Jubiläumsausgabe - Argentinisches Tageblatt
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Jubiläumsausgabe - Argentinisches Tageblatt
Von Bern über Santa Fe nach Buenos Aires Die Vorgeschichte der Gründung des Argentinischen Tageblatts Von Stefan Kuhn E s war Mitternacht, als die „Sakkarah“ vor Johann Allemann ist kein Unbekannter in ArBuenos Aires Anker ließ. Der Mann und sein gentinien. Über den Schweizerischen AuswandeSohn waren fast am Ziel. Vor fünf Wochen, rerverein und die von ihm herausgegebene am 11. Januar 1874 hatten sie „bei grimmiger KälSchweizer Auswandererzeitung hatte er sich für te“ die Schweizer Hauptstadt verlassen, waren über die Kolonisierung Argentiniens stark gemacht. Neuenburg, Dijon und Paris nach Le Havre gereist. Die Schiffspassagen bezahlte der argentinische Was mag in dem Jungen vorgegangen sein? Hatte Staat. Die Türen standen in Argentinien offen. er Heimweh nach Bern, der Mutter, den Brüdern Viele Freunde und Bekannte aus der Schweiz waund Schulfreunden. ren bereits im Land, die Behörden zollten seinem Die fast 30-tägige Überfahrt hatte Kraft gekobisherigen Einsatz für die Kolonisierung Anerstet. Mehrere Tage plagte den damals 15-Jährikennung. Konkrete Pläne hatte Allemann allergen die Seekrankheit. Seine Jugend war vorbei. dings nicht. „Da ist schon die EinwanderungsJahre später schrieb Moritz Allemann: „Da ich kommission in Buenos Ayres, die mir einen Wirvon nun an stets auf den Umgang mit Erwachsekungskreis anweisen wird“, vermerkt sein Tagenen angewiesen war, habe ich alle Freuden und buch. Genüsse des Jünglingsalters in Kauf geben müsSeltsame sen.“ Ein halbes Jahr zuvor waren bei Moritz’ Vater Bräuche Johann Allemann Auswanderungspläne gereift. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis die beiden „Ich habe mich mit dem Gedanken vertraut geSchweizer die Stadt erreichen. Buenos Aires hatmacht, meinen vielen Freunden in Argentinien te damals noch keinen Hafen, die Schiffe ankernachzufolgen“, notiert er am 30. August 1873 in ten weit vor der Stadt. Passagiere und Gepäck sein Tagebuch. „Werde Moritz mitnehmen. Meiwurden mit kleineren Booten zur Landungsbrükne Frau sperrt sich zwar dagegen, aber zuletzt ke gebracht. „Es war Mittags und eine furchtbare muss sie sich doch darein schicken.“ WirtschaftHitze brütete über der menschenleeren Brücke. Johann Alemann (1826-1893). liche Schwierigkeiten veranlassten den 47-JähriVier kräftige Lastträger hoben die Mordskiste auf gen, die Schweiz zu verlassen. Seine Druckerei und sein Zeitungsver- ihre Schultern und trugen das Ungetüm bis zum Einwandererhotel in lag standen vor dem Konkurs, der „Geltstag“ rückte immer näher. der Strasse Corrientes wohl etwa 1 Kilometer weit. Dafür mussten 30 Liebe Leserinnen und Leser, 120 Jahre Argentinisches Tageblatt sind eine gewaltige Zeitspanne. Johann Allemann, der Gründer der Zeitung, hätte sich nicht im Traum vorstellen können, dass sein „Kind“ ihn nun schon um 116 Jahre überlebt. Im Gegenteil, der Schweizer Journalist hatte so seine Bedenken, aus seinem Wochenblatt ein Tageblatt zu machen. Er hatte guten Grund, denn in seinem Leben ist nicht alles gelungen. Stefan Kuhn erzählt anhand von Allemanns Briefen, Büchern, Tagebüchern und Artikeln die Vorgeschichte der Gründung des Argentinischen Tageblatts. Allemanns Urenkel, Dr. Roberto T. Alemann, hat die Hälfte der Tageblatt-Geschichte als Journalist miterlebt. Der heutige Direktor der Zeitung erinnert sich in dieser Ausgabe zurück an Schwieriges, Heiteres und Kurioses. Dies tun auch elf frühere Redakteure, Volontäre und Praktikanten, deren journalistische Karriere beim Tageblatt begonnen hat oder für die die Zeitung eine wichtige Station ihrer beruflichen Laufbahn war. Heinrich Jaenecke, ein Enkel des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, ist der älteste von ihnen. Der frühere Stern-Reporter ist mit über 80 Jahren als freier Autor noch journalistisch aktiv. Mit dem Argentinischen Tageblatt feiert auch die Pestalozzi-Schule. Sie wurde vor 75 Jahren von Ernesto Alemann, dem damaligen Direktor der Zeitung, gegründet. Schulleiterin Claudia Frey-Krummacher gibt einen Rück- und Ausblick. Die erst 16-jährige deutsche Austauschschülerin Deborah Hermanns befragte ehemalige Pestalozzi-Schüler aus drei Jahrzehnten über ihre Erfahrungen beim Schüleraustausch in Deutschland. Dazu gibt es viel Historisches und Aktuelles, Geschichte und Geschichten. Die Berliner Journalistin Dorothee Kammel schreibt über das Einwanderungsland Argentinien, Politikredakteur Marcus Christoph untersucht das Phänomen Che Guevara. Der Reisebuchautor, Journalist und langjährige Tageblatt-Mitarbeiter Federico B. Kirbus erhellt eine unbekannte Bedrohung aus dem Kalten Krieg: Argentinien als Ziel von sowjetischen Atomraketen. Der Journalist und Historiker Georg Ismar, er hat seine Abschlussarbeit über das Argentinische Tageblatt geschrieben, untersucht die „Patagonienaffäre“, einen historischen Betrug, auf den vor 70 Jahren auch das Ar- gentinische Tageblatt reingefallen ist. Marion Kaufmann, ebenfalls langjährige TageblattAutorin, beschreibt in einer Reportage den AlternativVerlag „Eloisa Cartonera“, in dem man Altpapier zu Büchern verwandelt. Wiebke Tasch, in der DDR geboren, sucht nach Verbindungen Argentiniens zum sozialistischen Deutschland. Tageblatt-Herausgeber Dr. Juan E. Alemann beschäftigt sich – mit Expertenblick - mit dem derzeit wohl wichtigsten Problem: den Ursachen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Über Erfreulicheres berichtet Gerd Kayser. Der Ehrenpräsident des Club Europeo beschreibt dessen sechsjährige Erfolgsgeschichte. Die letzte Seite gehört dem Leser. Der deutsche Journalist Tom Odebrecht hat Enrique Heymann, den wohl ältesten Tageblattleser und hartnäckigsten Leserbriefschreiber, besucht und einige erstaunliche Erkenntnisse mitgenommen. Aber lesen Sie selbst... Redaktion und Verlag des Argentinischen Tageblatts 2 eine angenehme Abwechslung“, beschreibt Fr. erlegt werden. Mein Vater schimpfte, Johann Allemann die Natureindrücke zu Befluchte und tobte, es half aber alles nichts, ginn der Reise. Sie dauerte damals gut zwei er musste sich von seinen 30 Fränklein trenTage. nen. Der Schweiss rann uns stromweise vom Santa Fe hatte in den 1870er Jahren etwa Körper herunter und vor Durst konnten wir 10.000 Einwohner, die Straßen waren ungeschon fast nicht mehr sprechen. Vater war pflastert und bei Regen kaum befahr- oder durch die Ausbeuterei der Lastträger in ekbegehbar. Allemann attestiert