Belletristik - Büchereien Wien

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Belletristik - Büchereien Wien
1
neue Wiener
ücherbriefe
Die Rezensionszeitschrift der Büchereien Wien
1 / 2009
Eva Rossmann: Leben lassen
Chuck Palahniuk: Bonsai
„Palahniuk ist ein radikaler Erzähler, seine Zeilen haben Speed, seine Bilder beschleunigen
sich zu radikalen Kamerafahrten.“
Die Zeit
Editorial Belletristik ........................
........................
2
3
„Der elfte Mira-Valensky-Krimi ist einer
der Besten. Er hat gutes Essen, er hat die
Angst, und Glück hat er auch.“
Kurier
2
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3
Belletristik Krimi & Thriller
Beckett, Simon: Leichenblässe
Hamburg: Rowohlt, 2009. 413 S.,
EUR 20,50
Nach den großen Erfolgen von „Chemie
des Todes“ und „Kalte Asche“ ist nun mit
„Leichenblässe“ das dritte Buch rund um
den forensischen Anthropologen David
Hunter erschienen.
In „Kalte Asche“ ist David nach einem
heimtückischen Messerattentat nur knapp
dem Tod entkommen, seine Beziehung ist
in die Brüche gegangen, er leidet an den
Folgen des Mordversuches und er zweifelt
ob er seiner Arbeit noch gewachsen ist.
Da kommt ihm die Einladung seines alten
Freundes und Mentors Tom Liebermann
ge­rade recht, in Tennesee auf der „Body
Farm“ Leichenstudien zu betreiben. Doch
kaum in Amerika angekommen, wird David zum Missfallen der ansässigen Poli­zei
in die Ermittlungen um einen my­steriösen
Mordfall hineingezogen.
Die Leiche weist viel stärkere Ver­we­
sung­s­­­­merkmale auf als es anhand des
errech­neten Todes­zeitpunktes sein dürfte.
Als dann noch in einem exhumierten
Sarg eine falsche Leiche gefunden wird
und der ermittelnde Profiler spurlos verschwindet, geht die Jagd nach einem irren
Serientäter erst richtig los. „Leichenblässe“
ist ein spannender Thriller mit teilweise
zie­mlich grauslichen Leichenbeschreibungen,.
Simon Beckett ist im Moment sicherlich
einer der besten Krimiautoren, dennoch
hat mich das Buch ein wenig enttäuscht.
„Kalte Asche“ war persönlicher, man zit­
terte um den Helden, hatte Angst um sein
Leben und nahm an seinen privaten Pro­
blemen teil. All das fehlt im neuen Roman,
dennoch eine Empfehlung für alle Zweigstellen, denn Spannung pur ist auch hier
garantiert.
Gabi Stolba
Bolton,Sharon:DasSchlangenhaus
München: Goldmann 2009. 505 S.,
EUR 20,40
Ein idyllisches kleines Dörfchen in Dor­
set, England. Eine junge Tierärztin die zu­
rückgezogen von der Welt lebt. Mysteriöse
Vorfälle mit Schlangen und ein Todesfall.
Der Thriller „Das Schlangenhaus“ wir­d­
aus der Sicht von Clara, einer menschen­
scheuen, ruhigen Tierärztin erzählt. Eines
Morgens wird sie in der Früh zu einem
Not­­fall gerufen: eine Giftschlange liegt
bei einem Baby im Gitterbett. Ihr Nach­bar
stirbt an einem mysteriösen Schlangen­
biss und das ganze Dorf leidet unter einer
Schlangeninvasion. Clara beginnt nach­
zuforschen und kommt einem Geheimnis
auf die Spur, das 50 Jahre zurückliegt und
von dem nur wenige Menschen wissen.
Doch die schweigen eisern, bis es zu weiteren Todesfällen kommt.
Der Roman ist erfrischend bodenständig, alle Vorkommnisse lassen sich erklären und sind nachvollziehbar. Viele Thriller
ver­gessen vor lauter Actionszenen und immer spektakuläreren Ereignissen das Wich­
tigste: wie man Spannung auf­baut. Sharon
Bolton ist genau das ge­glückt. Der Leser
fiebert und fürchtet mit Clara und kann
ihre Gefühle und Ent­­scheidungen nachvollziehen. Auch die anderen Charaktere
sind rea­li­stisch auf­gebaut und glaubhaft.
Das Buch ist gut recherchiert und setzt
sich mit dem gespaltenen Verhältnis der
mei­sten Menschen gegenüber Schlangen aus­einander. Besonders hervorzuhe­
ben sind auch die wunderschönen Land­
schafts­be­schreibungen; sie machen richtig
Lust sich in ein Flugzeug zu setzen und
nach Südwest-England zu fliegen. Wer
sich schon immer ein wenig für Schlangen inter­essiert hat und gerne Thriller liest,
wird mit diesem Buch einige schöne und
spannende Lesestunden haben.
Silvia Rosinger
Brown, Sandra: Warnschuss
Dt. Übers. von Christoph Göhler
München: Blanvalet, 2009. 510 S.,
EUR 20,60
Die frühere TV-Moderatorin und Schau­
spielerin Sandra Brown liefert seit vielen
Jahren zuverlässig einen Bestseller nach
dem anderen ab und ist mit diesen bei den
Wiener Büchereien auch vielfach vertreten.
Im vorliegenden Titel „Warnschuss“
muss Detective Duncan Hatcher wütend
erleben, wie der Mordprozeß gegen den
Drogenboss Robert Savich wegen eines
Verfahrensfehlers eingestellt wird.
Als Hatcher wutentbrannt den Richter
attackiert, bringt ihm das 48 Stunden Arrest ein. Mit seiner Partnerin Deedee Bowen wird er bald danach zu einem Einbruch ge­rufen, ausgerechnet ins Haus des
Rich­ters, dessen überaus attraktive Frau
den Einbrecher in Notwehr erschossen
haben soll. Doch der Fall ist nicht so glasklar, wie der Richter der Polizei glauben
machen will. Hatcher gerät nicht zu­letzt in
ein Dilemma, als die Frau des Richters, ihn
während der Ermittlungen aufsucht und
behauptet, der Einbrecher hätte sie im Auf­
trag des Richters ermorden sollen. Hatcher
fühlt sich über alle Maßen zu der schönen
Richtersgattin hingezogen und beginnt
eine Affäre mit ihr, danach verschwindet sie. Die Handlung schlägt noch viele
Haken um schlussendlich doch zu einem
Happy End zu finden, zumindest für ein
paar der Beteiligten.
Ein weiterer typischer Sandra Brown
Thri­ller, seicht, durchschaubar, klischee­
haft wie eine billige Fernsehserie und mit
etwas altbackenen Erotikeinlagen garniert.
Günther Badstuber
Cain, Chelsea: Gretchen
München: Limes, 2009. 52 S., EUR 20,60
Als in einer öffentlichen Toilette in Oregon
eine Milz sowie drei Augenpaare gefunden
werden, wird Detective Archie Sheridan,
der von der schönen wie grausamen Serienmörderin Gretchen Lowell brutal ge­
quält wurde, kurzfristig aus dem psy­chi­
atrischen Krankenhaus entlassen, um seine
frührere Spezialeinheit auf der Jagd nach
Lowell zu unterstützen. Der ehe­maligen
Krankenschwester werden ins­gesamt 46
Morde an Männern und Frauen angelastet;
charakteristisch für Gretchen ist die Folter
der Opfer mit anschließender Organentnahme. Auch die junge Jour­na­listin Susan
Ward wird von ihrer Redaktion auf den Fall
angesetzt, findet sie doch in einem leerstehenden Haus in North Fargo eine weitere
augenlose Leiche.
Die junge amerikanische Autorin legt
nun den dritten und letzten Band um
Gret­chen Lowell vor. Wer sich allerdings
spann­ende Einblicke in polizeiliche Er­
mit­tlungen erwartet, wird enttäuscht: Cain
gefällt sich in der detaillierten Schilderung
von Gretchens Gräueltaten. Der Schwer­­
punkt der Romanhandlung liegt in der
Dar­stellung der Verbrechen und der ob­
se­s­siven Beziehung zwischen Lowell und
Sheridan.
Die Charaktere sind schablonenhaft ge­
zeichnet und jeglicher psychologischer
Hinter­grund fehlt. Rückblenden auf die
Ent­stehung der „amour fou“ zwischen
Lowell und Sheridan ermöglichen Leser­
Innen allerdings den problemlosen Einstieg in die Trilogie.
Die Genre-Bezeichnung „Horrorthriller“ ist wohl angemessen. Chelsea Cain
hat eine vampirhaft tödliche Anti-Heldin
ge­schaffen, die in den USA Kultstatus er­
reicht und perverse Fantasien diverser
Nachahmungstäter und hochgradig ge­stör­
ter Persönlichkeiten auslöst.
Cain spielt gekonnt mit den Ängsten vor
dem „unaussprechlich Bösen“, das hier
perfekt in der „blonden Sirene“ Gretchen
Lowell verkörpert wird.
Dagmar Feltl
4
Krimi & Thriller
Cleeves, Ann: Im kalten Licht des
Frühlings
Dt. Übers. von Anja Schünemann
Reinbeck bei Hamburg: Wunderlich,
2009. 429 S., EUR 20,50
Ann Cleeves wurde 2006 mit dem Duncan
Lawrie Dagger Award ausgezeichnet und
ist Mitglied der „Murder Squad“, einem
Zir­kel unterschiedlichster Krimiautoren,
Leser und Fans.
„Im kaltem Licht des Frühlings“ ist der
dritte Band des „Shetland Island Quartett“,
das die Jahreszeiten auf den Shetland Ins­
eln mit je einem Roman abdecken soll.
Die beiden Vorgängerbände befinden sich
im Bestand der Büchereien Wien.
Nach dem Winter ist die Archäologin
Hattie froh ihre Ausgrabungen fortsetzen
zu können. Als die Archäologen Teile ei­
n­es Skeletts freilegen, erleidet Mima, die
Besitzerin des Anwesens, einen veri­ta­blen
Schock. Am nächsten Tag wird Mima von
ihrem Enkel Sandy erschossen aufgefunden. Zuerst sieht alles nach einem Jagdunfall aus. Als Hattie nur wenige Tage später
mit aufgeschlitzten Pulsadern in einer Ausgrabungssenke gefunden wird, be­gi­nnen
Dedective Jimmy Perez und sein Assistent
Sandy undercover wegen Mordes zu ermitteln. Welcher der durchwegs reichen
Hochseefischer hätte ein Motiv die alte
Frau und die inselfremde Archäologin zu
töten?
Ann Cleeves fängt die besondere Atmo­
sphäre der abseits vom Trubel gelegenen
Inseln und der nebeligen Übergangszeit
hervorragend ein.
Psychologisch akkurat schildert sie die
komplizierten zwischen­menschlichen Beziehungen der Inselbewohner. Ebenso passen die detailreichen, gut recherchierten
Kenntnisse der archäologischen Situation
stimmig ins Gesamtbild des rundum ge­
lungenen Krimis. Zur Fortsetzung des Zyklus um die Shetlands, oder als Pageturner
im besten Sinn geeignet.
Hermann Gamauf
Dahl, Kjell O.: Blutfeinde
Dt. Übers. von Kerstin Hartmann-Butt
Bergisch Gladbach: Ehrenwirth, 2009.
300 S., EUR 18,50
Kjell Ola Dahl ist bereits mit sechs anderen Kriminalromanen um das Osloer Ermittlerduo Gunnarstranda und Frolich bei
den Wiener Büchereien vertreten.
Kommissar Gunnarstranda übernimmt
die Ermittlungen in einem Polizistenmord
ohne seinen früheren Kollegen Frolich, der
sich um eine Stelle in der Abteilung für
Vermisste beworben hat.
Der ermordete Polizist, Ivar Killi, war
suspendiert, da ihn Gunnarstranda wegen der Misshandlung eines Verdächtigen
angezeigt hatte. Seither misstrauen die
Kollegen dem Kommissar und sind nicht
eben bemüht, ihn bei seinen Ermittlungen zu unterstützen. Im Gegenteil, es ver­­
Drvenkar, Zoran: Sorry
Berlin: Ullstein. 2009. 396 S., EUR 20,50
Ein guter „Reisser“ beginne mit einer bösen Tat, auf dass die Lesergemeinde eifrig
nach mehr giere. Genau so ist es auch in diesem Buch des in Berlin aufgewachsenen Drvenkar, der seine ersten literarischen Versuche mit Kinderbüchern und realitätsnahen Romanen aus dem kroatischen Kulturkreis machte.
Hier ist erstmals Berlin als Ambiente maßgebend, man könnte die „Spielorte“ auf
dem Stadtplan abstecken, wenn man wollte. Genau so penibel geplant wie die
Einbeziehung der lokalen Gegebenheiten, ist auch die Handlung, deren Gerüst aus
dem Wechsel der Erzählperspektiven der Protagonisten besteht. Was für den eingeschworenen Fan einschlägiger Lektüre abwechslungsreich und spannungssteigernd
ist, wirkt auf den nüchternen Betrachter wohlkalkuliert und durchschaubar. Es scheint als hätte der Autor schon beim Schreiben eine Verfilmung im Sinn,
so „schnittgerecht“ sind die einzelnen Kapitel unterteilt und als Szenen denkbar. Die Story selbst beginnt
relativ einfach, doch sobald man der Meinung ist, die
Beweggründe des Täters und die weitere Entwicklung
erkannt zu haben, ergeben sich unerwartete Änderungen.
Diese Methoden der dramatischen Zuspitzung sind
den alten Hasen des Geschäfts allzu geläufig, nicht
zuletzt sind bei den Danksagungen Andrew Vachss
und Jonathan Nasaw erwähnt. Ein ganz gut gelungener Thriller deutscher Provenienz, der den Vergleich
mit internationalen Vorbildern schon wegen der beträchtlichen Leichenanzahl nicht scheuen muss.
Günter Horvath
Belletristik
schwinden sogar Beweismittel.
Gunnarstranda wird der Fall entzogen
und er wird zu seinem früheren Partner
Frolich versetzt, der jetzt auch noch sein
Vorgesetzter ist. Sie ermitteln im Fall eines
verschwundenen Anwalts, der ein Schulkollege Gunnarstrandas war. Doch es er­
geben sich bald Zusammenhänge zwischen den beiden Fällen und ein weiterer
Polizist, Petter Bull, wird ver­dächtig. Aber
auch eine Psychologin, die attraktive Maria Hoff, steht mit beiden Fällen in Verbindung und gibt den Ermittlern einige Nüsse
zu knacken.
Kjell Ola Dahl hat mit „Blutfeinde“ einen gut lesbaren, über weite Strecken
spannenden Krimi abgeliefert, der allerdings gegen Ende einige unnotwendige
Haken schlägt.
Günther Badstuber
Deaver, Jeffery: Der Täuscher
München: Blanvalet, 2009. 543 S.
Mit dem vorliegenden Roman “Der Täuscher” legt Jeffery Deaver den ins­gesamt 8.
Band seiner Krimireihe rund um das kongeniale Duo Rhyme und Sachs vor. Eines
kann man gleich vorweg festhalten – die
Fans der Reihe werden wieder begeistert
sein!
Diesmal bekommt es Lincoln Rhyme mit
einem überaus gefährlichen Täter zu tun.
Rhyme wird auf den Fall aufmerksam, als
sein Cousin Arthur verhaftet wird, weil er
einen Mord begangen haben soll. Erstaunt
entdeckt der gelähmte Ermittler, dass sein
Cousin nicht der erste Täter ist, der energisch seine Unschuld betont, obwohl am
Tatort und bei ihm zu Hause massive Indizienbeweise vorliegen.
Der familiäre Hintergrund von Rhyme
nimmt eine wesentliche Rolle ein. Die LeserInnen erfahren endlich etwas aus der
Vergangenheit ihres Lieblingsermittlers
und auch sonst „menscheln“ die Charaktere ganz gehörig. Amelia Sachs bekommt
es mit Liebesproblemen ihrer pubertierenden Ziehtochter Pam zu tun und Ron Polaski, der ebenfalls bei den Ermittlungen
hilft, muss sich plötzlich mit seinen eigenen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten auseinander setzen.
