHÄFTLICHE
KARRIEREN WURDEN SO GEFEIERT.
So bekannt die Leistungen von
Nicolas G. Hayek sind, die Einzelheiten
seines Engagements für Breguet
kennen nur wenige.
mutter zahlreicher berühmter Uhrenmarken wie Breguet,
Blancpain, Omega, Jaquet Droz, Longines und Glashütte
Original, um nur einige zu nennen. Sie alle wurden von
ihm gehegt und gepflegt, doch Breguet eroberte im Herzen
des Seniors einen Vorzugsplatz. Während die Medien die
weitsichtige Rettung der SSIH und ASUAG – die der gesamten Uhrenindustrie den Weg zum Wiederaufschwung
aufzeigte – ausführlich lobten und über seine spektakulären
späteren finanziellen Erfolge berichteten, blieb die Art und
Weise, wie er die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von
Breguet inspirierte und gemeinsam mit ihnen die Renaissance dieser Marke schaffte, weitgehend unerwähnt.
Da also die Finanzpresse die geschäftlichen Erfolge des
Seniors detailliert beleuchtete, sich über seine Rolle an der
Spitze von Breguet jedoch eher ausschwieg, fragt man sich,
wie und wo diese Geschichte zu finden ist. Bestimmt nicht
in den Printmedien. Sein echtes Porträt zeichnet sich nach
und nach im Gespräch mit seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern ab. Vergessen Sie alle üblichen Vorstellungen
eines unnahbaren Industriekapitäns, der sein PenthouseBüro kaum verlässt, eifrig bewacht von unerbittlichen
Chefsekretärinnen und Assistenten, die Türen und Telefonanrufe wie Zerberusse kontrollieren und nur einigen Auserwählten Zutritt ins Allerheiligste gewähren. Denn der
Senior setzte sich im direkten Kontakt mit allen BreguetTeams voll und ganz für das Unternehmen ein.
Die Entstehungsgeschichte der Modelllinie Tradition
ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Hingabe, mit der er
jede Breguet-Uhr bis ins kleinste Detail begleitete, und wie
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er die Teams zu Bestleistungen anspornte. Es ist kein Geheimnis, dass klassische Uhren branchenweit im Trend liegen; die Entwicklungsteams durchforsten auf der Suche
nach alten Zeitmessern, die kopiert werden können, offenbar sämtliche Archive und Museen. Die Entwickler der Linie Tradition waren sich bewusst, dass andere ihren Spuren
folgen würden. Doch der Senior riet seinen Mitarbeitern
gleich zu Beginn: „Vergesst die Vergangenheit, macht aus
der Tradition keine Kopie.“ Er suchte eine größere Herausforderung: Der Geist der Vergangenheit sollte eingefangen,
aber nicht sklavisch kopiert werden. Allmählich wuchs die
Begeisterung über das, was da Form annahm: eine moderne
Uhr mit einer Titanunruh – was sonst? – und dennoch ein
Stück mit einem mehr als zweihundertjährigen genetischen
Fingerabdruck. Der entscheidende Augenblick kam, als Nicolas G. Hayek die atemberaubende Schönheit des Uhrwerks der Tradition entdeckte. Das Team erinnert sich, wie
sich der Senior vor Freude über das neue Kaliber die Hände
rieb: „Ist das nicht ein außergewöhnliches, einzigartiges
Abenteuer, was wir da erleben?!“ Sekunden später war ihm
klar: Ein Mechanismus von derart schöner Schlichtheit
durfte nicht hinter einem konventionellen Zifferblatt verborgen werden. Deshalb wies der Senior sein Team, die Uhr
mit einem kleinen Zifferblatt auszustatten, um möglichst
viel Einblick in das prachtvolle Uhrwerk zu gewähren.
Grenzenlosen Enthusiasmus an den Tag zu legen, wenn
das Unternehmen erfolgreich arbeitet, ist eine Sache; eine
ganz andere ist es, diesen Optimismus in Zeiten globaler
Finanzkrisen zu bewahren. Der Senior führte nicht nur
Breguet und die anderen Marken seines Konzerns auf diese
Weise durch die düstersten Tage der Panik, er beeinflusste
die gesamte Uhrenindustrie, als er sein Vertrauen in einen
kommenden Aufschwung durch die Ankündigung bekräftigte, wegen der Krise keinen einzigen Mitarbeiter zu
entlassen. Andere Firmen dieses Sektors, denen dieser Optimismus und diese Durchhaltekraft abgingen, strichen
angesichts des Sturms die Segel und bauten Personal ab,
einige reduzierten die Zahl der Uhrmacher gar auf die Hälfte. Der Senior begnügte sich indessen nicht damit, die
Breguet-Belegschaft nur durch seine positive Einstellung
und seinen visionären Geist zu unterstützen. Er stärkte ihre
Zuversicht mit dem überzeugenden Argument, das Haus
Breguet habe schließlich auch den turbulenten Zeiten
◆ Nicolas G. Hayek und die Uhr Marie-Antoinette.
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NICOLAS G. HAYEK
der Französischen Revolution getrotzt. Abraham-Louis
Breguet gelang es damals, den Betrieb erfolgreich über die
Runden zu bringen – sogar während der kurzen Zeit, die er
aus Sicherheitsgründen in der Schweiz verbrachte –, ja er
konzipierte in diesen dunklen, unruhigen Tagen sogar den
Tourbillon-mechanismus. Man stelle sich vor: Seine berühmteste Komplikation, die in der Uhrmacherkunst noch
heute einen besonderen Stellenwert hat und als unübertroffen raffinierte Konstruktion gilt, wurde in einer Zeit entwickelt, in der die feudale Gesellschaftsordnung gestürzt wurde und die Köpfe rollten. Der Senior verstand diese
historische Episode als Lehrstück für die Krise von 2008. Er
machte allen klar, dass der Mut, der Abraham-Louis Breguet
bewog, mitten in den nachrevolutionären Wirren einen Geniestreich wie das Tourbillon zu erfinden, am besten dadurch gewürdigt werde, während der Bankenkrise mit unverändertem Tempo die Innovation voranzutreiben.
MARIE-ANTOINETTE,
EIN UNVERGLEICHLICHES PROJEKT.
Noch nie in der Geschichte der Uhrmacherkunst ist ein derart ehrgeiziges
Projekt wie die Neuerschaffung der Uhr
Marie-Antoinette von Breguet verwirklicht worden. Vier Jahre für
die Herstellung einer Uhr, die nie
verkauft werden wird!
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Der Senior erkannte zudem schon früh die Bedeutung
des Tourbillons für die Marke Breguet. Denn AbrahamLouis Breguet hatte ja nicht nur das Tourbillon, sondern
auch den Namen erfunden, mit dem diese Vorrichtung für
die Schwerkraftkompensation seither in der Lingua franca
der Uhrenbranche bezeichnet wird. Angesichts dieses bedeutenden Erbes entschied der Senior, den Tourbillonuhren in den Breguet-Kollektionen stets einen Ehrenplatz
einzuräumen. Folglich lenkte er das Augenmerk seiner Uhrmacherteams nicht bloß auf die Entwicklung neuer Varianten bereits bestehender Breguet-Tourbillons, sondern trieb
sie an, noch raffiniertere Tourbillondesigns zu kreieren.
Daraus resultierten die Tourbillonuhr Nr. 7047PT der Linie Tradition, die mit zahlreichen Innovationen wie einem
Titankäfig, einer Spiralfeder und Hemmung aus Silizium
sowie einer Kraftübertragung mittels Schnecke und Kette
ausgestattet ist, sowie die Grande Classique mit drehendem
Doppeltourbillon, in der zwei unabhängige Tourbillons
durch ein Differential gekoppelt sind. Dieses leitet ihre
mittlere Ganggeschwindigkeit auf die zentrale rotierende
Scheibe weiter, in die die Tourbillons eingebaut sind, wobei
ihre Brücke als Stundenzeiger dient.
Das Marie-Antoinette-Projekt ist ein weiteres Beispiel
dafür, wie sein ausgeprägtes Interesse für die Geschichte
von Breguet den Senior an neue Herausforderungen heranführte. Die Uhr von Marie-Antoinette war Abraham-Louis
Breguets wahrscheinlich ehrgeizigstes Projekt gewesen. Im
Auftrag eines Gardeoffiziers der Königin – möglicherweise
einer ihrer glühendsten Verehrer, doch vielleicht auch nur
ein Mittelsmann – begann Abraham-Louis Breguet 1783
mit dem Bau einer Uhr, die „alle damals bekannten Komplikationen“ enthalten und „wo immer möglich aus Gold
bestehen“ sollte. Nach langen Unterbrechungen wurde sie
erst mehr als 44 Jahre später, 1827, vier Jahre nach dem
Tod von Abraham-Louis, durch seinen Sohn und dessen
Mitarbeiter vollendet. Die Uhr Nr. 160, heute allgemein
unter der Bezeichnung „Marie-Antoinette“ bekannt,
gehört zu den kompliziertesten Zeitmessern, die je angefertigt wurden. Konkret enthält die Uhr mit Automatikaufzug, Ankerhemmung, goldener Spiralfeder mit
Breguet-Endkrümmung und doppelter Pare-chute-Stoßsicherung die Komplikationen Minutenrepetition, ewiger
Kalender, Zeitgleichung, Anzeige der Gangreserve, metallisches Thermometer, große unabhängige und ständige
kleine Sekunde. Doch damit nicht genug: Breguets Entscheid, das Zifferblatt aus Bergkristall anzufertigen, damit
der ganze Mechanismus sichtbar bleibt, beweist, dass er ein
echter Neuerer war. Transparente Zifferblätter, welche die
Oberseite des Uhrwerks zeigen, sind eine gestalterische
Idee, die sich erst in den letzten fünf Jahren so richtig
durchgesetzt hat. Breguet war also seiner Zeit rund zweihundert Jahre voraus! Dieser unvergleichliche Zeitmesser
ging durch mehrere Hände, bevor er dem Museum Mayer
◆ Nicolas G. Hayek und sein Enkel Marc A. Hayek.
in Israel vermacht wurde. Dort wurde er zusammen mit einer ganzen Uhrensammlung gestohlen und galt danach für
immer als verschwunden. Das weckte in Nicolas G. Hayek
den Wunsch, das Meisterwerk mit all seinen außergewöhnlichen Eigenschaften neu zu erschaffen.
Die Rekonstruktion der „Marie-Antoinette“ erfüllte in
jeder Hinsicht das Verlangen des Seniors, „außergewöhnliche Abenteuer zu erleben“. Das ehrgeizige Projekt war ein
geradezu gigantisches Unternehmen. Der Bau jeder sehr
komplizierten Uhr erfordert herkulische Anstrengungen
und seltene Fachkenntnisse. Doch die „Marie-Antoinette“
nachzubauen verlangte noch wesentlich mehr, da die Uhr ja
bis ins kleinste Detail dem legendären historischen Modell
entsprechen musste. Wie sich sein Enkel Marc Hayek erinnert, war es erneut der Weitblick des Seniors, der dem
Breguet-Team den Weg wies. Er war überzeugt, die Manufaktur Breguet könne dank der modernen Technologien,
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NICOLAS G. HAYEK
die ihr heute zur Verfügung stehen, Uhren realisieren, die
sich Abraham-Louis Breguet nicht einmal hätte vorstellen
können. Und er war auch der Meinung, sie müsse bei allem
Respekt vor ihrem Gründer die Uhrmacherkunst durch
den Einsatz dieser Hightech-Verfahren weiterentwickeln.
Gleichzeitig war es für das Unternehmen Ehrensache, zu
beweisen, dass es an der Spitze der heutigen Uhrmacherkunst steht und über das notwendige Savoir-faire verfügt,
um das geniale Werk Breguets nachzubauen. Dieser Syllogismus bewirkte, dass das mit dem Nachbau beauftragte
Uhrmacherteam von Breguet fieberhaft nach sämtlichen
Abbildungen und Beschreibungen der Marie-AntoinetteUhr suchte, um eine präzise Vorstellung von ihr zu erhalten. Hunderte von Komponenten wurden minutiös von
Hand angefertigt. Jede Anzeige und jede Komplikation
musste auf die genau gleiche Weise geformt werden und
funktionieren wie beim historischen Stück. Die Arbeit ging
zügig voran. Nach knapp vier Jahren, Ende 2007, war die
Replik fertiggestellt, im Frühling 2008 wurde sie der Presse
vorgestellt.
◆ Nicolas G. Hayek und sein Enkel Marc A. Hayek.
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Was aber besonders beweist, in welchem Ausmaß der
Senior Breguet als führende Manufaktur und Marke betrachtete, deren Pflicht als Branchenleader es sei, Projekte
anzupacken, die für andere Unternehmen der Uhrenindustrie zu aufwendig, zu gewagt und zu ambitioniert
wären, ist die Tatsache, dass er das Marie-AntoinetteAbenteuer startete, ohne sich zu entscheiden, ob die Uhr
verkauft werden solle oder nicht. Das muss man sich mal
vorstellen: Der Senior lancierte eines der schwierigsten
und kostspieligsten Uhrenprojekte in der Geschichte der
Uhrmacherei ohne klares kommerzielles Ziel! Und später,
als das Werk Form anzunehmen begann, entschied er, die
Uhr werde unter keinen Umständen verkauft. Als diese
Neuigkeit durchsickerte, regnete es zuhauf Kaufangebote
zu jedem Preis. Doch dies bestätigte dem Senior nur, wie
richtig er mit seinem Beschluss lag. Diese Uhr war viel zu
wichtig, um in irgendeinem Safe vor der Öffentlichkeit
verborgen zu werden. Die legendäre „Marie-Antoinette“
sollte als Meilenstein in der Geschichte der Uhrenindustrie im Besitz von Breguet bleiben und für Museen und
Sonderausstellungen zur Verfügung stehen, um die Neugier von Uhrmachern, Sammlern, Historikern und Uhrenliebhabern zu befriedigen.
Für den Senior war das „außergewöhnliche Abenteuer“
der „Marie-Antoinette“ allerdings nicht mit dem Zeitmesser selbst zu Ende. Die Uhr brauchte eine Schatulle, die
ihrer würdig war. Und ein Meisterwerk, das nie verkauft
und nie einem potenziellen Käufer präsentiert würde, verdiente ein Schatzkästlein! Für ein so bemerkenswertes Stück
genügten selbst die exquisitesten Präsentationskassetten der
Breguet-Kollektionen nicht. Nicolas G. Hayek hatte einen
großen Plan, der das wohl großartigste Projekt rund um
eine Uhrenschatulle zur Folge hatte.
Die Vorzeichen standen zunächst schlecht. Ende 1999
fegte der Jahrhundertsturm Lothar durch Frankreich und
Europa. In Versailles wütete er besonders verheerend. Zu
den Opfern zählte auch eine dreihundert Jahre alte Eiche im
Park des Trianon, in deren Schatten Marie-Antoinette besonders gern geruht haben soll. Der Baum überlebte zwar
schwer beschädigt, doch dann gab ihm der Hitzesommer
2003 den Rest: Das Urteil der Fachleute war unwiderruflich: Die Eiche musste gefällt werden. Als sich die Hiobsbotschaft bis in die Schweiz verbreitete, begann ein Gedanke Form anzunehmen. Warum nicht mit den Gärtnern von
Versailles Verbindung aufnehmen und schauen, was sich
machen lässt? Breguet schickte Vertreter nach Paris, um einen Teil der inzwischen gefällten Eiche zu erwerben. Die
für heutige Zeiten ungewohnte Antwort des Obergärtners
war kurz und bündig: Das Holz dieser Eiche wird nicht
verkauft, aber Breguet kann sich selbstverständlich umsonst
bedienen! Für die Schweizer Abgesandten war der Gedanke, das Holz einfach so zu nehmen, ihrem Naturell entspre15
NICOLAS G. HAYEK
HAYEK ARBEITETE NICHT, ER AMÜSIERTE
SICH ACHT BIS VIERZEHN STUNDEN PRO TAG.
Nicolas G. Hayek packte alles mit Optimismus,
Begeisterung und Zuversicht an und motivierte so
seine Mitarbeiter, es ihm gleichzutun.
chend unvorstellbar. Breguet musste das „unverkäufliche“
Holz in irgendeiner Form bezahlen. Der Ausweg aus der
Sackgasse wurde gefunden, als Breguet vorschlug, „eine
Schenkung für ein Renovationsprojekt in Versailles“ zu machen. Das Team machte sich auf den Heimweg, versehen
mit einer Liste von Vorhaben – wie die Instandsetzung von
Statuen und ähnlichem –, für die ein bescheidener Beitrag
willkommen wäre. Doch der Senior konnte dieser Liste
nichts abgewinnen. Das Team erinnert sich, wie seine Augen zu funkeln begannen, als er entschied, Breguet müsse
wesentlich mehr tun. Eine kleine Renovierung für 10 000
Euro sei nicht interessant und wichtig genug, doch vielleicht die Restaurierung des ganzen Petit Trianon, ja, das
würde zu Breguet passen. Außerdem erinnerte sich der Senior an seine Anfänge als Ingenieur und beschloss, Hayek
Engineering werde kostenlos einen Spezialisten zur Verfügung stellen, der die Baustelle während drei Jahren einmal
pro Woche besuchen werde.
Als Gegenleistung für dieses ehrgeizige Vorhaben erhielt
Breguet das Stammholz der Eiche. Damit war das Rohmaterial für die Prunkschatulle der Marie-Antoinette-Uhr gesichert: Der Schrein für dieses unverkäufliche Meisterwerk,
das ursprünglich für die Königin bestimmt war, wurde aus
dem Holz eines historisch ebenfalls mit ihr verbundenen
Baumes gefertigt. Doch damit nicht genug: Die Kassette ist
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außen mit einer getreuen Wiedergabe des Parketts im
Schloss Petit Trianon geschmückt. Und obwohl Breguet es
nicht hervorgehoben hat, sei hier doch erwähnt, dass diese
Uhrenschatulle mit Sicherheit die teuerste ist, die es je gab!
So bemerkenswert diese außergewöhnlichen Abenteuer auch sind, das Erbe des Seniors prosperiert ebenfalls
wegen seiner weniger aufsehenerregenden Aktivitäten bei
Breguet. Er setzte großen Wert auf die Inspiration und
Kreativität seines Personals. Seiner Meinung nach waren
Organigramme, Rapporte und Hierarchien Hindernisse,
die den Zielen, die ihm am Herzen lagen, im Weg standen. Er zog es vor, eine Atmosphäre des ungezwungenen
Austauschs und der Freiräume für die Kreativität zu schaffen. Er konnte sehr umsichtig und feinfühlig vorgehen, um
eine Organisation nach seinen Grundsätzen aufzubauen.