der Stadt vom liger Laune. Zum Glück war es nicht weit Schiff aus ein „malerisches Aussehen“, das bis zum Hotel de Paris et Genève, wohin sich nach dem Landgang allerdings relatiwir gewiesen wurden“, erinnert sich Moritz viert. Er schreibt von nur wenigen ansehnli1897. chen Gebäuden, von Staub und Unkraut, ZeiViel besser wurde Johanns Laune auch chen des Verfalls. „Das gesellschaftliche nicht, als er bei einem seiner ersten ErkunLeben ist beinahe null. Dasselbe concendungsgänge durch die Stadt von den Dätrirt sich hauptsächlich auf die drei oder vier chern aus mit Wasser begossen wurde, aber Gastwirthschaften (Fondas), sowie auf verer musste sich noch mit mehr Landeseigenschiedene grössere und kleinere Café-Bilheiten auseinandersetzen als diesem heute lards; vorzugsweise aber auf die Unzahl kleinicht mehr üblichen Karnevalsbrauch. ner Schenken und Kneipen (Pulperias), in Von Buenos Aires sind die beiden Auswelchen nebenbei Spezereiwaren verkauft wanderer dennoch angetan. Die Stadt sei werden. Gesellige Vereine finden keinen schöner und komfortabler als er sie sich Boden und denkt auch Niemand daran, solvorgestellt habe, schreibt Johann in sein Tache zu gründen“, beschreibt er Santa Fe in gebuch. Er bewundert die Architektur, die seinen „Bildern aus der Argentinischen ReCafés und Kaufläden, die den Vergleich mit publik“. Paris nicht zu scheuen bräuchten. Die Stadt Weit verstreut, südlich und westlich der hatte damals etwa 200.000 Einwohner. Provinzhauptstadt, lagen die Kolonien der Lange blieben Johann und Moritz AlleMoritz Alemann (1858-1908). Schweizer Einwanderer: unter anderen San mann nicht in Buenos Aires. Die Vergangenheit hatte den Berufsjournalisten Allemann eingeholt. Schon am Carlos, Esperanza, Franck, Humboldt und Grütli. Die Reise in der Pferzweiten Tag nach der Ankunft präzisierten sich die Pläne, die man dekutsche dauert bis zu acht Stunden. Johann Allemann besucht sie, mit ihm hatte. Er sollte in Santa Fe eine deutschsprachige Zeitung für macht sich ein Bild der Niederlassungen seiner künftigen Leserschaft. die Schweizer Kolonisten herausgeben. „Vollenweider, Stoessel, Göt- Die Landschaft empfindet das an Berge gewohnte Auge des Schweizers schel und Reutemann interessirten sich dafür“, vermerkt er in seinem als trostlos. „Nichts als unabsehbaren flachen Camp“, notiert er. „Um Tagebuch. Reutemann ist einer der Vorfahren des früheren Formel 1- so wohlthuender ist sodann der Anblick kultivirten Landes, sobald man Piloten und peronistischen Politikers Carlos Reutemann, der zwei Mal in den Bereich der Kolonien kommt. Auch die Kolonistenhäuser, öfters Gouverneur der Provinz war und heute Nationalsenator für Santa Fe mit kleinen Wäldchen von Pfirsich-, Paraiso-, und anderen Baumarten umgeben, machen einen wohlthuenden Eindruck; ebenso die stattlichen ist. Johann Allemann steht der Sache gespalten gegenüber. „Das hatte Viehheerden der wohlhabenderen Kolonisten, wogegen freilich andere, nun allerdings etwas Bedenkliches für mich, denn gerade weil ich der vernachlässigte Kolonistenhütten und Ranchos einen grellen Contrast Journalistik überdrüssig geworden bin, hatte ich den Entschluss ge- bilden“, schreibt Allemann. Er sieht, wie unterschiedlich die Schweizer Einwanderer ihre Chanfasst, Europa auf einige Zeit Valet zu sagen“, erinnert er sich drei Jahre später in seinem Buch „Bilder aus der Argentinischen Repu- ce wahrnehmen. In San Carlos trifft er einen alten Bekannten, den er 1859 vor dessen Abreise aus Basel kennengelernt hatte. „Er besass dablik“. Johann Allemann hatte gute Gründe, der Journalistik überdrüssig mals kaum das Reisegeld – und jetzt nach 15 Jahren fand ich ihn in zu sein. Er hatte mit dem „Berner Blatt“, dem „Grütlianer“, der seinem stattlichen Bauern„Schweizerischen Auswandererzeitung“ und dem „Berner Tagblatt“ hause, mit hübschem Garschon vier seiner Zeitungen sterben sehen. Teils durch politische In- ten und Anlagen, umgeben trigen, unzuverlässige Partner oder unternehmerische Fehlentschei- von einem Landkomplexe dungen. Ein befreundeter Journalist riet ihm jedenfalls ab, „ein sol- von mehr als 200 Jucharches Wagnis zu unternehmen, wobei er mir in grellen Farben schil- ten (72 Hektar) ausgederte, was es heisse, in einer entlegenen argentinischen Provinzial- zeichnet gut kultivirten, stadt Pionier der Zeitungsschreiberei zu sein“. Allemann nahm die schuldenfreien Landes, nebst beträchtlichem ViehHerausforderung dennoch an. bestande. Ein Bauer, wie sie in der Schweiz nicht Ins mehr gar häufig angetrofLandesinnere fen werden.“ Allemann Am 1. März ging es los. Mit der Bahn bis Tigre und von dort mit dem mag da an seinen jüngeren Raddampfer über Rosario nach Santa Fe. „Die Einschiffung nahm nur Bruder Rudolf gedacht hakurze Zeit in Anspruch und bald schlugen die Räder des Dampfers in ben, der, in der Schweiz die klaren Wasser des Flusses und führten uns in solcher Nähe an den gescheitert, ebenfalls 1859 kleinen Inseln vorbei, dass die herabhängenden Zweige der mächtigen mit Johanns Hilfe nach ArWeiden zuweilen über Deck fegten. Der Anblick dieses Theiles des Flusgentinien ausgewandert ses hat etwas Anziehendes. Wenn auch flach und keine Fernsicht gestatwar. Rudolf kam nie über tend, so verleiht doch die üppige Vegetation der kleinen Inseln, von bald grossen, bald kleinen Atmen des Flusses umflossen, der Scenerie einen die Stellung eines Landarbeiters (Peón) hinaus und reizenden Charakter. Auf dieser Insel sind es die Weiden, auf jener die starb am 23. Juni 1867 in Orangen- und Pfirsichbäume, die den Haupttheil des Holzes bilden und Paraná, der Hauptstadt der ein endloses Gewirre von üppigen Sumpfpflanzen beschatten. Die roProvinz Entre Ríos, nach then Blumen des Seibo blicken aus dem tiefen Grün hervor; hie und da einer Messerstecherei im zeigen sich vereinzelte Palmen kleinerer Art; sehr häufig trifft man auch “Findet gute Abnahme” – Johann Alkoholrausch. den Lorbeer in dem Dickicht. Baumhoher Bambus verdrängt hie und da Alemanns Argentinien-Buch. Trotz allem ist Johann andere Pflanzenformen und gewährt dem Auge durch sein blasses Grün 3 Allemann überzeugt von der Kolonisierungspolitik der argentinischen Regierung. In der Schweiz hatte der frühe Sozialdemokrat, sein Urenkel Peter Alemann nennt ihn in einer umfangreichen Biografie zum 100. Gründungstag des Argentinischen Boten gar einen Sozialisten, die Auswanderung eng mit der sozialen Frage verbunden. Johann war, obwohl er auch mit Sozialisten in Verbindung stand, mehr ein Radikaldemokrat, der sozialistische