Die LeserInnen selbst sehen sich auf
span­nende Art und Weise mit dem Thema Datendiebstahl und Datenschutz kon­
frontiert und man kann nur hoffen, dass
einige LeserInnen sich nun mit diesem
spannenden Thema, welches uns alle betrifft, näher auseinander setzen.
„Der Täuscher“ ist auf jeden Fall all jenen zu empfehlen, die bereits die anderen
Bände dieser Reihe verschlungen haben.
Elisabeth Ghanim
5
Belletristik Krimi & Thriller
French, Tana: Totengleich
Dt. Übers. von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Frankfurt a. Main: Scherz, 2009. 780 S., EUR 17,50
Mit „Totengleich“ veröffentlicht die in Dublin lebende Autorin ihren zweiten Kriminalroman nach „Grabesgrün“, der mit
dem Edgar Award for Best First Novel ausgezeichnet wurde; entsprechend hoch waren die Erwartungen an ihr zweites
Werk.
Auch in „Totengleich“ gelingt es Tana French schon nach wenigen Seiten den Leser in ihren Bann zu ziehen. Ich-Erzähler
ist Cassie Maddox, ehemalige Partnerin und Kurzzeitgeliebte vom Protagonisten in „Grabesgrün“ Rob Ryan. Gebrannt
von den Ereignissen und Folgen des Knockknaree-Falls arbeitet sie nun im Dezernat für häusliche Gewalt. Privat ist sie mit
Sam, dem Dritten im Bunde des ehemaligen Ermittlertrios aus „Grabesgrün“ liiert, zu Rob hat sie keinen Kontakt mehr.
Da wird Cassie von ihrem ehemaligen Ausbildner in der Undercover-Abteilung von der Vergangenheit eingeholt. Frank
bringt sie zum Fundort einer Leiche, die ihr bis aufs Haar gleicht und auch noch einen Ausweis mit dem Namen ihrer ehemaligen Undercoveridentität bei sich trägt. Sofort fühlt Cassie sich für das Schicksal der Frau
verantwortlich und willigt nach einigem Zögern ein, bei einem Undercovereinsatz dabei zu
sein. Mit einem versteckten Mikro und großem psychologischen Gespür, kehrt sie als rekonvaleszente Lexie Madison in das einsam stehende Herrenhaus von Daniel, Abby, Justin und Rafe
zurück, die nicht nur Lexies Freunde und Mitbewohner sondern inzwischen auch dringend
tatverdächtig sind.
Der Roman besticht durch die Dichte der Handlung und die Komplexität der Figuren. Innerhalb kürzester Zeit gelingt es French den Leser in die Gedankenwelt der Akteure eintauchen
zu lassen und eine ständige Spannung aufrecht zu erhalten. Trotz einiger Längen – der Roman
hat immerhin 780 Seiten – ist „Totengleich“ einer der besten Kriminalromane, die zurzeit auf
dem Markt sind. Für das Verständnis des Romans ist es nicht nötig „Grabesgrün“ zuvor gelesen zu haben, doch wird an einigen Stellen Bezug darauf genommen und auch Cassies Seelenlandschaft erschließt sich dem Leser bei Kenntnis von „Grabesgrün“ leichter.
Bettina Raab
Gerritsen, Tess: Grabkammer
München: Limes, 2009. 412 S.,
EUR 19,95
Die ehemalige Ärztin Tess Gerritsen, nunmehr Verfasserin von Thrillern rund um das
Trio Jane Rizzoli, Maura Isles und Barry
Frost, legt jetzt den siebenten Band ihrer
Krimiserie, die hauptsächlich von Serienmördern handelt, vor. Vorweg sei einmal
gesagt, dass der Hype rund um Massenmördergeschichten in der Triv­ialliteratur
in der Zwischenzeit ein fast unerträgliches
Niveau erreicht hat. Die Buchhandlungen
sind voll von Schnellschüssen und auch
die arrivierten Autoren produzieren immer
schneller und schneller. Es scheint so, als
ob der gute alte „Groschenroman“ nur in
neuer Aufmachung und vor allem teurer
wieder daherkommt. Sowohl Gerritsen,
Reich oder Cornwell produzieren schablonenhafte Geschichten, in denen meistens
gegen Ende des Romanes irgendjemand
(vorwiegend eine junge Frau) aus einem
dunklen Verlies vor einem irren Serienkeller gerettet wird, wobei der Serienkiller
zumeist gleich auch ins Jenseits befördert
wird.
Der vorliegende Roman „Grabkammer“
beginnt mit einem recht vielversprechenden Sujet, nämlich Ägyptologie bzw.
Arch­äologie. In einem Museum wird im
un­übersichtlichen Fundus eine Mumie
entdeckt und zur Ausstellung vorbereitet, allerdings findet man bei genauerer Unter­suchung ein Projektil in deren
Bein. In weiterer Folge kommen noch ein
Schrumpfkopf und eine Moorleiche dazu.
Es gibt also einen Serienmörder mit Vorliebe für antike Präparationstechniken. Weiters gibt es eine Museumsangestellte mit
mysteriösem Vorleben auf der Flucht vor
dem Killer.
Nach einem recht passablen Anfang
beginnt sich die Sache dann allerdings in
Richtung des berühmten „Wiener Strudel­
teigs“ zu entwickeln, es zieht sich und
zieht sich dahin, bis zum schon standardisierten Showdown mit nachfolgendem 20
seitigen Epilog um alle Ungereimtheiten
aus­zuräumen.
Peter Hörschelmann
Gross,Andrew:Treu und Glauben
Dt. Übers. von Susanne Goga-Klinkenberg
Frankfurt/M.: Scherz, 2009. 379 S.,
EUR 15,40
Treu und Glauben ist ein klassischer Thriller im Millieu der Finanzjongleure der
amerikanischen Oberschicht.
Karen Friedman glaubt ihren Mann
Charlie in einem B ombenanschlag auf
den örtlichen Bahnhof verloren zu haben,
bis sie ein Jahr später durch Zufall einen
Hinweis auf sein Überleben findet. Sie
freundet sich mit Ty Hauck an, einem Polizisten der Kriminalpolizei, der sie bei der
Suche nach dem Verbleib ihres Mannes
unterstützt. Mit Vorranschreiten der Untersuchungen wird klar, dass Charlie eine
hohe Summe Geld verspekuliert hat. Geld
das aus zwielichtigen Quellen stammte,
weshalb er bedroht wurde und den Bombenanschlag für sein bereits länger geplantes Untertauchen nutzte. Der Autor verweist dabei, wohl nicht nur der Spannung
wegen, auf Parallelen zu den Terrorattacken auf das World Trade Center.
Der Roman liest sich schnell und einfach, solange man sich nicht an den
schwarz/weiß-malenden Klischees, die direkt aus den populären US-Hauptabendserien ent­nommen scheinen, stört. Eigentlich
hetzt man geradezu durch die Seiten, was
ich aber in der Unterteilung in 105 Kapitel
begründet sehe, die viel Freiraum lassen,
und den Umfang des Buches auf gefühlte
250 Seiten reduziert.
Das Buch ist eine Empfehlung für Leser,
die eine spannende Lektüre für den Abend
oder Urlaub suchen, und hierfür weniger
Interesse an einer Auf­merk­samkeit fordernden, komplexeren Handlung zeigen,
dafür die Bandbreite der menschlichen
Gefühle beginnend bei Trauer und Verzweiflung bis hin zur unvermeidlichen Romanze fordern.
Andrew Gross hat mehrere Spannungs­
romane zusammen mit James Patterson
geschrieben, allesamt im Bestand der Büchereien Wien. Der Nachfolger zu „Treu
und Glauben“, wieder mit Ty Hauck in der
Hauptrolle, erschien 2009 auf Englisch.
Die derzeit zur Verfügung stehenden Exemplaren scheinen mir ausreichend.
Markus Gernedl
6
Krimi & Thriller
Heinichen, Veit: Die Ruhe des
Stärkeren
Wien: Zsolnay, 2009. 316 S., EUR 20,50
Der sechste Fall des, mittlerweile auch
durch TV-Verfilmungen bekannten und beliebten Commissario Proteo Laurenti. Der
Schauplatz ist wieder Triest, wo die verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit- und
auch gegeneinander leben.
Auch das Personal der vorangegangenen
Romane tritt wie schon liebgewordene Bekannte auf. Und um es gleich vorweg zu
nehmen, Heinichen hält die Qualität der
früheren Romane.
Die Handlung spielt kurz vor der Öffnung der Schengengrenze zwischen Italien
und Slowenien (Ende 2007). Der Commissario ist für die Sicherheit der hohen EUGäste und den reibungslosen Ablauf der
feierlichen Zeremonie zuständig. Seine
Kollegin Pina, bereits im letzten Band „Totentanz“ eingeführt, verliebt sich in einen
charmanten querschnittgelähmten jungen
Slowenen, der sehr erfolgreich an der Börse spekuliert. Eine anonyme Gruppierung
namens Istria verteilt Flugblätter gegen
die Immobilienspekulationen an der Adria und der Tierpräparator Mazio Manfredi
wird im Zug nach Triest ermordet. Nicht
zu vergessen ist der Kampfhund Argo, der
in der Ich-Perspektive von il­legalen Hundekämpfen im italienisch-slowenischen
Grenzgebiet erzählt.
Viele Fäden also, aus denen Heinichen
seinen neuen Kriminalroman webt, und
den roten Faden zunächst vermissen lässt.
Aber der Wahltriestiner Heinichen wäre
nicht Heinichen würde er schließlich nicht
alles unter einen Hut bringen.
Die vordergründige Kriminalhandlung
dient wieder einmal als Vehikel für Gesellschaftskritik, sei es am Turbo­kapi­talismus,
dem Drogenhandel oder dem organisierten Verbrechen. Bis nach Österreich, respektive Kärnten, reichen diesmal die Ermittlungen, die auch aufzeigen, dass am
Vorabend der Grenzöffnung die polizeiliche Zusammen­arbeit der einzelnen Länder noch ziemlich im Argen lag.
Kurzum, wieder ein spannender und
politisch tiefgründiger Kriminalroman aus
Triest, bei dem natürlich auch das Kulinarische nicht zu kurz kommt.
Liesbeth Mansbart
Johansen,Iris:DieKnochenleserin
Aus dem Englischen von Charlotte Breuer
und Norbert Möllemann
Berlin: List, 2009. 332 S., EUR 20,50
Eve Duncan, eine forensische Gesichtsrekonstrukteurin, versucht nach einigen
Fehlschlägen, den Entführer bzw. Mörder
ihrer siebenjährigen Tochter Bonnie zu finden. Im Vorgängerband hat sie von Montalvo, einem undurchsichtigen und attraktiven Geschäftsmann aus Kolumbien, als
Gegenleistung für die Rekonstruktion des
Gesichtes seiner ermordeten Frau drei Namen genannt bekommen, die mit großer
Wahrscheinlichkeit mit dem Verschwinden
ihrer Tochter zu tun haben.
Einer der Verdächtigen, Kistle, kann in
einer Kleinstadt von Joe Quinn ausfindig
gemacht werden. Quinn, Eve Duncans
Ehemann und ehemaliger FBI Agent, muss
Belletristik
allerdings feststellen, dass Kistle entkommen ist und sich in einem weit­läufigen
Waldgebiet versteckt hält. Auf der Flucht
hat er bereits drei Polizisten kaltblütig ermordet. Der intelligente, sadistische Täter,
beginnt Eve zu quälen, indem er ihr verspricht, das Grab ihrer Tochter zu zeigen.
Immer wieder erzählt er detailliert, was er
mit Bonnie gemacht hat, und Eve glaubt,
endlich den Mörder ihrer Tochter gefunden zu haben. Quinn fühlt sich von der
jahrelangen Suche nach Bonnie schon
ausgelaugt und versteht die Besessenheit,
mit der seine Frau jedem Hinweis folgt,
immer weniger. Die Situation wird sehr
gefährlich, als Kistle ein kleines Mädchen
entführt und sie auf eine Inselgruppe als
Lockvogel verschleppt. Doch Quinn,
Montalvo und Duncan sind ihm auf den
Fersen, um diesen Mord zu verhindern.
Iris Johansen beginnt gleich auf der ersten Seite mit einem spannenden Szenario
und es gelingt ihr, den Spannungsbogen
bis zum Ende aufrecht zu erhalten. Die
Ingredienzien dieses Romans sind beachtlich: neben dem Verbrecher, der das Böse
schlechthin verkörpert und über dreißig
Menschen getötet hat, davon 28 Kinder,
spielen noch riesige Alligatoren, Treibsand,
die Rivalität zwischen zwei Männern und
paranormale Fähigkeiten eines Mediums,
sowie das Erscheinen eines Geistes eine
Rolle. Bei all diesen Ereignissen bleibt die
Glaubwürdigkeit der Geschichte ein bisschen auf der Strecke.
Gabriela Wieri
Leon, Donna: Das Mädchen seiner Träume
Dt. Übers. von Christa E. Seibicke
Zürich: Diogenes, 2009. 350 S., EUR 21,90
Mit dem vorliegenden Buch “Das Mädchen seiner Träume” lässt die bekannte und beliebte Krimiautorin Donna Leon
ihren Commissario Brunetti bereits seinen 17. Fall lösen. Diesmal wird ein Mädchen tot im Canale Grande gefunden,
doch das Kind scheint niemandem abzugehen. Als dann am Körper des Mädchens
Diebesgut gefunden wird, beginnt Brunetti neugierig zu werden und ist schon bald
mit der Lebenssituation der Roma in Italien konfrontiert. Seine Ermittlungen führen ihn
in triste Auffanglager, die Kreise des gehobenen Bildungsbürgertums und in einer Nebenhandlung in Verstrickungen der katholischen Kirche in Spendenskandale. Obwohl
eine Art Lösung des Falls durch Brunetti herbeigeführt wird, hinterlässt die Geschichte
doch einen bitteren Nachgeschmack.
Wie immer fesselt die sozialkritische Geschichte nicht unbedingt durch Action, sondern eher durch die von der Autorin aufgezeigten gesellschaftspolitischen Konflikte,
die so nicht nur in Italien existieren. Obwohl die Kritiken oft bemängeln, dass der
vorliegende 17. Fall des Kult-Commissario nicht unbedingt sein spannendster ist, zieht
die Geschichte die LeserInnen doch sehr schnell in ihren Bann und lässt sie auch so
schnell nicht wieder los. Donna Leon versteht es wieder einmal meisterhaft ihre LeserInnen auch zum Nachdenken über die eigenen Vorurteile und den gesellschaftspolitischen Status Quo anzuregen, ohne dabei aufdringlich zu sein.
Elisabeth Ghanim
7
Belletristik Krimi & Thriller
Stark, Richard: Das Geld war schmutzig
Dt. Übers. von Rudolf Hermstein
Wien: Zsolnay, 2009. 253 S., EUR 17,40
Welchen Wert haben bei einem Raubüberfall erbeutete Millionen, wenn die Scheine markiert sind und sich in einem
schwer zugänglichen Versteck befinden? Parker muss erst ehemalige Komplizen, Kopfgeldjäger und die Polizei austricksen,
um an das Geld zu kommen. Also zieht er alle Register seines taktischen Könnens. Gemeinsam mit seiner Freundin Claire tarnt er sich als Tourist und reist ganz frech an den Tatort.
Doch auch die Polizei macht Fortschritte.
Der nervenstarke Berufskriminelle ohne Vornamen, Vergangenheit und Innenleben, hatte
seinen ersten literarischen Auftritt bereits 1962 in „Jetzt sind wir quitt“. Sein Schöpfer, Donald
E. Westlake veröffentlichte bis in die 1970iger unter dem Pseudonym Richard Stark etliche
weitere Parker-Romane. „The Hunter“ wurde unter dem Titel „Point Blank“ mit Lee Marvin in
der Hauptrolle verfilmt.
Nach „Fragen Sie den Papagei“ und „Keiner rennt für immer“ ist dies der 3. Parker Roman
in wieder aufgelegter deutscher Übersetzung. Die drei deutschsprachigen Neuauflagen sind
zwar in sich abgeschlossene Episoden, stehen jedoch in direktem Bezug zueinander. Bei
einer Empfehlung sollte auf die richtige Reihung hingewiesen werden. Ein Krimi noir hart
an der Grenze zum Thriller, der durchgehend spannend bleibt und stellenweise amüsant zu
lesen ist.