Ein Beispiel dafür ist die Aufgliederung der neuen BreguetManufaktur in L’Orient im Vallée de Joux. Statt Inseln zu
schaffen, die gleichartige Funktionen zusammenfassen
und von den andern isolieren, sorgte der Senior dafür, dass
die unzähligen verschiedenen Tätigkeiten in einer Uhrenfabrik durchmischt wurden. Gibt es eine bessere Methode,
um den Dialog zwischen Uhrwerkkonstrukteuren und
Uhrmachern zu fördern, als ihre Arbeitsplätze direkt nebeneinander zu platzieren?
Der Senior brauchte sich nicht um Organigramme
und Ähnliches zu kümmern, weil er die Fähigkeit hatte,
jedem Angestellten das Gefühl einer besonderen gegenseitigen Beziehung zu vermitteln. Selbstverständlich hatte
diese Nähe einen Preis, denn er erwartete von allen, dass
sie sich ebenso stark mit der Marke identifizierten wie er
selbst. Und es gab wohl keine schlechtere Antwort auf seine Bitten als: „Ich habe keine Zeit.“ Seine Reaktion bestärkte das alte Axiom, man müsse einen viel beschäftigten Menschen beauftragen, wenn man etwas gut und
schnell erledigt haben wolle. Beklagte sich jemand über zu
viel Arbeit und Zeitnot, entgegnete er: „Okay, ich mache
es selbst.“ Es war seine feste Überzeugung, der Schlüssel
zum Erfolg liege in der Schnelligkeit, mit der man die anstehenden Aufgaben erledigt. Dieses Prinzip gab mitunter
auch zu Scherzen Anlass. Als er das „Marie-Antoinette“Team 2005 drängte, Gas zu geben, schätzten die Uhrmacher ihren Zeitbedarf auf drei Jahre ein (es dauerte
schließlich vier). Die Antwort des damals 77-jährigen Seniors: „Schauen Sie mich an. Wissen Sie, was drei Jahre
für mich bedeuten? Für Sie ist das wenig, aber ich bin
dann 80!“
In seinen Beziehungen zum Team gab es eine Art Yin
und Yang. Er verlangte an einem Samstag telefonisch einen
Bericht über die Entwicklung eines Marktes. Eine Minute
später ließ er Blumen schicken als Dank für den ausgezeichneten Bericht. Wichtige Sitzungen mit den Breguet-Direktoren präsidierte er mit einer Fliegenklatsche in der Hand.
Sie hatte eine Doppelfunktion. Die eine war selbstverständlich, die lästigen Brummer ins Jenseits zu befördern. Andererseits benutzte er sie, um die Sitzung zu leiten und gelegentlich damit auf den Tisch zu schlagen und so seinen
Argumenten mehr Nachdruck zu verleihen.
Am wichtigsten war jedoch vielleicht, dass seine Arbeit
den Senior glücklich machte. Ja mehr als das. Wenn er zu
seiner Arbeit befragt wurde, folgte jedes Mal die gleiche
Antwort: „Ich arbeite nicht … Ich amüsiere mich acht bis
vierzehn Stunden pro Tag.“ Führung durch Vorbild war
seine Devise, um die Mitarbeiter zu motivieren. Die Freude, eine prächtige neue Uhr zu kreieren. Das Vergnügen,
sie herzustellen. Und über all dem spannten sich wie ein
Gewölbe Vertrauen und Optimismus. Wahrscheinlich ist
das der Grund, warum sein Geist in L’Abbaye (wo sich die
Büros von Breguet befinden) und L’Orient (dem Standort
der Manufaktur, wenige Autominuten davon entfernt)
immer noch allgegenwärtig ist. Sein „außergewöhnliches
Abenteuer“ geht weiter.
Nicolas George Hayek
(*19. Februar 1928 in Beirut, Libanon; † 28. Juni 2010 in Biel)
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HORA MUNDI
Classique
HORA MUNDI
Von Jeffrey S. Kingston
18
19
hora mundi
E
s gilt als gegeben und allgemein akzeptiert, dass jedes Element der Feinuhrmacherei von
Präzision durchdrungen ist. Ja für viele ist Genauigkeit der Kern oder Nukleus der Haute Horlogerie. Tatsächlich zeichnet Präzision ja nicht nur die funktionellen Leistungen der edelsten
mechanischen Zeitmesser aus, sondern hat auch entscheidenden Anteil an der Herstellung und
Endbearbeitung jedes einzelnen Bestandteils der Uhr. Doch da ist auch noch eine dritte Dimension. Mehr als zwei Jahrhunderte Entwicklung der Uhrmacherkunst haben zu einer bemerkenswerten Genauigkeit bei der Beschreibung der Bauweise, Einzelteile und Funktionen der Uhr
geführt. Spricht ein Uhrmacher beispielsweise von einem ewigen Kalender, weiß jeder andere
Uhrmacher und jeder Uhrenkenner, was er damit meint. Die Regeln, was einen echten ewigen
Kalender ausmacht, sind bestens bekannt und klar definiert. In anderen Worten: Die Uhrenfachsprache ist „präzise“.
◆◆◆
◆ Hora Mundi in Rotgold mit dem Zifferblatt der Neuen Welt.
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Doch so beruhigend es erscheinen mag, dass die Uhrensprache auf der Höhe der Zeit und der Zeitmesser ist:
Bei den GMT- oder Zeitzonenuhren hat sie einen falschen
Zungenschlag. Diese Ungenauigkeit ergibt sich aus der
Tatsache, dass es generell zwei verschiedene Arten von
GMT- oder Zeitzonenuhren gibt, die jedoch unterschiedslos mit diesen beiden Begriffen bezeichnet werden. Die
erste Art betrifft eine Uhr, die für Vielreisende und vor
allem Vielflieger entwickelt wurde. Die GMT- oder Zeitzonen-Komplikation dieses Typs bewahrt die Uhrzeit am
Heimatort des Besitzers in einem Unterzifferblatt und erlaubt das schnelle Vor- oder Rückwärtsstellen des großen
Stundenzeigers auf die Ortszeit der anderen Zeitzone, in
der er sich gerade aufhält. Diese Anordnung der Komplikation ist völlig logisch. Ist der Träger der Uhr in eine andere Zeitzone als jene gereist, in der er meist lebt, etwa auf
einem Flug von New York nach London, bewahrt die Uhr
die Zeit in New York auf einem untergeordneten Ziffer-
blatt (das meist eine 24-Stunden-Anzeige enthält oder damit gekoppelt ist). Auf dem Hauptzifferblatt verfügt der
reisende Besitzer nach dem Richten über die aktuelle
Lokalzeit, also die Zeit in London. Was ist die wichtigste
Funktion der Uhr? Selbstverständlich die Anzeige dieser
Londoner Ortszeit, und sie kann hier dank den großen
Zeigern mit einem Blick abgelesen werden. Die Zeit zu
Hause oder Home time ist weniger wichtig und kann kleiner angezeigt werden, braucht sie doch nur konsultiert
zu werden, wenn er wissen will, wie früh oder spät es zu
Hause in New York ist.
Es gibt jedoch noch eine andere Art der GMT- oder
Zeitzonenuhren als die eben beschriebene. Dieser Typ erlaubt dem Besitzer, eine Stadt pro Zeitzone rund um den
Globus auszuwählen (höchstwahrscheinlich eine, die
nicht der Zeitzone des aktuellen Aufenthaltsorts entspricht), um zu erfahren, wie spät es dort gerade ist. Da er
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hora mundi
sich nur über die aktuelle Zeit an einem anderen Ort bzw.
in einer anderen Zeitzone informieren will, zeigt das
Hauptzifferblatt weiterhin die Orts- oder Lokalzeit an seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort an, während die mit
der Städtescheibe gesuchte Zeit in der anderen Zeitzone
auf untergeordnete Weise erscheint (entweder auf einem
Unterzifferblatt oder mittels eines Drehrings, der mit den
auf der Lünette aufgeführten Zeitzonenstädten synchronisiert ist, wenn das von Louis Cottier in den 1930er-Jahren
entwickelte System verwendet wird). Ist der Träger der
Uhr in New York und will wissen, wie spät es in London
ist, bietet diese GMT-Uhr eine praktische Möglichkeit,
unter Wahrung der New Yorker Ortszeit auf untergeordnete Weise die Zeit in London aufzurufen. Dieser zweite
Typ der Zeitzonenuhr ist ideal als „Telefonuhr“, um zu vermeiden, dass der Gesprächspartner in der anderen Zeitzone aus dem Bett geholt oder während des Dinners gestört wird. Er eignet sich jedoch weit weniger auf Reisen,
da man die dortige Ortszeit auf untergeordneten Anzeigen
ablesen oder sonst die Uhr vollständig neu richten muss,
um sie auf das Hauptzifferblatt zu holen.
Leider vermengt die Uhrensprache diese beiden völlig
unterschiedlichen Konzeptionen von GMT- oder Zeitzonenuhren, da beide Arten unterschiedslos als „GMT-“
oder „Zeitzonenuhren“ bezeichnet werden. Der Käufer
kann sich nicht auf diese Bezeichnungen verlassen, um zu
erfahren, welche Art der Anzeige eine bestimmte GMToder Zeitzonenuhr bietet.
DAS FENSTER BEI 6 UHR ZEIGT,
DASS ES SICH UM EINE UHR MIT ZWEI
ZEITZONEN HANDELT.
Auf den ersten Blick scheint die Hora
Mundi eine Uhr mit einfacher Zeitanzeige
Die Lösung für das Dilemma, ob eine bestimmte Zeitzonenuhr eher dem „Reise-Typ“ oder dem „Telefon-Typ“
entspricht, liegt sicherlich weder darin, ein neues Fachlexikon der Uhrmacherei zu veröffentlichen, noch ellenlange
Beschreibungen von Uhren mit zwei Zeitzonenanzeigen
zu veröffentlichen. Die ideale Lösung bietet vielmehr die
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zu sein, hat sie doch nur ein Zeigerset.
Das Fenster gibt einen Hinweis auf die
Zusatzfunktion dieses Zeitmessers.
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hora mundi
ZWEI BELIEBIGE DER 24 ZEITZONEN
WERDEN ABWECHSELND ANGEZEIGT.
Sind die beiden Zeitzonen einmal eingestellt,
wechselt die Anzeige der Uhr auf simplen
Knopfdruck von der einen zur andern.
neue Breguet Classique Hora Mundi. Weil diese Uhr mit
einer Art mechanischem „Gedächtnis“ ausgestattet ist,
kann sie einerseits die Ortszeit auf dem Hauptzifferblatt
anzeigen (mit der Zeit zu Hause, die auf Wunsch gesehen
werden kann) und ist damit die perfekte Personifizierung
der echten Reiseuhr. Andererseits kann sie ebenfalls auf
Wunsch auf demselben Zifferblatt die Zeit in einer beliebig
wählbaren zweiten Zeitzone anzeigen und dann augenblicklich wieder auf die Zeit zu Hause wechseln. Damit ist
sie die perfekte Verkörperung der „Telefonuhr“.
Auf den ersten Blick sieht die Breguet Classique Hora
Mundi keineswegs wie eine GMT- oder Zeitzonenuhr aus.
Der Grund dafür: Neben der großen Sekunde verfügt sie
nur über je einen Stunden- und Minutenzeiger. Ein Unterzifferblatt für eine zweite Zeitzone fehlt. Mit diesem Erscheinungsbild wirkt der Zeitmesser wie eine Uhr, die sich
auf die bloße Zeitanzeige beschränkt. Diese ist jedoch mit
einem mechanischen Gedächtnis unter dem Zifferblatt gekoppelt, das die Zeiten zweier verschiedener Zeitzonen
bewahren kann. Drückt man die Krone mit integrierter
Drückerfunktion bei 8 Uhr, wechseln die Zeiger von der
einen im Zeitgedächtnis gespeicherten Zeitzonenzeit auf
24
die andere. Damit ist die Verwechslung zweier verschiedener Zeitanzeigen, der bisher alle herkömmlichen GMToder Zeitzonenuhren unterworfen waren, vollständig eliminiert. Seither ist auch die Frage gegenstandslos, ob die
Uhr für einen Wechsel auf dem Haupt- oder eher auf einem Unterzifferblatt konzipiert wurde. Die Breguet Classique Hora Mundi erleichtert das Einstellen sowohl der
Home time als auch der Zeit an irgendeinem anderen
Punkt des Globus und zeigt auf Wunsch die Zeit in jeder
beliebigen Zeitzone an, die der Träger zu sehen wünscht.
Die Bedienung könnte nicht einfacher sein. Für die
erste Zeitzone (wohl meist die Zeit zu Hause) zieht der
Besitzer der Uhr die Krone bei 8 Uhr heraus und wählt
durch Drehen im Fenster bei 6 Uhr die Stadt aus, die der
eigenen Zeitzone entspricht. Nun stellt er mit der Hauptkrone bei 3 Uhr die aktuelle Uhrzeit ein und speichert diese Zeitzone durch Drücken der 8-Uhr-Krone. Danach
kann er im 6-Uhr-Fenster eine beliebige andere der 24
Zeitzonenstädte auswählen und speichern, worauf die Uhr
von diesem Punkt an auf Knopfdruck die Zeit in dieser
ausgewählten Zeitzone anzeigt. Ist er inzwischen in diese
Region gereist, bietet die Uhr eine ideale Ortszeitanzeige.
Will er wissen, wie spät es zu Hause ist, genügt ein erneutes Drücken der 8-Uhr-Krone, um dank des mechanischen Gedächtnisses auf die dortige Zeit zu wechseln.
Damit verfügt die Hora Mundi über das klassische funktionale Konzept einer Reiseuhr. Ist der Besitzer hingegen zu
Hause geblieben und will nur die aktuelle Zeit in einer
anderen Weltgegend kennen, wählt er mit der 8-Uhr-Krone einfach die entsprechende Stadt an, worauf die dortige
Zeit erscheint. Bei erneutem Drücken kehrt die Anzeige
zur Uhrzeit zu Hause zurück: die ideale Funktionsweise
einer „Telefonuhr“. Noch nie zuvor hat eine Zeitzonenuhr
eine so perfekte Anpassung an die beiden Paradigmen geboten.
Das mechanische Gedächtnis, das diesen Durchbruch
ermöglichte, entspricht in vielem der Chronographenkonstruktion. Eines der zentralen Bauteile eines klassischen
Stoppuhrmechanismus ist ein sogenannter Herznocken.
Wird ein Arm, in der Uhrensprache auch Hammer genannt,
gegen den Herznocken gepresst, dreht sich der Letztere
dank seiner logarithmischen Form stets in die Position, in
der der Hammer im „Brustausschnitt“ ruht. In der Stoppuhr dienen Nocken und Hammer dem Rückstellen der
Zählerzeiger auf null. In welcher Position sich der Herznocken auch befinden mag, sobald der Hammer schlägt, kehrt
er in die vorprogrammierte Nullstellung zurück.
In der Breguet Classique Hora Mundi sind zwei separate Herznocken am Werk, die beide mit je einem vom
Räderwerk angetriebenen Rad verbunden sind. Wird im
Fenster bei 6 Uhr eine Zeitzone gewählt, ändert sich die
Position eines der beiden Nocken und dreht dessen Rad,
bis der Hammer in seinem Ausschnitt sitzt. Wird der Kronendrücker erneut betätigt, schlägt das andere Ende des
Hammers auf den zweiten Herznocken und dreht ihn mit
dem Rad, bis er mit dem Hammer im Ausschnitt stehe
bleibt. Bei jedem weiteren Drücken wechselt der Hammer
zwischen den Nullstellungen der beiden Herznocken und
damit zwischen den beiden programmierten Zeitzonen.
DAS GEHEIMNIS DER HORA MUNDI:
EIN MECHANISCHES GEDÄCHTNIS.
Oben sind die wichtigsten Komponenten des
mechanischen Gedächtnisses zu sehen; zwei
Herznocken, der Hammer für den Wechsel
der Zeitzonen und das mit dem Stundenzeiger
gekoppelte Differential.
Selbstverständlich ist das alles etwas komplizierter, als
man aufgrund dieser vereinfachten Beschreibung glauben
könnte, da die Zeiger sowohl vom Räderwerk als auch von
den Herznocken aus jeder Position heraus angetrieben
werden. Dies setzt bei der Zeigersteuerung ein Differential
voraus, das die unterschiedlichen Drehbefehle des Räderwerks und der Nocken aufnimmt und kombiniert.
Das System eines mechanischen Gedächtnisses für die
Anzeige zweier verschiedener Zeitzonen in der Breguet
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hora mundi
Classique Hora Mundi ist für sich allein schon ein bemerkenswerter Fortschritt bei der Konstruktion von Zeitzonenuhren. Doch das ist nur die erste Hälfte ihrer raffinierten Funktionen. Da sind ja noch zwei andere höchst
wichtige Anzeigen, die beim Zeitzonenwechsel eine Rolle
spielen: das Datum und die Tag-Nacht-Anzeige. Damit
eine Zeitzonenuhr wirklich nützlich ist, sollte sie das Datum in der neuen Zeitzone anzeigen (das will ich als Benutzer ja schließlich kennen) und angeben, ob es zu Hause
Tag oder Nacht ist (ob ich jetzt nachmittags oder morgens
um drei Uhr anrufe, ist ja doch ein gewaltiger Unterschied).
Die Breguet Classique Hora Mundi wird beiden Erwartungen gerecht. Wechselt die Anzeige zwischen den
beiden gespeicherten Zeiten, wechseln auch das Datum
und die Tag-Nacht-Anzeige, sofern notwendig. Damit
entspricht das Datum im Fenster bei 12 Uhr immer dem
Datum der aktuellen Zeitanzeige, und im Tag-NachtFenster bei 4 Uhr erscheint dementsprechend eine Sonne
oder ein Mond. Wie die Kenner von Reiseuhren wissen, ist
es bei den meisten Modellen gar nicht einfach, Datum und
neue Ortszeit in Einklang zu bringen. Denn obwohl eine
neue Ortszeit eingestellt wird, kann das Datum noch den
Vortag anzeigen. Oder anders gesagt: Damit das Datum
immer richtig eingestellt werden kann, muss der Mechanismus den Datumwechsel vor- und rückwärts erlauben.
Bei vielen Konstruktionsweisen kann man jedoch das Datum nur vorwärts verstellen, weshalb sie für einen schnellen Zeitzonenwechsel wie bei der Classique Hora Mundi
nicht infrage kämen. Breguet musste deshalb hier eine
Vorrichtung entwickeln, die das Vor- und Rückstellen des
Datums ermöglichte.