oder staatskapitalistische Wirtschaftsmodelle ablehnte und auf die Freiheit des Individuums setzte. Er war auch Genossenschaftler im Sinne der Idee von Schultze-Delitzsch oder Raiffeisen, glaubte an die Wirksamkeit von Konsumvereinen, an deren Gründung er sich in der Schweiz aktiv beteiligt hatte. Vor allem aber war er Realist. Dazu mögen auch seine gescheiterten Wirtschaftsunternehmen beigetragen haben. Wie realistisch er selbst die Zeitungsgründung in Santa Fe gesehen hat, geht aus seinen Aufzeichnungen nicht hervor. Aber Johann Allemann ist auch ein Tatmensch, packt die Sache einfach an. Dass sie wieder schiefging, lag nicht an ihm. Er hätte wohl auf seinen skeptischen Journalistenfreund hören sollen, aber letzten Endes ging es ihm nach seinen eigenen Worten bei dem Zeitungsprojekt des Argentinischen Boten mehr um das Wohl der Schweizer Einwanderer als um seinen eigenen Wohlstand. Kopf der ersten Ausgabe. Der Argentinische Bote Das Startkapital, „500 bolivianische Thaler“, hatte Johann Allemann innerhalb von drei Wochen zusammen. Freunde und Bekannte zeichneten Anteile, das Interesse an einer Kolonisten-Zeitung war groß. Die Schwierigkeiten waren zunächst technischer Art. Es gab zwar zwei Druckereien in Santa Fe, die mit Handpressen arbeiteten, aber keinen Setzer, der in der Lage war, einen deutschen Text zu setzen. Die Druckkosten waren enorm. Doch es finden sich Lösungen: Aus Buenos Aires kommt ein deutscher Setzer, und von einer zuvor in Santa Fe erschienenen deutschsprachigen Zeitung taucht bei einem Gläubiger des Blattes noch eine Druckerpresse und ein deutscher Typensatz auf. „In einem Winkel des Schuppens lag die Handpresse, in ihre einzelnen Bestandtheile zerlegt. Die Typen, bunt durch einander gemischt und mit Stroh und Unrath vermischt befanden sich in der Nähe“, beschreibt Johann Allemann das Chaos. Man kauft die Presse und die Typen zu einem günstigen Preis. Aus Buenos Aires wird ein Drucker engagiert, der auch noch ein „längst bestelltes Fässchen Drukkerschwärze“ und nötige Werkzeuge mitbringt. Mit Moritz als Setzerlehrling war die Mannschaft komplett. Am 28. April 1874 erscheint die erste Nummer des Argentinischen Boten, gut zwei Monate nach der Ankunft Johann Allemanns in Argentinien. Das Blatt erhielt sogar staatliche Unterstützung. Die Einwanderungskommission des Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento übernahm ein Abonnement von 50 Exemplaren und bezahlte auf drei Monate im Voraus. Eine Zahlungsmoral, wie man sie sich heute wünschen würde. „Das neue Blatt befriedigt ziemlich allgemein. Ich halte mich wohlweislich auf gemeinnützlichem und volkswirthschaftlichem Boden und lasse Politik und Konfessionelles hübsch links liegen“, notiert Allemann am 5. Mai in sein Tagebuch. In der Zeitung finden sich Ratschläge für die Siedler, Lokalpolitisches und feuilletonistische Texte wie Reiseberichte. Andere für die Einwanderer interessante Meldungen aus Europa treffen nur spärlich ein. In seiner Berner Tagespost arbeitete Allemann schon mit der französischen Nachrichtenagentur Havas, hier war er auf Zeitungen aus Buenos Aires angewiesen, die zwei bis drei Mal pro Woche eintrafen. Auf Nachrichten aus Europa musste man fünf bis sechs Wochen warten. „Wie kann ein Redaktor seinen Abonnenten Neuigkeiten auftischen, wenn er selbst nach solchen schmachtet?“, klagt Johann Allemann. Auch der Vertrieb machte Probleme. Vielfach kam die zwei Mal wöchentlich erscheinende Zeitung nicht bei den weit verstreut lebenden Abonnenten an. Wenn doch, dann gleich mehrere Exemplare auf einmal. Häufig zahlten die Abonnenten, man kann es ihnen nicht verdenken, nur für die aktuellen erhaltenen Ausgaben. Mit dem Wechsel der Präsidentschaft von Sarmiento auf Nicolás Avellaneda brach in Argentinien im Oktober 1874 die sogenannte Mitre-Revolution aus. Putschisten versuchten, statt Avellaneda den früheren Präsidenten und in der Wahl unterlegenen Kandidaten Bartolomé Mitre ins Amt zu bringen. Der Putsch scheiterte nach wenigen Wochen, aber an ausbleibenden Staatssubventionen und der Wirtschafts- und Finanzkrise litt auch der Argentinische Bote. Allemann berichtet von ständiger Geldnot. Im Mai 1875 verkauft er die Zeitung. Der Argentinische Bote und die Druckerei ziehen nach Esperanza um, und das Blatt erscheint dort noch ein paar Jahre weiter. Der Abschied tut Johann Allemann nicht Leid. „Zum Selbststudium ist Santa Fe vorzüglich geeignet. Wer in seinem Denken in die Tiefen der Natur eindringen möchte, würde nicht im mindesten gestört werden. (…) Ist aber (…) erst ein halbes oder vollends ein ganzes Jahr verflossen, dann fühlt man sich unbeschreiblich einsam und verlassen, ehedem unbekannte melancholische Gefühle ergreifen Geist und Gemüth, die Sehnsucht nach einer anderen Umgebung wird immer grösser und unverhofft werden Vorbereitungen getroffen, zum Abschiede von einer Gegend, die für jeden Deutschen oder Schweizer mit einem geheimnisvollen Reize umgeben ist, aber sobald man sie einmal betreten, gesehen und genossen hat, in uns den lebhaften Wunsch erweckt, sie so bald als möglich zu verlassen“, schreibt er sarkastisch in den „Bildern aus der Argentinischen Republik“. Johann und Moritz kehrten fast mittellos nach Buenos Aires zurück. Der Junge, er spricht inzwischen recht gut Spanisch, wird Setzer in einer Buchdruckerei, der Vater hält sich mit Übersetzungen, Artikeln für die Deutsche La Plata-Zeitung und Korrespondentenberichten aus Argentinien über Wasser. Später kommen beide in der La Plata-Zeitung unter, die zwischen 1918 und 1945 zur erbitterten Gegnerin des Argentinischen Tageblatts werden sollte. Johann reist viel in Siedlungsgebiete deutschsprachiger Auswanderer und verfasst 1877 seine „Bilder aus der Argentinischen Republik“, ein Werk, das sich laut Allemanns Tagebuchaufzeichnungen ganz ordentlich verkauft. Das Argentinische Wochenblatt Die große Wende kommt ein Jahr später. Der deutschsprachige Zeitungsmarkt in Buenos Aires ist Ende der 1870er-Jahre konfus. Blätter kommen und gehen im Monatstakt, fusionieren und wechseln den Eigentümer. Als wieder eine deutschsprachige Wochenzeitung eingeht, nützt Juan Alemann, er hatte inzwischen seinen Namen wegen der argentinischen Phonetik hispanisiert, die Gelegenheit. Mit einer monatlichen Unterstützung von 50 Pesos fuertes der Provinzregie- 4 rung von Buenos Aires, die damit Druck- und Satzkosten deckte, startet er sein sechstes Zeitungsprojekt. Am 2. März 1878 erscheint die erste Ausgabe des Argentinischen Wochenblatts. „Ich gebe mir alle Mühe in der Redaktion und Moritz als Setzer. Er macht nebstdem den Verträger und Einzieher“, notiert Juan Alemann in sein Tagebuch. In dem in der ersten Nummer vorgestellten Programm der Zeitung heißt es unter anderem: „Das Bestreben des neuen Wochenblattes wird sein: einen Meinungsaustausch zwischen den in Argentinien lebenden Deutschsprechenden zu vermitteln; kurz gefasste Nachrichten von hüben und drüben mitzuteilen, Besprechungen zu veranlassen über praktische Lebensfragen der Staatsverwaltung, der Landwirtschaft und Industrie, des Unterrichtswesens, der Verkehrsverhältnisse etc. Nebst dem wird der Einwanderungs- und Kolonisationsfrage besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, aber nicht in der Form der üblichen Lobeserhebungen und allgemeinen Phrasen, sondern sachlicher Erörterungen der bestehenden Mängel und wie Verbesserungen herbeizuführen sind.