Elisabeth Schögler
Robinson, Peter: Im Sommer des Todes
Berlin: Ullstein, 2009. 455 S., EUR 19,90
Slaughter, Karin: Zerstört
München: Blanvalet, 2009. 510 S.,
EUR 20,60
“Im Sommer des Todes” ist bereits der 16.
Band der Krimiserie rund um Detective
Chief Inspector Alan Banks. Im neuen Fall
untersucht er den Mord am freischaffenden
Musikjournalisten Nick Barber, der zurückgezogen an einem Artikel über die Band
„The Mad Hatters“ arbeitete, die zu ihrem
40. Jahrestag auf eine Revival-Tour gehen
möchte. Im Zuge seiner weiteren Ermittlungen stößt Banks auf den gewaltsamen
Tod eines jungen Mädchens während eines Musikfestivals im Jahr 1969. Bereits bei
diesem Festival ist die Gruppe aufgetreten
und schon bald vermutet Banks, dass der
Mordfall an Barber mit dem Tod der jungen
Frau in Zusammenhang stehen könnte.
Gekonnt erzählt Peter Robinson seine Geschichte auf zwei Zeitebenen und
springt dabei von der Tragödie aus dem
Jahr 1969 immer wieder in die Gegenwart
des Jahres 2005. Dabei versteht es der
Autor, wie auch in den vorangegangenen
Bänden, das Interesse der LeserInnen für
die beiden Kriminalfälle zu wecken, aber
auch gleichzeitig Anteil am Schicksal der
betroffenen Ermittler zu nehmen. Was den
LeserInnen von „Im Sommer des Todes“
zusätzlich überaus angenehm auffallen
dürfte ist, dass auch die Stimmung der späten 60er Jahre nicht zu kurz kommt und
von Peter Robinson wirklich ausgezeichnet eingefangen wird.
Es handelt sich bei „Im Sommer des
Todes“ zwar um den 16. Band einer Krimireihe, doch kann das Buch ohne weiteres als Einstieg in die Reihe rund um Alan
Banks gelesen werden.
Der sechste Roman der Reihe Grant-County von Karin Slaughter - rund um Chief Tolliver, seine Frau Dr. Sara Linton und seine
Kollegin Lena Adams - ist seit kurzem bei
den Büchereien Wien entlehnbar.
Diesmal führt die Autorin den Leser in
Lena Adams Heimatort Reese, tief in die
Sümpfe Georgias, wo Adams von der örtlichen Polizei mit einem Leichnam neben
einem brennenden Fahrzeug angetroffen
wird. Bei den weiteren Untersuchungen
zeigt sich, dass eine brutale Gewalttat vorliegt. Ob Lenas Unwilligkeit zur Aussage,
wird sie prompt verhaftet, schweigt aber
beharrlich zu den Vorkommnissen und
wird so zur Hauptverdächtigen.
Chief Tolliver macht sich mit Sara Linton
sogleich auf die Reise in den amerikanischen Süden um Lena Adams aus dieser
Zwangslage zu befreien. Obwohl Tolliver’s
Frau durch die Untersuchung des Todes
eines jungen Burschen stark belastet ist,
beginnen sie mit den Untersuchungen, die
Lena’s Unschuld beweisen sollen. Doch
die ist nicht nur mit ihren Gefühlen tief in
ihrer Vergangenheit verstrickt.
Was hat ihr verschwundener Onkel
Hank mit den Vorfällen zu tun? Beherrscht
ihr ehemaliger Freund und Drogenboss
Ethan Green noch immer die Gegend, obwohl er im Gefängnis sitzt, oder hat die
korrupte Exekutive ihre Hände im Spiel,
während die Skinheads den Drogenhandel
in der Gegend kontrollieren und für Angst
und Schrecken sorgen?
Elisabeth Ghanim
Andreas Schleif
Wilson, Robert: Andalusisches
Requiem
München: Page & Turner, 2009. 476 S.,
EUR 20,60
Der in Spanien, Portugal und England lebende Robert Wilson zählt zu den erfolgreichsten Krimiautoren Englands und wurde auch mit dem Deutschen Krimi-Preis
aus­gezeichnet. „Andalusisches Requiem“
ist der vierte Fall des in Sevilla lebenden
melancholischen Chef-Inspektors Javier
Falcon und wird auch bei den Wiener Büchereien gerne ausgeliehen.
Eigentlich ist Falcon immer noch mit
dem Bombenattentat aus „Die Maske des
Bösen“ beschäftigt, doch muss er sich jetzt
auch noch um einen vermeintlichen Autounfall kümmern. Ein russischer Mafiosi
ist dabei ums Leben gekommen, im Auto
befanden sich DVDs mit kompromittierenden Aufnahmen be­kannter Manager
und Politiker bei der Interaktion mit Prostituierten. Der Fahrer des Wagens stand
in Verbindung mit einem Paten, der seinerseits unter Verdacht steht, Beziehungen
zu den Urhebern des Attentats in Sevilla
zu unterhalten. Doch schon bald entsteht
ein undurch­schaubares Gewirr rivalisierender Mafia-­Clans, in- und ausländischen
Geheim­diensten und des Terrorismus verdächtigter Extremisten, in das auch marokkanische Verwandte Falcons hineingezogen werden.
Auch dieser Band bewegt sich zwischen
Kriminalroman und raffiniertem Politthriller, ganz in Wilsons beeindruckendem Stil.
Man sollte unbedingt alle Bände in der
richtigen Reihenfolge lesen, da hier Fragen
geklärt werden, die Falcon schon seit Langem beschäftigen.
Günther Badstuber
8
Kriminelles Österreich
Belletristik
Komarek, Alfred: Polt.
Innsbruck: Haymon, 2009. 167 S., EUR 17,90
So schön und anti-modern könnte das Leben doch sein, im Wiesbachtal in der tiefsten niederösterreichischen Provinz. Hat
Simon Polt doch seinen Beruf als Gendarm an den Nagel gehängt, um sich jetzt als Gehilfe bei der Greislerin Habesam zu
verdingen, am Wochenende sein gepachtetes Wirtshaus den weinliebenden Bürgern zugänglich zu machen und sich auch
noch auf seine zukünftige Rolle als Vater vorzubereiten. Das alles will man auch nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, als eines
Tages ausgerechnet im Weingarten seines Ex-Kollegen und besten Freundes Norbert Sailer eine Leiche gefunden wird. So
beschließt man, sich aus den amtlichen Untersuchungen herauszuhalten und den Dingen seinen Lauf zu lassen. Wäre da
nicht Bastian Priml, Ermittlungsbeamter aus der Wien und völlig unerfahren mit den Sitten und Gebräuchen des Wiesbachtals. Denn bei aller Liebe zum Wiesbachtal weiß Polt sehr gut, dass da und dort Leichen im Keller liegen; nur weiß er eben
auch, welche es wert sind, ausgegraben zu werden. Bastian Priml aber, der würde am liebsten das ganze Dorf umgraben
und die Bewohner allesamt hinter Gittern sehen. Angesichts dieses drohenden Ermittlungs-Tsunamis beginnt Polt letztendlich doch mit Nachforschungen, damit die dörfliche
Gemeinschaft bald wieder ihre Ruhe und ihren alltäglichen Trott wiedererlangen möge.
Über weite Strecken vermittelt der Roman eine Atmosphäre der Nostalgie über eine sukzessiv verschwindende ländliche Lebensart, welche dem „Fortschritt“ geopfert werden
muss. Diese angesichts der Ambivalenzen der Moderne durchaus gerechtfertigte Sehnsucht nach Entschleunigung und Ruhe wird jedoch konterkariert durch den Krimi-Plot,
der die Schattenseiten des ländlichen Lebens offenlegt, wo oft ein hinterwäldlerisches
Patriarchat nach wie vor seine Stellung behauptet. Da die meisten ProtagonistInnen des
Romans zudem Frauen sind und auch den größten Beitrag zur Klärung des Mordes beitragen, kann der Roman durchaus auch als literarische Hommage an willensstarke Frauen
gelesen werden, die sich gegen eine archaisch gebliebene Männerwelt zur Wehr setzen.
Rainer Oberscheider
Altmann, Franz Friedrich: Turrinis
Nase
Graz: Leykam, 2009. 205 S., EUR 19,90
Wer Wolf Haas nicht mag, wird Altmann
auch nicht leiden können. Und wer Haas
liebt, der könnte meinen: „ein schwacher
Abklatsch“. Aber so schwach ist der Abklatsch gar nicht. Schon der erste Absatz
(„Mit einer vollen Hosen ist gut stinken!“)
hat hohe Haas-Qualitäten. Auch das Genre ist dasselbe: Krimi.
Altmanns Krimi ist im Mühlviertel
ange­siedelt, genauer gesagt in St. Anton.
Hauptprotagonistin ist Gudrun „Gucki“
Wurm, eine Redakteurin der Mühlviertler
Nachrichten, die endlich die große Story
an Land ziehen will, um die Provinz in
Richtung Wien verlassen zu können, wo
sie ihr Studium der Theaterwissenschaften begonnen hat und noch immer an der
Diplomarbeit über „Sentimentale Motive
im dramatischen Werk von Peter Turrini“
schreibt.
Doch die große Story kommt schneller
als ihr lieb ist: ein Mord passiert. Mit Hilfe
ihres Hundes Turrini entdeckt sie Beweise
und kann sich auch im letzten Moment
aus den Fängen des Mörders retten.
Ein kurzweiliges unterhaltsames Buch
für zwischendurch, gerade richtig für die
Urlaubszeit. Vor allem für jene LeserInnen, die es traurig finden, dass Brenner
im letzten Haas-Krimi stirbt. Diese LeserInnen können bei Entzugserscheinungen
auf Altmann zurück greifen. Ob Altmann
es gefällt, immer mit Wolf Haas verglichen
zu werden, ist unwichtig – damit hat er
bei seinem zwar nicht einzigartigen aber
trotzdem noch eigenwilligen Erzählstil zu
rechnen.
Katharina M. Bergmayr
Bauer, Hermann: Karambolage
Meßkirch: Gmeiner, 2009. 277 S.,
EUR 9,90
„Karambolage“ ist nach „Fernwehträume“
bereits der zweite Kriminalroman des Wiener Handelsakademielehrer­s Hermann
Bauer. Im Zentrum des mörderischen Ge­
schehens steht ein weiteres Mal Leopold
W. Hofer, seines Zeichens Chefober des
fiktiven Floridsdorfer Kaffeehauses „Heller“ und nebenbei kriminalistisch interessierter Laienermittler. Unterstützt von
seinem Freund Thomas Korber, Gymnasiallehrer und Stammgast des „Heller“, gilt
es einen Mord an dem allseits verhassten
Lebe­menschen und Provokateur Georg
Fellner aufzuklären, der noch kurz vor seinem Tod das Billardturnier im Kaffeehaus
gegen seinen langjährigen Gegenspieler
und Todfeind Egon Sykora mit unlaute-
ren Mitteln für sich entschieden hat. Leopold, der nicht so recht an die Schuld des
Hauptverdächtigen Sykora glauben will,
hat alle Mühe, seinen Freund Korber von
der Notwendigkeit eigener Ermittlungen
zu überzeugen, da dessen kriminalistische
Neugier stark von der Aussicht auf ein sich
anbahnendes amouröses Erlebnis mit seiner neuen Kollegin Maria Hinterleitner
beeinträchtigt ist. Schließlich lässt sich
Korber widerstrebend auf die detektivische
Zusammenarbeit ein, nicht ahnend, dass
er diese Entscheidung beinahe mit seinem
Leben bezahlen wird.
Hermann Bauer ist sehr darum bemüht,
seinen Krimiplot mit der sehr spezifischen
Atmosphäre eines Wiener Kaffeehauses
und einer gehörigen Portion Floridsdorfer
Lokalkolorits zu verknüpfen. Allerdings
mutet die Umsetzung dieses Vorhabens
über weite Strecken sehr angestrengt an.
Dem Autor gelingt es nicht wirklich, dem
Leser das Gefühl der Authentizität des
Geschehens zu vermitteln, zu gekünstelt wirkt der ganze Spannungsaufbau, zu
aufgesetzt die Dialoge der nur rudimentär
herausgearbeiteten Charaktere. Ein Krimi­
nal­roman, der wohl vor allem passionierten Wiener Kaffeehausbesuchern mehr
ver­spricht, als er letztendlich halten kann.
Rainer Oberscheider
Belletristik
9
Kriminelles Österreich
Rossmann, Eva: Leben lassen
Bozen: Folio 2009. 238 S., EUR 19,50
Als mit einem Bombenanschlag auf die
jährlich im Wiener Rathaus stattfindende
Literaturgala gedroht wird, scheint auch
Wien zur Zielscheibe des internationalen
Terrorismus geworden zu sein.
Berufsbedingt wird dabei das Interesse der an der Veranstaltung teilnehmenden Journalistin Mira Valensky geweckt,
die Basis für eine verkaufsträchtige Story
scheint gegeben. Ihre Recherchen führen
sehr bald zu einem weiteren Rätsel, dem
fragwürdigen Verschwinden von Franziska Dasch, ebenfalls Teilnehmerin an der
Gala, aber den Indizien zufolge Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.
Auch in ihrem elften Buch greift die beliebte Autorin auf ihr Erfolgsrezept zurück:
ein leicht lesbarer und spannender Plot,
zwei bezaubernde Protagonistinnen (Mira
und ihre befreundete Putzfrau Vesna) und
ein glaubhafter, nicht unkritischer Handlungsaufbau. Ingredienzien, die nicht nur
die Rossmann-Anhänger zufrieden stellen
werden. Ein besonderes Bonmot: die eigenwilligen, kulinarisch nicht uninteressanten Rezeptanregungen der gestressten
Protagonistin.
Josef Kiss
Zeller, Franz: Herzlos
Bielefeld: Pendragon 2009. 250 S.,
EUR 10,20
Als die 88jährige Rosa Schwab in der Salzburger Universitätsklinik nach einer Routineuntersuchung stirbt, scheint dies ja noch
einigermaßen normal: Diagnose Multiorganversagen. In der gleichen Nach wird
jedoch auch ein junger Stationsarzt erstochen im Keller der Klinik aufgefunden. Für
Chefinspektor Franco Moll scheint nur der
unterstandslose „Haubenkarli“ als Täter in
Frage zu kommen, dieser wird allerdings
kurze Zeit später ebenfalls ermordet aufgefunden. Die Ermittler erfahren, dass der
nicht gerade beliebte Jungarzt amouröse
Beziehungen zur Frau des Chefarztes gehabt haben soll, und dass in der Klinik
Personen inoffiziell als Testpersonen missbraucht wurden – ein Umstand über den
auch der Stationsarzt Bescheid wusste.
Franz Zellers Debüt kann als rundum
geglückt bezeichnet werden. Sein erfrischender Stil lässt einem den Roman förmlich verschlingen, zudem hat er mit dem
alleinerziehenden Franco Moll einen Ermittler kreiert, der dem Leser in allen Belangen sympathisch ist.
Josef Kiss
Von heimischen Edelfedern
Barylli, Gabriel: Echtzeit
München: Nymphenburger 2009. 160 S.,
EUR 17,50
Susanna hat alles verloren: ihre Freundin
Isabell, die ihr den Freund ausgespannt
hat, ihren Job und zuletzt die Wohnung.
Nun lebt sie in einem Zimmer und das Internet ist ihr letzter Halt – ihre einzige Verbindung zu anderen. Doch auch dort wird
sie betrogen, von Menschen die nicht so
sind wie sie vorgeben zu sein. So bleibt ihr
nur Isabell – die sie zwar hasst aber der sie
doch all ihre Sorgen schildern kann. Während sie immer melancholischer wird und
Zuflucht im Alkohol sucht, erzählt sie von
ihrem Leben und von dem Zorn.
Susannas Leben ist typisch für die heutige Zeit – immer mehr Menschen flüchten
in die Welt des Internets; Freundschaften
und sogar Lebenspartner werden gesucht.