All diese Funktionen, die sämtliche Wünsche der Liebhaber in Sachen Reise- oder Telefonuhr erfüllen, mögen
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hora mundi
DREI ZIFFERBLATTVARIANTEN ZUR WAHL.
Das raffiniert aufgebaute Zifferblatt der Hora
Mundi ist mit einer Darstellung Asiens (Bild
links), Europas oder Nord- und Südamerikas
lieferbar.
kompliziert erscheinen, wenn man sie beschreibt. Doch sie
erweisen sich als sensationell einfach, sobald man die Uhr
in der Hand hält. Zuerst wird der Benutzer die Zeit und
das Datum in seiner Heimat-Zeitzone einstellen wollen.
Durch Herausziehen und Vor- oder Rückwärtsdrehen der
Krone bei 8 Uhr kann die dieser Zeitzone entsprechende
Stadt im 6-Uhr-Fenster angewählt und durch Drücken
der Krone gespeichert werden. Damit wird die erste Zeitzone gesetzt. Das Richten der Uhrzeit und des Datums
erfolgt dann wie bei jeder anderen Uhr mit der Krone bei
3 Uhr. In Position 1 (ganz eingeschoben) dient sie dem
Aufziehen des Automatikwerks, in Position 2 dem Einstellen des Datums und in Position 3 (ganz herausgezogen) dem Richten der Uhrzeit. Sind Zeit und Datum eingestellt, stimmen alle Anzeigen für die Zeit zu Hause.
Will man wissen, wie spät es in einer anderen Zeitzone ist,
zieht man einfach die Krone bei 8 Uhr heraus und dreht
sie, bis die gewünschte Stadt im 6-Uhr-Fenster erscheint.
Das Datum und die Tag-Nacht-Anzeige wechseln automatisch, wenn im Fenster Städte erscheinen, die genügend
weit entfernten Zeitzonen entsprechen. Ist die gewünschte
Stadt beziehungsweise Zeitzone gewählt und durch Drücken der Krone ebenfalls gespeichert, kann auf einfachste
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hora mundi
Weise zwischen den beiden Städten und ihren Zeitzonen
gewechselt werden. Das Drücken der 8-Uhr-Krone spannt
eine Feder, welche die oben erwähnten Herznocken und
Hämmer aktiviert. Alle drei Anzeigen – Zeit, Datum und
Tag-Nacht-Anzeige – sind synchronisiert und ändern, sofern notwendig.
Über ihre revolutionären Zeitzonenfunktionen hinaus
bietet die Classique Hora Mundi eine ästhetische Verfeinerung im Einklang mit der großen Tradition von Breguet.
Das Zifferblatt hat vier Teile, von denen drei aus Gold
sind: einen großen zentralen Bereich mit der Darstellung
einer der großen Weltregionen; die Minutenskala und den
Stundenkreis mit großen arabischen Ziffern sowie die
zweiteilige Tag-Nacht-Anzeige mit einerseits handgravierten Wolken und andererseits einem Hintergrund aus Lapislazuli als einziger Komponente, die nicht aus Gold besteht. Der zentrale Bereich ist äußerst komplex aufgebaut.
Er besteht zunächst aus einer Goldscheibe, die in einem
ersten Schritt poliert wird, bevor sie in eine konvex gewölbte Form gebracht wird. Nachdem das Datumfenster
ausgeschnitten und die Scheibe erneut poliert worden ist,
fräst man im Laserverfahren die dargestellten Kontinente
aus (angeboten wird die Uhr in drei Kontinentversionen:
Nord- und Südamerika, Europa und Afrika, Asien und
Ozeanien). Die Kontinentflächen werden anschließend
sandgestrahlt und die Ozeane mit einem handguillochierten
Wellendekor geschmückt. Schließlich trägt man mehrere
Lackschichten für die Farbgebung auf. Zeitraubende
Handarbeit ist auch für die Gestaltung des Wolkenbereichs der Tag-Nacht-Anzeige erforderlich, in den zusätzlich der Breguet-Schriftzug und die Uhrnummer eingraviert werden.
Die Breguet Classique Hora Mundi ist erhältlich in
18 Karat Rotgold oder Platin 950.
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DIE ERSTE ARMBANDUHR
BREGUET SCHUF
die erste Armbanduhr
FÜR EINE KÖNIGIN
Von Emmanuel Breguet
◆ Caroline Murat, Königin von Neapel,
Gemälde von Baron François-Pascal Simon,
Baron Gérard (1770–1837).
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DIE ERSTE ARMBANDUHR
V
on allen Mitgliedern der Familie Bonaparte war Caroline Murat (1782–1839) die beste Kundin des Hauses Breguet. Die jüngste, eigentlich Annunziata getaufte Schwester Napoleons tätigte
ihren ersten Kauf 1805, im Alter von 23 Jahren, und setzte dann die Erwerbungen bis 1814 in
regelmäßigem Rhythmus fort. Die Frau, die 1800 Joachim Murat heiratete, damals Kommandant der konsularischen Garde, und mit ihrem Ehemann von 1808 bis 1815 das Königreich
Neapel regierte, besaß nicht weniger als 34 Uhren und Pendülen von Breguet. Während der bewegten Regentschaft in Neapel förderte Caroline Murat die Künste, kümmerte sich um die Einrichtung der königlichen Paläste, interessierte sich für die archäologischen Ausgrabungen von
Pompeji und Herculaneum und förderte die Entwicklung der frühindustriellen Fertigung. Sie
ließ es sich zudem nicht nehmen, französische Maler wie Ingres, die Pariser Mode- und Theaterwelt ... sowie die Uhrmacherei der Ville Lumière in Neapel bekannt zu machen.
Offensichtlich fand Caroline Geschmack an der Uhrmacherkunst und schätzte ganz besonders die Kreationen,
die aus Breguets Werkstätten am Quai de l’Horloge hervorgingen. Über seine Zeitmesser konnte sie sich selbstverständlich mit den zahlreichen Mitgliedern der Familie
Bonaparte unterhalten, denn die Arbeitsbücher der
Breguet-Archive aus der napoleonischen Periode warten
mit einer Fülle von Namen und Adelstiteln ihrer Verwandtschaft auf. Napoleon selbst ist 1798, vor seinem
Aufbruch zum Ägyptenfeldzug, als Käufer dreier Zeitmesser erwähnt; die beiden Kaiserinnen Joséphine ab 1797
und Marie-Louise ab 1811; Joseph, König von Neapel und
später von Spanien; Louis, König von Holland, und Lucien, Prinz von Canino; Jérôme, König von Westphalen;
Pauline und ihr Gatte, der Prinz Borghese; Elisa, die
Großherzogin der Toskana … Ganz abgesehen von deren
Angehörigen, die alle hohe Würdenträger, Marschälle, Generäle waren … Die Erwerbungen der kaiserlichen Familie
Bonaparte wären eine eigene Studie wert!
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Analysiert man die Käufe dieser Herrschaften anhand
der Manufakturregister, kommt man einer spannenden
Eintragung auf die Spur. Sie weist darauf hin, dass Abraham-Louis Breguet von 1810 bis 1812 für Caroline Murat
eine Armbanduhr anfertigte.
Eine Armbanduhr zu dieser Zeit? Unmöglich, sollte
man meinen, viel zu früh! Denn im Angebot der Uhrengeschäfte erscheint die Armbanduhr nur zögerlich im ausgehenden 19. Jahrhundert, um 1880 für Damen, ein wenig
später für Herren. Um 1910 ziehen dann Radfahrer, Reiter, Flugpioniere und erste Automobilisten nach und nach
die Uhr am Handgelenk derjenigen in der Westentasche
vor, und schon bald führt jeder Uhrenfabrikant eine oder
mehrere Armbanduhren im Katalog. Auch all das ist zwar
schon ziemlich lange her, doch wie oft bei Erfindungen
gibt es Vorläufer in früheren Zeiten, die in Vergessenheit
gerieten oder bloß den Spezialisten bekannt sind.
Was die Armbanduhr betrifft, wollen wir die Belege
für Taschenuhren, die nachträglich an Anhängern oder
auf breiten Armbändern befestigt wurden, beiseite lassen.
Hier interessieren ausschließlich jene Stücke, die speziell
und von Grund auf als Armbanduhren konzipiert wurden.
Lange nahm das Haus Patek Philippe in Genf für sich in
Anspruch, in diesem Bereich eine Pionierrolle gespielt zu
haben: „1868 bestellte die ungarische Gräfin Kocewicz die
erste wirkliche Armbanduhr.“
Mit Breguet und Caroline Murat, der Königin von
Neapel, sind wir beinahe sechzig Jahre früher dran …
Doch was steckt hinter dieser unglaublichen Geschichte?
Was berichten uns die Chroniken darüber? Begeben wir
uns nach Paris, wo an der Place Vendôme die historischen
Dokumente der Manufaktur im Archiv des Hauses
Breguet aufbewahrt werden. Öffnen wir zunächst das
◆ Der Palazzo Reale, Neapel, kolorierte Lithographie.
35
DIE ERSTE ARMBANDUHR
Buch der besonderen Bestellungen (man nannte sie damals „Kommissionen“), in dem die spezifischen Wünsche
derjenigen Kunden aufgeführt sind, die sich nicht mit den
von Breguet vorgestellten lieferbaren Stücken zufriedengeben wollten. Dieses Kommissionenbuch enthält alle Arten
von Komplikationsmechanismen und oft phantasievollen
Vorrichtungen, die Abraham-Louis Breguet für seine
Kunden, häufig mächtige und berühmte Persönlichkeiten,
zu verwirklichen gedachte. Auf Folio 29 ist vermerkt, dass
die Königin von Neapel am 8. Juni 1810 die Bestellung für
zwei eher außergewöhnliche Stücke aufgab: eine Kutschenuhr mit großen Komplikationen zum Preis von 100
Louis d’or, „… plus une montre pour bracelet à répétition
dont on lui fait le prix 5000 Francs“ (sowie eine Uhr fürs
Armband mit Repetition, für die man von ihr den Preis von
5000 Francs verlangt). Folgen wir nun der Genese dieser
erstaunlichen Bestellung, und öffnen wir das Fabrikationsregister, das Buch, welches die technische Beschreibung
jeder Uhr enthält, mit der vollständigen Zusammenfassung
aller Arbeitsschritte, die zur Verwirklichung des Stücks
führten.
Zuerst einmal wurde die Bestellung der Königin von
Neapel als Uhr Nr. 2639 der Breguet-Produktion registriert, und zwar mit der – noch nie da gewesenen – Bezeichnung „répétition de forme oblongue pour bracelet“
(Repetition in länglicher Form für Armband). Das Stück
ging am 11. August 1810 in Produktion, genau zwei Monate nach dem Auftragseingang, und wurde am 21. Dezember 1812 fertiggestellt. Seine Verwirklichung dauerte
somit beinahe zweieinhalb Jahre. Man erfährt, dass es sich
um eine Repetieruhr handelt, genauer: um eine der bei
Breguet üblichen Viertelstundenrepetitionen, und man
entdeckt zudem, dass die Uhr länglich beziehungsweise
oval ist, was bei Breguet außergewöhnlich ist. Das Fabrikationsregister verrät uns außerdem, dass diese Uhr eine
Ankerhemmung besitzt und mit einem Thermometer ausgestattet ist. Ihre Herstellung erforderte 34 verschiedene
Arbeitsschritte und beschäftigte 17 Personen, die namentlich aufgeführt sind. Anfang Dezember 1811 scheint die
Uhr fertig gewesen zu sein; sie wurde am 5. Dezember mit
4800 Francs fakturiert. Breguet hatte sie bei der Bestellung für 5000 Francs offeriert, und er hielt mit dem um
200 Francs niedrigeren Rechnungsbetrag Wort!
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Während ihrer Regentschaft in Neapel
förderte Caroline Murat die schönen Künste
in jeder Form und sicherte so den Ruhm
zahlreicher französischer und italienischer
Künstler.
◆ Das Zimmer von Caroline Murat im Palazzo Reale in Neapel,
Aquarell von Montagny Elie-Honoré, 1811.
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DIE ERSTE ARMBANDUHR
Dennoch wurde die Uhr nicht ausgeliefert. Sie verließ
die Werkstätten erst ein Jahr später … Abraham-Louis
Breguet muss die Entscheidung getroffen haben, die Auslieferung hinauszuzögern. Denn die Regel in der Manufaktur
von Breguet war, dass man erst lieferte, wenn alles einwandfrei funktionierte. Erste Feststellung: Man wechselte das
Zeigerwerksystem aus, da es offenbar nicht ganz zufriedenstellend lief oder beim Regulieren beschädigt worden war.
Dann ersetzte man – zweifellos auf Wunsch der Königin –
das guillochierte Gold- durch ein Silberzifferblatt mit demselben Dekor, wobei ausdrücklich die arabischen Ziffern
erwähnt sind (die üblicherweise für Emailzifferblätter verwendeten arabischen Ziffern finden sich auf Breguets Goldund Silberzifferblättern sehr selten). Schließlich ist das
Stück am 21. Dezember 1812 vollendet. Wahrscheinlich
wurde es Königin Caroline geschickt, die nach Neapel zurückgekehrt war, um die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, da ihr Gatte Murat an der Seite von Kaiser Napoleon
in den Russlandfeldzug gezogen war.
Da im Archiv keinerlei Skizze der Uhr gefunden wurde,
müssen wir weiterforschen, um etwas über ihr Aussehen zu
erfahren. Zum Glück findet sich ihre Spur 1849 in einem
Rhabillagebuch des Hauses wieder, in dem die Reparaturen
von Breguet-Uhren aufgelistet sind, also mit heutigen Worten im Kundendienstregister. Dort ist nachzulesen, dass am
8. März 1849 die Gräfin Rasponi, „… wohnhaft in Paris,
63 rue d’Anjou“, ihre Uhr Nr. 2639 zur Reparatur brachte.
Die Besitzerin ist niemand anderes als Louise Murat. Diese
1805 als viertes und letztes Kind geborene Tochter von Joachim und Caroline Murat hatte 1825 den Grafen Giulio
Rasponi geheiratet. Was die Uhr betrifft, ist sie perfekt beschrieben: „Sehr flache Repetieruhr Nr. 2639, Silberzifferblatt, arabische Ziffern, mit Thermometer und Vorgang/
Nachgang außerhalb des Zifferblatts, die genannte Uhr
wird in ein Armband aus golddurchwirktem Haar eingepasst, Repetition auf Verlangen, einfacher goldener Schlüssel, dazu ein anderes mit Gold verziertes Armband in einem
Etui aus rotem Saffianleder. Zum Reparieren.“ Die Präzision des Textes ist anerkennenswert und verrät die Bewunderung des Verfassers für das ungewöhnliche Objekt.
Am 27. März 1849 wurde die Uhr ihrer Besitzerin zurückgegeben. Die Reparatur zum Preis von 80 Francs ist wie
folgt beschrieben: „Man hat die Zapfen poliert, das Thermometer neu eingestellt, die Repetition mit ihren Funktionen gerichtet, das Zifferblatt aufgefrischt, die Uhr in all
ihren Teilen kontrolliert, gereinigt und reguliert.“ 1855
wurde die Uhr erneut bei Breguet repariert. Das ist die letzte Spur, die das Haus von ihr besitzt.
Heute ist die Uhr unauffindbar. Sie ist in keiner öffentlichen oder der Öffentlichkeit bekannten privaten Sammlung aufgelistet. Existiert sie noch? Wird sie eines Tages
wieder auftauchen? Die Nachforschungen sind im Gange,
Hinweise willkommen!
Dank den Beschreibungen in den Archiven kann man
sich eine Vorstellung von dieser ersten Armbanduhr machen. Und obwohl einige Hinweise fehlen (Maße, genaue
Anordnung der Funktionen auf dem Zifferblatt, Form des
Armbands sowie Art der Befestigung und des Verschlusses), kann man ein derartiges Kunstwerk und eine solche
Pioniertat nur bewundern.
Wie könnte man beim gegenwärtigen Wissensstand anders, als Abraham-Louis Breguet Anerkennung zu zollen?
Nach der Bestellung der Königin von Neapel vom 8. Juni
1810 entwickelte der König der Uhrmacher die erste Armbanduhr der Welt, die speziell für diesen Zweck bestimmt
war. Ein Stück mit einer gänzlich neuartigen Architektur
und unglaublicher Raffinesse, da es sich um eine Repetieruhr mit Komplikationen handelt, oval, außerordentlich
flach und mit einem aus Haaren geflochtenen und mit
Goldfäden verzierten Armband versehen. Die Ehre der Pioniertat gebührt auch Caroline Murat, einer echten Verehrerin der Uhrmacherkunst, ohne die Breguet vielleicht nie
eine solche Uhr geschaffen hätte. Einer Caroline Murat, die
– das ist kaum bekannt – über ein Uhrmacherland hätte
herrschen können. Denn ihr Bruder, Kaiser Napoleon, bot
ihr 1806 das Fürstentum Neuchâtel an, aber sie befand
dieses Hoheitsgebiet als zu klein ... Doch das Rad der Geschichte dreht man nicht zurück.
◆ Dank den Breguet-Archiven – hier ein Fabrikationsregister – können oft sämtliche Einzelheiten der Herstellung
verfolgt werden, etwa bei der Uhr Nr. 2639, aufgeführt als „längliche Repetieruhr für Armband“.
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10 HERTZ
Die neue Limite:
10 HERTZ
Von Jeffrey S. Kingston
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10 HertZ
F
ortschritt ist offensichtlich nur in Schritten zu haben. Selbst das Mooresche Gesetz, benannt
nach Intel-Gründer Gordon Moore, das die atemberaubenden Fortschritte der Komplexität und
damit der Leistungsfähigkeit integrierter Schaltkreise richtig vorausgesagt hat, weicht nicht von
diesem Axiom im elektronischen Milieu ab, gemäß dem hier die Verdoppelung innerhalb weniger
Monate dem normalen Zuwachs entspricht. In anderen Bereichen stößt man selten, wenn überhaupt, auf Entwicklungssprünge vergleichbarer Größenordnung. Doch mit dem neuen TypeXXII-Chronographen ist Breguet genau dies gelungen.
In den über zweihundert Jahren Weiterentwicklung der Schweizer Ankerhemmung, die das Kernstück praktisch aller qualitativ hochwertigen mechanischen Schweizer Uhren bildet, hat die Frequenz oder Halbschwingungsgeschwindigkeit nicht oder nur graduell zugenommen. Im letzten halben
Jahrhundert betrugen die üblichen Frequenzen zwischen 18 000 und 28 800
Halbschwingungen pro Stunde; nur bei wenigen Zeitmessern schwingt die Unruh 36 000 Mal pro Stunde hin und her. Kürzlich kündigte zwar eine Marke im
Vallée de Joux stolz an, sie habe die Frequenz auf 43 200 Halbschwingungen pro
Stunde gesteigert (allerdings mit einer anderen Hemmungsart). Doch das
entspricht ja genau dieser Schritt-für-Schritt-Entwicklung, die man in einem
Umfeld mechanischer Konstruktionen, die seit mehr als zwei Jahrhunderten
herangereift sind, erwarten darf.