“ Am 12. Juli 1878 vermerkt Alemann stolz: „Mein Wochenblatt erwirbt sich in der Schweiz Anerkennung. Die Zeitungen bringen oft Auszüge und drucken Leitartikel ab. Auch im hiesigen Lande erwirbt es sich nach und nach Freunde. Ich bekomme Bestellungen aus den entferntesten Provinzen.“ Liest man den Eintrag an Silvester 1878, atmet man mit dem inzwischen 52-jährigen Journalisten auf. „In Geldverlegenheit stecke ich nun nicht mehr. Das Wochenblatt liefert genügende Einnahmen für eine bescheidene Existenz.“ Die Gründung der Wochenzeitung erfolgte zu einem günstigen Zeitpunkt. Die Einwanderung aus Europa stieg sprunghaft an. Vor allem aus Deutschland, das die Schweiz in der Einwanderungsstatistik erstmals übertraf, kamen viele durch Bismarcks Sozialistengesetze verfolgte Arbeiter. Sie fanden im republikanischen Argentinischen Wochenblatt bessere Lektüre als in der kaisertreuen La Plata-Zeitung. Der Aufschwung war bescheiden und von Rückschlägen gezeichnet. Auf Finanzkrisen folgten Revolutionen und umgekehrt. Immerhin warf das Wochenblatt soviel ab, dass Juan Alemann seine Familie nach fast sechsjähriger Trennung nachkommen lassen konnte. Am 1. Dezember 1879 kommen Alemanns Frau Rosalie und seine fünf Söhne Gustav, Otto, Theodor, Ernst und Felix in Buenos Aires an. Die Familie bezieht ein einstöckiges Haus in der Parque-Straße 933, der heutigen Lavalle. Rosalie, eine geborene Ott aus Worb bei Bern, konnte sich nie so recht mit Argentinien anfreunden. Sie vermisste das beschauliche Vorstadtleben und starb mit 53 Jahren am 7. August 1885. Gustav, der im Verlag Buchhalter lernte, wurde krank und ging in die Schweiz zurück. Theodor, der zunächst das Druckerhandwerk lernte, zeigte mehr und mehr journalistisches Talent und arbeitete in der Redaktion mit. Redaktionsaufgaben übernahm auch Moritz, der den Vater in der Zeitung vertrat, wenn dieser in Sachen Kolonisierung im Landesinneren unterwegs war oder während dessen einziger Europareise 1882. Trotz Rückschlägen, häufigen Umzügen und Druckereiwechseln geht es mit dem Wochenblatt stetig aufwärts. Fein säuberlich notiert Juan Alemann die Auflagensteigerungen in seinem Tagebuch. Am Erscheinungstag sind es rund 100 Abonnenten, ein Jahr später über 200. Die Druckauflage dürfte nur unwesentlich höher gewesen sein. Im August 1884 spricht er von einer Auflage von 800 Exemplaren, am 12. Juli 1886 bereits 1150. Das Blatt erscheint erstmals in einem Umfang von acht Seiten. Wieder zwei Jahre später ist man bei 1650 Exemplaren. Johann und Moritz fassen den Entschluss, eine Schnellpresse anzuschaffen. Sie tun sich mit einem kleinen Schweizer Druckereibetrieb zusammen, kaufen für 10.000 Goldfranken eine moderne (dampfgetriebene) Druckerpresse und gründen die Imprenta Helvetica, die in der Avenida Corrientes 2300 residiert. Theodor Alemann (1862 – 1925). Das Argentinische Tageblatt Das war im Grunde die Schlüsselentscheidung für größere Pläne – die Herausgabe einer Tageszeitung. Am 6. März 1889 notiert Juan Alemann in sein Tagebuch: Nach „unserer ganzen Entwicklung konnten wir beim bisherigen Wochenblatt nicht stehen bleiben und haben uns entschlossen – ich jedoch mit Widerstreben – ein Tageblatt herauszubringen. Es wird nämlich allgemein gewünscht, dass das allgemein beliebte Wochenblatt nicht stationär bleibe. Das ist zwar alles leicht gesagt, aber nicht leicht gethan. Woher Geld nehmen?“ Alemann lässt sich von seinem Verleger-Freund Leon Walls beraten, der den französischsprachigen „Courrier de La Plata“ herausgibt. Walls rät ihm zu einer Aktiengesellschaft, bei der er selber die Kontrolle behält. Zu Alemanns Überraschung kommt innerhalb kurzer Zeit ausreichend Kapital zusammen. Das Unternehmen konnte gewagt werden. Zusammen mit seinen Söhnen Moritz und Theodor gründet er gut elf Jahre nach dem Argentinischen Wochenblatt eine Tageszeitung. Am 29. April 1889, vor 120 Jahren, erschien die erste Ausgabe des Argentinischen Tageblatts, die heutige trägt die Nummer 31.716. Johann Allemanns siebte Zeitungsgründung hat ihn um 116 Jahre überlebt. 5 Grusswort der Schweizerischen Botschafterin Grußwort des Deutschen Botschafters 120 Jahre. Wahrlich ein Grund zu feiern. Ich gratuliere dem Argentinischen Tageblatt und seinen Herausgebern, den Herren Dr. Roberto T. und Dr. Juan E. Alemann, und ihren Mitarbeitern ganz herzlich zu diesem Geburtstag. Zugleich möchte ich allen Beteiligten für die hervorragende Recherche und Schreibarbeit danken, welche während all dieser Jahre erst täglich, später wöchentlich, eine ausgezeichnete Zeitung hervorbrachten. Durch Schweizer Immigranten gegründet, bot das Argentinische Tagblatt Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine stützende und fördernde Hand zur Integration der Neuankömmlinge in einem noch unbekannten Land in einer noch unbekannten Kultur. Die teilweise schwierige Ankunftszeit konnte durch die Aufhebung der Sprachbarriere erleichtert und die Einwanderer zugleich mit Informationen aus der fernen Heimat versorgt werden. Diese auf Deutsch verfassten Seiten dienten über das letzte Jahrhundert und auch heute noch als Sprachrohr der verschiedenen Gemeinden und Vereine der deutschsprachigen Gemeinschaft, womit sie wesentlich zur deren Vernetzung beigetragen hat. So begleitete die Zeitung den Werdegang der Immigranten ununterbrochen, folgend der freisinnig-liberalen Vision ihres Leitspruches „…auf dem Weg des Fortschritts und der Freiheitsliebe“. Sie überstand Papierrationierungen, Bombendrohungen und mehrere Wirtschaftskrisen. Ihre heutige Existenz und die Beständigkeit während der letzten 120 Jahre bestätigt ihre Qualität und zeigt