Doch viele geben nicht die Wahrheit an
und manchmal sind die Enttäuschungen
sehr groß.
Ein äußerst gelungenes Buch über die
scheinbar heile Welt des Internets und den
Untergang einer jungen Frau, die am Leben und den Menschen scheitert.
Ursula Steinermann
Becker, Zdenka: Taubenflug
Wien: Picus 2009. 206 S., EUR 19,90
In der Regel sind Tauben monogam. Monogam ist im Grunde auch Silvia, die eine
ewig währende Zuneigung zu Daniel hegt,
einem Burschen aus der Nach­barschaft
und Amateurbrief­tau­ben­züchter. Die Erfüllung dieser Zu­nei­gung wird jedoch durch
Silvias Mutter sowie einen pädophilen
Priester, der auch Brieftaubenzüchter ist,
verhindert. Silvias Mutter, strategisch denkend, ist eher an der Vermehrung ihres
Grundbesitzes als am Liebesglück ihrer
Tochter interessiert.
Die Niederschlagung des Prager Frühlings sowie die Umwandlung des Dorfes
in eine Plattenbausiedlung macht allen
Beteiligten einen Strich durch die Rechnung. Silvia emigriert nach Österreich und
wird nach anfänglichen Schwierigkeiten
Wissen­schaftlerin auf ornithologischem
Gebiet, genauer der Brieftaubenkunde.
Ihre Mutter, das böse Weib, zieht in eine
Wohnung in den Panelaks, in scheinbar ewig währender Feindschaft zu ihren
ehemaligen Dorf­nachbarn. Daniel bleibt
– zumindest für Silvia – verschwunden,
obwohl sie hie und da Spuren von ihm
findet. Die samtene Revolution verändert
die Situation für die handelnden Personen
abermals und zum – ein wenig aufgesetzten Schluss – finden Silvia und Daniel
doch noch zueinander.
Der Schluss mindert aber keineswegs
die hohe schriftstellerische Qualität, die
Becker in „Taubenflug“ an den Tag legt.
Der Roman beginnt in der Novotný-Ära,
thematisiert Tatsachen aus dem tschechoslowakischen Hochstalinismus und endet
in der neoliberal zugerichteten Slowakei.
Genaue Beobachtungen und Bilder wie
„Der einzige bunte Fleck war ein Billa-Supermarkt, der in der trostlosen Gegend geradezu wohltuend rot-gelb funkelte“ oder
„Die deutschen Sätze, die wir laut lasen,
trugen Spuren unserer Her­kunft, waren
Erinnerung an unsere Mutter­­sprache, an
unser früheres Leben“ verleihen der Geschichte Authentizität.
Zdenka Becker kennt sich mit menschlicher Bosheit aus, beleuchtet menschliche
Ab­gründe und kann außerdem gut schreiben. Vergessen kann sie anscheinend
nicht, und das ist auch gut so.
Rudi Hieblinger
10
Von heimischen Edelfedern
Belletristik
Gstättner, Egyd: Der Untergang des Morgenlandes. Geschichten von verlorenen Posten.
Wien: Picus, 2009. 255 S., EUR 21,90
Acht Geschichten enthält der neue Band von Egyd Gstättner. Gemeinsam ist ihnen ihr unernster Tonfall, der vom
Satirischen bis zur melancholischen Ironie changiert. Zum Teil machen die Beiträge den Eindruck von Stilübungen
nach dem Muster von „Callots Manier“.
In „Robert Musil bleibt daheim“ könnte man, wenn auch ironisch gebrochen, an die „Drei Frauen“ erinnert werden.
„Der Narr von München“ atmet ein wenig feixend etwas von Thomas Bernhardscher atemloser Indignation. „Österreichs schönste Bluttaten“ greift weniger hoch und will nichts sein als eine Persiflage auf die Vogue des kulinarisch
menschelnden Kriminalromans. Ins Feuilleton gehört “Das Ende Robin Hoods, von ihm
selbst erzählt“, in dem es um Jörg Haider und nicht zuletzt dessen Strumpfhosen geht.
„Istanbul darf nicht Berlin werden“ ist ein Bericht über eine verkehrte Welt und vielleicht das einzige Stück dieses Bandes, das nicht in der provinziellen Verkleinerungsform geschrieben ist, einer Art behaglichen Klaustrophobie.
Am kunstvollsten wirkt, abgesehen von der wunderbaren Miniatur über Musil, der „Narr
von München“, ein aus drei Perspektiven erzählter Schwank aus Oberbayern, in dem
ein innovativ planendes Gastwirt-Ehepaar im Dörfchen Murnau zuerst vom Maler Spitzweg und gleich darauf von der Cholera heimgesucht wird; ein unvermittelt anachronistischer Zusammenprall von zeitgeistigem Tourismus-Geschwätz und einer ebenso skurrilen Charakterzeichnung, diesmal in „Spitzwegs Manier“ und Bernhardschem Tonfall.
Gstättners neuer Band ist eine ambitioniert unterhaltsame Sammlung recht verschied­en­
artiger Texte, die gehobenes Lesevergnügen garantiert.
Ernst Simanek
Breznik, Melitta: Nordlicht
München: Luchterhand, 2009. 251 S.,
EUR 18,50
Melitta Breznik ist 1961 in Kapfenberg geboren und arbeitet als Psychiaterin in der
Schweiz. Nach drei Erzählbänden liegt
nun der Roman „Nordlicht“ vor. Es handelt
sich dabei um ein Doppelportrait von zwei
Frauen.
Anna Bergmann ist Psychiaterin, die in
einer schweren Krise steckt. Ihr um Mann
ist nur mit der Auflösung seiner Firma beschäftigt und nimmt seine Frau gar nicht
mehr wahr. Als das Paar eine Trennung
auf Zeit vereinbart, legt Annas Mann sich
gleich eine Neue zu. Anna lässt sich scheiden und beschließt für eine Zeit nach Norwegen zu gehen, zieht sich in eine Hütte
auf den Lofoten zurück, wo sie in Einsamkeit und Dunkelheit lebt. Mit im Gepäck
hat sie die Kriegstagebücher ihres Vaters,
der im zweiten Weltkrieg in Norwegen
stationiert war, nun will sie anhand der
Tagebücher und alten Fotos seine Vergangenheit aufspüren.
Dabei lernt Anna die Norwegerin Giske
kennen, die alleine auf einem Bauernhof
lebt, getrennt von ihrem Mann und drei
Kindern. Die Journalistin ist die uneheliche Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten, den sie nie kennen gelernt hat.
Sie will nun, genauso wie Anna, herausfinden, wer ihr Vater war.
Geschickt werden die beiden Frauen­
schicksale miteinander verknüpft, beide
sind auf der Suche nach ihren Vätern, beide wollen nach der Scheidung ein neues
Leben anfangen, und beide kämpfen mit
den Traumata der Vergangenheit. In Rückblicken erfährt man allmählich ihre Lebensgeschichten. Die beiden Handlungs­
stränge werden gekonnt miteinander
verflochten. Zeiten und Orte wechseln
ebenso wie die Erzählperspektive. Die
seelischen Befindlichkeiten der beiden
Frauen scheinen mit dem Wetter und der
Landschaft zu korrelieren. Die Beschreibungen des langen norwegischen Winters,
der Weite und Stille des Landes sind beeindruckend.
Ein Roman mit psychologischer Tiefe,
der menschliche Emotionen sehr treffend
schildert, verfasst in einer distanzierten,
kühlen Sprache.
Claudia Sykora-Bitter
Elterlein, Georg: Der
Hungerkünstler
Wien: Picus, 2009. 320 S., EUR 22,90
Georg Elterlein schildert in seinem Debütroman die Entwicklung von Andreas
Tretter, der, eben aus einer psychiatrischen
Anstalt entlassen, sein Leben durch Verhungern in der Ägäis beenden will. Hungern war für Andi schon einmal ein Ausweg: er flieht so dem seelischen Druck, der
nicht zuletzt auch durch den Selbstmord
seiner Mutter auf ihm lastet. Der Tod seiner Großmutter hindert ihn jedoch daran,
seinen Plan in die Tat umzusetzen. Der
Großvater wird im Streit über das Gelände der ehemaligen Spedition – dem Erbe
der Großmutter – zum Kontrahenten von
Andis Vater. Einer jungen Studentin, Krähe,
berichtet er über seine Zeit als Spanienkämpfer, über den Krieg und sein persönliches Schicksal.
Andi wird verliebt sich in Krähe und
wird in sein Leben als Portier zurück geholt. Zukunftsorientiert beschließt er, die
Matura nachzuholen. Die Gedanken an
den Tod, an die Flucht aus der Verantwortung, bleiben jedoch stets präsent.
Neben der Thematisierung des Hungerns
als Protest gegen den Leistungsdruck, thematisiert Elterlein auch die Unfähigkeit
seiner Protagonisten, über ihr Leben und
ihre Gefühle zu sprechen. Großartig in
schlichter aber packender Sprache gebaut,
entwickelt der Roman einen ungeheuren
Sog. Das Buch verleitet dazu, es nicht aus
der Hand zu legen. Als Leser ist man erfreut über eine spannende, berührende
Geschichte, an die man sich noch lange
erinnern wird. Nach diesem begeisternden Romandebut hofft man, dass auch das
nächste Werk des Autors ebenso hochstehende Literatur bringen wird.
Christian Jahl
11
Belletristik Von heimischen Edelfedern
Glavinic, Thomas: Das Leben der
Wünsche
München: Hanser, 2009. 318 S.,
EUR 20.50
Jonas ist Mitte Dreißig, Vater von zwei Kindern, verheiratet und hat eine Affäre: er
führt ein ganz normales Leben. Bis zu dem
Punkt, als er im Park einen Mann kennenlernt, der ihm seine Wünsche erfüllen will.
Ohne die Sache ernst zu nehmen, spricht
Jonas seine Gedanken frei aus. Er will wissen, wie es ist, knapp dem Unheil zu entkommen, er möchte den Sinn des Lebens
kennen und er möchte lebendiger sein.
Damit startet eine Kette von merkwürdigen
Ereignissen. Er entkommt bei einem Autounfall knapp dem Tod, er steigt nicht in
ein Flugzeug, das kurz daraufhin abstürzt
und seine Frau Helen stirbt an plötzlichem
Herztod. Nach ihrem Begräbnis erfährt er,
dass sie ebenfalls eine Affäre hatte. Der
Nebenbuhler kommt kurz darauf durch
einen Unfall ums Leben. Das Buch endet
letztlich mit einem gewaltigen Schlussakt.
Ähnlich wie in seinem Werk „Die Arbeit
der Nacht“ geht es auch hier um die großen Themen des Lebens. Das Besondere
ist, dass die Hauptfigur scheinbar ihr Leben gestalten kann, und dann aber auch
wieder nicht, denn das Ergebnis eines
Wunsches ist so unberechenbar wie das
Leben selbst. Glavinic versteht es, LeserInnen in seinen Bann zu ziehen und stellt
dabei die Figuren so plastisch dar, als wären sie greifbar.
Verena Brunner
Gstättner, Egyd: Jubel, Trubel,
Österreich. Neue Geschichten aus dem
Süden.
Wien: Amalthea 2009. 208 S., EUR 19,95
Wenn Egyd Gstättner eine österreichische
Institution geworden ist, dann sicher nicht
zuletzt deshalb, weil er für Zeitungen satirische Kolumnen schreibt. Weniges wird
hierzulande mit mehr Vergnügen gelesen,
als kurze, pointierte Seitenhiebe auf Gott
und seinen Tiergarten, wenn sie nur gemütlich genug daherkommen.
Auch wenn Gstättner treffende Ana­
lysen zu bieten hat – gleich in der Ein­­­lei­
tung verweist er auf Konrad Lorenz der
den österreichischen Charme als „Über­­­
sprung­handlun g zwischen zwei zu­wider­­
laufenden Instinkten“ definiert – so ent­­
kommt er doch nicht der Rolle des „handlungsüberspringenden Schmäh­führers“.
Wie sehr der Verfasser davon überzeugt ist, eine besonders österreichische
Literatur­gattung zu pflegen, drückt sich
schon darin aus, dass das Inhaltsverzeichnis nach Motiven der Bundeshymne gegliedert ist. Auch inhaltlich geht es um
inländische Mythen wie die Mozartkugel,
die Berg­gasse, Córdoba, Auto und Internetz. Neologismen ärgern den Deutschkundigen, das Aussterben der Postämter
den Heimatverbundenen, besonders wenn
statt dessen eine MacDonalds-Filiale eröffnet. Auch das Älterwerden geht nicht spurlos am Verfasser vorüber, was seine Sympathiewerte steigern könnte. Und natürlich steht die „New Economy“ am Pranger,
weil sie mit ihrer heißen Luft das soziale
Klima verdorren lässt.
Der vorliegende Band ist ein sehr unterhaltsames Austriacum, literarisch solide,
thematisch auf die jüngere Ver­gangen­
heit bezogen, nur manchmal zu sehr auf
die tägliche Pointe aus und nicht wirklich
konfliktbereit. Eine Sammlung von Glossen aus einer anspruchsvolleren österreichischen Tageszeitung in alter, wenn auch
gehobener Raunzer-Tradition. Unterhaltsam und populär genug für einen breiten
Einsatz.
Ernst Simanek
Helbich, Ilse: Das Haus
Graz: Literaturverlag Droschl, 2009.
140 S., EUR 18,00
Ilse Helbich ist 1923 geboren und in Wien
aufgewachsen, hat Germanistik studiert
und war als Publizistin tätig. 2003 erschien
ihr erster Roman „Schwalbenschrift“, der
von ihrem Leben, einer Kindheit ohne Liebe, von Krieg und Gewalt, der Leere einer
Ehe und schließlich vom Ausbruch aus
dem großbürgerlichen Wiener Leben und
dem Beginn des Schreibens handelt. Hier
setzt Helbichs zweiter Roman „Das Haus“
an.
Nachdem die alte Frau ihre Familie verlassen hat, kauft sie sich ein baufälliges
Haus im Kamptal. Sie zieht in das kleine
Dorf, wo sie zunächst im Gasthaus wohnt,
schlüpft trotz schwacher Gesundheit in die
Rolle der Bauherrin und nimmt die Renovierung des Hauses in Angriff. Die heruntergekommene Liegenschaft soll wieder
bewohnbar gemacht werden. Behutsam
nähert sich die Frau den Eigen­heiten des
Gebäudes und des Gartens, will den ursprünglichen Zustand wiederherstellen.
Gleichzeitig lernt sie das Dorf mit seinen
Menschen kennen; die einen reagieren etwas unwirsch auf die „Stadtfrau“, andere
wieder beglücken sie mit Erzählungen und
unterstützen sie in Haus und Garten. Zwar
bleibt sie eine Zugereiste, nimmt aber
mit Interesse immer mehr am Dorfleben
teil. Schließlich zieht die Frau in die neue
Bleibe, richtet sich ein, alles findet seinen
Platz.
Ilse Helbich erzählt, wie eine Frau sich
ein Zuhause schafft, das sie im bisherigen Leben nie hatte. Trotz Einsamkeit im
Alter und Angst vor Krankheit, kann sie
ihre neue Sesshaftigkeit und das friedliche Landleben genießen. Sie erfreut sich
an den kleinen Dingen, die Natur und der
Garten lassen sie glückliche Momente erleben.
Ilse Helbichs Prosa ist still und klar, auf
das Wesentliche konzentriert, Details werden liebevoll beschrieben. Ein berührendes Buch, das spürbar macht, wie jeder
Augen­blick gelebt werden kann, gelassen
und mit der Gewissheit von Endlichkeit.
Claudia Sykora-Bitter
Hotschnig, Alois: Im Sitzen läuft es
sich besser davon. Erzählungen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009.
141 S., EUR 17.50
Der seit langem in Tirol lebende Alois Hotschnig wurde bereits mehrfach für seine
Erzählungen, Theaterstücke und Romane
ausgezeichnet und ist mittlerweile zu einem Fixstern am österreichischen Literatenhimmel geworden. Wie auch schon
sein letzter, von der Literaturkritik bejubelte Erzählband „Die Kinder be­ruhigte das
nicht“, so zeugt auch das neue – leider
allzu schmale – Bändchen von außerordentlicher Begabung und nahezu perfekter
Beherrschung von Sprache, sowie der Fähigkeit, ohne große Worte Befindlichkeiten
und Gefühle zwischen den Zeilen erklingen zu lassen.