Stellen Sie sich nun nicht eine Steigerung um rund 7000 Halbschwingungen, sondern um eine klare Verdoppelung der bis vor Kurzem höchsten Frequenz
vor, nämlich 72 000 Halbschwingungen pro Stunde oder 10 Hertz! Dies ist
der „Quantensprung“, den Breguet beim Type-XXII-Chronographen realisiert
hat. Genießen Sie diesen Gedanken einen Augenblick: Hier schwingt die Unruh mehr als fünfmal schneller als bei dem oben erwähnten und mit großem
medialem Aufwand angekündigten letzten industriellen Meilenstein in diesem
Bereich.
EIN ENTWICKLUNGSSPRUNG
BEI DER UNRUHFREQUENZ.
Die Steigerung der Frequenz mechanischer Uhren ging bisher langsam
voran. Eine Erhöhung um 7000
Halbschwingungen pro Stunde
wurde noch kürzlich als revolutionär
betrachtet. Der Chronograph Type
XXII bietet eine fünfmal höhere
Geschwindigkeit.
Doch es geht ja hier um weit mehr als nur Zahlenwerte.
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10 Hertz
Diese Steigerung der Frequenz sorgt für offensichtliche Verbesserungen bei
der Gang- und Messgenauigkeit von Chronographen. Die Revolution des neuen
Type XXII hat das Bewegungsbild des Sekundenzeigers völlig verändert. Wird
dieser von einer Unruh mit beispielsweise 21 600 statt 18 000 Halbschwingungen angetrieben, kann nur das geübte Auge einen Unterschied bei seinen winzigen Schritten erkennen. Er springt dann jede Sechstel- statt jede Fünftelsekunde.
Das sind zweifellos kleinere Sprünge, was aber mit bloßem Auge nicht wirklich
auseinanderzuhalten ist. Anders ist das bei einer Steigerung auf 72 000 Halbschwingungen. Hier ist der Unterschied enorm. Statt jede Fünftel- oder Sechstelsekunde springt der Zeiger jede Zwanzigstelsekunde. Das Auge nimmt das
nicht mehr als kleine Hüpfer wahr, sondern als sanftes kontinuierliches Gleiten.
Dieses sanfte Kreisen geht zudem mit höherer Auflösung und Genauigkeit
einher. Da jede Sekunde in zwanzig kleine Abschnitte unterteilt ist, kann man
die Zeit in diesen Stufen stoppen, das heißt auf die Zwanzigstelsekunde genau.
Das sind die für den Besitzer sofort erkennbaren Vorteile. Doch es gibt noch
andere wichtige Fortschritte, die vielleicht nicht so augenfällig, aber ebenso bedeutsam sind. Die bahnbrechend hohe Frequenz sorgt für bedeutende Verbesserungen bezüglich der Gleichmäßigkeit und Genauigkeit der Zeitanzeige der
Uhr. Uhrmacher beurteilen die Qualität eines Spiralfeder-Unruh-Paars, indem
sie den Grad des Amplitudenverlusts messen, das heißt die Gradzahl des Halbschwingungswinkels der Unruh nach dem ersten Ingangsetzen und ihrem anschließenden freien Oszillieren. Je niedriger der Amplitudenverlust, desto hochwertiger ist die Konzeption der Unruhkonstruktion und desto gleichmäßiger der
Gang der Uhr. Wird die Frequenz der Unruh erhöht, steigt auch das Drehmoment dieses Oszillatorsystems. Und die physikalischen Gesetze lehren uns, dass
ein Oszillator mit höherem Drehmoment auch weniger anfällig für Erschütterungen und andere Beeinträchtigungen ist als eine langsamer schwingende Vorrichtung. Damit sorgt die Frequenzsteigerung für Verbesserungen bei zahlreichen
entscheidenden Messwerten der Unruhleistung, und so profitiert der Träger der
Uhr von einer stabileren Ganggenauigkeit.
Möglich machten diesen Magnitudensprung bei der Uhrwerkperformance
modernste Werkstoffe und Konstruktionsprinzipien. Spiralfeder, Anker und Ankerrad der Hemmung des Type-XXII-Chronographen sind aus Silizium gefertigt.
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10 Hertz
Dies ist das Ergebnis von mehr als sechs Jahren Forschungsarbeit im Bereich des
Siliziumeinsatzes in Armbanduhren. Die ersten Uhren mit Siliziumkomponenten waren die auf der Baselworld 2006 vorgestellten Modelle 5197 und 5177.
Beide boten Hemmungen mit konventioneller Unruhfrequenz. Der Type-XXIIChronograph ist nun ein weiterer Fortschritt, da hier das geringe Gewicht des
Siliziums genutzt wird, um das Regulierorgan mit rekordbrechender Frequenz
schwingen zu lassen.
Mit dem Einsatz von Silizium steht Breguet an vorderster Front der modernen Uhrenkonstruktion, doch die Manufaktur hat ihre Führungsposition im
Entwicklungsbereich noch weiter vorangetrieben. Seit mehr als zweihundert
Jahren suchen die Uhrmacher mit den verschiedensten Mitteln, die Auswirkungen von Temperaturschwankungen auf die Ganggenauigkeit zu verringern. Die
Spiralfeder ist eine der kritischen Komponenten bezüglich der Dilatation von
Metallen. Spiralfeder-Legierungen wie die von Nivarox, die heute in den meisten
mechanischen Uhren verwendet werden, bieten bis heute eine ausgezeichnete
Antwort auf diese Frage. Der Wechsel auf das Halbmetall Silizium machte neue
Forschungen über den Einfluss von Temperaturschwankungen notwendig. Die
durch ein Patent geschützte Antwort von Breguet ist ein spezieller Prozess der
thermischen Siliziumoxidierung.
BREGUET IST EIN PIONIER BEIM
EINSATZ VON SILIZIUM.
Links: das filigrane Hemmungsrad aus
Silizium des Type-XXII-Chronographen.
Für die superschnelle Frequenz war jedoch mehr erforderlich, als nur die
Spiralfeder aus der Nivarox-Legierung und den Anker sowie das Hemmungsrad
aus Stahl durch Silizium zu ersetzen. Weitere Neuerungen wurden notwendig
bei der Formgebung des Hemmungsrads und des Ankers, um ihre Masse und
dementsprechend ihr Trägheitsmoment zu verringern. Ein herkömmlicher Anker aus Stahl zum Beispiel wiegt 7,5 Gramm, der Siliziumanker des Type XXII
hingegen mit 2,6 Gramm nur ein Drittel davon. Wichtiger ist jedoch, dass hier
das Trägheitsmoment auf nur noch 10 Prozent desjenigen eines Stahlankers
gesenkt ist. Die Verringerung des Gewichts dieser zentralen Bauteile der Uhr
erwies sich als einer der entscheidenden Trittsteine, um die Frequenz auf die revo-lutionären 72 000 Halbschwingungen pro Stunde steigern zu können.
Der Einsatz von Silizium bietet jedoch noch einen weiteren Vorteil. Herkömmliche Hemmungsräder müssen geölt werden, um die Abnutzung durch
Abrieb zu verhindern. Dank der enorm hohen Abriebfestigkeit von Silizium
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10 Hertz
DIE FUNKTIONEN DES TYPE XXII.
Der Type XXII bietet selbstverständlich
sämtliche Funktionen eines FlybackChronographen mit zwei Drückern und
als zusätzliche Komplikation eine
GMT-Zeitzonenanzeige.
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10 HERTZ
braucht die äußere Oberfläche des Rads überhaupt nicht mehr geölt zu werden,
und das ist bei dieser hohen Frequenz besonders wichtig.
Einen zweiten Trittstein bildete das Design der Unruh selbst. Breguet hat
beim Einsatz von Titan für die Unruh Pionierarbeit geleistet und das Ergebnis
patentieren lassen. Unruhen aus diesem Metall mit seinem geringen Gewicht in
Verbindung mit goldenen Regulierschrauben für das Feinstellen der UnruhHalbschwingungen und damit der Ganggeschwindigkeit eignen sich nicht nur
ideal für herkömmliche Unruhfrequenzen, sondern auch besonders gut für den
Type-XXII-Chronographen, denn bei dessen Rekordfrequenz ist ein minimales
Trägheitsmoment grundlegend wichtig.
Passenderweise erfolgt dieser revolutionäre, die Spielregeln beim Bau mechanischer Chronographen verändernde Fortschritt fast gleichzeitig mit einem
50-Jahr-Jubiläum. Der erste Type-XX-Chronograph von Breguet erschien in den
1950er-Jahren als Bestellung der französischen Streitkräfte, die eine sowohl von
den Navigatoren der Flugwaffe wie der Marine einsetzbare Stoppuhr suchten.
Die Bezeichnung Type XX (manche nannten die frühen Versionen des Modells
„Type 20“) illustriert eine erstaunliche historische Kontinuität, trug doch das
letzte Flugzeug, das Abraham-Louis Breguets Enkel, der Luftfahrtpionier Louis
Breguet, gebaut hatte, die Bezeichnung Type XIX. Alle von den französischen
Streitkräften erworbenen und den Piloten als Teil ihrer Standardausrüstung abgegebenen Type-XX-Modelle gehörten zu den ersten Stoppuhren der Uhrengeschichte, die mit der Flybackfunktion ausgestattet waren. Dieses automatische
Nullen und Neustarten ist eine der sinnvollsten Stoppuhrkomplikationen und
äußerst wichtig für Piloten und Navigatoren, die vor der Funkpeilung und dem
GPS für ihre Standortbestimmung in der Luft laufend auf exakte Zeit-DistanzBerechnungen angewiesen waren. Dabei stoppt der Pilot beim Passieren eines
Navigationspunkts (in der Fliegersprache „Fix“ genannt) den Chronographen
mit dem Start/Stopp-Drücker, notiert die Zeit und lässt den Drücker gleichzeitig
wieder los, worauf augenblicklich eine neue Zeitmessung bis zum nächsten Fixpunkt erfolgt. Entscheidend ist dabei, dass der Chronograph beim Reset oder
Nullen sofort erneut starten kann. Bei klassischen Stoppuhren mit zwei Drückern ist dafür ein dreifaches Betätigen erforderlich: fürs Stoppen, Nullrückstellen und den erneuten Start, was etwas länger dauert. Die Flybackfunktion des
Type-XX-Chronographen mit einmaligem Betätigen des Reset-Drückers für
Stoppen, Nullen und Neustarten verbesserte deshalb die Präzision der laufenden
Zeit-Distanz-Kalkulationen im Flug beträchtlich.
Selbstverständlich fügt sich der Type-XXII-Chronograph – abgesehen von
seiner hohen Frequenz – ganz in die Linie der Type-XX-Familie ein, indem er
die Flybackfunktion bietet, die schon das ursprüngliche Type-XX-Modell
berühmt gemacht hatte. Und auch beim restlichen Erscheinungsbild hält er
seinem Erbe die Treue. Großzügiger Durchmesser von 44 mm für sofortiges
50
sicheres Ablesen, Drehlünette, Edelstahlgehäuse, schwarzes Zifferblatt im Military-Stil mit arabischen Ziffern … alles erinnert an das Design des ersten TypeXX-Chronographen.
Die Treue zum Erscheinungsbild des Originals hat jedoch nicht verhindert,
die Vorteile des Hochfrequenz-Uhrwerks zu nutzen. Statt einen ChronographenSekundenzeiger zu bieten, der eine Umdrehung pro Minute macht, rotiert dieser
im Type XXII doppelt so schnell, mit einer Umdrehung in 30 Sekunden.
Deshalb stehen die Sekundenstriche auf dem Zifferblatt doppelt so weit auseinander wie bei einem herkömmlichen Chronographen, was das Ablesen der
Zwanzigstelsekunden erleichtert. Wegen der zwei Umdrehungen des Sekundenzeigers pro Minute musste selbstverständlich eine Anzeige entwickelt werden,
die dem Benutzer sagt, ob gerade die erste oder zweite Hälfte der Minute angezeigt wird. Dies wurde durch spezielle Markierungen auf dem Zifferblatt erreicht: Wie beim Vorgängermodell Type XXI kreist auf dem Type-XXII-Chronographen ein großer Minutenzählerzeiger über eine äußere Minutenteilung,
auf deren Markierungen klar erkennbar ist, ob der Chronographenzeiger einen
Wert innerhalb der ersten oder zweiten 30 Sekunden angibt. Als Ergänzung ist
ein 12-Stunden-Zähler in einem Unterzifferblatt bei 6 Uhr platziert.
Neu in der Type-XX-Modelllinie ist die GMT-Funktion. Dafür kann der
Stundenzeiger des Hauptzifferblatts mit der verschraubbaren Krone in Stundenschritten verstellt werden, um auf die aktuelle Ortszeit zu wechseln, wenn der
Träger der Uhr in eine andere Zeitzone fährt oder fliegt, während die Zeit zu
Hause auf einem 24-Stunden-Unterzifferblatt bei 3 Uhr erhalten bleibt.
Ergänzt werden die Zifferblattanzeigen durch ein Datumfenster bei 6 Uhr.
Traditionell hatten alle Zeitmesser der Type-XX-Linie einen geschlossenen
Gehäuseboden, wie es sich für militärische Stoppuhren gebührt. Der Chronograph Type XXII weicht nur leicht von dieser Vorgabe ab. Die Schwingungen
der Highspeed-Unruh und der Hemmung sind jedoch so fesselnd, dass es
schade gewesen wäre, sie vor allen Blicken verborgen zu halten. Deshalb wurde
der sonst massive Edelstahlboden mit einem runden Fenster über der Unruh
versehen, das Einblick in diese von keiner anderen Armbanduhr erreichte Frequenzgeschwindigkeit gewährt. Und da die Schwingmasse des Automatikaufzugs von Zeit zu Zeit unter dem Saphirglas dieses Bullauges vorbeigleitet,
wurde sie speziell dekoriert.
FORTSETZUNG EINER TRADITION.
Der Type-XXII-Chronograph basiert auf
der reichen Geschichte der Breguet-Fliegeruhren, die vor sechzig Jahren mit dem
ursprünglichen Type XX für die französischen Marineflieger der Aeronavale
begann.
So kann der Type-XXII-Chronograph als Brückenschlag zwischen zwei Epochen angesehen werden – derjenigen vor mehr als einem halben Jahrhundert, als
er für die französische Armee entwickelt wurde, und der Zeit des heutigen Pioniermodells mit seiner Spitzentechnologie, das als erste Armbanduhr der Welt
eine Frequenz von 10 Hertz erreicht.
51
DIE GUILLOCHE
Die Guilloche
Von Jeffrey S. Kingston
52
53
Die Guilloche
L
inke Gehirnhälfte. Rechte Gehirnhälfte. Vernünftig und funktionell oder musisch und emotional? Wie oft steckt der Geist Objekte oder
Motive entweder ins eine oder andere Kästchen? Praktisch jedes Mal. Das
ist es, weshalb es auch niemandem in den Sinn kommt, Gedichte über das
Familienauto zu schreiben oder Blumenarrangements für ein Navy-SealsTrainingscamp zu bestellen.
Wenn es jedoch eine Ausnahme gibt, die diese Regel
bestätigt, ist das Guillochieren dafür das perfekte Beispiel.
Angenommen, das Zifferblatt sei ein vom Uhrmacher
gemaltes Bild, dann gäbe es wohl keine raffiniertere, elegan-
◆
Nr. 7337
Motive links: Gerstenkorn
(Hauptzifferblatt),
alternierender Korb (innerer
Stundenkreis), Sonnenstrahlen (kleine Sekunde),
tere und faszinierendere Ausdrucksform der Uhrmacher-
Bordüre (Rand des Stunden-
kunst als ein Guillochemuster. Ein Blick in die Archive be-
kreises); Korb (Mondphase),
stätigt, dass Abraham-Louis Breguet, der das Verfahren vor
Netz (Rand der Kartuschen).
über zweihundert Jahren als erster Uhrmacher auf Zifferblättern anwandte, dies in erster Linie aus ästhetischen
Gründen tat. Dennoch wäre es ein Irrtum, sich mit dieser
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55
Die Guilloche
◆ N
r. 5707
Motive rechts: Clou de Paris
(Hauptzifferblatt); Pavé de Paris
(Zähler bei 3 Uhr); alter Korb
(obere Zählerhälfte bei 9 Uhr),
geflammt (untere Zählerhälfte
bei 9 Uhr); Gerstenkorn (Zähler
bei 6 Uhr); Bordüre (Rand des
Stundenkreises); Netz (Rand der
Kartuschen).
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57
Die Guilloche
Feststellung zufriedenzugeben, da man damit nur einen
Bruchteil der Motive Breguets für die Wahl dieser Technik
berücksichtigen würde. Betrachtet man sein Leben und
sein Werk genauer, stellt sich heraus, dass Breguet seinen
Überzeugungen von der Funktionalität sämtlicher Elemente des Uhrendesigns stets treu blieb. Linke Gehirnhälfte.
Rechte Gehirnhälfte. Für Breguet war der Guillochagedekor schön und funktionell zugleich.
Die ornamentale Guillochegravur ist ein künstlerisches
Seite 58
◆ N
r. 8828
Motive oben links: Wellen
(Hauptzifferblatt).
Verfahren, das bereits den antiken Griechen bekannt war.
◆ N
r. 5827
Unsicher ist hingegen, wann genau erstmals halbmechani-
Motive unten links: abwechselnd
sche Gravurgeräte verwendet wurden. Einer Schulmeinung
folgend gilt der französische Ingenieur Guillot als Erfinder
der Guillochiermaschine oder Drehbank für das Gravieren
geflinkert (Hauptzifferblatt).
Seite 59
◆ N
r. 5967
Motiv oben links: Art-déco-
von Linienmotiven auf Metall (im Deutschen auch Rund-
«Kubus».
und Geradzugmaschine genannt). Andere Quellen be-
◆ N
r. 5177
haupten hingegen, das Guillochieren sei eine Erfindung des
Motiv oben rechts: Schachbrett
Deutschen Hans Schwanhardt. Wie auch immer, Breguet
gestrichelt (Hauptzifferblatt).
scheint diese Technik während einer Reise nach London
58
59
Die Guilloche
◆ N
r. 5157
Motive rechts: Clou de Paris
(Hauptzifferblatt); Bordüre
(Rand des Stundenkreises), Netz
(Rand des Kartuschen).