die Wertschätzung der grossen deutschsprachigen Bevölkerung in diesem Land. Die Tradition der Vermischung von Nachrichten aus den deutschsprachigen Herkunftsländern, dem lokalen und weltweiten Geschehen wurde während des letzten Jahrhunderts erfolgreich beibehalten und fruchtet noch heute bei der wöchentlichen Lektüre. Die bedachte Feder ist eine wertvolle Bereicherung der Argentinischen Presselandschaft und diente auch dieser Botschaft immer wieder als Referenz- und Konsultationsquelle. Für die Zukunft wünsche ich den Mitarbeitern, Herausgebern und Lesern weitere 100 Jahre voller Erfolg und vielfältiger Berichterstattung. Dr. Carla del Ponte Liebe Leserinnen und Leser des Argentinischen Tageblatts, die einzige deutschsprachige Zeitung Argentiniens feiert Geburtstag. Dies ist für mich Anlass, die Herausgeber, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Argentinischen Tageblatts sowie uns Leserinnen und Leser ganz herzlich zu beglückwünschen. Wir feiern in diesem Jahr drei runde Geburtstage: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und 120 Jahre Argentinisches Tageblatt. Diese Gedenktage zeigen, dass das Tageblatt Teil der wechselhaften deutschen Geschichte ist und dass diese Zeitung für Kontinuität steht. Und mehr: Während der dunkelsten Epoche deutscher Geschichte war es das Tageblatt, das in Argentinien dem Nationalsozialismus die Stirn bot und damit zeigte, dass Journalismus viel mehr ist, als Artikel abzudrucken. Wie vielen anderen hier lebenden Deutschsprachigen ist es mir seit meiner Ankunft im Sommer letzten Jahres schnell zur Gewohnheit geworden, den Samstag mit Tee, Medialuna und druckfrischem Tageblatt zu beginnen. Ich genieße es, in meiner Sprache ausführlich über das Geschehen in Deutschland und Europa, und vor allem in Argentinien informiert zu werden. Außerdem erhalte ich einen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten der deutschen Gemeinschaft vor Ort. Das Tageblatt ist also seit 120 Jahren eine wichtige Informationsquelle. Als Bindeglied für die deutschsprachige Gemeinschaft übernimmt das Tageblatt eine Rolle, die weder „Facebook“ noch andere hoch entwickelte technologische Medien des ITZeitalters bieten. Zwar musste auch das Argentinische Tageblatt im Laufe seiner Geschichte der Globalisierung und der Internetgesellschaft Tribut zollen und erscheint daher leider nur noch wöchentlich, anders als der Name es vermuten lässt. Sicherlich wird es angesichts der sich wandelnden Mediengesellschaft auf der einen Seite und der Veränderungen in der deutschsprachigen Gemeinschaft auf der anderen Seite in Zukunft nicht leichter werden, das Tageblatt zu erhalten. Wir sollten uns deshalb alle dafür stark machen, dass das Tageblatt weiterhin ein selbstverständlicher Teil unseres deutschsprachigen Lebens in Argentinien bleibt. Wenn wir wollen, dass die deutsche Sprache in Argentinien ihren Stellenwert behält, dann führt kein Weg am Tageblatt vorbei. Daher appelliere ich heute an Sie, liebe Leserinnen und Leser: Halten Sie dem Blatt die Treue, so wie in den vergangenen 120 Jahren. Die Tradition, als Scharnier und Multiplikator für die hier lebenden deutschprachigen Leser und seine Rolle als Förderer der Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien verpflichten uns gleichermaßen. Ich wünsche uns noch lange viel Freude und Vergnügen bei der Lektüre des Argentinischen Tageblatts. Feliz cumpleaños! Ihr Günter Kniess Grußwort der Österreichischen Botschafterin Mit besonderer Freude schließe ich mich den Gratulanten des Argentinischen Tageblattes an, die dieses zum 120-jährigen Jubiläum hoch leben lassen. Wie für viele in Argentinien lebende deutschsprechende Menschen ist für mich das Argentinische Tageblatt ein unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Wochenendes geworden. Ich schätze die präzise und informative Zusammenfassung des Wochengeschehens hier, zu Hause und in der Welt. Ganz besonders angetan haben es mir die wirtschaftspolitischen Analysen auf der letzten Seite. So kommt es, dass ich zumeist das Argentinische Tageblatt von vorne und von hinten zu lesen beginne, um mich schließlich in der Mitte bei der Seite für die Frau zu entspannen. Ein herrliches Lesevergnügen! Ich wünsche den Herausgebern und allen Mitarbeitern des Argentinischen Tageblatts weiterhin viel Erfolg für Ihre wichtige journalistische Tätigkeit. Dr. Gudrun Graf 6 Erinnerungen Seit 60 Jahren in der Redaktion des “Argentinischen Tageblatts” Von Dr. Roberto T. Alemann Direktor A m 1. Dezember 2008 jährte sich mein Eingebracht war, lernte ich anfangs in der Nachttritt in die Redaktion unserer Zeitung zum schicht den Beruf unter der Leitung des Chefsechzigsten Mal, die Hälfte der Jahre seit ihrer redakteurs Dr. Theodor Brüll, vormals RedakGründung am 29. April 1889. Schon vorher hatte teur in der “Neuen Freien Presse” in Wien. Dr. ich während meines Studiums der WirtschaftsBrüll verstand sein Metier, brachte mir bei, wie wissenschaften an der Universität von Bern in man spanische Agenturtexte von Associated der Schweiz zahlreiche Artikel für die Zeitung Press und Agence France Press ins Deutsche geschrieben, den ersten im Juli 1947 mit meiredigierte und wie man sie betitelte. Die auf der nen Eindrücken über London, wo ich nach eiSchreibmaschine, damals eine Underwood, späner fast dreitägigen Flugreise einen Tag verter eine Olivetti, auf der ich bis heute noch gebracht hatte, ehe ich bis Zürich weiter flog. legentlich schreibe, getippten Texte durften In Buenos Aires, wo ich ebenso wie meine nicht länger als die vorgegebenen Linien sein. Eltern geboren war, hatte ich das Studium an Später lernte ich auch den Seitenumbruch, die der Rechtsfakultät der Universität von Buenos Korrektur der Fahnen und die Auswahl der Aires, damals die einzige, da private UniversiAgenturkabel. Tagsüber schrieb ich Artikel über täten nicht zugelassen waren, abgeschlossen die Politik und Wirtschaft in Argentinien. Neund wollte mich in der Wirtschaftswissenschaft benbei besuchte ich die Rechtsfakultät für meiweiter bilden. Der Beruf des Rechtsanwaltes benen Doktor-Titel. geisterte mich nicht, insbesondere wegen der Hierzu eine Erinnerung: über Wirtschaftsfraumständlichen Prozesswege vor den Gerichten. gen in Argentinien Ende der vierziger und AnMit der Wirtschaft wollte ich meine Kenntnis fang der fünfziger Jahre zu schreiben, war dader gesellschaftlichen Zusammenhänge vertiemals besonders mühevoll. Es gab kaum StatiDr. Roberto T. Alemann fen, was mir auch in Bern gelang. Während