Hotschnigs sechs Erzählungen machen
nachdenklich über Dinge, die jeden von
uns irgendwann betreffen: Altersheim,
Krankheit, Demenz oder Tod. Sie führen
auf realistische Weise die Absurdität alltäglicher Handlungen vor Augen, mit einem
schalen aber ironischen Nach­geschmack.
Gekonnt spielerisch wird Sprache verwendet, um Dialoge und Handlungen in oft
verwirrt anmutenden Gedanken­gängen
zu schildern – aber das ist die Realität des
Alter(n)s. Keine leichte Übung für den Leser: man muss sich in jede Geschichte erst
kurz einlesen, um den Handlungsstrang zu
erfassen und die einzelnen Persönlichkeiten zu iden­tifizieren. Aber die Mühe wird
belohnt – wie in ein Rätsel, das es aufzulösen gilt, wird der Leser in die Geschichten
hineingezogen und erst durch den Schnitt
des Autors am Ende erlöst – erst im Nach­
hinein hat man verstanden, um was es
wirklich geht.
Alles in allem ein nachdenkliches, langsames und nach Stimmungslage des Lesers
auch frustrierendes Buch, das einen Spiegel des Alters und der Eventualitäten vor
Augen führt.
Sissy Schiener
12
Von heimischen Edelfedern
Kain, Eugenie: Schneckenkönig.
Erzählungen.
Salzburg, Wien: Müller 2009. 134 S.,
EUR 18,00
Die 1960 in Linz geborene Tochter des
Widerstandskämpfers und Schriftstellers
Franz Kain Eugenie hat nach „Im Fluß.
Miniaturen“ einen weiteren Erzählband
hervorgebracht. Nachdem sie 15 Jahre in
Wien studiert hat, kehrte Kain wieder in
ihre Geburtsstadt zurück, die wie so oft
Mittelpunkt ihrer Texte ist.
Es ist jedoch nicht das „Linz 09“, die
Stadt mit dem Lentos-Museum und Ars
Electronica Center, welches Kain schildert. Vielmehr sind es die Peripherie der
Landes­hauptstadt, ihre Industriegebiete,
die Schrebergärten und Häfen, wo die sozial Benachteiligten und Außenseiter der
Stadt leben – dies sind die Handlungsorte der in „Schneckenkönig“ gesammelten
Geschichten. Die titelgebende Erzählung
schildert die einsame Kindheit und Jugend
eines Buben, der ein exotisches Hobby
entwickelt: die Malakologie. Im Besonderen haben es dem Jungen die Schnecken
angetan, und er macht sich auf die Suche
nach dem Schneckenkönig. Als Schneckenkönige werden Schnecken bezeichnet, deren Häuser in die nicht arttypische
Richtung (also linksgängig) gewunden
sind.
Maßgeblich für das Gelingen des Erzähl­
bandes sind auch die erste und die letzte
Geschichte: es geht um die Liebe zwi-
schen der Freundin eines Tankstellenpächters und einem rumänischen Matrosen,
der Kreis des Erzählbandes schließt sich
wieder. Gemeinsam ist allen neun Erzählungen eine gewisse Trauer und Melancholie, die durch die Schilderung der an
den Rand gedrängten Protagonisten beim
Lesen aufkommt.
Wenn man Linz kennt, und nicht nur
aus der Zeit der Kulturhauptstadt, dann
hat man das Gefühl als würde man beim
Lesen in die Vergangenheit zurück versetzt
werden. In eine Zeit, wo das Stadtmarketing in Linz noch weit weg von den heutigen Verkaufskünsten war.
Katharina Marie Bergmayr
Mischkulnig, Lydia: Macht euch
keine Sorgen. Neun Heimsuchungen.
Innsbruck: Haymon, 2009. 110 S.,
EUR 15,90.
„Neun Heimsuchungen“, der Untertitel
des jüngsten Erzählbandes, stellt einen
Zusammenhang zu dem 1998 erschienen
Erzählband „Sieben Versuchungen“ der
1963 in Klagenfurt geborenen, viel­fach
ausgezeichneten Autorin Lydia Misch­
kulnig her.
Waren die „Versuchungen“ noch the­
ma­tisch der Jugend bzw. der Leiden­schaft
zwischen Frau und Mann zugeordnet, so
liegt der Schwerpunkt der „Heimsuchungen“ bei älteren Menschen, meist Frauen
Belletristik
und deren Zweifel, Schicksalen und Erinnerungen.
Schicksale schließen auch den Tod nicht
aus, was Mischkulnig bisweilen nachhaltig
und unverhohlen zelebriert.
Die Autorin ist eine bedachtsame und
gründliche Beobachterin und Zuhörerin.
Ihre Protagonistinnen sind meist Ich-Erzählerinnen.
In „Herzilein“ teilen sich 2 Frauen ein
Zimmer im Krankenhaus. Die Ich-Erzählerin, frisch mandeloperiert, versucht eine
innere Distanz zu ihrer Zimmergenossin,
einer älteren Dame, aufzubauen, die eigentlich Banales aus ihrem Leben erzählt.
Am nächsten Morgen ist die alte Dame jedoch unvermutet gestorben und für die Erzählerin bleibt ein Gefühl zurück, das als
Ironie des Schicksals noch am besten zu
erklären ist. „Beneidenswert, sagt der Arzt,
wenn man bedenkt, was für eine Gewalt
der Tod sonst hat.“
In „Ausgesorgt“ kommen verstörende
Gefühle einer alleinerziehenden Mutter zum Vorschein, die nach einem Tee­
gespräch mit der Nachbarin, die ihre geliebten Katzen einer neuen Katzenmutter
anvertraut hat, aufgewühlt werden.
Lydia Mischkulnigs Geschichten lösen
Verstörung aus, obwohl Ironie und leiser
Humor eine gewisse Besänftigung bewirken. Aber wähnen Sie sich nicht auf der
sicheren Seite, denn genau in diesem Moment verlieren Sie den Boden unter den
Füßen.
Rudolf Kraus
Kossdorff, Jan: Sunnyboys
Wien: Milena 2009. 389 S., EUR 18,90
„Sunnyboys“ ist ein rasant geschriebener Roman rund um die Turbulenzen im Leben zweier Brüder.
Clemens und Claudio Komenda führen gemeinsam ein Sonnenstudio in Wien. Außerdem springt
Clemens öfter als Detektivassistent in der Detektei eines Freundes ein. Als solcher ereilt ihn der
Auftrag, die Frau eines bekannten Ex-Fußballers zu überwachen. Der Fall erweist sich als pikant.
Die Dame ist mit einem Freund Richtung Wochenendhaus unterwegs. Dort stößt ein weiteres Paar
zu ihnen und dann geht es intim zur Sache. Die Ankunft des zweiten Paares bedeutet für Clemens
einen veritablen Schock, da er in ihnen seine Eltern erkennt. Fortan steckt er in einer Dauerkrise.
Die Beziehung zu seiner Freundin Martina, einer Volksschullehrerin, beginnt brüchig zu werden.
Claudio steckt seinerseits in einer festgefahrenen Ehe mit Rosi. Zudem ist er in die Frau des Detektivs verliebt, für den Clemens arbeitet. Andrea und Claudio fahren manchmal zu IKEA und spielen
in den ausgestellten Wohnräumen Familienrollenspiele, bei denen Clemens sie heimlich belauscht.
Clemens freundet sich mit dem lebenserfahrenen Ex-Fußballer an. Diese Beziehung beschert ihm
ziemliche Aufregungen, da der ältere Mann den guten Dingen des Lebens nicht abgeneigt ist. Ein
Geheimnis besitzt er auch, und in diesem spielt das Elternpaar Komenda eine tragende Rolle.
Clemens und Claudio verlaufen eine wahre Gefühls-Odyssee. Einem Vorsatz bleibt Clemens trotz aller Turbulenzen treu: jeden Tag seines Lebens etwas Neues auszuprobieren.
„Sunny Boys“ ist die sehr stimmige Geschichte einer Selbstfindung mit hohem Unterhaltungswert. Kossdorff gelingt es perfekt,
die Balance zwischen ernster Nachdenklichkeit und skurrilem Humor zu halten. Die Charaktere der handelnden Personen
sind ausgezeichnet getroffen, die Sprache zeichnet sich durch Bilderreichtum und Witz aus. Das Wiener Lokalkolorit ist auch
sprachlich hervorragend getroffen. Der Schmäh läuft neben dem Weltschmerz dahin und trifft den Ton der urbanen Generation der 30-40 Jährigen ziemlich genau. Ein gelungener Romanerstling, dessen Autor man sich merken sollte.
Maria Hammerschmid
13
Belletristik Von heimischen Edelfedern
Rosei, Peter: Das große Töten
St.Pölten: Residenz, 2009. 156 S.,
EUR 18,50
Peter Rosei zählt zu den bekanntesten
Autoren der österreichischen Gegen­
wartsliteratur. Sein neuester Roman „Das
große Töten“ ist ein schmaler Band, der
die Geschichte zweier Außenseiter erzählt.
Da ist zum einen Paul Wukitsch, ein
hochintelligenter Bub der im tiefsten Burgenland aufwächst. Er wird von seinen
Lehrern gefördert und landet im Priesterseminar, wo sein nahezu autistisches Verhalten bald zum Ausschluss führt. Und dann
ist da Alexander Altmann, Angestellter in
einer Kunstgalerie, der wegen Unterschlagungen gekündigt wird. Seine Frau, die
ihn betrogen hat, begeht Selbstmord – sein
Leben zerbricht auf allen Ebenen. Paul
und Alexander treffen aufeinander und
werden ein Paar. Gemeinsam wollen sie in
einem Großkaufhaus auf der Mariahilferstraße einen Überfall machen. Doch Paul
wird zum Amokläufer und schießt wild in
die Menge.
Roseis Erzählstil ist einfach und doch
von „sprachlicher Kunstfertigkeit“ geprägt,
wie ein Rezensent zu Recht bemerkt.
Vor allem die Schilderung des dörflichen Lebens ist ausgesprochen gelungen,
der Duktus scheint sich wunderbar in
die Landschaft einzufügen, ist „von einer sprachlichen Schönheit und Eleganz,
dass einem beim Lesen das Herz im Leibe
hüpft“, so ein anderer.
Und trotzdem: die Geschichte wirkt
sehr konstruiert, die Charaktere sind nicht
greifbar. Die Handlung entwickelt sich zunächst in zwei Strängen. Plötzlich werden
diese zusammengeführt, wo­bei der Erzähler einiges schuldig bleibt. Schlussendlich
kommt es zum Showdown, der sich nicht
angekündigt hat und nicht nachvollziehbar ist. Der Roman schließt auf ausgesprochen un­glückliche Art. Der bereits vielfach
mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor kann auf ein umfangreiches
Werk zurückblicken. Ob dieser Roman zu
seinen besten Stücken zählt, wage ich zu
bezweifeln.
Monika Nebosis
Rossbacher, Verena: Verlangen nach
Drachen
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009.
443 S., EUR 22.60
Die Vorarlberger Newcomerin Verena
Rossbacher, Absolventin des deutschen
Literaturinstituts Leipzig, hat jüngst mit
ihrem Debütroman „Verlangen nach Drachen“ für Aufmerksamkeit gesorgt.
Ihr kunstvoll gearbeitetes, stellenweise
humoriges und über 400 Seiten starkes
„Opus Magnum“ spaltet die Geister der
Rezen­senten ebenso wie die der LeserInnen. In Anlehnung an die österreichische
Literatur der Zwischenkriegszeit eines Ca-
netti, Horvath oder Doderer be­schreibt die
Autorin in sieben Kapiteln das Scheitern
von Klara Grün in ihren Beziehungen zu
Männern. Die einzelnen Geschichten werden aus der Perspektive der verlassenen
Männer geschildert und stellen Klara als
Männerverführerin, femme fatal, unschuldiges Mädchen u.a. dar. Den Reigen der
Beziehungen eröffnet ihr Vater Roth. Der
Roman ist in all seiner wirren Verflechtung
vom Innenleben der Männer und ihren
Beziehungsanalysen gefangen und der
geneigte Leser kann einer Logik der Handlung nur schwer folgen; die überbordende
Verwendung von Farben, Gerüchen, Symbolen und Motiven trägt auch nicht zum
Verständnis bei. Der einzige Fixpunkt im
Roman ist das Kaffe Neugröschl, dessen
Besitzer - eine Figur aus Torbergs Tante
Jolesch – als Einziger den Überblick bewahrt. Ab und an flackern sehr witzige
und skurrile Szenen auf, im Großen und
Ganzen ist die Lektüre doch nur mit einiger Mühe durchzuhalten. Das Buch, wenn
auch sprachlich ein großes Kunstwerk, ist
doch um Einiges zu lang.
Die Autorin lässt noch viel von sich erwarten, sollte aber ihre Kunstfertigkeit etwas dosierter anwenden. Das Buch ist als
Erstlingswerk sicher für mittlere bis große
Bibliotheken geeignet, sollte aber vorwiegend geübterem Lesepublikum empfohlen
werden. Sissy Schiener
Anno dazumal
Bennett, Vanora: Die Seidenprinzessin. Historischer Roman
Frankfurt am Main: Wolfgang Krüger, 2009. 432 S., EUR 19,95
Im Frühling des Jahres 1471 begegnet die vierzehnjährige Isabel Lambert in einer Kirche in London einem jungen faszinierenden Mann. Außer einem kurzen intensiven Gespräch in einem nahe gelegenen Gasthaus, bei dem das Mädchen Vertrautheit
und Wärme spürt, passiert nichts. Obwohl Isabel nicht einmal den Namen des Fremden kennt, muss sie immer wieder an ihn
und diese außergewöhnliche Begegnung denken.
Eine Woche später findet die von ihrem Vater arrangierte Hochzeit mit Thomas Claver statt. Isabel, die anfangs gar nicht begeistert ist von der ganzen Sache, fügt sich dem Wunsch ihres Vaters und kommt mit der neuen Situation überraschend gut
zurecht. Gerade als sie beginnt für ihren Ehemann Gefühle zu entwickeln, kommt dieser wenige
Wochen nach ihrer Vermählung bei Kampfhandlungen ums Leben. Da Isabel nicht zu ihrem
herrischen Vater zurückkehren will, beschließt sie, als Lehrling im Haus ihrer Schwiegermutter
Alice Claver zu bleiben.
Sie ist fest entschlossen, Englands erste eigene Seidenweberei zu gründen, doch dafür braucht
sie einen machtvollen Förderer und Gönner. Mehr als ein Jahr später, trifft sie den Fremden aus
der Kirche wieder, diesmal beginnt eine heimliche Liebesbeziehung zwischen den beiden, da er
verheiratet und außerdem der Bruder des Königs ist.
Vanora Bennetts einfühlsame, manchmal kitschige Ausdrucksweise passt gut zu dieser Liebesgeschichte, die vor dem Hintergrund der Rosenkriege in England angesiedelt ist. Die Autorin
versteht es, die Gefühlswelt der Protagonistin Isabel durch ihre pittoresken Schilderungen greifbar zu machen und gleichzeitig ein Sittenbild des ausgehenden 15. Jahrhunderts in England zu
zeichnen.
Brigitte Strohschein
14
Anno dazumal
Gablé, Rebecca: Hiobs Brüder
Bergisch Gladbach: Ehrenwirth, 2009.
907 S., EUR 24,90
Rebecca Gablé zählt mit ihren historischen
Romanen, die im englischen Mittelalter
spielen, zu den beliebtesten AutorInnen
dieses Genres. Man erkennt schnell, dass
die Autorin Anglistik und Germanistik mit
Schwerpunkt Mediävistik studiert hat und
auch der vorliegende Roman ist wieder
exzellent recherchiert. Viele LeserInnen
der Büchereien Wien warten sicher schon
sehnsüchtig auf den neuen Schmöker.