60
61
Die Guilloche
entdeckt zu haben, wo damit vor allem Möbelstücke verziert wurden.
Nach seiner Rückkehr begann Breguet in Paris unverzüglich, mit der Anwendung des Verfahrens auf Zifferblättern zu experimentieren. Zweifellos erkannte er die bedeutenden funktionellen Vorteile dieses feinen Gravurdekors.
Erstens sind die Zeiger auf einem so mattierten Zifferblatt
viel besser sichtbar als auf blankem Metall, was das Ablesen
der Uhrzeit erheblich erleichtert. Zwar waren zu dieser Zeit
vorwiegend große, barock verschnörkelte Zeiger beliebt, die
sich von jedem Hintergrund abhoben. Die Guillochage eb-
◆ N
r. 5347
Motive links: kreisförmiger Korb (Hauptzifferblatt); Bordüre (Rand des Stundenkreises).
nete jedoch den Weg zu feineren, eleganteren Zeigern. Die
feine Guillochetextur bildete den genau richtigen Hintergrund für Breguets „Pomme“-Zeiger aus gebläutem Stahl
mit ihrem leicht exzentrisch gelochten Ring hinter der feinen Spitze. Längst zu Klassikern geworden, nennt man sie
◆ N
r. 5317
Motive oben: Clou de Paris (Hauptzifferblatt), kreisförmige Wellen (Gangreserveanzeige); Bordüre (Rand des Stundenkreises);
Netz (Rand der Kartuschen).
in der Uhrmachersprache allgemein Breguetzeiger.
Breguets Versuche brachten einen zweiten praktischen
Vorteil ans Tageslicht. Als er die Muster auf dem Zifferblatt
variierte, erkannte er, dass er so verschiedene Zonen abgren62
63
40
DIE GUILLOCHE
30
20
10
0
B R E GUE T
zen, hervorheben und definieren konnte, um darin Komplikationsfunktionen und spezielle Anzeigen zu platzieren.
Da sich so das Hauptzifferblatt ohne großen Aufwand optisch in Unterzifferblätter unterteilen lässt, bildete die Guillochemuster-Vielfalt auf den Metallzifferblättern Breguets
praktisch von Anfang an eine gestalterische Konstante.
Dieselben künstlerischen und funktionellen Ziele, die
Breguet vor weit über zweihundert Jahren in seiner Werk64
65
DIE GUILLOCHE
statt am Quai de l’Horloge 39 veranlassten, die Guillochiertechnik zu übernehmen, sind bis heute gültig geblieben. Zwei Design- und Herstellungsaspekte haben sich
allerdings seither geändert. Erstens beschichtete Breguet
seine guillochierten Zifferblätter nicht, sondern verwendete Massivgold oder -silber, sodass sie die ursprüngliche
Edelmetallfarbe behielten. Heute werden die Zifferblätter
der Breguet-Uhren entweder aus Massivgold oder bei
66
67
DIE GUILLOCHE
◆
Nr. 5497
Motive rechts: abwechselnd
geflinkert (Innenfläche
gewissen Damenmodellen aus Perlmutt hergestellt. Anders
als zu Breguets Zeiten überzieht man die Zifferblätter aus
des Stundenkreises);
Gold mit einer feinen Silberschicht, was der Guillochage
drapiertes Moiré (Haupt-
mehr visuelle Tiefe verleiht. Und zweitens haben neue Mo-
zifferblatt); Netz (Rand
der Kartuschen).
tive – obwohl die herkömmliche Guillochiermaschine und
die Handarbeit geblieben sind – das Repertoire bereichert,
um eine zuvor ungekannte ästhetische Vielfalt zu bieten.
Stellen Sie sich die Aufnahmen, die diesen Artikel illustrieren, als Bilder einer Ausstellung vor. Mit jedem Umblättern betreten Sie einen anderen Raum dieser Galerie
der Breguet-Guillochen.
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69
DAS PETIT TRIANON
DAS PETIT
TRIANON
Von Marie-Hélène Huet,
Professorin an der Princeton University
◆
Der Pavillon français im Garten des Petit Trianon
70
71
DAs Petit Trianon
F
rankreich besitzt eine Fülle von Schlössern, in denen die Erinnerung an ihre berühmten
ehemaligen Bewohner wachgehalten wird. Zwei davon sind besonders erwähnenswert: Chenonceau, das elegante Wasserschloss im Cher, das für immer mit der bezaubernden Diane de Poitiers
verbunden bleibt, der Mätresse König Heinrichs II., und das reizende Lustschlösschen Petit
Trianon, in dem Königin Marie-Antoinette vor dem Ausbruch der Französischen Revolution die
glücklichsten Sommermonate ihres Lebens verbrachte.
◆◆◆
Erbaut wurde das Petit Trianon im Auftrag von König
Ludwig XV. als fürstliches Präsent für seine Geliebte, Madame de Pompadour. Die Bürgerliche hatte das Herz des
Königs durch ihre Schönheit und Intelligenz erobert. Seit
ihrer ersten Begegnung 1745 bis zu ihrem Tod im Jahre
1764 setzte sie sich für die Förderung und Entwicklung der
Künste ein. Das Projekt des Petit Trianon wurde AngeJacques Gabriel anvertraut, einem der renommiertesten
Architekten der damaligen Zeit, und die Arbeiten begannen 1763. Doch Madame de Pompadour starb, bevor der
Bau vollendet war, und das Schlösschen wurde 1768 vom
König und von Madame du Barry eingeweiht, der lebenslustigen, jedoch weniger kultivierten neuen Favoritin von
Ludwig XV., die den Platz von Madame de Pompadour
eingenommen hatte.
72
Der Gegensatz zwischen der majestätischen Pracht von
Schloss Versailles und dem Petit Trianon ist verblüffend.
Nur wenige Kilometer vom Königsschloss entfernt scheint
das elegante Palais in magischer Abgeschiedenheit inmitten
eines Parks mit gewundenen Alleen, Hecken und Sommerpavillons zu ruhen. Einen Übergang bildet der elegante
Französische Garten, einziger Teil der ursprünglichen Anlage aus der Zeit von Ludwig XV., zwischen dem Großen und
Kleinen Trianon. Er ist der vollkommene Gegensatz zum
Eindruck ungebändigter Natürlichkeit, den der unter
Marie-Antoinette hinter dem Schlösschen angelegte Englische Garten vermittelt. Dieser bietet unerwartete Ausblicke,
etwa auf einen Bach, der sich durch die Landschaft schlängelt, einen kleinen See und einen Bauernweiler. Zweifellos
steckt hinter der Anlage hohe Kunst und ein minutiös aus-
◆ Die Westfassade und der Französische Garten.
73
DAs Petit Trianon
dern. Kleine Sommerpavillons betonen die geschwungenen
Linien des Parks. Der Musikpavillon Belvédère oder der auf
einer künstlichen Insel in der Mitte des Sees stehende
Temple de l’Amour erinnern die Besucher daran, dass diese
scheinbar freie Natur in Wirklichkeit das Resultat umsichtiger Planung ist. Die Umgestaltung des Parks dauerte mehrere Jahre. Die anmutigen Pavillons wurden geschickt so
platziert, dass jedes Fenster des Petit Trianon einen vollendet harmonischen Ausblick in die Gartenlandschaft bietet.
◆ Das Theater von Marie-Antoinette.
gearbeiteter Masterplan. Doch wie als Erinnerung an die
glücklichen Sommermonate, die Marie-Antoinette im Petit
Trianon verbrachte, weitab vom Pomp und dem steifen
Zeremoniell des Hofs, herrscht hier auch noch heute eine
Atmosphäre von Muße und ungestörter Harmonie.
Ludwig XVI. schenkte Marie-Antoinette das Petit Trianon 1774. Er hätte der neunzehnjährigen Königin, die unter der steifen Etikette von Versailles und dem monotonen
Tagesablauf litt, wohl keine größere Freude machen können. Die Königin engagierte die besten Architekten und
Künstler ihrer Zeit für die Vollendung der Innenausstattung
und Erneuerung des Parks. Sie machte das Petit Trianon zu
ihrer eigenen Domäne, indem sie die wichtigsten Räume
neu einrichtete, exquisite Möbel bestellte und den botanischen Garten Ludwigs XV. für einen herrlichen Park mit
einem Bach, einem kleinen See und einer Grotte opferte.
Sie wurde bei ihren Plänen von Richard Mique unterstützt,
dem offiziellen Architekten des Königs. Er verstand es, die
strengen Linien des klassizistischen Baus durch die charakteristische freie Gestaltung des Englischen Gartens zu mil74
DAS PETIT TRIANON
WAR EIN GESCHENK.
In Versailles blieb Marie-Antoinette nichts anderes übrig, als sich dem antiquierten Protokoll zu fügen, im Petit
Trianon hingegen schwang sie das Zepter. Ohne persönliche Einladung hatte hier niemand Zutritt. Sie ersetzte einige große Bilder, die in den Sälen des Erdgeschosses hingen,
durch Werke, die sie an ihre Kindheit in Wien erinnerten.
Das Vestibül war mit zwei imposanten Tapisserien des österreichischen Malers Johann Georg Weikert geschmückt.
Marie-Antoinette hatte ihn beauftragt, Studien umzusetzen, die er zu einem Theaterstück realisiert hatte, das von
den Kaiserkindern anlässlich der Hochzeit ihres älteren
Bruders, Erzherzog Joseph, geschrieben und in Wien aufgeführt worden war. Eines dieser Gemälde mit dem Titel Le
Triomphe de l’Amour zeigt die junge Marie-Antoinette in
den Kleidern einer Braut beim graziösen Tanz mit ihrem
Bräutigam unter den Augen Cupidos. Bedeutung und Symbolik sind unschwer zu deuten: Dieses Gut gehört einer
jungen Königin, hier werden alle Freuden zelebriert, die mit
der neckischen Tyrannis des Liebesgottes verbunden sind.
Das Äußere des klassizistischen Lustschlösschens
täuscht über die wirklichen Dimensionen und die Komplexität des Petit Trianon hinweg. Jede Fassade ist unterschiedlich, jedes Fenster zeigt einen anderen Landschaftsausschnitt, die Stockwerke sind durch mehrere Treppen
miteinander verbunden – einige sorgfältig vor unerwünschten Blicken getarnt –, und jeder Raum scheint ein Geheimnis zu bergen. Die prächtigen Privatgemächer der Königin
befinden sich im Hauptgeschoss. Dazu gehören die Empfangsräume, aber auch das mysteriöse Cabinet des glaces
mouvantes (Kabinett der beweglichen Spiegel), in dem ein
Rollsystem erlaubt, in der Wandverkleidung verborgene
Spiegel herunterzuziehen, um damit die Fenster zu verdecken. Dank diesem System verfügte Marie-Antoinette über
Kein Präsent hätte die neunzehnjährige Königin mehr
gefreut als das Schlösschen
Petit Trianon, das nur ihrer
Unterhaltung und Lebensfreude gewidmet war.
◆ Königin Marie-Antoinette, Porträt von Jean-Baptiste Gautier-Dagoty, 1775.
75
DAs Petit Trianon
Hofstaats, die sich an der blutjungen, freigeistigen Königin
rächten, von der sie sich ins Abseits gestellt und zu wenig
beachtet fühlten.
Marie-Antoinette begab sich jeden Sommer ins Petit
Trianon, wo sie mehrere Monate frei über ihre Zeit und ihre
Vergnügungen verfügen konnte. Der König selbst soll nur
auf Einladung hin gekommen sein und keine einzige Nacht
in den Gemächern verbracht haben, die für ihn hergerichtet
worden waren. Die junge Königin organisierte Spiele und
Ausflüge und führte in einem kleinen, vorzüglich ausgestatteten Theater Stücke auf. Der Bau ist ebenfalls ein Werk
von Richard Mique, der ihr Lieblingsarchitekt geworden
war. Marie-Antoinette liebte das Theater, und hin und wieder verließ sie Versailles diskret in Begleitung des jüngeren
Bruders des Königs und einiger seiner Freunde, um Aufführungen in Paris zu besuchen. Obwohl verkleidet, wurde die
Königin prompt erkannt, und in der Gerüchteküche brodelte es nach jeder unvorsichtigen Eskapade noch heftiger.
Das Theater des Petit Trianon ermöglichte es Marie-Antoinette zweifellos, ihre Leidenschaft für die Bühne standesgemäßer auszuleben: Sie konnte Aufführungen besuchen,
ohne einen Skandal zu riskieren, und stand sogar mehrmals
selbst auf der Bühne. Anfangs war es nur ihrem kleinen
Freundeskreis erlaubt, ihr Beifall zu spenden, doch mit der
Zeit wurden auch andere privilegierte Aristokraten und Offiziere des Königs eingeladen. Die letzte von Marie-Antoinette gespielte Rolle war die Rosine im Barbier von Sevilla
von Beaumarchais 1785.
◆ Die Haupttreppe.
einen kleinen, von der Außenwelt vollständig abgeschlossenen Privatbereich. Er vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit, war aber auch ein Ort, wo allen Phantasien freier Lauf
gelassen werden konnte, weit weg von den Zensoren, die
der Königin in Versailles das Leben schwer machten. Es
drängt sich auf, das Cabinet des glaces mouvantes als eine
ironische Antwort auf die majestätische Galerie des Glaces
zu verstehen, die Ludwig XIV. in Versailles als Spiegelung
seines blendenden Ruhms hatte einrichten lassen. Das Privatgemach von Marie-Antoinette bewahrt das Geheimnis
76
ihrer glücklichsten Tage als Königin von Frankreich. Doch
mit wem teilte sie die Intimität ihres Kabinetts, das so gut
vor der Neugier der Umgebung geschützt war? Selbstverständlich kursierten wilde Gerüchte über den kleinen
Freundeskreis, der regelmäßig im Petit Trianon ein und aus
ging – darunter der Graf von Artois, der jüngere Bruder
Ludwigs XVI., außerdem der Graf von Vaudreuil und die
schöne Herzogin von Polignac – und an nicht ganz unschuldigen Lustbarkeiten teilgenommen haben soll. Urheber dieses Klatsches waren sicherlich alte Mitglieder des
Nach der Französischen Revolution diente das Petit
Trianon kurze Zeit als Restaurant, bis Napoleon I. es seiner
Lieblingsschwester schenkte, der schönen Pauline Borghese.
Ihr bewegtes Leben erlaubte Pauline allerdings nicht, längere Zeit in diesem friedlichen Refugium zu verweilen.
Nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, des Generals Charles
Leclerc d’Ostin, heiratete sie den Prinzen Camillo Borghese
und ließ sich in Italien nieder, wo sie einen Skandal auslöste, als sie Antonio Canova halbnackt für seine Venus Victrix
Modell saß, eine wunderbare Marmorstatue mit von einem
Tuch bedeckten Beinen, die heute in der Galerie Borghese
in Rom ausgestellt ist. Während der Julimonarchie verbrachte die Herzogin von Angoulême, die Tochter MarieAntoinettes, einige Tage im Petit Trianon. Später ließ Kaise-
◆ Von Jean-Ferdinand Schwerdfeger 1788 angefertigte Konsole für das Schlafzimmer
von Marie-Antoinette.
BESUCHER KAMEN NUR AUF
EINLADUNG INS PETIT TRIANON.
Die Sommer im Petit Trianon brachten
der Königin Freiheit vom höfischen Zwang.
Die Mitglieder des Hofs durften nur auf
Einladung kommen, selbst der König,
der hier nur einmal weilte.
77
DAs Petit Trianon
rin Eugénie das Schlösschen mit großer Sorgfalt restaurieren.
1867 wurde die Sommerresidenz von Marie-Antoinette
schließlich zum Museum. Obwohl nie völlig verlassen, blieb
das Petit Trianon im Zustand passiver Bestandserhaltung
und verlor im Schatten von Versailles allmählich seinen
Glanz. Bis zu dem schicksalhaften Augenblick, in dem der
Sturm Lothar 1999 das Interesse an der Königin und ihrem
Privatsitz unversehens wachrief.
◆ Das Schlafzimmer von Marie-Antoinette.
JEDE WOHNUNG WAR
MIT EIGENEN MOTIVEN UND
FARBEN AUSGESTATTET.
Die Zimmer des Petit Trianon
spiegeln die Erinnerungen an die
Königin wider. Wer hätte es
gewagt, ihre Vergnügungen
zu kontrollieren?
78
Das neue Kapitel begann mit dem Tod einer dreihundertjährigen Eiche im Park von Versailles, von der es hieß,
sie habe seinerzeit Marie-Antoinette Schatten gespendet.
Bereits geschwächt vom Sturm, ging die historische Eiche
im Hitzesommer 2003 vollends ein und musste gefällt werden. Das Haus Breguet – dessen Gründer Abraham-Louis
Breguet eine langjährige Beziehung mit Ludwig XVI. und
Königin Marie-Antoinette gepflegt hatte – interessierte sich
für das Schicksal des alten Baumes, und in der Folge wuchs
der Entschluss, die Restaurierung des prächtigen Parks und
des bezaubernden Schlösschens zu unterstützen. Im Vallée
de Joux fand eine Sitzung statt, und zwar „in einem winterlichen Dekor, der eine Postkarte wert gewesen wäre“, wie
sich Nicolas G. Hayek erinnerte. Am Schluss dieses Meetings entschied er im Namen der Breguet SA, die volle Verantwortung für die gesamte Renovierung des Petit Trianon
zu übernehmen.
Am Tag, als wir das Petit Trianon in Begleitung von zwei
jungen Historikern und einer der Konservatorinnen des
Schlösschens besuchen durften, schneite es ebenfalls, und es
war mindestens so kalt. Der Nordwind fegte über die große
Esplanade, die zum Hof von Versailles führt, und wir
schätzten es, im Auto durch den weitläufigen Park bis vor
die Pforten der Privatdomäne von Marie-Antoinette fahren
zu können. Nur einige wenige Besucher hatten an diesem
Tag der Kälte getrotzt, und wir fühlten uns in der traulichen
Wärme des Palais rundum wohl. Der Entschluss, das Petit
Trianon zu restaurieren, wie es sich vor der Revolution und
der Vertreibung der königlichen Familie aus Versailles präsentiert hatte, ermöglicht den Besuchern, auf lebensnahe
Weise die Neigungen Marie-Antoinettes und ihre Liebe zur
Kunst kennenzulernen. Nachdem wir die heute für das Publikum geöffneten Empfangsräume durchquert hatten, gelangten wir ins Zwischengeschoss und ins zweite Stockwerk.