stiken außerhalb der Börse, des Viehhandels zweier Semester besuchte ich mehrere Vorlesungen und lernte Volksund einiger monetärer und Fiskalzahlen. Die einzige Statistik, die dawirtschaft, die ich im letzten Jahr des Abiturs am Colegio Nacional de mals pünktlich veröffentlicht wurde, betraf die Bevölkerung, nämlich Buenos Aires und im ersten Jahr der Fakultät nur oberflächlich mitbe- Geburten, Todesfälle, Ein- und Auswanderung, ein Relikt aus den Zeikommen hatte. Mich wunderte freilich als Argentinier, für den der Mi- ten vor dem Ersten Weltkrieg, als Argentinien beliebtes Emigrationslitärdienst ein Greuel war, wie die Schweizer Studenten alles Militäri- ziel der Europäer war und die Behörden alle demografischen Zahlen sche guthießen. Sie stampfen in den Vorlesungen auf den Boden, wenn akribisch sammelten und veröffentlichten. Die Bevölkerungsstatistik ihnen eine Äußerung des Professors gefiel, und scharrten als Zeichen ist inzwischen verschwunden, abgesehen von den Volkszählungen alle der Ablehnung mit den Füßen. Bei uns in Buenos Aires wurde weder zehn Jahre. Preisstatistiken waren 1950 per Dekret als geheime Staatsgeklatscht noch gepfiffen. Mit gelegentlichen Beiträgen für unsere Zei- sache verboten worden, derweil die Inflation bereits im Anlauf war. tung befasste ich mich mit der Politik der Schweiz und Europas, wo Abgesehen vom Außenhandel, deren Statistiken in Pesos mit Verspädamals das Elend der Nachkriegszeit überwunden wurde und zumal in tung verbreitet wurden, gab es keinerlei makroökonomische BerechDeutschland der Aufstieg begann. nungen des Nationaleinkommens oder des Bruttosozialprodukts. Ob Im August und September 1948 begleitete ich meinen Vater Dr. Er- die Wirtschaftskonjunktur auf- oder ab ging, musste man aus anderen nesto F. Alemann (1893-1982), Direktor der Zeitung, auf einer Auto- Indikatoren erraten. Geldstatistiken der Zentralbank und Fiskalzahlen reise durch Deutschland, allerdings beschränkt auf die westlichen Zo- des Schatzamtes wurden nur verspätet und gelegentlich verbreitet. Launen, die amerikanisch-britische und die französische. Berlin erreichten fende Produktionsangaben wie gegenwärtig gab es nicht. Nur die Viehwir mit der berühmten Luftbrücke. Die Sowjetzone konnten wir per eingänge in Liniers täglich und einige Erntezahlen waren stets mit VerEisenbahn zur Leipziger Messe kennen lernen, wo mich die obwalten- spätung verfügbar. Kein Wunder daher, dass die argentinischen Zeitunde Diktatur bedrückte. In Frankfurt luden wir den Leiter der Wirtschaft, gen alles vernachlässigten, was die Wirtschaft betraf. Für die herrschende Professor Ludwig Erhard, zum Mittagessen in ein Restaurant ein. Der Schicht interessierte das nur die Buchhalter, und die Regierung scheute Vater des Wirtschaftswunders, das sich erst in den Anfängen befand, die Offenlegung unangenehmer Statistiken. Umso schwieriger war es dankte uns zuhanden der Deutschen in Argentinien für die zahllosen für mich als angehender Redakteur, über den Gang der Wirtschaft zu Sendungen von Lebensmittelpaketen, die damals für ihre Verwandten berichten. Mein Vater, selber in Heidelberg 1915 promovierter Doktor und Freunde eine echte Hilfe waren. Mein Vater meinte hierzu, dass der Wirtschaftswissenschaften, legte stets größten Wert auf Artikel über sich Deutschland dank der Währungsreform und der Marktwirtschaft die argentinische Wirtschaft, die man sich vielfach mangels statistischer Erhards rasch erholen würde, wogegen die Aussichten in Argentinien Unterlagen sozusagen aus den Fingern saugen musste. genau konträr lägen. In wenigen Jahren würde Deutschland Argentinien beistehen, wie es auch geschah, als Argentinien im bilateralen ZahPressefreiheit lungsverkehr schnellstens zum Schuldner aufstieg. Zwei Monate vor unter Perón unserer Reise war die Landeswährung in einer Woche von vier auf neun Die damalige Regierung von General Juan Domingo Perón (im Amt Pesos je Dollar abgewertet worden, am Devisenmarkt das deutlichste von 1946 bis 1955) pflegte nach dem Vorbild von Benito Mussolini in Kennzeichen, dass die fetten Nachkriegsjahre für Argentinien endgül- Italien Stimmenfang mit Populismus und einer autoritären Regierungstig vorüber waren und eine jahrelange Stagnation einsetzte, während führung. Oppositionspolitiker gingen vielfach ins uruguayische Exil oder Deutschland als Bundesrepublik ab 1949 blühte und das berühmte Wirtwurden eingekerkert, darunter Ricardo Balbín, Fraktionsführer der raschaftswunder mit Opfern und Arbeit vollbrachte. Unsere Reiseberich- dikalen UCR in der Deputiertenkammer. te wurden später in Buchform unter dem Titel “Reise durch DeutschDie Presse wurde geknebelt und verfolgt, die traditionelle Zeitung land” veröffentlicht. “La Prensa” konfisziert und der Gewerkschaftszentrale CGT übergeben, was sie zum Siechtum verdammte. Wir erfuhren am eigene Leibe, In der was es bedeutete, eine unabhängige Meinung zu vertreten, zudem geRedaktion prägt durch das liberale Gedankengut, das unserer Gründer Johann AleIn der Redaktion, die im Parterre unseres damaligen Verlagssitzes mann (1826-1893) uns auf den Weg mit gegeben hatte. Im Informatian der Straße Tucumán 307, 309 und 313 in einem großen Raum unter- onssekretariat der Regierung waren damals Nazis eingestellt worden, 7 für die 1888 eine Aktiengesellschaft aufgezogen die nach Argentinien geflüchtet waren und uns worden war, um die Maschinen zu finanzieren. lasen. Unsere Haltung gegen das Dritte Reich war Unser Verlag war im Parterre (Verwaltung und ihnen bekannt. Wir waren dadurch kontrolliert und Redaktion) und zwei Untergeschossen (Setzerei mussten schwer aufpassen, um nicht bestraft zu und Druckerei) im eigenen Hochaus mit 55 Mietwerden. wohnungen an der Straße Tucumán untergebracht. Trotzdem ereilte uns das Schicksal, als wir zuMitte der zwanziger Jahre hatte mein Vater, der sammen mit hundertfünfzig anderen Presseorganach dem Tod seines Vaters Theodor (1863-1925) nen von einem peronistischen Deputierten namens die Direktion der Zeitung übernommen hatte, die Visca auf Anweisung des Präsidenten geschlosLektion aus dem Anzeigenboykott gezogen, den sen wurden, weil wir es am 1. Januar 1950 versedie Deutsche Handelskammer als Repressalie für hentlich unterlassen hatten, alle Seiten der Zeidie Einstellung der Zeitung zugunsten der Weitung mit dem Spruch “Jahr des Befreiers San marer Republik verhängt hatte. Obwohl der BoyMartín” zu betiteln. Die Unterlassung war zwar kott im Sande verlief, entschied mein Vater, die noch in der gleichen