Der junge Simon, der an Fallsucht leidet, wird von Mönchen auf eine einsame
Insel verbannt und in eine Festung gesperrt. Hier lernt er Losian kennen, Anführer der dort eingesperrten Unglücklichen,
die alle an einem geistigen oder körperlichen Gebrechen leiden. Den Gefangenen
kommt eine Sturmflut zu Hilfe, die die
Gefängnismauern einreißt. Es gelingt die
Flucht und eine Wanderschaft voll Hunger
und Gefahren beginnt.
LeserInnen, die die vorhergegangenen
Bücher der Autorin gelesen haben, werden auch in „Hiobs Brüder“ wieder auf
alt­bekannte Charaktere und Geschichten
stoßen; ein Zuckerl für die Fans. Für das
Verständnis des Romans ist es jedoch
nicht notwendig, die anderen Bücher der
Autorin zu kennen. Rebecca Gablé ist es
wieder gelungen, einen faszinierenden
Einblick in das mittelalterliche England zu
gewähren, wobei diesmal auch auf das Leben der „einfachen“ Leute sowie körperlich und geistig Behinderter eingegangen
wird. Trotz dieses eher tristen und ungewöhnlichen Themas fesselt die Autorin erneut mit einer Geschichte, die man nicht
aus der Hand legen will, weil man unbedingt wissen möchte wie es weitergeht.
Elisabeth Ghanim
Glaesener, Helga: Das Findelhaus
München: List, 2009. 410 S., EUR 8,95
Nach den Romanen „Wespensommer“
und „Wölfe im Olivenhain“ ermitteln Cecilia Barghini und der Richter Enzo Rossi
nun im vorliegenden dritten historischen
Krimi mit dem Namen „Das Findelhaus“.
Im örtlichen Waisenhaus wird ein Kinder aus dem Fenster geworfen und stirbt.
Der Gärtner behauptet, dass eine frühere
Bewohnerin des Anwesens, die eben in
diesem Zimmer ihr Kind auf die gleiche
Weise getötet hat, wieder gekommen
ist um zu morden. Tatsächlich wird eine
verschleierte Frau von mehreren Augen­
zeugen gesehen und Cecilias Neu­gierde
wird wieder einmal geweckt. Doch noch
während die junge Frau auf einige Ungereimtheiten stößt, gerät sie ins Blickfeld
von Rossis ungeliebten Vorgesetzten Lupori, der Cecilia beschuldigt, sich an den
Spendengeldern für das Waisenhaus vergriffen zu haben. Und so findet sich Cecilia Barghini plötzlich im Gefängnis wieder, unfähig ihre Unschuld zu beweisen.
Helga Glaesener ist mit „Das Findelhaus“ ein wirklich guter Abschluss der
sogenannten „Toskana Trilogie“ gelungen,
den LeserInnen auch ohne weiteres genießen können, wenn sie die beiden vorhergehenden Bände noch nicht kennen.
Die Geschichte ist gewohnt spannend
und atmosphärisch dicht erzählt, wobei
der Kriminalfall so gekonnt konstruiert ist,
dass auch geübte KrimileserInnen nicht
so bald auf die Lösung kommen werden.
Die ProtagonistInnen sind symphatisch geschildert und LeserInnen, die schon „Wespensommer“ und „Wölfe im Olivenhain“
verschlungen haben, werden sicherlich
atemlos der Handlung folgen um herauszubekommen, wie die ungeheuerlichen
Beschuldigungen von Lupori, die er mit so
großem Hass gegen Cecilia vorbringt, mit
den Morden im Waisenhaus zusammenhängen.
Elisabeth Ghanim
Gulland, Sandra: Die Sonne des
Königs
Frankfurt am Main: Krüger, 2009. 557 S.,
EUR 16,95
Sandra Gulland wurde dem breiten Publikum durch die Romantrilogie über Joséphine Bonaparte bekannt.
Mit „Die Sonne des Königs“ legt sie einen historischen Roman rund um die Lebensgeschichte von Louise de la Vallière,
der ersten „Maitresse en titre“ von Ludwig
XIV vor. Louise verschlägt es nach dem
Tod ihres Vaters, eines armen Landadeligen, an den Hof von Ludwig XVI. Dort
lernt sie selbstverständlich auch den jungen König kennen, der sich in das intelligente und natürliche Mädchen, das obendrein noch eine hervorragende Reiterin ist,
verliebt. Schon bald macht er Louise zu
seiner Geliebten.
Sandra Gulland hat gut recherchiert und
so das historisch stimmige Porträt einer
wichtigen Epoche der französischen Geschichte gezeichnet. Geschickt vermischt
die Autorin historische Tatsachen mit Fiktion, wobei auch die Spannung nicht zu
kurz kommt. Unter anderem waren Louise de la Vallière ebenso wie die Marquise
de Montespan, die Louise aus der Gunst
des Königs verdrängte, in die berühmte
„Giftaffäre“ verwickelt. So ist „Die Sonne des Königs“, nicht nur ein historischer
Liebesroman, sondern die LeserInnen erfahren auch recht viel über den Hof des
berühmten Sonnenkönigs und seine Zeit.
Belletristik
Und vielleicht möchte die Eine oder der
Andere dann doch noch ein historisches
Werk entlehnen, um sich näher über diese interessante Epoche der französischen
Geschichte zu informieren. Der Roman
ist auf jeden Fall all jenen vorbehaltlos zu
empfehlen, die verstärkt nach historisch
gut recherchierten und doch flüssig und
spannend zu lesenden Romanen fragen. In
einem Nachwort kündigt die Autorin an,
dass sie bei ihren Recherchen auf viele interessante historische Charaktere gestoßen
ist, die wahrscheinlich in ihren nächsten
Büchern auftauchen werden. Die LeserInnen können also gespannt sein.
Elisabeth Ghanim
Weiß, Sabine: Das Kabinett der
Wachsmalerin. Der Madame-TussaudRoman
Berlin: Marion von Schröder, 2009.
395 S., EUR 19,90
Mit dem historischen Roman “Das Kabinett
der Wachsmalerin” knüpft Sabine Weiß
nahtlos an ihr Buch „Die Wachsmalerin“
an, das im Jahr 2007 erschienen ist und auf
dessen Fortsetzung sicherlich schon viele
LeserInnen sehnsüchtig gewartet haben.
„Das Kabinett der Wachsmalerin“ beginnt 1802 mit der Reise Marie Tussauds
nach England. Gemeinsam mit ihrem älteren Sohn und einem windigen Geschäfts­
partner verpflichtet, möchte sie eine kurze
Tournee quer durch das Land machen um
dann wieder zu ihrer Familie nach Paris
zurückzukehren. Doch dann macht ihr der
Krieg zwischen England und Frankreich
einen Strich durch die Rechnung. Tussaud
muss sich alleine durchschlagen und versucht aus dem Knebelvertrag mit dem ungeliebten Partner Monsieur de Philipsthal
herauszukommen.
Erneut legt Sabine Weiß einen gut recherchierten und überaus unter­haltsamen
historischen Roman rund um die Geschäftsfrau Marie Tussaud und ihr bekanntes Wachsfigurenkabinett vor. LeserInnen,
die vom ersten Teil dieses historischen
Romans begeistert waren, werden sicherlich auch vom vorliegenden Teil nicht
enttäuscht werden. Detailreich schildert
die Autorin die Kunst lebensechte Wachsfiguren herzustellen und welchen Stellenwert diese Puppen in einer Zeit ohne
Boulevardblätter, Fernsehen und Internet
einnahmen. Dabei kommen auch geschichtliche Ereignisse nicht zu kurz und
die LeserInnen erfahren viel über die außergewöhnliche Frau, die es verstand,
das Bedürfnis ihrer ZeitgenossInnen nach
Abbildern berühmter Persönlichkeiten zu
erspüren und auf höchstem Niveau zu befriedigen.
Elisabeth Ghanim
15
Belletristik Ernst ist das Leben und heiter ...
Ahern, Cecilia: Zeit deines Lebens
Aus dem Englischen von Christine Strüh.
Frankfurt am Main: Krüger, 2009.
EUR 17,50
Nach einigen einleitenden, die Rahmen­
geschichte ausspannenden Kapiteln treffen
an einem kalten Vorweihnachtsmorgen in
Dublin die beiden Haupthelden aufeinander: der erfolgreiche Geschäfts­mann und
Familienvater Lou Suffern, dessen Familienleben unter seinem völ­lig durchgeplanten Berufsalltag leidet und der Obdachlose
Gabriel, genannt Gabe, der seine Tage in
der Nähe von Lous Bürogebäude verbringt
und alles um sich herum aufmerksam beobachtet. Durch Gabes Beobachtungen
erfährt Lou Neuigkeiten aus seinem Büro
und re­van­chiert sich indem er Gabe einen
Job in der Poststelle verschafft. Lous Alltag
wird sehr genau und detailreich geschildert
und es wird schnell klar, dass er eigentlich
kein besonders sympathischer Zeitgenosse
ist, der für seine Familie eigentlich kaum
Zeit hat und sehr egozentrisch veranlagt
ist.
Etwa in der Hälfte des Romans kommt
plötzlich ein phantastisches Element hinzu: durch Tabletten, die er von Gabe erhält, kommt es zu einer Verdopplung der
Figuren, plötzlich gibt es zwei Lous. Einer
davon betrinkt sich nach einem erfolgreichen Geschäftsessen, der andere kümmert sich um seine kranke Familie. Dabei
wird ihm erstmals bewusst, auf wie unterschiedliche Arten er seine Lebenszeit nutzen kann und wie unterschiedliche Qualitäten darin liegen. Ab diesem Moment
betrachtet er sein Leben auf eine bewusstere Art, doch bis zum großen UmdenkProzess dauert es und einige Hindernisse
müssen noch überwunden werden.
Insgesamt ist die Figurenzeichnung sehr
stereotyp und die Handlungsverläufe sind
größtenteils moralisch belehrend. Die
Autorin verzichtet auch nicht auf eine abschließende Lektion, um explizit die Botschaft des Textes zusammenzufassen. Trotz
allem liest sich die Geschichte flüssig, ist
stilsicher und ohne unnötige Längen.
Lisa Kollmer
Claudel,Philippe:BrodecksBericht
Aus dem Franz. von Christiane Seiler.
Reinbek bei Hamburg: Kindler, 2009.
331 S., EUR 20.50
Ort und Zeit der Handlung kann man
nur schätzen. Die Geschichte könnte im
deutsch-französischen Grenzgebiet spie­
len, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Orte und Namen sind frei erfunden, klingen mal französisch, dann wieder deutsch.
Auch die Figur des Brodeck ist schwer einzuschätzen. Im Laufe der Erzählung kristallisiert sich heraus, dass der Mann ein Fremder in der Gemeinschaft ist.
Als Kind wird er von einer alten Frau
„aufgegriffen“. Im Laufe der Zeit erlernt
er ihre Sprache, geht in die Schule, studiert. Er arbeitet für die Behörde, schreibt
Berichte über das Wachstum der Blumen,
über die Jahreszeiten, über den Wasser-
stand des Flusses.
Er schreibt auch einen Bericht über den
„Anderen“, der kurz zuvor ins Dorf kam.
Zu anders schaut er aus, zu groß ist die
Angst vor dem Fremden, dass die Männer
beschließen ihn zu ermorden. Brodeck
wird gezwungen, das Geschehene nieder­
zuschreiben. Er weiß, dass ihn das gleiche Schicksal erleiden wird, wenn er sich
weigert. Brodeck hat im Kazerskwir (ein
fiktives Wort für KZ) gelernt, dass man nur
überleben kann, wenn man alles tut was
von einem verlangt wird. Seine Selbstachtung zu vergessen, das ist der Schlüssel
fürs Überleben.
Während er den Text über den „Anderen“ verfasst, schreibt Brodeck im Geheimen seine eigene Geschichte. Eine Methodik, um die Jahre der Gefangenschaft zu
verarbeiten, zu hinterfragen, Parallelen zu
ziehen. Es wird ein Bericht über sein Leben, das Dorf, die Kriege und ihre Folgen,
über den nicht enden wollenden Hass und
die Angst gegenüber dem Fremden.
Obwohl man weiß, dass es sich um einen fiktiven Roman handelt, bleibt ein beklemmendes Gefühl zurück, denn es hätte
genauso sein können. Ist es ähnlich doch
gewesen und könnte irgendwo auf der
Welt gerade so geschehen. Krieg, Verfolgung, Hinrichtung, Vernichtung. Claudel
hat bereits in zwei anderen Romanen von
Kriegen geschrieben, die beide, wie auch
dieser, viel besprochen und mit Preisen
ausgezeichnet wurden.
Jana Kopittke-Gaida
Babtschenko, Arkadi: Ein guter Ort zum Sterben
Berlin: Rowohlt 2009. 124 S., EUR 15,40
Der 32 jährige russische Autor Arkadi Arkadjewitsch Babtschenko wurde mit seinem Roman „Die Farbe des Krieges“ international bekannt, in dem er seine Erfahrungen und Erlebnisse aus dem Ersten Tschetschenienkrieg schildert. Gleich nach seinem 18. Geburtstag, eigentlich noch Kind, wurde er vom Militär eingezogen, um ein Jahr später
nur mangelhaft ausgerüstet und völlig unvorbereitet nach Tschetschenien versetzt zu werden.
In seinem nun vorliegenden zweiten Roman „Ein guter Ort zum Sterben“ kehrt Babtschenko wieder zurück in den Kriegsalltag. Der junge Protagonist Artjom ist Funker im Zweiten Tschetschenienkrieg. Nahe der von Rebellen belagerten Hauptstadt Grosny lagert seine Truppe, sein Alltag
besteht aus Dreck, Hunger, Todesangst und Langeweile. Die Frage nach dem Sinn der Ereignisse
kann nicht beantwortet werden. Erst recht nicht, als Artjom bei einem Angriff von Heckenschützen ein kleines Mädchen in den Armen ihres Großvaters erschießt. Während der letzten Kriegsmonate denkt er nur selten an das Mädchen, danach muss er allerdings als Kindesmörder sein
restliches Leben ertragen.
Der nur 124 Seiten umfassende Roman schildert den grauenhaften Alltag russischer Soldaten.
Wie in vielen anderen Kriegsromanen, etwa von Hemingway, Remarque oder Norman Mailer,
wird auch hier der Gegner nicht als das Böse dargestellt – das Böse ist der Krieg an sich, die
Brutalität der Vorgesetzten und Machthaber, die Tatsache, dass die Bewohner der umkämpften
Gebiete keinen Krieg wollen, und doch die meisten Toten zu betrauern haben.
Katharina Marie Bergmayr
16
Ernst ist das Leben und heiter ...
Davidson, Andrew: Gargoyle
Berlin: Bloomsbury 2009. 573 S.,
EUR 22.60
Dem kanadischen Autor Andrew Davidson
ist mit seinem ersten Roman „Gargoyle“
gleich ein großer Wurf gelungen. Das Buch
ist eine höchst gelungene, sprachgewaltige
Mischung aus historischem Roman, Fantasy und Liebesgeschichte.
Der rasante Einstieg ist eine ebenso eindrucksvoll geschriebene wie schwer verdauliche Schilderung eines Mannes, der in
Folge eines Autounfalls in seinem Wrack
zu verbrennen droht. Der Blickwinkel
des Ich-Erzählens intensiviert die Leseerfahrung. In letzter Minute wird der Mann
gerettet und findet sich im Krankenhaus
wieder, wo ihm allerlei grausige Prozeduren angetan werden, um das verbrannte
Fleisch zu heilen. Die Ironie des Schicksals will es, dass ausgerechnet jener Körperteil des Mannes verbrannt ist, der für
seinen bisherigen Lebensunterhalt allein
verantwortlich war – das Verbrennungsopfer war ein Porno­darsteller.
Er fühlt sich allen Lebenssinnes beraubt
und sein ganzes Streben richtet sich auf
einen Selbstmord, den er begehen wird,
sobald er aus der Obhut der Ärzte entlassen wird. Aber da kommt ihm Marianne
Engel dazwischen. Die scheinbar aus der
psychiatrischen Abteilung entwischte Frau
taucht eines Tages am Krankenbett des
Verbrennungsopfers auf und entführt ihn
mit unterhaltsamen und mysteriösen Geschichten im wahrsten Sinne des Wortes
in ein anderes Leben. Im Mittelalter seien
die beiden schon einmal ein Liebespaar
gewesen.