◆ Der Musiksaal.
Hier vermittelt ein komplexes Ensemble von Gemächern,
Korridoren, verborgenen Treppen und beweglichen Paneelen den Eindruck, einen magischen Ort zu betreten.
Kostbare, farbenprächtige Brokatvorhänge umrahmen
die Fenster. Die Tapisserien und bemalten Tapeten geben
die durch die Königin ausgewählten Originalmotive getreu wieder. Ein charmantes Boudoir lädt zur trauten Konversation ein. Das aufwendig dekorierte Schlafgemach
evoziert die graziöseste Form der Gastfreundschaft. Ein
mit Rosengirlanden dekorierter kleiner Stuhl mit assortiertem Fußschemel ist neu aufgepolstert worden. Die Konservatorin lüftet vorsichtig die Husse, die ihn vor Staub
schützt, und bringt den ursprünglichen Bezug zum Vorschein, der zwar verblichen ist, ansonsten jedoch bis ins
kleinste Detail dem neuen entspricht. Dieser kurze Blick
auf den Originalstoff macht die Zeit spürbar, die seit dem
tragischen Ende des mit dem Petit Trianon verbundenen
Traums vom Glück verflossen ist. Er illustriert außerdem,
wie es den Restauratoren gelingt, mithilfe solcher außer79
DAs Petit Trianon
Trianon einst herrschte: Zwischen den Privatgemächern
gibt es kleine, fensterlose Zimmer, die bloß mit einem einfachen Tisch und einem Stuhl möbliert sind. Hier warteten
die Bediensteten darauf, gerufen zu werden. Der große
Speisesaal wurde berühmt durch die geplante raffinierte
Konstruktion, die erlauben sollte, die Tische in der Küche
zu decken und durch Plafond- bzw. Bodenklappen in den
Saal zu hieven. Die Gerichte wären so wie von Zauberhand
serviert worden, und die Gäste hätten keine Bediensteten
zu Gesicht bekommen … Die „fliegenden Tische“ wurden
schließlich nicht realisiert, doch allein schon ihre Projektierung ist einerseits beispielhaft für den magischen Stil des
Schlösschens und zeugt andererseits von dem tiefen Graben, der damals die sozialen Klassen trennte und kurz darauf zum Ausbruch der Französischen Revolution führte.
Dennoch bewahrt das Petit Trianon die Erinnerung an
die herrlichen Zeiten vor dem Sturm. „Wer hätte es schon
gewagt, den Zeitvertreib einer jungen, lebhaften und schönen Königin zu kontrollieren“1, meinte Madame Campan,
die Erste Kammerfrau der Königin. In ihren Memoiren beschreibt sie eine Soiree, die zum märchenhaften Ruf des
Petit Trianon beigetragen hatte:
◆ Der Temple de l'Amour im Englischen Garten des Petit Trianon.
gewöhnlicher Details den zerbrechlichen Charme der Vergangenheit zu erhalten.
Jedes Gemach hat ein anderes Motiv und spielt mit unterschiedlichen Farbvariationen, häufig in den hellen Grauund weichen Grüntönen, die für die damalige Epoche charakteristisch sind. Friese brechen die strengen Linien der
klassizistischen Möbel, allgegenwärtige Rundungen machen die Täfelung weicher, verspielter. So sind die Türen
eines Eckschranks ebenso abgerundet wie seine Schlösser
80
und beschwören die wohlbehüteten Geheimnisse einer in
einen Kokon eingesponnenen Existenz herauf. Aus Angst,
den Zauber der vergangenen Zeit zu zerstören, neigt man
zum Flüstern. Unsichtbare Türen öffnen sich in den Holzpaneelen, Gänge und Treppen führen an unerwartete Orte
dieses Gebäudes, das von außen wie ein simpler Kubus
wirkt und sich nun als Labyrinth herausstellt.
Die Erkundung der dunkleren Ecken und Winkel
offenbart die andere Seite des süßen Lebens, das im Petit
„Im Petit Trianon wurde ein noch nie da gewesenes
Fest veranstaltet. Die Art und Weise, wie der Englische
Garten nicht einfach beleuchtet, sondern illuminiert wurde, erzeugte einen reizenden Effekt: Lampen aus irdenen
Töpfen, die von grün bemalten Brettern verdeckt wurden,
erhellten die Büsche und Blumenbeete und brachten ihre
unterschiedlichen Farben aufs Schönste zur Geltung.
Hunderte von Fackeln brannten im Graben hinter dem
Liebestempel, sodass er zum strahlendsten Ort des Parks
wurde.“2 Musik und Tanz, glanzvolle Nächte, Spiele ohne
Ende zeichneten die Sommer aus, die 1789 vorausgingen:
„Ich halte dort nicht Hof“, erklärte Marie-Antoinette, „ich
lebe dort wie eine nichtöffentliche Person, und Madame
Campan ist dauernd damit beschäftigt, meine Wünsche
zu befolgen und die Hausfeste nach meinen Vorstellungen
zu organisieren.“3
1
Jeanne Louise Henriette Campan, Mémoires de Madame Campan,
première femme de chambre de Marie-Antoinette, Kapitel IX.
2
do., Kapitel VIII.
3
do., Kapitel IX.
◆ Bei der Einweihungsfeier für das restaurierte Schloss stellte Nicolas
G. Hayek die Uhr Marie-Antoinette von Breguet in einem Schrein
vor, der aus dem Holz ihrer Lieblingseiche gefertigt ist, die einem
Sturm zum Opfer fiel.
DURCH EINEN STURM VEREINT.
Der Tod einer dreihundertjährigen Eiche,
deren Schatten Marie-Antoinette geschätzt
hatte, war der Auslöser eine Folge von
Ereignissen, die Breguet bewogen, die Restaurierung des Petit Trianon zu finanzieren.
81
DAS PETIT TRIANON
EINE GESPENSTERGESCHICHTE
Am 10. August 1901 besuchten zwei Engländerinnen Versailles. Charlotte Anne
Moberly und Eleanor Jourdain spazierten durch den Park und waren auf der Suche
nach dem Petit Trianon. Es war heiß und schwül, die beiden Damen verloren die
Orientierung, nachdem sie einen falschen Weg eingeschlagen hatten.
Sie gingen auf Wegen, die nicht ausgeschildert
und von Bäumen gesäumt waren, die merkwürdig
„flach und leblos“ wirkten. Dann näherten sie sich
einem Waldrand in der Nähe des Liebestempels.
Die eine entdeckte einen halbverfallenen Bauernhof, bei dem sich altmodisch gekleidete Gärtner zu
schaffen machten, die andere sah einen pockennarbigen Edelmann mit abweisendem Gesichtsausdruck, der bei einem Pavillon saß. Nachdem sie
eine Brücke passiert hatten und weiteren Personen
mit seltsamer Kleidung begegnet waren, erreichten
die Frauen endlich das Petit Trianon, wo Charlotte
Anne Moberly etwas beobachtete, das sie verunsicherte. „Eine Dame saß da und hielt mit ausgestrecktem Arm ein Blatt Papier in der Hand, als
wolle sie es begutachten. Ich vermute, dass sie skizzierte und dazu einen Feldstuhl mitgenommen hatte. Es schien, als würde sie eine Studie der Bäume
anfertigen, die vor ihr standen, jedenfalls war nichts
anderes zu sehen, das zu zeichnen sich lohnte. Sie
bemerkte uns, als wir an ihr vorbeigingen, wandte
den Kopf und schaute uns aufmerksam an. Ihr Gesicht war nicht jung, und obwohl es recht hübsch
war, fand ich es nicht anziehend. Sie trug einen komischen weißen Hut, der fast alle ihrer blonden
Haare bedeckte. Ihr leichtes Sommerkleid war um
die Schultern wie ein Schal drapiert und hatte eine
schmale grüne oder goldene Bordüre, an der zu er-
kennen war, das es darübergelegt und nicht in die
weit geschnittene Korsage gesteckt war … Ich sah
ihr direkt ins Gesicht, doch ein unbeschreibliches
Gefühl veranlasste mich, den Blick abzuwenden
und weiterzugehen.“4
Charlotte Anne Moberly und Eleanor Jourdain
sahen beide unterschiedliche und überraschende
Szenen, berichteten einander jedoch erst ein paar
Tage später über ihre merkwürdigen Erlebnisse. Sie
waren sehr erstaunt festzustellen, dass dort, wo die
eine eine Frau in Begleitung eines Mädchens gesehen hatte, die andere nichts bemerkt hatte, und
dass der abweisende Gentleman nur einer von ihnen begegnet war.
Zehn Jahre später veröffentlichten die Freundinnen Moberly und Jourdain eine Beschreibung
ihres außergewöhnlichen Besuchs des Petit Trianon,
und zwar unter den Pseudonymen Elizabeth Morrison und Frances Lamont. Die Tatsache, dass sie
nicht dieselben Personen gesehen und beide ein unangenehmes Gefühl der Bedrückung verspürt hatten, irritierte sie, weshalb jede ihre Eindrücke vom
Besuch des Schlösschens von Marie-Antoinette separat aufzeichnete. An Adventure schildert ihre Erlebnisse und berichtet von den Nachforschungen,
die sie zusätzlich vor allem in französischen Archi-
ven unternommen hatten, weil sie hofften, so die
eigenartigen Figuren identifizieren zu können, die
ihnen begegnet waren. Charlotte Anne Moberly
und Eleanor Jourdain kamen zum Schluss, der
Mann mit dem pockennarbigen Gesicht und finsteren Blick sei niemand anders als der Graf von
Vaudreuil gewesen, einer der engen Freunde MarieAntoinettes und ein Habitué des Petit Trianon. Die
zeichnende sitzende Frau in einer leichten grünen
Robe, die nur von Charlotte Anne gesehen worden
war, glich ohne Zweifel dem Porträt der MarieAntoinette von Adolf Ulrich Wertmüller, wie es
Madame Campan beschrieben hatte. Die englische
Lady war überdies sicher, dieses Bild nie gesehen zu
haben, da es an den Königshof von Schweden geschickt worden war.
Ihre Folgerungen waren komplexer, als es Gespenstergeschichten in der Regel sind. „Wir haben
uns gefragt“, schrieb Morrison/Moberly, „ob wir
unabsichtlich in einen Erinnerungsakt der lebenden Königin geraten seien und ob dies vielleicht
unser merkwürdiges Gefühl der Eingeschlossenheit
und Bedrückung erkläre. Wieso sollte sie sich nicht
in den traurigen Stunden im Saal der Nationalversammlung oder im Kerker in der Conciergerie
höchst lebhaft an die früheren, so glücklichen Augustwochen im Trianon erinnert haben.“5 Interessant ist auch, dass sie auf den neuen Karten dieser
Gegend keine Spuren der Landschaften fanden, die
sie auf dem Weg zum Petit Trianon gesehen hatten.
Hingegen erkannten sie in alten Karten und Beschreibungen der Projekte zur Umgestaltung der
Gärten den Pavillon und die Brücke wieder.
Selbstverständlich wurde ihr Buch von parapsychologischen Kreisen ausführlich kommentiert. Es
erlebte mehrere Neuauflagen und rückte wieder ins
Rampenlicht, als nach dem Tod von Eleanor Jourdain bekannt wurde, dass die beiden Autorinnen
zur gesellschaftlichen Elite Englands gehörten.
Charlotte Anne Moberly war von 1886 bis 1905
Rektorin des Frauen-College St. Hugh’s Hall in Ox-
ford gewesen, ihr Vater zuerst Schulleiter und
dann Bischof von Salisbury. Eleanor Jourdain,
ebenfalls eine Akademikerin und Pastorentochter,
war Moberlys Nachfolgerin im St. Hugh’s Hall
Women’s College. Hatte es sich bei ihren Erlebnissen um eine durch die Hitze ausgelöste Sinnestäuschung gehandelt? Oder war das Ganze ein sorgfältig orchestrierter Jux? An Adventure liest sich
wie eine wundersame, leicht beunruhigende Reise
in die Vergangenheit.
Bei Abschluss unserer Visite im Petit Trianon
sind die letzten Besucher bereits gegangen. Beim
Passieren der prachtvollen Gemächer der Königin
ertönt plötzlich ein hohes, spitzes Geräusch, das
von einem der glänzenden Lüster herzurühren
scheint. Der eine unserer Führer meint: „Da ist er
wieder, dieser Ton“. „Ja“, erwidert die Konservatorin, „er kommt und geht, niemand kann sich erklären, wie er entsteht.“ Meine spontane Frage: „Sind
es vielleicht die Geister?“ Ihre verblüffte, ja schockierte Antwort: „Das glauben Sie doch nicht wirklich, oder?“ „Natürlich nicht“, gebe ich schnell zurück. Und tatsächlich glaube ich nicht, dass Geister
im Petit Trianon herumspuken. Dennoch: Könnte
dieses unheimliche Geräusch nicht vom Gemurmel
sanfter Stimmen und dem Widerhall weit entfernter Musik stammen? Das mit Liebe zum Detail restaurierte, wunderbare kleine Schloss schlägt seine
Besucher in Bann: Nirgendwo wird die Erinnerung
an die vorrevolutionären Lustbarkeiten des Adels so
lebendig wie in dieser Privatdomäne von MarieAntoinette. Spitzen Sie die Ohren, wenn Sie beim
Besuch des Petit Trianon in die Nähe eines prachtvollen Lüsters kommen. Möglicherweise vernehmen Sie die letzten Klänge eines Menuetts oder
entdecken sogar die junge Königin, die graziös aus
Weikerts Triomphe de l’Amour tanzt …
4
5
Elizabeth Morrison und Frances Lamont,
An Adventure, London, MacMillan and Co, 1911,
S. 8/9.
do., S. 23.
◆ Johann Georg Weikert, Der Triumph der Liebe.
82
83
RÉVEIL MUSICAL
Der Réveil Musical
Von Jeffrey S. Kingston
84
85
RÉveil Musical
W
ir leben in einer Epoche musikalischer Allgegenwart, und zwar in einem
Ausmaß, dass es praktisch unmöglich ist, dieser Geräuschkulisse zu entkommen.
Klangwellen erreichen uns von allen Seiten – CDs, Radios, iPods, Handys, Datenübermittlung, Downloads … So, wie man oft den Eindruck hat, das nächste Café
sei nie weiter als 50 Meter entfernt, fühlt man sich in unserer digitalisierten Welt
mitunter von der Musik überflutet und vereinnahmt.
DIE MUSIKDOSEN.
Ungeachtet ihrer jahrhundertealten Geschichte und häufigen
Verwendung in Taschenuhren
hatten die Musikdosenmechanismen noch nicht Eingang in
Armbanduhren gefunden.
86
Vor ein paar Jahrhunderten war dies noch nicht der Fall. Jede Begegnung mit
der Musik hatte etwas Magisches, vor allem, wenn die Töne aus einer Musikdose
kamen, welche die Melodie ganz ohne Instrumente und ohne Musiker abspielte.
Verfolgt man die Spur dieser Musik ohne Musiker genügend weit zurück, bis zu
ihren Anfängen, landet man im 9. Jahrhundert in Mesopotamien, wo die Perser
eine hydraulisch angetriebene Orgel gebaut hatten, die mittels einer mit kleinen
Stiften versehenen Drehtrommel Tonfolgen erzeugte. Obwohl sich diese persische Konstruktion mit ihrem Wasserantrieb nicht für den Kaminsims eignete
und schon gar nicht in die Westentasche passte, entsprach das Prinzip der Tonerzeugung mit kleinen Stiften auf einer rotierenden Walze zum „Aufzeichnen“
oder „Programmieren“ der Musik jenem der Musikdose.
In der Renaissance schufen Kunsthandwerker in Augsburg wertvolle Musikautomaten und selbstspielende Spinette, die ebenfalls über Stiftwalzen gesteuert
wurden. Die erste Verbindung eines Glockenspiels und einer Stiftwalze wurde
Ende des 16. Jahrhunderts entwickelt und fand danach als ein Symbol des
Reichtums großen Anklang. Um die Wende zum 19. Jahrhundert ermöglichten
zwei Schweizer Erfindungen, die sich innerhalb weniger Jahren folgten, erstmals
die Herstellung musikalischer Taschenuhren. 1796 ersetzte der Genfer Uhrmacher Antoine Favre die zuvor für den Klang zuständigen Glocken durch einen
Metallkamm mit zahlreichen Zungen – später kleinen Zähnen –, die jeweils den
Ton einer bestimmten Note erzeugten. Die zweite Erfindung war vier Jahre später eine rotierende Scheibe, die mit Zähnchen (den picots) – bestückt war und die
Stiftwalze ablöste, deren Prinzip vor rund tausend Jahren in der persischen Wasserorgel Urständ gefeiert hatte.
87
RÉveil Musical
Die musikalische Taschenuhr erreichte ihren Zenit in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als eine Reihe von
Zeitmessern erschien, die teils mit Stiftwalzen, teils mit
Stiftscheiben ausgestattet waren, welche die Tonzungen des
Kamms zum Klingen brachten und so eine bestimmte
Melodie spielten. Die größte Schwierigkeit bei der Konstruktion dieser Musikwerke war die richtige Platzierung
der Stifte auf der Walze oder Scheibe. Hier war größte Präzision gefragt. Schließlich wurde zu diesem Zweck eine Art
„Schreibmaschine“ entwickelt. Ein Musiker spielte die Melodie im gewünschten Tempo auf einer Tastatur, welche die
Notenanschläge als Markierungen auf die in die „Schreibmaschine“ eingespannte Walze oder die Scheibe übertrug.
Anschließend ersetzte der Uhrmacher jede Markierung
durch ein Zähnchen, und dann erklang die Melodie im Musikwerk so, wie sie der Musiker auf der „Schreibmaschine“
interpretiert hatte. Die hohen technischen Ansprüche, die
diese Konstruktion stellte, sicherten den Musik-Taschenuhren einen Spitzenplatz unter den Komplikationsmodellen ... und selbstverständlich auch entsprechende Preise. In
Übereinstimmung mit ihrem Prestige und dem hohen
Preisniveau waren diese außergewöhnlichen, seltenen Uhren meist mit erlesenen Gehäusen und Zifferblättern ausgestattet, welche häufig mit einer handgemalten Emailminiatur geschmückt waren. Für größere Musikuhren wie die
bekannten Wand- oder Tisch-Flötenuhren, die mit einem
Windwerk und Orgelpfeifen ausgestattet waren, schrieben
mehrere bekannte Komponisten Werke, so Georg Friedrich
Händel, Carl Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn, Antonio Salieri, Wolfgang Amadeus Mozart oder Ludwig van
Beethoven.