Ausgabe berichtigt worden, Druckerei für Kunden auszubauen und erwarb aber der Schaden war gemacht. Bis Anfang März eine neue Rotationsmaschine der angesehenen durfte die Zeitung nicht erscheinen. Einmal in der deutschen Firma MAN, später eine zweite, sowie Woche erschien unser “Argentinisches Wochenmehr Setzmaschinen. Die Expansion der Akziblatt”, das sonst nur im Landesinneren und Ausdenzdruckerei für Kunden sollte der Zeitung als land verbreitet wurde. Als Akzidenzdruckerei Rückhalt dienen. Das Schema bewährte sich zudruckten wir die Wirtschaftszeitschriften “Semamal in den dreißiger Jahren, als die Nazis in Arna Financiera” und “Economic Survey”, die wir gentinien grassierten, Schulen, Klubs und Verbänauf Anweisung des Deputierten Visca nicht mehr de gleichgeschaltet wurden und die Zeitung aberherstellen durften. “Semana Financiera” ging ein, Dr. Ernesto F. Alemann. mals mit Anzeigensperre deutscher Niederlassun“Economic Survey” erschien erst 1956 nach gen und Verbot für deren Angestellten, die Zeitung zu lesen, widrigenPeróns Sturz wieder. Mit Mühe konnten wir verhindern, dass unsere Druckerei konfisziert wurde, auf die machthungrige Politiker ihr Au- falls Entlassung drohte, bestraft werden sollte. Unsere Redakteure wurgenmerk geworfen haben. Dass wir im März wieder erscheinen durf- den einmal auf der Straße verprügelt. Eine Brandbombe richtete Schaten, verdankten wir der US-Regierung, die sich bereit erklärt hatte, das den in der Setzerei an. Unsere Druckerei entwickelte sich günstig. Wir druckten TageszeiDefault der argentinischen Zentralbank von zugesagten Devisenschulden für Importe (“permisos de cambio” auf Spanisch) durch ihre Exim- tungen, später auch “La Opinión”, “Buenos Aires Herald” und “Ambibank umzuschulden, sofern die argentinische Regierung die Zeitungs- to Financiero”, sowie zahlreiche Monats- oder Wochenzeitungen und gelegentliche Druckerzeugnisse. Anders als kleine Druckereien, die verbote aufhob, was Perón selbstverständlich nachvollzog. Einige Jahre später erlebte ich eine andere Variante der Pressekne- wenig Personal beschäftigten und daher von der Gewerkschaft nicht belung unter Perón. Als Verlag und Druckerei durften wir das von uns drangsaliert werden konnten, erlitten wir als mittelgroßer Betrieb wieimportierte Zeitungspapier, gab es doch damals keine einheimische Pro- derholt Streikdrohungen und vor allem der Entzug der Zusammenarduktion, nur für bestimmte Kontingente alle zwei Wochen verbrauchen. beit, indem die Mitarbeit für die Fertigstellung der Kundenaufträge verWir hatten vorsichtigerweise stets etwas weniger als zugelassen benutzt, weigert wurde, so dass unsere Vorarbeiter einspringen mussten. Nur zwei Monate nach meinem Eintritt in die Redaktion wurde die so dass wir mit dem Inventar auskommen konnten, als uns plötzlich im Februar 1955 das übliche Kontingent nicht zugewiesen wurde. Ich wurde Zeitungsbranche drei Wochen lang von den Grafikern bestreikt. Keine ins Pressesekretariat vorgeladen, wo ein Herr Seminario mir einen Vor- Zeitung erschien. Auch später gab es immer wieder Kurzarbeit, Streiks trag über eine verantwortliche Ausübung der Pressefreiheit hielt, wo- und auch physische Bedrohung leitender Angestellter, zuletzt ein siebei unterschwellig gemeint war, dass wir die Meldung aus Rom über bentägiger Streik im Juni 1973, als eine menschengroße Puppe, die mich die Exkommunizierung von Perón nicht hätten veröffentlichen sollen. symbolisierte, an der Straßenfront aufgehängt wurde. Am Eingang meiner Wohnung wurde eine Bombe gelegt, die ich zufälligerweise als solDergestalt wurde die Pressefreiheit unter Perón gehandhabt. Damals mussten fremdsprachige Zeitungen jeweils einen Leitartikel che in einer Schuhschachtel erkannte. Sie wurde von der Polizei entin spanischer Sprache mit Übersetzung veröffentlichen, sonst wurde schärft. Wenige Jahre später explodierte eine Bombe an der Wand des die verbilligte Gebühr in der Post aberkannt. Mein Vater ärgerte sich Vorgartens und zerstörte die Fensterscheiben der Hausfront. Als die grafische Industrie in den achtziger und neunziger Jahren maßlos über diese Vorschrift und pflegte unbedeutende Themen als kurze Leitartikel mit Übersetzung zu veröffentlichen. Die lächerliche Vorschrift technisch mit Internet, E-Mail und Computer vollkommen umgemowar unter der Militärregierung vor Perón erlassen worden. Einmal wur- delt wurde, so dass der Bleisatz verschwand, bauten wir unsere Akzide unsere Zeitung für einen Tag verboten, weil sie unwichtige Leitarti- denzdruckerei sukzessive ab, nachdem unsere Kunden selber auf Comkel in Spanisch und Deutsch veröffentlicht hatte, wie die Begründung puter setzten, anstatt unsere Dienste als Setzer in Anspruch zu nehmen. des Dekretes lautete. Nach dem Sturz von Perón stellten wir die spani- Damit wurden die stetigen Streiks und Gewaltdrohungen der Grafiker schen Leitartikel ein. Ich hatte sie täglich auf Spanisch und Deutsch hinfällig. Unsere Verwaltung und Redaktion hatten nie gestreikt. Ein eigenartiges Erlebnis in Sachen Grafikerstreik war mir Mitte 1953 schreiben müssen und dabei aufzupassen, dass der Inhalt nicht in die falsche Kehle unserer Zensoren geriet. So lernte ich, manches politisch gegönnt, als plötzlich jemand von der Präsidentschaft bei uns anrief Unkorrektes unseren Lesern durch die Blume mitzuteilen, die Verständ- und uns aufforderte, einen Vertreter zu einer Sitzung zu entsenden, ohne nis hierfür aufbrachten und sich auch gelegentlich darüber amüsierten, freilich anzugeben, wofür die Sitzung einberufen wurde. Mein Vater wie sie es mir persönlich kolportierten. Fast sieben Jahre lang habe ich gab mir den Auftrag, mich im Regierungsgebäude an der Plaza de Mayo diese beruflich unangenehme Aufgabe erfüllt und stets aufgepasst, Re- zur angegebenen Stunde am Vormittag einzufinden. Zu meiner Überrapressalien der Regierung zu vermeiden, was mir gelang. Angenehm war schung wurde ich dort in das Amtszimmer des Präsidenten geführt, wo es sicherlich keineswegs, die Presseknebelung am eigenen Leib zu er- ich freundlich von General Perón empfangen wurde. Dort befanden sich bereits die Vertreter der Druckereien von “La Nación”, “The Stanfahren. dard” und “El Pueblo”, ein katholischer Verlag, die ich von den SitzunUnsere Druckerei gen des Verbandes der Zeitungsverleger AEDBA her kannte. Sie wussten genauso wenig wie ich, weshalb wir eingeladen worden waren. und Streiks Die Gewerkschaft der Grafiker (Setzer, Typographen, Drucker und Kurz danach erschien das gesamte