Es ist ein Roman voll tiefer Liebe, ver­
zweifelter Besessenheit und trauriger Poesie, bei dem aber auch die Ironie nicht zu
kurz kommt. Und es ist eine Geschichte
über das Geschichtenerzählen. Es ist ein
flüssig zu lesendes Buch, in dem man gern
versinkt, aber es ist an keiner Stelle flach.
Zudem geben die genauen historischen
Recherchen des Autors ein stimmiges Bild
des Mittelalters in Deutschland wieder.
Kurz Susanne
Diaz, Junot: Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009. 381 S., EUR 20,60.
Der übergewichtige, versponnene Oscar De Leon ist ein Unglücksrabe. Als Sohn
einer dominikanischen Mutter die nach New Jersey emigrierte, muss er nun all
jene Persönlichkeitsstörungen mit ausbaden, die ihren Ursprung in der harten
Kindheit während der Trujillo-Diktatur haben. Im amerikanischen EinwandererMilieu ist die Situation zwar besser, aber auch nicht gerade rosig. So flüchtet er
sich in Comics und Computerspiele, doch die reale Welt macht ihm bis zu seinem bitteren Ende schwer zu schaffen.
Aus der Perspektive seines Mitbewohners im Studentenheim wie aus der Sicht
seiner Schwester, erfährt man wie Oscar heranwuchs und vom kindlichen Glück
in die Außenseiterrolle abdriftete. Die drastisch-tragikomische Geschichte wäre
an sich schon ein brillanter Roman geworden, hätte der Autor den Stoff nicht
noch reichlich ausgeweitet. Nicht nur in Fußnoten blättert er die jüngere Geschichte der Dominikanischen Republik auf, die an Gräuel genug zu bieten hat;
die Geschichte von Oscars Vorfahren ist eng mit der des Landes verbunden.
Verschwiegen werden weder die Verbrechen
der jeweiligen Diktatoren und ihrer Handlanger noch die der amerikanischen „Helfer“, die
Zeit der kubanischen Revolution wird ebenso
präsent wie die spärlichen Versuche, den Inselstaat zu einem menschenwürdigen Land zu
machen, was bis heute nicht gelang. Damit dies
dem Leser nicht allzu bitter aufstößt, hat Diaz
eine flotte, zeitgemäße Sprache im Jargon der
Comic- und Computer-Generation gewählt, und
sich mit derbem, gar garstig zynischem Humor
über die grausame Realität hinweggesetzt. Junot
hat einen fulminanten Erstlingsroman geliefert,
für den er zu Recht mit dem Pulitzer-Preis geehrt
wurde. Der Vergleich mit John Kennedy Tooles
„Ignaz“ ist ebenfalls -bedingt- zulässig. Die anspruchsvolleren Leser warten schon!
Günter Horvath
Belletristik
Delecroix, Vincent: Der Schuh auf
dem Dach
Aus dem Französischen von Patricia
Klobusinczky.
Berlin: Ullstein 2009. 217S., EUR 17,40
„Der Schuh auf dem Dach„ ist das erste Buch von Delecroix das in deutscher
Sprache erschienen ist. Besagter Schuh ist
tatsächlich der Protagonist. Er liegt in der
Dachrinne eines Pariser Mietshauses und
wir von allen möglichen Personen, die in
gegenüberliegenden Wohnungen zu Hause sind, bemerkt und betrachtet. Niemand
weiß, wie er tatsächlich in diese luftigen
Höhen gekommen ist, aber jeder macht
sich seine eigenen Gedanken, wie es denn
passiert sein könnte.
In zehn, scheinbar unzusammenhängenden, Geschichten, begegnen wir einem kleinen, schlaflosen Mädchen, das
einen Engel auf dem Dach gesehen haben will; treffen wir einen verschmähten
Liebhaber, der sich durch einen Einbruch
an seinem Rivalen rächt; lernen wir einen
Schriftsteller kennen, der auf einem Fest
die Frau seines Lebens trifft, Jahre nach ihr
sucht, und sie dann als Gefährtin seines
besten Freundes findet; ein melancholischer, zutiefst verwirrter Hund klagt über
sein plötzlich unberechenbares Herrchen.
Obwohl jede dieser Personen, und der
Vierbeiner, ihre ganz eigene bezeichnende Episode erzählt, weisen sie alle eine
Gemeinsamkeit auf. In jeder von ihnen
kommt der Schuh auf dem Dach vor.
Dieser ganz profane Gegenstand wird
auf diese weise zum Sinnbild dessen, was
einem im Leben manchmal fehlt.
2007 in Frankreich erschienen, stand
dieser Roman wochenlang auf Bestsellerlisten, begeisterte die Leser und war für
alle wichtigen Literaturpreise nominiert,
was ich ehrlich gesagt nicht ganz nachvollziehen kann. Die Sprache ist sehr bildhaft und poetisch, doch der vielgelobte
französische Charme taucht nur in manchen Episoden auf. Obwohl es von philosophischen Gedanken und melancholischen Stimmungen nur so wimmelt, gehen
einem nicht alle Geschichten wirklich
unter die Haut. Manche erscheinen sehr
oberflächlich und schaffen es daher nicht
zu berühren.
Ingrid Sieger
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Belletristik Ernst ist das Leben und heiter ...
Doulatabadi, Mahmud: Der Colonel
Aus dem Persischen und mit einem Nachwort von Bahman Nirumand. Weltweite Erstveröffentlichung
Zürich : Unionsverlag, 2009. 222 S., EUR 20,50
Iran in den frühen 80ern: mitten in der Nacht klopft es an die Tür eines alten Mannes. Es ist der
Geheimdienst um den greisen Colonel abzuholen. Früher war er ein hoch dekorierter Offizier in
der Armee des Schahs. Nun wird er zur Staatsanwaltschaft gebracht, wo man ihm seine tote Tochter übergibt – sie wurde hingerichtet und soll heimlich bei Nacht und Nebel begraben werden. Im
strömenden Regen macht sich der Colonel auf den Weg, um Hacke und Schaufel zu besorgen.
So beginnt ein Alptraum, der die Geschichte und das Trauma einer ganzen Nation widerspiegelt.
Der alte Mann irrt durch die Nacht und begegnet dabei den Schatten seiner Vergangenheit – hart
an der Grenze zwischen Halluzination und Wirklichkeit. Stück für Stück wird dabei sein Leben
und das Schicksal seiner Familie, die er allesamt an die Revolution verloren hat, aufgerollt.
Jedes seiner Kinder steht für eine politische Richtung: Amir hat als Anhänger der kommunistischen
Tudeh-Partei gegen den Schah gekämpft, musste Folter und Gefängnis über sich ergehen lassen und
verliert schließlich den Verstand. Mohammad Taghi ist Mitglied der marxistisch orientierten Volksfedajin und kommt im Kampf ums Leben. Anfangs geehrt, wird er später verdammt. Masud wiederum ist Khomeini-Anhänger: er wird im iranisch-irakischen Krieg an die Front geschickt und stirbt
als „Märtyrer“. Hingegen wird die vierzehnjährige Schwester Parwaneh, die mit den islamischen
Volksmudschahedin sympathisiert, vom Geheimdienst ermordet.
Der Colonel ist die erste große literarische Bearbeitung der iranischen Revolution von 1979. Aufgrund der schonungslosen und
drastischen Darstellungen ist die Lektüre des Romans stellenweise nur sehr schwer erträglich. Dennoch besticht der Text durch
eine Sprachgewalt und stilistische Virtuosität, die ihresgleichen sucht und zweifelsfrei klar macht, dass hier ein ganz großer
Schriftsteller am Werk ist.
„Mahmud Doulatabadi ist ein Urgestein der persischen Literatur“, heißt es im Nachwort des Übersetzers, und tatsächlich gilt
der 1940 geborene Autor als einer der wichtigsten zeitgenössischen Literaten des Iran. Am „Colonel“ hat er 25 Jahre lang geschrieben, ständig wurde der Text verändert und überarbeitet. Erscheinen konnte das Buch aber letztendlich nur in der Fremde
– bezeichnenderweise liegt das persische Original noch immer bei der iranischen Zensurbehörde und ist für eine Publikation
bis dato nicht vorgesehen.
Thomas Geldner
Djebar, Assia: Nirgendwo im Haus
meines Vaters
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009.
441 S., EUR 22,60
„Es handelt sich hier keinesfalls um eine
Autobiographie“ stellt Assia Djebar – eine
der renommiertesten Autorinnen des Maghreb – in ihrem neuen Roman fest. Und
doch führt die gebürtige Algerierin in ihre
Kinder- und Jugendjahre zurück. Sie greift
einzelne Erinnerungssplitter auf, erzählt
von ihrer Internats- und Studienzeit. Trotz
der Strenge ihres muslimischen Vaters
schafft sie es immer wieder sich Freiräume
zu schaffen. Auf die geheimen Treffen mit
ihrem Brieffreund und Verehrer verzichtet sie auch nicht. Gerade diese Passagen
machen eindringlich erfahrbar, was es für
ein muslimisches Mädchen heißt, im kolonialisierten Algerien aufzuwachsen: Während sich die Europäerinnen frei und ohne
Schleier in der Öffentlichkeit bewegen
dürfen, bleibt der Radius der meisten muslimischen Frauen auf den engen Wohnraum oder die Innenhöfe beschränkt.
Assia Djerba verfolgt keine einheitliche
Erzählweise. Während sie den arabischen
Alltag und die heimatlichen Bräuche
durch die scharfen Augen eines Kindes
beobachtet, bekommen einzelne Selbst­
betrachtungen fast einen mystischen Ton.
Dabei wechselt sie oft die Perspektive.
Auch die Ebenen der Zeit verschwimmen
ständig. In ihren Erinnerungen greift Djerba ebenso vor wie zurück, gelegentlich
findet man sich in der Gegenwart wieder.
Inwieweit die Autorin in ihrem Roman
Tatsächliches rekonstruiert, ungewollt Vergangenes durch falsches Erinnern verwässert, oder bewusst erfindet, bleibt offen.
„Nirgendwo im Haus meines Vaters“ ist
mehr als die Schilderung einer persönlichen Emanzipationsgeschichte. Der Roman liest sich auch als Einführung in die
algerische Kolonialgeschichte und bringt
den LeserInnen die arabische Lebens- und
Alltagskultur etwas näher. Aus diesem
Grund an alle Zweigstellen empfohlen.
Daniela Raunig
Kinsella, Sophie: Charleston Girl
München: Goldmann, 2009. 495 S.,
EUR 14,90
Sophie Kinsella ist bekannt für ihre witzigen Frauenromane. Nun liegt mit „Charleston Girl“ ihr neuestes Werk vor, bei dem es
sich eigentlich um eine Geistergeschichte
handelt. Diesmal steht nämlich nicht nur
die Heldin des Romans – Lara Lington –
im Mittelpunkt der lustigen Story, sondern
auch der quirlige Geist ihrer verstorbenen
Großtante. Alles beginnt beim Begräbnis
von Tante Sadie. Dort erscheint Lara plötzlich der Geist der Verstorbenen, der Hilfe
bei der Wiederbeschaffung einer verlorengegangenen Perlenkette ein­fordert. Ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr wie es einmal war. Sadie erscheint Lara nicht als der
Geist einer alten Dame, sondern wie aus
den 1920ern, mit flottem Kurzhaarschnitt,
einer Vorliebe für Charleston, schönen
Kleidern und starkem Make-Up. So richtig
kompliziert wird die Geschichte allerdings
erst als der Geist von Sadie sich verliebt
und Lara dazu zwingt mit ihrem Schwarm
ein Date auszumachen – und das im Stil
der 20er Jahre. Von da an überschlagen
sich die Ereignisse und Lara vergisst fast
darauf, Ordnung in ihr eigenes chaotisches
Leben zu bringen.
Sophie Kinsella ist mit „Charleston Girl“
erneut ein Frauenroman gelungen, den
ihre Fans lieben werden. Sie hat mit dem
Geist von Sadie eine Figur erschaffen, die
frau nicht so rasch vergisst und wieder einmal das Kunststück fertiggebracht, dass die
LeserInnen der warmherzigen Geschichte
rund um Freundschaft, Liebe und Familie
immer wieder laut auflachen und einige
Minuten später vor Rührung Tränen in den
Augen haben werden. „Charleston Girl“
ist für alle Zweigstellen wärmstens zu
empfehlen und wird sicherlich viele LeserInnen zum Lachen – und vielleicht auch
Nachdenken – bringen.
Elisabeth Ghanim
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Ernst ist das Leben und heiter ...
Némirovsky, Irène: Leidenschaft
München: Knaus, 2009. 126 S.,
EUR 14.95
Dieser außergewöhnliche Roman zog
mich vollkommen in seinen Bann, nicht
nur der Umstände seiner Verlegung wegen.
Irène Némirovsky wurde kurz nach Fertig­
stellung des Textes verhaftet und nach
Auschwitz deportiert, wo sie 1942 starb.
„Chaleur du sang“, so der Originaltitel,
ist eine ländliche Tragödie. Sie spielt nach
dem Ersten Weltkrieg, in einer erdgebundenen Gesellschaft in der französischen
Provinz. Die Menschen sind misstrauisch,
wortkarg, wollen unter sich bleiben. Erzählt wird aus der Sicht von Silvestre, einem alternden Cousin der Familie Érard,
der als junger Mann sein gesamtes Erbe
verkaufte, um das Glück in fernen Ländern
zu suchen. Nach seiner Rückkehr fristet er
einen ärmlichen Lebensabend. Als ruhender Pol der Erzählung erscheinen Hélène
und Francois Érard, Großgrundbesitzer
und ein seit ewigen Zeiten innig verbundenes Ehepaar. Ihre Tochter Colette heiratet den sensiblen Jean, in ihrem Streben es
den Eltern gleich zu tun, aber bereits ein
Jahr später droht sie an diesen hehren Ansprüchen zu verzweifeln. Dann stürzt Jean
in einen nahen Fluss und stirbt. Es braucht
Jahre, bis die Wahrheit über diesen Abend
ans Tageslicht dringt.
„Leidenschaft“ ist ein stimmungsvoller,
tief­gehender, und doch kurzer Roman, der
„von der Strenge und Bigotterie der Eltern­
generation handelt, die einst selbst jung
und unvernünftig gewesen war, im Alter
aber kein Verständnis mehr für die Leidenschaften der Jugend habe.“ (Quelle Klappentext)
Markus Gernedl
Nothomb, Amélie: Biographie des
Hungers
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes: Zürich 2009. 207 S.,
EUR 19,50. geb.
Amélie Nothomb wurde 1967 in Kobe
geboren und wuchs als Tochter eines belgischen Diplomaten im Fernen Osten auf.
Ihre Bücher stehen im frankophonen Raum
auf den Bestsellerlisten, aber auch international hat sie literarische Größe erlangt
und ist immer wieder für Literaturpreise im
Gespräch.
Mit der „Biographie des Hungers“
Belletristik
schildert sie ihre frühen Jahre, die bio­
graphischen Erlebnisse aus Japan, China,
USA, Bangladesch und Burma sind darum
das Hauptthema. Sie erzählt von einem
früh festgestelltem Hunger nach Liebe, Anerkennung, Schönheit, Frauen, Männern,
Literatur, Kultur und natürlich Kulinarik. In
ihrer bekannt knappen, teilweise boshaften Sprache rechnet sie mit ihren eigenen
Vorzügen, aber auch Unzulänglichkeiten
ab. Auch ihre diversen Wirrungen kommen nicht zu kurz. Gnadenlos rechnet sie
mit ihrer Anorexie und ihrem Körper ab;
mit ihrer Alkohol- und Naschsucht sowieso.
Immer wieder führt der Erzählfluss in
die Gegenwart zurück, wo sie ihre Ver­
gangenheit analytischen Untersuchung
unterzieht und im Nachhinein zu erklären
sucht. Dies kommt auch unerwartet und
birgt bizarr-komische Züge, die Nothombs
literarisches Können unterstreichen.