Praktisch alle Taschenuhr-Komplikationen schafften
den Sprung in die Armbanduhr, nur das Musikwerk
scheint dabei in Vergessenheit geraten zu sein. Mit der
Einführung des Réveil Musical hat Breguet die große
88
Tradition dieses seltenen und romantischen Genres wiederbelebt und mit dem ersten mechanischen Musikwecker als
Armbanduhr eine Weltpremiere lanciert.
Einen Taschenuhr-Komplikationsmechanismus auf
die begrenzten Dimensionen einer Armbanduhr zu reduzieren ist jedes Mal eine uhrmacherische Herausforderung.
Die Tatsache, dass es vor Breguet niemandem gelungen ist,
eine Armbanduhr anzubieten, die eine vollständige Melodie spielt, zeugt von der enormen Schwierigkeit, das
Musikwerk zu miniaturisieren. Man kann sagen, dass
grundsätzlich alle anderen klassischen Taschenuhr-Komplikationen durch simple Verkleinerung auf die Armbanduhr-Ausmaße übertragen wurden. Der ewige Kalender,
das Tourbillon, der einfache und der Schleppzeiger-Chronograph, die Anzeige einer zweiten Zeitzone, die Universalzeit … all diese uhrmacherischen Raffinessen haben
nach Abschluss eines Miniaturisierungsprozesses in der
Armbanduhr Einzug gehalten, wobei ihr TaschenuhrKonstruktionsprinzip bezüglich Konzeption und Anwendung unverändert blieb. Diese Feststellung trifft allerdings
auf das Musikwerk nicht zu: Diese technische Meisterleistung erforderte weit mehr als eine simple Verkleinerung
der Einzelteile.
Selbstverständlich waren all die Schwierigkeiten beim
Bau einer traditionellen Taschenuhr mit Musikwerk längst
bekannt, als Breguet den Réveil Musical zu entwickeln begann. Die Konstrukteure mussten deshalb das Vorgehen
bei der Programmierung der Melodie festlegen und ein
weiteres, um die Klangqualität sicherzustellen. In beiden
Bereichen war es möglich, klassische Lösungen anzuwenden: eine rotierende Stiftscheibe als Melodieprogramm
und den Metallkamm, um die Noten erklingen zu lassen.
Wie oben erwähnt, sind diese Vorrichtungen um 1800
herum erschienen.
DIE MUSIKDOSE EROBERT
DAS HANDGELENK.
Breguet musste gewaltige Herausforderungen meistern, um im
beschränkten Raum der Armbanduhr einen Musikdosenmechanismus
unterzubringen.
Doch diese für die Miniaturisierung auf ArmbanduhrDimensionen wenig geeigneten Elemente waren nur ein
Teil der Schwierigkeiten, die Breguet in den ersten Phasen
der Entwicklung des Réveil Musical bewältigen musste. Ein
hohes Klangvolumen zu erzeugen, die musikalischen Tempi
richtig wiederzugeben und eine ausreichende Kraftreserve
waren weitere gewaltige Herausforderungen. Hätte nicht
jedes dieser Probleme völlig zufriedenstellend gelöst werden
können, wäre die Uhr nie erschienen.
Die Uhrmacher des frühen 19. Jahrhunderts konnten
dank den großzügigen Abmessungen der damaligen Taschenuhren große Federhäuser und üppig bemessene
Kammzungen mit genügender Klangstärke in die Musikuhren packen. Außerdem bildeten die großvolumigen
Zwiebelgehäuse ausgezeichnete Resonanzkörper. Es ist nur
logisch, dass ein kleineres Federhaus die Antriebskraft verringert und kürzere Metallzungen sowie reduzierte Gehäuseabmessungen unausweichlich auch das Klangvolumen verschlechtern. Selbst nach erfolgreicher Miniaturisierung der Einzelteile musste Breguet deshalb neue Lösungen
finden, die über die traditionellen Vorrichtungen hinausgingen, um das hörbare Klangvolumen – das heißt die Zahl
der Dezibel, die vom Musikwerk auf die Außenseite des
Gehäuses übertragen werden – zu verstärken.
89
RÉveil Musical
Es ging also darum, eine Konstruktion zu entwickeln,
welche die Klangübertragung auf die Gehäuse-Außenseite
verbesserte. Die Antwort lag auf der Hand, warf jedoch eine
neue Schwierigkeit auf. Die „einfache Lösung“, die zuvor
von einer anderen Marke für eine Minutenrepetieruhr benutzt worden war, bestand darin, durch Öffnungen im Gehäuseboden die Verbreitung des Schalls zu erleichtern. Mit
der Uhrmacherkunst vertraute Leser erkennen sofort, dass
hier ein Problem das andere ablöst. Die Gehäuseöffnungen
mögen zwar das Klangvolumen verstärken, öffnen jedoch
den eingeschworenen Feinden jedes Präzisionsmechanismus – Feuchtigkeit und Staub – Tür und Tor (die erwähnte
Minutenrepetition dieser anderen Marke durfte denn auch
keinesfalls mit Wasser in Berührung kommen).
Breguet ging die Frage anders an. Statt zuerst Löcher zu
öffnen und dann ans Versiegeln zu denken, begann das Entwicklungsteam nach einem Material zu suchen, das mit
dem Musikwerk mitschwingen, selbst vibrieren und so die
Schallwellen verstärken würde. Die üblichen Werkstoffe für
Gehäuseböden wie Saphirglas und Edelmetalle vibrieren im
natürlichen Zustand auf den Frequenzen, die vom Musikwerk erzeugt werden. Das Stichwort für die von Breguet
gewählte Lösung ist Liquidmetal. So heißt der Hersteller,
der 2003 diesen deutsch auch Metallglas genannten Werkstoff entwickelte, eine Metalllegierung mit amorpher Kris◆ El iduciamet
laut ◆die im Musikwecker als Membran eingesetzt
tallstruktur,
wird. Die physikalischen Eigenschaften dieser Membran
eatumquas maximod ipsaectur adit omni ut que nobis ma
entsprechen denen einer Beckentrommel, die in der richtinonsect
atureicae
verum, omnimetur
gensimaximus
Frequenz sequam
schwingt,
nämlich
jener der Melodie. Damit
erfüllt der Boden des Goldgehäuses eine neue Funktion: Er
ipis excepeliquid mil evendit inveris et vellibus et alicae
schützt die inwendig mit etwas Abstand montierte Metallnobistr uptati tet,
et porrumquae.
isim und Erschütterungen.
glasmembran
vorOmnimodis
Beschädigungen
Dem Zwischenraum zwischen Boden und Membran wurde
nonesciunt esti ut lab idebissit etus aliquam fugitem
besondere Aufmerksamkeit zuteil, dient er doch als sogedoluptat offici nobitibus
omnis velecum eos dolupta
nannter sit
Helmholtz-Resonator.
Dabei handelt es sich um
einen Luftraum mit sehr kleiner Öffnung mit akustischer
tendipsame eatumquas aliquam fugitem doluptat offici
Resonanz (das einfachste Beispiel ist die Flasche, die einen
nobitibus sit omnis
eoswenn
dolupta
Tonvelecum
erzeugt,
sietendipsame
am Hals angeblasen wird). Dieses
Toningenieuren bestens bekannte Phänomen wird auch bei
den Klangkörpern von Musikinstrumenten wie der Geige,
Tiefton-Lautsprechern (Bassboxen oder Subwoofer), ja
selbst bei den Luftansaugfiltern von Verbrennungsmotoren
genutzt. Dieser Luftraum verfügt über seine eigenen Reso90
91
RÉVEIL MUSICAL
nanzfrequenzen, die Breguet durch Lochbohrungen auf
jene der Melodie abstimmte. Und obwohl die Membran
nicht sichtbar ist, entwickelte Breguet ein neuartiges Verfahren, um ihr die optimale Form zu geben, und verzierte
sie außerdem mit einem guillochierten Schliffmuster. Die
Besitzer eines Réveil Musical können sich also glücklich
schätzen im Wissen darum, dass der Kundendienst-Uhrmacher, der für die Wartung der Uhr den Gehäuseboden öffnet, die welterste guillochierte Metallglasmembran erblickt,
die Normalsterblichen leider verborgen bleibt.
Das zweite entscheidende Problem war, die Regulierung der Kadenz sicherzustellen. Wie bei allen Schlagwerkmechanismen wird auch das Musikwerk durch ein Federhaus mit Energie versorgt. Und unvermeidlicherweise ist
die Kraft der Antriebsfeder größer, wenn sie voll aufgezogen
ist, als wenn sie sich fast entspannt hat. Wäre ein solches
Federhaus einfach direkt mit einem Musikwerk verbunden,
würde die Melodie mit fortschreitendem Entspannen der
Feder unweigerlich immer langsamer. Üblicherweise begegnet man diesem Phänomen mit einem ins Schlagwerk-Räderwerk integrierten Regulator. Dieser sorgt wie die Uhrwerkhemmung für eine konstante Ganggeschwindigkeit
bzw. in diesem Fall für das gleichmäßige Tempo der Melodie. Solche Regulatoren umfassen jedoch rotierende Elemente, die einen charakteristischen Ton erzeugen, der die
Klangreinheit beeinträchtigt. Einmal mehr erbringt eine
„Lösung“ eine Antwort, die ein neues Problem schafft.
Ein zweites Mal nutzte das Breguet-Entwicklungsteam
bei der Konstruktion des Musikweckers eine Technologie,
die bei der Herstellung mechanischer Armbanduhren noch
nie eingesetzt worden war … und erfand mit der Verwendung von Magneten gleich einen lautlosen Regulator!
Magnete und allgemein Magnetfelder gelten ja eigentlich
als Gift für mechanische Uhren, weshalb man für die Regulierorgane traditionell amagnetische Werkstoffe verwendet.
Geraten sie jedoch in ein genügend starkes Magnetfeld,
können sie sich selbst magnetisieren und dann die vom
Uhrmacher nach der Montage vorgenommene Feinstellung
der Ganggenauigkeit beträchtlich verändern. Die übliche
Lösung ist, die Uhr zu entmagnetisieren, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Das ist zwar eine recht
einfache Sache, dennoch zeigte sich mehr als ein Besitzer
92
DER MAGNETISCHE REGULATOR
VON BREGUET: EINE WELTPREMIERE.
Oben: Die Fliehkraft verschiebt die versilberten Scheiben des Regulators nach außen
unter die Magnete, was die Drehgeschwindigkeit verringert. Unten: Bei abnehmender
Geschwindigkeit drücken die Federn die
Scheiben wieder nach innen und begünstigen so eine schnellere Rotation.
93
RÉveil Musical
eines kostbaren Zeitmessers zu Recht beunruhigt, dass dieser seine legendäre Genauigkeit eingebüßt hatte, weil er
zufällig magnetisiert worden war. Bei der Entwicklung eines geräuschlosen magnetischen Regulators war das Team
also mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: Einerseits galt
es, das Konstruktionsprinzip des Regulators festzulegen,
andererseits sicherzustellen, dass die Magnete die Ganggenauigkeit in keiner Weise beeinträchtigten.
Das Funktionsprinzip des aus diesen Forschungen hervorgegangenen Regulators ist besonders raffiniert und
wird hier erstmals in einer mechanischen Armbanduhr
angewandt. Die Vorrichtung erinnert in zahlreichen Aspekten an einen elektrischen Generator. Die aus Metall
gefertigten Dreharme werden auf dem ganzen Umfang
von Magneten eingefasst. Bei ihrer Rotation erzeugen die
Arme ein elektrisches Feld, das bei seinem Aufbau auf den
Widerstand des Magnetfelds stößt. Dieser Widerstand
steigert sich bei wachsender Drehgeschwindigkeit und
nimmt ab, wenn sich die Rotation verlangsamt. Dieses
Phänomen kann genutzt werden, um eine konstante Drehgeschwindigkeit zu erzielen, da die Beschleunigung wie
die Verlangsamung einem entsprechenden entgegengesetzten Widerstand begegnen.
Dieses völlig neue System funktioniert nicht nur lautlos, es vermeidet auch einen weiteren Nachteil herkömmlicher Regulatorkonstruktionen. Das herkömmliche Regulatorprinzip für mechanische Schlagwerke basiert auf der
Reibung. Die Dreharme des Regulators sind innerhalb eines Zylinders so konstruiert, dass sie mit steigender Geschwindigkeit und Fliehkraft stärker gegen die Wand dieses Rohrs drücken und so die Reibung verstärken. Diese
aneinander reibenden Oberflächen müssen selbstverständlich geschmiert werden, und bei dieser Bauweise erzeugt
der reibende Kontakt der beiden Teile nicht nur ein Ge94
räusch, sondern hat auch eine Abnutzung zur Folge, die
umso stärker wird, je mehr sich die Eigenschaften des
Schmiermittels verschlechtern. Indem die neue BreguetKonstruktion diesen Kontakt zwischen den Dreharmen
und der Zylinder-Innenwand vermeidet, werden gleichzeitig Lärm und Abnutzung eliminiert. Es gibt jedoch noch
einen weiteren, für Uhrwerkkonstrukteure besonders
wichtigen Vorteil: Bei Reibungsregulatoren sind die Reibungseigenschaften schwierig zu berechnen und können
sich vor allem mit der Zeit verändern, während die Eigenschaften der Magnetkonstruktion exakt kalkulierbar sind
und auf Dauer höchst stabil bleiben.
Die neue, perfekte Lösung setzte selbstverständlich voraus, die Präsenz von Magneten innerhalb des Uhrwerks
in den Griff zu bekommen. Dafür boten sich eher konventionelle Verfahren an. Auf die gleiche Weise, wie viele
Militäruhren durch einen Weicheisenmantel gegen Magnetfelder abgeschirmt werden, packte Breguet den Magnetregulator in einen solchen Mantel. Damit sind die
Magnetfelder des Regulators eingeschlossen und können
nicht auf die anderen Uhrwerkteile ausstrahlen. Zwei weitere Konstruktionsentscheidungen garantieren, dass die
Magnete die Ganggenauigkeit nicht beeinflussen. Erstens
sind die Hemmung und die Spiralfeder aus dem absolut
amagnetischen Werkstoff Silizium gefertigt. Und zweitens
wurde bei der Bauweise des Werks darauf geachtet, den
Schlagwerkregulator möglichst weit entfernt vom Regulierorgan der Uhr mit seiner Unruh zu platzieren.
Nun galt es nur noch das Problem der ausreichenden
Kraftversorgung für das Abspielen einer Melodie zu lösen,
die genügend lang ist, um den Hörer zu bezaubern, und
laut genug, um ihn auch wirklich zu wecken. Also musste
eine Möglichkeit gefunden werden, neben dem Federhaus
für die Zeitanzeigen zwei ausschließlich für das Musikwerk
EINE MELODIE AM HANDGELENK.
Damit eine Musikwecker-Melodie harmonisch
klingt, muss die Abfolge der Noten genau
stimmen, und dafür benötigt der Mechanismus
eine große Gangreserve.
bestimmte Federhäuser im Uhrwerk unterzubringen, also
insgesamt drei.
Damit eine Musikwerk-Melodie genossen werden
kann, muss sie mehr bieten, als nur zu einer bestimmten
Zeit ein Wecksignal zu produzieren. Selbstverständlich ist
die Weckfunktion wichtig (und benötigt eigene Komplikationsmechanismen für das Einstellen des Weckzeitpunkts),
doch der Besitzer eines Musikweckers will die Melodie auch
nach Lust und Laune bzw. auf Verlangen abspielen können.
Der Réveil Musical bietet beide Funktionen. Betätigt man
einen bei 8 Uhr an der Gehäuseflanke angebrachten
Drücker, spielt die Uhr das musikalische Thema während
20 Sekunden. Doch sie bietet mehr als nur dieses Musikvergnügen: Die Drehscheibe mit den „Programmierstiften“
ist auf der Unterseite des guillochierten Zifferblatts angebracht. Wird das Schlagwerk ausgelöst, kann man zuschauen, wie sich das Zifferblatt während der 20 Sekunden
dauernden Melodie einmal um seine Achse dreht. Im
Weckmodus musiziert die Uhr besonders lang, nämlich
80 Sekunden: Das entspricht vier Zifferblattumdrehungen
und ebenso vielen Wiederholungen des musikalischen Motivs. Vergleichen Sie das mit den üblicherweise 15 Sekun95
RÉveil Musical
den eines herkömmlichen mechanischen Weckers! Gewiefte Uhrenkenner werden sich nun fragen, was passiert, wenn der Wecker mitten während dieses
Abspielens gestoppt wird? Da sich die Stiftscheibe mit dem Zifferblatt dreht,
wird die Melodie bis zu einer vollen Umdrehung zu Ende gespielt, worauf sich
die Zifferblattscheibe wieder in ihrer normalen Position befindet. Die Konstrukteure von Breguet haben bei der Bauweise einen weiteren Umstand berücksichtigt: Was geschieht, wenn die Kraftreserve des Musikwerks nicht für eine vollständige Umdrehung ausreicht? Zwar findet sich eine Gangreserveanzeige auf
dem Zifferblatt, aber vielleicht wird sie ja vom Träger beim Auslösen nicht beachtet. Um dem abzuhelfen, haben die Uhrmacher der Manufaktur ein Blockiersystem entwickelt, welches verhindert, dass das Zifferblatt in einer andern
als seiner üblichen Position stehen bleibt. Um den Weckmodus zu wählen,
braucht man nur den Drücker unterhalb von 10 Uhr auf der Gehäuseflanke zu
betätigen. Die Aktivierung dieser Funktion wird in einem Zifferblattfenster
durch eine Note angezeigt.
Die Weckzeit kann auf dem Zifferblatt an einem großen, an der Spitze mit
einem G-Notenschlüssel gekrönten Zeiger abgelesen werden. Ein sinnreiches
Element des Modells Réveil du Tsar von Breguet findet sich im Réveil Musical
ebenfalls wieder: Weckeruhren haben ja im Allgemeinen den Nachteil, dass eine
Verbindung zwischen dem Weckmechanismus und der Zeitanzeige bestehen
muss. Bei jedem Richten der Uhrzeit wird auch eine vorgängig eingestellte
Weckzeit verändert, was ein Neueinstellen notwendig macht. Breguet hat beim
Réveil du Tsar eine Lösung für diesen chronischen Nachteil von Weckeruhren
gefunden, indem der Wecker-Einstellmechanismus mit einer Kupplung versehen wurde. Diese kuppelt den Weckmechanismus aus, wenn die Krone in die
Position zum Richten der Uhrzeit gezogen wird. Damit hat das Verstellen der
Uhrzeit keinen Einfluss auf den fürs Wecken gewählten Zeitpunkt. Dieses System wurde wie erwähnt in den Réveil Musical integriert.