Das Buch funktioniert zwar, ist aber weit
von dem entfernt, was Amélie Nothomb
schreibt kann. Spröde entzieht sich das
Werk jeder Kategorisierung und ist wahrscheinlich nur für absolute Fans von Bedeutung.
Erich Huber
O’Connor, Joseph: Wo die Helden schlafen
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009. 557 S., EUR 23,60
Mit dem vorliegenden Band reiht sich der irische Erzähler in eine Reihe neuer amerikanischer Romanciers (Whitehead, Powers, Guterson u.a.), die in ihren Romanen die
neuere Zeitgeschichte Amerikas zum Sujet nehmen, um daran zu erinnern, dass der
heutige Kontinent und seine Entwicklung auf die Anstrengungen der Siedler aus aller
Herren Länder angewiesen war. Alle Romane des Autors sind in englischer Originalsprache sowie in Übersetzungen im Bestand der Büchereien Wien.
Vor dem turbulenten Hintergrund des Amerikanischen Bürgerkrieges erzählt der
Autor eine leidenschaftliche Liebesgeschichtem zwischen drei Menschen.
Aus den Wirren des irischen Freiheitskampfes verschlägt es den Kartographen Alan
Winterton in die abgelegene Goldgräberstadt Edwardstown. Dort lernt der Flüchtling
Lucia O’Keefe kennen, Frau des geheimnisvollen Gouverneurs des Staates. O’Keefe
war ebenfalls im Irischen Freiheitskampf aktiv und erwarb sich legendären Ruf. Die
gebildete, freigeistige Lucia ist hin- und hergerissen zwischen einer aufkeimenden
Liebe zu Alan und der Loyalität zu ihrem cholerischen, übermächtigen Mann. In
dieser Situation entschließt sich Lucia ihr Leben allein als Schriftstellerin zu verbringen.
Im anschließenden Frieden nach dem Krieg erschwert die schuldbeladene Vergangenheit jede weitere Beziehung
zueinander. Während James O’Keefe in Amerika weiter für die Freiheit des Landes kämpft, lebt Lucia in Irland als
emanzipierte Dichterin.
Vor dem Panorama des Amerikanischen Bürgerkrieges erzählt O’Connor ein wuchtiges Epos, dass von Einzelschicksalen in biblischem Ausmaß getragen wird. Faksimile, authentische Fotos, unterschiedliche Schriftarten,
sowie Liedtexte aus zwei Kontinenten in den Text eingefügt machen den Roman zu einem ansprechenden literarischen Vergnügen.
Hermann Gamauf
19
Belletristik Ernst ist das Leben und heiter ...
Palahniuk, Chuck: Bonsai
Aus dem Amerik. v. Werner Schmitz.
München: Manhattan 2009. 254 S.,
EUR 17,50
Chuck Palahniuk, 1962 in Amerika geboren, gilt seit der Verfilmung von „Fight
Club“ als Kultautor. Er hat eine große Fangemeinde und zeichnet sich durch unkonventionelle Erzählweisen aus.
Das neue Buch ist sprachlich auf die
Spitze getrieben. Palahniuk erzählt in völlig falscher Zeitenfolge und Grammatik;
im Original wie in der deutschen Übersetzung. Aber nicht nur die Sprache ist bizarr.
Agent Nr. 67 kommt aus einem Land,
das Babys entführt und zu Kampfmaschinen erzieht. Die Halbwüchsigen werden in das verkommene Amerika eingeschleust, um das System von innen zu
zerstören. So gelangt Nr. 67 im Rahmen
eines Schül­eraustauschprogramms in eine
amerikanische Mittelstandsfamilie.
„Schnaufende Kuh Gastvater, zuckendes
Huhn Gastmutter, Schweinhundbruder
und Katzschwester“ erfüllen jedes Klischee. Die Familie ist in der Kirche aktiv,
die Eltern werden von den Kindern unter
Drogen gesetzt, die Mutter feiert DildoPartys. Bonsai ist entschlossen, seinen Auftrag zu erfüllen. Beim Planspiel „Vereinte Nationen“ - in dem ihm die Rolle der
USA zugeteilt wird - kommt es zu einem
Massaker. Bonsai rettet einige und wird als
Held gefeiert. Dann entflammt er in Liebe
zu seiner Gastschwester und beginnt zu
guter Letzt ein neues Leben.
„Bonsai“ ist aufgrund der Sprache
schwer konsumierbar. Wenn man sich
allerdings darauf einlässt, entsteht ein
Lesefluss. Die Geschichte ist mitreißend
chaotisch, böse und zynisch; ein typischer Palahniuk. In einer alptraumhaften
Welt verpackt er eine ordentliche Portion
Gesellschafts- und Systemkritik. Das Buch
strotzt vor aberwitzigen Einfällen, die
überraschend, originell und schockierend
sind.
Maria Hammerschmid
Pratchett, Terry: Eine Insel
München: Random House, 2009. 440 S.,
EUR 19,95
Der junge Mau muss ein Monat auf einer
einsamen Insel verbringen, überleben und
mit einem selbst gebauten Kanu wieder
zu seinem Stamm zurückkehren – dann
gilt er als Mann. Just auf seiner Heimreise
überspült ein riesiger Tsunami das Inselparadies auf dem er und sein Volk leben.
Mau überlebt durch Zufall und findet seine
Heimatinsel, doch nichts ist mehr wie es
vorher war.
Auch Ermintrude, die Tochter eines britischen Gouverneurs, wird auf der Insel
angespült. Sie war auf der Überfahrt zu
ihrem Vater als der Tsunami sie und ihr
Schiff überraschte.
Sie nennt sich ab jetzt Daphne und muss
lernen in der Wildnis zu leben. Daphne
und Mau lernen sich kennen und werden
Freunde und beginnen langsam die Kultur
des anderen zu verstehen. Bald tauchen
noch ein paar weitere Überlebende auf.
Zusammen versuchen sie zu überleben
und ihr Leben wieder zu ordnen.
Eine Insel ist eine wunderschöne Geschichte über Freundschaft, Verständnis
zwischen verschiedenen Kulturen und die
ewige Frage warum Gott oft großes Leid
zulässt.
Der Roman spielt auf der Erde – einer
Parallelversion unsrer Welt. Vieles kommt
dem Leser bekannt vor, einiges hat Pratchett verändert und einiges dazu erfunden, doch fühlt man sich sofort heimisch
und fühlt mit den Protagonisten mit.
Eine Insel besticht nicht durch den
Pratchett-typischen Humor (auch wenn er
stellenweise natürlich vorkommt), sondern
eher durch zwischenmenschliche Beziehungen und die Charakterentwicklung der
Hauptpersonen.
Terry Pratchett wurde durch seine Scheibenwelt-Romane bekannt und von vielen
Lesern geliebt. Wer einen Roman im Stil
seiner Geschichten aus der Scheibenwelt
erwartet wird enttäuscht werden.
Jeder der unvoreingenommen an das
Buch herangeht und sich verzaubern lassen will, wird auch verzaubert werden.
Silvia Rosinger
Popov, Alek: Für Fortgeschrittene
St. Pölten, Salzburg: Residenz, 2009. 282 S., EUR 22,00
Popov wird vom Falter als der führende Satiriker Bulgariens bezeichnet, der Klappentext spricht von „Monty Python
auf Bulgarisch“. Das alles hat mich zu Recht neugierig gemacht. Das Buch bereitete mir durchaus Lesevergnügen,
auch wenn die Erzählungen in der zweiten Hälfte eher bedrückend ausfallen. Der Humor erinnerte mich oft an T.C.
Boyle. Die Geschichten sind in Bulgarien angesiedelt und bestechen durch ihre originellen Ideen. Bereits die erste, nur 6 Seiten lange Erzählung bietet ein überraschendes Ende
und lässt gespannt weiterlesen: der Ich-Erzähler Sascha macht die Email-Bekanntschaft
mit der jungen Russin Viktorija. Nach etlichen Mails wollen die beiden dem Cyber-Sex
auch echten Sex folgen lassen. Daher soll Viktorija für ein paar Tage nach Bulgarien kommen. Doch am Flughafen erwartet den Erzähler nicht die hübsche Russin sondern ein
älterer Mann, der vorgibt, Viktorijas Vater zu sein, Viktorija sei in Wahrheit erst 13 Jahre
alt und hätte sich mit Sascha nur einen Spaß erlaubt. Völlig perplex überlässt Sascha dem
Mann das von ihm für Viktorija gemietete Appartement, indem er einen Brief und eine
Schachtel hinterlässt: Viktorija sei eigentlich nicht seine 13jährige Tochter sondern seine
Frau, deren Untreue er auf die Schliche gekommen sei. Das Foto, das Sascha von Viktorija bekommen hatte, sei echt. Er könne sich gerne davon überzeugen, er müsse nur die
mitgebrachte Schachtel im Kühlschrank öffnen.
Neben solchen sehr kurzweiligen und spannenden Erzählungen gibt es wie bereits erwähnt auch ernsthaftere Geschichten, in denen sich wahre historische Begebenheiten
widerspiegeln.
Katharina Marie Bergmayr
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Ernst ist das Leben und heiter ...
Belletristik
Roth, Philip: Empörung
Aus dem Amerikan. von Werner Schmitz. München: Hanser, 2009. 201 S., EUR 18.40
Marcus Messner ist ein junger Mann mit jüdischen Wurzeln. Seine Eltern betreiben eine
koschere Metzgerei in Newark, einem Vorort New Yorks. Ausgestattet mit Intelligenz und
Zähigkeit hat er sich in der Highschool Bestnoten und die Aufnahme ins lokale College erarbeitet. Er hofft auf diese Weise der Einberufung zu entkommen, oder zumindest durch einen
höheren Dienstgrad leichter mit dem Leben davonzukommen, denn es ist die Zeit des Koreakrieges. Amerika hat sich unter UN-Mandat in einen verlustreichen Krieg involviert, die
Einberufung hängt als Damoklesschwert über den Köpfen junger Männer.
Obwohl es dafür keinen Grund gibt, wird Marcus Vater von der Angst befallen, seinem Sohn
könnte in der Eigenständigkeit etwas zustoßen, der kleinste Fehler könnte fatale Folgen
haben. Um sich der steigenden Panik seines Vaters zu entziehen, wechselt Marcus auf das
weiter entfernte traditionellere College von Winesburg im amerikanischen Mittelwesten und
lässt dafür auch beginnende Freundschaften und verehrte Lehrer zurück. Auch in Winesburg wird ihm das Collegeleben
nicht leicht gemacht. Er will sich keiner Studentenverbindung anschließen, die geforderten 40 Gottesdienstbesuche in der
örtlichen Kirche sind ihm verhasst. Der erste Zimmerkollege lässt ihn nicht schlafen, der zweite lebt in einer eindimensionalen Welt. Zusätzlich verwirrend tritt zum ersten Mal Liebe und Sexualität in Form einer problematische Romanze in sein
Leben. Als er zum zweiten Mal das Zimmer wechselt, wird der Dean, zuständig für Studentenangelegenheiten, auf ihn
aufmerksam. Eine hitzige Debatte folgt, in welcher der aufgebrachte Marcus als debattierclubgestärkter Atheist seine Situation gegenüber dem glaubensfesten Dean nur verschlechtern kann.
Der Roman ist aus Marcus persönlichen Perspektive geschrieben, was mitnichten ungewöhnlich wäre, hätte man nicht
bereits früh im Buch erfahren, das Marcus bereits gestorben ist, gefallen im Koreakrieg wenige Monate später. Marcus
akzeptiert diesen irritierenden Zustand einer detailreich mit seiner eigenen Aufarbeitung beschäftigten Erinnerung, einer
unerwarteten Art Leben nach dem Tod.
Empörung liest sich sehr flüssig und ist (auch aufgrund seines großzügigen Seitenrandes) bei entsprechendem Engagement
an zwei längeren Abenden zu bewältigen. Die Sprache ist angenehm routiniert, man fühlt sich gefällig durch die Erlebnisse und die Gefühlswelt des jungen Marcus geführt, ohne starken Irritation ausgesetzt zu werden.
Markus Gernedl
Saunders, Kate: Liebe macht lustig
Frankfurt am Main: Krüger, 2009. 379 S.,
EUR 15,40
Beth und Charlie, ein Ehepaar um die 50,
machen einmal im Jahr getrennt vom Partner eine Woche Urlaub, um, wie sie sagen,
„den Akku aufzuladen“. Charlie plant diesmal eine Erholungswoche in einem alten
französischen Schloss. Als Beth erfährt,
dass seine Arbeitskollegin Clare in der
gleichen Unterkunft urlauben möchte wie
ihr Mann, schöpft sie Verdacht. Da sie vermutet, dass Clare Charlies Geliebte ist, besteht sie nun darauf, gemeinsam mit ihren
beiden pubertierenden Töchtern ihren Gatten in diesen Urlaub zu begleiten. Charlie,
der tatsächlich ein Verhältnis mit Clare hat,
legt dieser nahe, so zu tun, als ob sie beide
wirklich nur Arbeitskollegen seien.
Während dieser Woche treffen die
Hauptpersonen auf weitere Schloss­
hotelgäste mit denen sich mehr oder weniger intensive Beziehungen ergeben. Als
Krönung dieser skurrilen Ferien stellt sich
dann noch heraus, dass dieses exklusive
Chateau in Frankreich eine halbverfallene
Ruine mit undichtem Dach und Ratten im
Swimmingpool ist. Die Köchin hat ein Alkoholproblem und ist nicht im Stande die
Gäste zu verköstigen, sodass diese sich
mit Tiefkühlpizza be­gnügen müssen. Die
spannendeste aller Fragen ist jedoch: Wird
sich Charlie von Beth scheiden lassen,
oder nicht?
„Liebe macht lustig“ ist ein flüssig geschriebener und leicht zu lesender Roman.
Die Unterteilung in Kapitel und eine angenehme Druckgröße erhöhen das Lesevergnügen. Einige der Personen wirken etwas
„schräg“, die Protagonisten sind jedoch
sehr realitätsnah dargestellt, sodass man
mit ihnen bis zum Schluss mitlebt. Die Autorin versteht es die Spannung bis zuletzt
zu halten. Einziger Wermutstropfen ist die
schlechte Bindung dieses Taschenbuchs.
Kate Saunders schrieb als Journalistin u.
a. für die „Sunday Times“ und „Cosmopolitan“ und arbeitete für das Radio.
Eva-Maria Baumgartner
Winter, Leon de: Das Recht auf
Rückkehr
Zürich: Diogenes, 2009. 549 S.,
EUR 23,60
Israel besteht im Jahr 2024 nur mehr aus
dem Stadtstaat Tel Aviv, in dem trotz Überwachung Selbstmordattentate nach wie
vor alltäglich sind. Wer noch hier lebt,
denkt an Auswanderung. Einer von ihnen
ist Bram Mannheim. Er leitet eine Agentur, die sich auf die Suche nach vermissten
Kindern spezialisiert hat. Ursprünglich war
ihm eine große wissenschaftliche Karriere
als Historiker in Princeton beschieden gewesen, doch diese hatte, wie seine Ehe,
ein Ende genommen, als sein Sohn verschwand. Nachdem er lange durch Amerika geirrt war, um ihn zu finden, hatte ihn
sein Weg wieder zurück nach Israel geführt. Als es eines Tages wieder zu einem
Anschlag kommt, muss Bram erkennen,
dass dieser auch etwas mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun haben könnte.
Leon de Winter erzählt diese Geschichte
mit wechselnden Zeitebenen und Schauplätzen, die dem Roman, ebenso wie die
geschickt gesetzten Spannungsmomente,
ein hohes Tempo geben. Das Buch lässt
sich daher in erster Linie als gut konstruierter Thriller lesen, weniger als Zukunftsroman, für den die israelische Gesellschaft
und das Leben im geschrumpften Staat zu
blass gezeichnet sind. Da Politik in diesem
Roman eine dominierende Rolle spielt,
drängt sich eine entsprechende Lesart auf,
aber auch hier wirkt vieles oberflächlich,
wenn nicht gar klischeehaft. Die stärksten
Szenen gelingen de Winter, wenn es um
Vater-Sohn Beziehungen geht, von denen
es gleich zwei gibt, denn auch Brams Vater spielt in diesem Roman eine wichtige
Rolle.
Georgia Latzke