◆ Gioacchino Rossini.
Die erste für den Réveil Musical ausgewählte Melodie stammt aus der Oper
Die diebische Elster (La Gazza ladra). Es macht Sinn, dass für die erste Version
dieses Musikweckers ein Werk von Gioacchino Rossini gewählt wurde, war doch
der italienische Komponist stolzer Besitzer einer Breguet-Uhr.
Das Basis-Uhrwerk dieses Zeitmessers ist das Breguet-Manufakturkaliber
777 mit einer Hemmung aus Silizium und einer Spiralfeder mit Breguet-Endkrümmung aus demselben Material sowie einer Unruh mit variablem Trägheitsmoment und goldenen Regulierschrauben. Es verfügt über eine Gangreserve von
60 Stunden.
Der Réveil Musical wird in Gelbgold und Weißgold angeboten.
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BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆
BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN
NATIONALMUSEUM
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Von Jeffrey S. Kingston
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99
BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
◆ Château de Prangins vor den Toren Genfs, der Westschweizer Sitz des
Schweizerischen Nationalmuseums. Links das Landesmuseum Zürich.
W
er sich an einzelnen historischen Quellen orientiert, könnte leicht zum Schluss kommen,
Abraham-Louis Breguet sei ein französischer Uhrmacher gewesen. Tatsächlich lebte er abgesehen
von einer zweijährigen Unterbrechung von 1762 bis zu seinem Tod 1823 in Frankreich und besaß
die französische Staatsbürgerschaft. Er hatte seinen Geschäftssitz zeitlebens am Quai de l’Horloge
Nr. 39 auf der Ile de la Cité in Paris. Zu seiner Kundschaft gehörten bedeutende Persönlichkeiten
wie Marie-Antoinette, Napoleon, General Charles-Victor-Emmanuel Leclerc, Charles-Maurice
de Talleyrand oder Ludwig XVIII. Breguet war Mitglied der Akademie der Wissenschaften des
Institut de France. Seine Gattin war Französin. Sein Sohn und sein Enkel führten sein Uhrengeschäft nach seinem Tod jahrzehntelang in Frankreich erfolgreich weiter. Und sein Ururenkel
Louis Breguet war ein französischer Flugpionier.
In Wirklichkeit war Abraham-Louis Breguet jedoch Schweizer beziehungsweise Bürger des Fürstentums und späteren Schweizer Kantons Neuenburg.
◆ ◆ ◆
100
Das war für das Schweizerische Nationalmuseum ein
guter Grund, im Château de Prangins vor den Toren
Genfs und im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich
das von überragenden uhrmacherischen Entwicklungen
geprägte Leben Breguets in zwei Sonderausstellungen zu
präsentieren.
Abraham-Louis Breguet wurde 1747 in Neuchâtel geboren. Er verbrachte die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens in der Schweiz. Nach dem frühen Tod seines Vaters,
1758, heiratete seine Mutter im Jahr darauf dessen Vetter,
den Uhrmacher Joseph Tattet, der Breguet in seinen Beruf
einführte und 1762 bei einem befreundeten Uhrmacher
in Versailles in die Lehre gab. Danach arbeitete er bei Pariser Uhrmachermeistern, bevor er sich 1775 selbstständig
machte, und pflegte dabei engen Kontakt mit anderen
Schweizern seines Fachs, die in der französischen Hauptstadt arbeiteten. Zum Kreis der Schweizer gehörten beispielsweise der ebenfalls in Neuchâtel geborene Ferdinand
Berthoud, dessen Marinechronometer Berühmtheit erlangten, Jean-Antoine Lépine, ein angesehener Hersteller
von Pendülen, der das Licht der Welt in der Nähe von
Genf erblickt hatte, sowie Jean-Pierre Droz aus La Chauxde-Fonds, ein Fabrikant von Medaillen und Münzen.
Die Beziehungen Breguets zu Schweizern beschränkten
sich indes nicht nur auf Paris. In regelmäßigem Kontakt
stand er etwa mit dem Neuenburger Uhrmacher Abraham-Louis Perrelet, und er bezog verschiedene Einzelteile
seiner Uhren über ein großes Netz von Schweizer Lieferanten.
In den turbulenten Zeiten nach der Französischen Revolution zählte Breguet zu den Befürwortern der ersten
Stunde des egalitären Gedankenguts (was eigentlich paradox ist, da die meisten seiner Kunden politisch auf der
Gegenseite standen). Als er sich dann dem gemäßigteren
Lager näherte, geriet er bei den neuen Machthabern unter
Verdacht. Da er um sein Leben fürchten musste, beschloss
er, mit seiner Familie in sein vergleichsweise sicheres
Geburtsland zu flüchten. Er blieb dort für zwei Jahre, zunächst einige Wochen in Genf, anschließend in den Städten Neuchâtel und Le Locle.
101
BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
Der Aufenthalt in der Schweiz wurde gut genutzt. In
den zweieinhalb Monaten, die er in Genf verbrachte, verstärkte er seine Beziehungen zu den Herstellern von Rädern, Spiralfedern und anderen Uhrenbestandteilen, die
seine Pariser Werkstätten belieferten. Noch ehrgeiziger war
der Versuch, die ursprünglich von Voltaire im grenznahen
französischen Ferney gegründete Uhrwerk-Manufaktur
wieder in Schwung zu bringen. Der Grund für dieses gewagte Unterfangen war, dass Frankreich in der damaligen
Zeit die Kontrolle über Genf zu erlangen suchte und eine
Reihe verheerender Wirtschaftsblockaden gegen die Stadt
verhängte, was Betriebsgründungen in der Calvinstadt extrem verteuerte. Ferney auf französischem Boden war von
diesen wirtschaftlichen Behinderungen weniger betroffen,
jedoch für Breguet politisch riskanter. Angesichts dieser
negativen Umstände verzichtete der Uhrmacher schweren
Herzens darauf, Voltaires Werkstatt neuen Elan zu verleihen. Dessen ungeachtet war die Zeit in Genf nicht verloren, da seine Aufnahme in die Société des Arts de Genève
– die Gewerbekammer – für ihn eine Anerkennung bedeutete, auf die er in seiner Wahlheimat Paris auch nach seiner
102
Rückkehr nach Frankreich noch mehrere Jahre warten
musste.
Die Aufenthalte in Neuchâtel und Le Locle erwiesen
sich als produktiver. In Le Locle gründete er eine Werkstatt
für die Uhrwerkmontage, um die Nachfrage seiner Pariser
Geschäfte zu befriedigen. Angegliedert war ein Labor, in
dem Breguet Experimente für die Weiterentwicklung von
Uhrwerken durchführte.
Üblicherweise geht es im politischen Exil zunächst darum, das nackte Überleben zu sichern. Erfindungskraft,
Kreativität und Inspiration rücken bei einem solchen
Bruch in den Hintergrund. Das war bei Breguet nicht der
Fall: Die zwei in der Schweiz verbrachten Jahre waren sogar
außerordentlich fruchtbar. Abgesehen von seinen Werkstattplänen in Genf und Neuenburg sowie der Gründung
in Le Locle schuf er hier die Grundlagen für eine Reihe von
Erfindungen, die bei seiner Rückkehr nach Frankreich geradezu schlagartig erschienen. Die erste war die Konzeption des Tourbillons, um damit schwerkraftbedingte Gang-
abweichungen zu kompensieren. Wir verneigen uns vor
dieser Leistung: Eine der wichtigsten Erfindungen in der
Geschichte der Uhrmacherkunst begann im Exil. Doch damit nicht genug. Breguet entwickelte in der Schweiz auch
die Tastuhr oder Montre à tact – eine Einzeigeruhr ohne
Glas mit erhöhten Stundenmarkierungen, sodass die Zeit
im Dunkeln durch Abtasten ermittelt werden kann – sowie
die sogenannte sympathetische Pendüle. Zu dieser Tischuhr gehört eine Taschenuhr, deren Uhrzeit automatisch
mit jener der Pendüle synchronisiert wird, wenn sie in
deren Verbindungsschlitz eingesetzt wird.
AUSSERGEWÖHNLICHE
AUSSTELLUNGEN.
Breguet ist der einzige Uhrmacher,
dem die größten Museen der Welt
Einzelausstellungen gewidmet haben.
Sein Erfindungsgeist und Tatendrang während der
Schweizer Jahre beschränkte sich jedoch nicht auf die Uhrenmechanik. Er beschäftigte sich außerdem intensiv mit
dem kommerziellen Aspekt seines Unternehmens, indem er
eine vollständig neue Methode für den Uhrenverkauf ersann: die Subskription. Breguets Idee der Uhrensubskription war revolutionär und bahnte den Weg zur modernen
Serienproduktion. Zu seiner Zeit wurden Uhren zumeist
auf Bestellung und den Kundenwünschen entsprechend
103
BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
angefertigt, sodass jedes Stück ein Unikat war. Breguets
Subskriptionsuhren hingegen waren als einfache und einheitlich gestaltete Einzeigeruhren mit emaillierten Zifferblättern konzipiert. Mit diesem standardisierten Design
nahm Breguet Fabrikationsmethoden der späteren Jahrzehnte vorweg, die bis heute Bestand haben. In Kenntnis
der historischen Quellen darf also mit Fug und Recht gesagt werden, dass er sich als erster für die Serienproduktion
eingesetzt hatte. Abraham-Louis Breguet konnte so diese
standardisierten, einfacheren Uhren nicht nur zu tieferen
Preisen und einer breiteren sozialen Schicht mit bescheidenerem Einkommen anbieten, er entwickelte gleichzeitig
eine neue Vertriebsmethode. Sie funktionierte folgendermaßen: Der Kunde leistete einen Teil des Kaufpreises (gewöhnlich ein Drittel) bei der Bestellung, weitere Zahlungen während der Herstellungszeit und den Rest bei der
Auslieferung der Uhr. Diese Methode unterschied sich von
der damals üblichen Praxis, bei welcher der Gesamtbetrag
bei der Bestellung zu entrichten war.
104
In Breguets Leben und Werk sind schweizerische und
französische Einflüsse verwoben, sie ergänzen sich und
können nicht auseinanderdividiert werden. Aus dieser Perspektive wurde der Plan einer Ausstellung als Hommage
an sein Genie und seine Kreationen in Angriff genommen,
und es war von Anfang an klar, dass sie in Frankreich und
in der Schweiz gezeigt werden musste.
Die erste französisch-schweizerische Breguet-Retrospektive fand von Juni bis September 2009 im Louvre in
Paris statt. Erstmals widmete das berühmte Museum einen seiner Hauptsäle, in diesem Fall die Salle de la Chapelle direkt neben der Eingangspyramide, dem Werk eines
einzelnen Uhrmachers. Und bis heute ist Breguet der einzige Uhrmacher geblieben, dem zwei der prestigereichsten
Museen der Welt eine große Ausstellung gewidmet haben.
Denn schon einige Jahre früher, 2004, hatte das Eremitage-Museum in St. Petersburg eine Ausstellung zu Ehren
von Abraham-Louis Breguet veranstaltet.
Die Bedeutung der Retrospektive im Louvre wurde
anlässlich der Vernissage augenfällig. Unter den Anwesenden befanden sich der im Jahr darauf verstorbene Nicolas
G. Hayek, Henri Loyrette, Präsident des Musée du Louvre, und Ulrich Lehner, Schweizer Botschafter in Paris.
Die Ausstellung zog während der zweieinhalb Monate, in
denen sie im Louvre gezeigt wurde, mehr als 110 000 Besucher an, und der dazu veröffentlichte prachtvolle Katalog wurde während dieser Zeit in der Museumsbuchhandlung zum Bestseller.
Das Schweizerische Nationalmuseum stellt den helvetischen Teil der Ausstellungskampagne dar, und zwar mit
den Präsentationen an seinen beiden Hauptstandorten –
von Juni bis September 2011 im Château de Prangins in
der Westschweiz und von Oktober 2011 bis Januar 2012
im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich –, bevor die
Exponate in Ausstellungen rund um den Globus gezeigt
werden.
Es gibt einige kleine, vom Ausstellungsort abhängige
Abweichungen von Katalog und Präsentation, wobei für
die Ausstellung im Louvre rund 120 Taschenuhren und
Pendülen zusammengetragen wurden. Die wichtigen Stücke sind mehrheitlich von handschriftlichen Anmerkungen Breguets begleitet, mit denen er seine Kreationen vom
Bestelldatum über die diversen Fertigungsschritte bis zur
Lieferung an die Kundschaft kommentierte. Diese Dokumente führen die Besucher zwei Jahrhunderte zurück ins
legendäre Atelier am Quai de l’Horloge 39 und bieten ihnen Gelegenheit, die Geburt unschätzbarer Meisterwerke
nachzuvollziehen.
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BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
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HIGHLIGHTS
DER AUSSTELLUNG
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Verkauft 1814 an den Prinzregenten von England,
den späteren König Georg IV. Heute im Besitz von
Königin Elizabeth
und Prinz Philip von England.
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◆
Nr. 666/721
SYMPATHETISCHE
PENDÜLE
Mahagonigehäuse, vier Seiten
verglast, Silberzifferblatt,
vergoldetes Metall, mit der
dazugehörigen einfachen
Breguet-Taschenuhr Nr. 721
mit Goldgehäuse und Emailzifferblatt. Verkauft im August
1814 an den Prinzregenten
von England, den späteren
König Georg IV.; Leihgabe
von Königin Elisabeth und
Prinz Philip von England.
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BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
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HIGHLIGHTS
DER AUSSTELLUNG
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Erworben 1798 von
Napoleon Bonaparte
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Nr. 178
REISEPENDÜLETTE MIT
VIERTELSTUNDENREPETITION
UND ALMANACH
Vergoldetes Bronzekabinett mit dorischen Säulchen, an drei Seiten verglast,
Silberzifferblatt mit großem Fenster für
die Mondphasenanzeige, vorgeblendete
Platte aus vergoldetem Metall und
Blattwerkgravuren mit drei Anzeigefenstern für Datum, Monat und Wochentag,
8-Tage-Uhrwerk aus vergoldetem Metall,
Hemmung mit geradem Anker, Repetition
auf zwei Tonfedern. Diese Reiseuhr
wurde von General Napoleon Bonaparte
1798 einen Monat vor seinem Ägyptenfeldzug erworben, und zwar als einer von
drei Zeitmessern, die zu seiner Ausrüstung für diesen Krieg gehörten.
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BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
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HIGHLIGHTS
DER AUSSTELLUNG
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Konstruiert für
Marie-Antoinette
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Nr. 1160
PERPETUELLE UHR
MIT MINUTENREPETITION
„MARIE-ANTOINETTE“
Goldgehäuse, Bergkristall-Zifferblatt,
Zeiger aus Gold und Stahl, vollständiger ewiger Kalender, Zeitgleichung,
Gangreserve, metallisches Thermometer, unabhängige große Sekunde und
kleiner Sekundenzeiger. Diese Uhr
ist von der Montres Breguet SA von
2004 bis 2008 anhand der erhaltenen
Aufzeichnungen über die zwischen
1783 und 1827 angefertigte Uhr
„Marie-Antoinette“ Nr. 160 konstruiert
worden.
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BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
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HIGHLIGHTS
DER AUSSTELLUNG
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Verkauft 1800 an Kaiserin
Josephine Bonaparte
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Nr. 611
KLEINE MEDAILLON-TASTUHR
Blau emailliertes Goldgehäuse, mit Diamanten
besetzter Pfeil und Tastelemente aus großen
runden Diamanten, Silberzifferblatt, RubinZylinderhemmung. Verkauft im Februar 1800 an
Josephine Bonaparte. Später schenkte Kaiserin
Josephine diese Uhr ihrer Tochter Hortense de
Beauharnais, Königin von Holland; bei diesem
Anlass wurde das Stück mit einem gekrönten H
und mit neuen Diamanten versehen, die größer
als die ursprünglichen sind. Tastuhren sind mit
einem großen äußeren Stundenzeiger ausgestattet,
dessen Position im Dunkeln ertastet werden kann.
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BREGUET IM SCHWEIZERISCHEN NATIONALMUSEUM
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HIGHLIGHTS
DER AUSSTELLUNG
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Verkauft 1813 an
die Großherzogin der Toskana,
Élisa Bonaparte
◆
Nr. 2603
MEDAILLONUHR MIT VIERTELSTUNDENREPETITION UND REGULATORZIFFERBLATT
Guillochiertes Goldgehäuse, Staubdeckel aus Gold,
Regulator-Silberzifferblatt mit kleinen zusätzlichen
Ringzifferblättern für die Anzeige der Stunden und
Sekunden, Minutenzeiger aus der Mitte, RubinZylinderhemmung. Im November 1813 verkauft an
Elisa Bonaparte, Großherzogin der Toskana und
Schwester von Napoleon Bonaparte.
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Nº 1
HERAUSGEBER
Montres Breguet SA
CH-1344 L’Abbaye
Schweiz
Tel. +41 21 841 90 90
www.breguet.com
PRODUKTMANAGEMENT
Géraldine Joz-Roland
CHEFREDAKTOR
Jeffrey Kingston
AUTOREN
Jeffrey S. Kingston
Marie-Hélène Huet
Emmanuel Breguet
EIN BESONDERER DANK GEHT AN
Christian Lattmann
Nakis Karapatis
Alain Zaugg
VORSTUFE UND DRUCK
Courvoisier-Attinger SA
BILDNACHWEIS
Aufnahmen im Besitz der Collection Montres Breguet SA:
Joël von Allmen
Lionel Deriaz
Xavier Reboud
Pixmédia
Photo 2000
ANDERE ILLUSTRATIONEN
© RMN/Gérard Blot S. 32/33
© RMN(château de Versailles)/Gérard Blot S. 75
© Château de Versailles/Jean-Marc Manaï S. 78, 82/83
© Collection Swatch Group S. 8, 13, 14, 17
© Getty Images S. 35, 36/37
© Schweizerisches Nationalmuseum S. 100, 101, 109, 114/115
© The Royal Collection 2011 Her Majesty Queen Elizabeth II S. 107
© Patrick Tournebœuf S. 70/71, 74, 76, 77, 79, 80
© Ullstein Bild S. 96
ADAPTATION DER DEUTSCHEN AUSGABE
Robert und Claudia Schnieper, Sion
KONZEPT, GRAFIKDESIGN, VERWIRKLICHUNG
A+, Basel, Schweiz
Gregorio Caruso, Marie-Anne Räber
ART DIRECTION
Gregorio Caruso
Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Montres Breguet SA ist es nicht gestattet, Texte, Bilder oder
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© Montres Breguet SA 2011
FOTOLITHOGRAFIE
Gravoractual
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Gedruckt im Dezember 2011