Kabinett, der Gouverneur der ProMechaniker) war, wie überall in der Welt, damals eine der aktivsten. vinz Buenos Aires, Major Aloé, und der Generalsekretär Vuletich der Sie war die erste Gewerkschaft in Argentinien, die gegen Ende des 19. Gewerkschaftszentrale CGT. Perón eröffnete die Sitzung, zu der wir Jahrhunderts von deutschen Emigranten gegründet worden war, die als als Zuhörer eingeladen worden waren. Wir saßen am Fenster, nicht am Verhandlungstisch. Wirtschaftsminister Alfredo Gómez Morales brachte Flüchtlinge der Bismarkschen Sozialistengesetze galten. Wir druckten unsere Zeitung in eigener Regie seit ihrer Gründung, die Bemühungen der Grafikergewerkschaft zur Sprache, die eingefro- 8 renen Löhne anzuheben, wofür unsere vier Druckereien bereits unter Druck standen. Indessen war es offensichtlich das Ziel der Gewerkschaft, die Druckerei ALEA zu bedrängen, die vom Gouverneur Aloé als Vertrauensmann des Präsidenten Perón geleitet wurde. Dort wurden die Regierungszeitungen gedruckt. ALEA war damals die größte Drukkerei in Buenos Aires. Gegen diesen Vorstoß war die Sitzung einberufen worden. Zur Diskussion stand das Stabilisierungsprogramm der Regierung schlechthin, das gegen Mitte 1952 nach zwei Dürrejahren in Folge für zwei Jahre mit Preis- und Lohnstabilität unterwegs war und die Inflation von über 20 Prozent vorher auf etwa 4 Prozent gesenkt hatte. Eine massive Lohnerhöhung nur einer Gewerkschaft, in diesem Fall die aufmüpfigen Grafiker, hätte das ganze Programm wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lassen. Nachdem auch Aloé und Vuletich, dem die Verhandlung sichtlich unangenehm war, gesprochen hatten, hielt Perón einen Vortrag, in dem er die Sozialgesetzgebung schlechthin in Frage stellte, sollten sich die Grafiker durchsetzen, und verhieß, die gleiche Rede am Nachmittag per Rundfunk auszustrahlen. So geschah es, und der Streik war gebannt sowie die Stabilität gerettet. Wir hatten auch Ruhe in unserer Druckerei. Ein Jahr später ließ sich Perón überzeugen, dass alle Löhne um 20 Prozent anzuheben seien, womit die Inflation nach zweijähriger erfolgreicher Stabilität, allerdings mit Höchstpreisen und anderen dirigistischen Maßnahmen, wieder kam. Die Teuerung kletterte umgehend auf über 20 Prozent. Ich hatte die Lektion als Wirtschaftler gelernt, dass die argentinische Inflation weitgehend von den massiven Lohnerhöhungen bestimmt war. Das gilt mit Abweichungen bis heute. Allerlei Einsätze lagssitz, seit 1949 25 de Mayo 626, angrenzend an unser Gebäude an der Straße Tucumán. Damals war es mit dem deutschsprachigen Kulturleben in Buenos Aires schwach bestellt. Reiseberichte gehören ebenfalls zum Handwerk eines Redakteurs. Ich schrieb solche Berichte Mitte 1955 während einer Reise nach Tucumán und Salta mit dem ersten deutschen Nachkriegsbotschafter Hermann Terdenge, wo wir Zuckerfabriken besuchten. Ich hatte die Gegend schon als Universitätsstudent kennen gelernt. Den Wiederaufbau der deutschsprachigen Gemeinschaft, deren Verbände, Klubs und Schulen 1945 nach der Kriegserklärung Argentiniens unrechtmäßig konfisziert worden waren, haben wir in der Zeitung stets unterstützt, darunter der Deutsche Klub und die Deutsch-Argentinische Handelskammer, die Anfang der fünfziger Jahre wieder in Erscheinung traten. Nach der Niederlage Nazideutschlands befürworteten wir als gestandene Republikaner die Bundesrepublik Deutschland und bemühten uns, Verbindung mit den Klubs und Schulen aufzunehmen, die nach dem Krieg neu gegründet wurden. Ich war selber Schüler der Goethe-Schule gewesen, bis sie Ende 1933 durch den kurz vorher angekommenen Parteigenossen Freiherr von Thermann gleichgeschaltet wurde. Danach absolvierte ich in der von meinem Vater mit anderen Eltern 1934 gegründeten Pestalozzi-Schule die Volksschule, hierzulande genannt “sexto grado”, obwohl es das siebte Schuljahr ist. Ich pflegte persönlich Kontakte zu Schulen und Klubs, so dass alte politische Fehden der dreißiger Jahre sukzessive überwunden werden konnten. Mir war es später vergönnt, als argentinischer Unterhändler 1957 in Bonn dazu beizutragen, dass das falsch genannte Feindeigentum, insbesondere die Marken, weitgehend zurückerstattet wurde und die Beziehungen zwischen Argentinien und der Bundesrepublik Deutschland, die durch dieses Thema belastet waren, wieder normalisiert wurden. In den mehr als sechzig Jahren meiner Verbundenheit mit der Redaktion des “Argentinischen Tageblatts” habe ich nach mehrmaligen Berufungen in Staatsämter immer wieder zurückgefunden und mich als Redakteur mit Artikeln betätigt. Daneben habe ich sieben Jahre lang als Professor für Wirtschaftspolitik in meiner Alma Mater, der Rechtsfakultät der Universität von Buenos Aires, gewirkt, als Wirtschaftskonsulent Firmen beraten und Vorträge gehalten, bin aber meinem ursprünglichen Beruf als Redakteur bis heute stets treu geblieben. Als Redakteur einer Tageszeitung, wie wir sie von 1889 bis 1981 herausgaben, sind wir doch seither eine Wochenschrift, verrichtete ich nicht nur gelegentlich allgemeine Redaktionsarbeit oder ersetzte den Chefredakteur, sondern schrieb laufend Artikel und Randglossen, meist über argentinische Politik und Wirtschaft. Ab 1953 schrieben mein Bruder Juan Alemann und ich die Wirtschaftsübersicht sonntags auf der letzten Seite mit Kommentaren über wirtschaftliche Themen. Diese Rubrik erfreute sich über fünfeinhalb Jahrzehnte großer Beliebheit, insbesondere in den ersten Jahrzehnten, als die argentinische Presse sich kaum für Wirtschaftsfragen interessierte wie gegenwärtig. Wirtschaftsfachleute, die wie heute am Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen ausgefragt werden, gab es damals nicht. Wir analysierten die Wirtschaft, meldeten Kritik an, ebenso unterstützten wir die Politik, wenn sie sich für Währungsstabilität, sanierte Staatsfinanzen, Marktwirtschaft und die Entwicklung mit Investitionen einsetzte wie beispielsweise unter Präsident Arturo Frondizi, auch vorher gegen Ende der zweiten Regierung Peróns, als die übermäßige Staatswirtschaft abgebaut wurde und Erdölfirmen zugelassen wurden. Vielfach wurde uns empfohlen, unsere Wirtschaftsartikel in spanischer Übersetzung zu veröffentlichen, was wir stets abgelehnt haben. Deutsch ist eine Kultursprache. Wer sie nicht lesen kann, kann sie lernen. Als Redakteur muss man gelegentlich Interviews abhalten. Das habe ich auch getan. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Professor Hans Kelsen im Jahr 1949, ein in Argentinien in Fachkreisen bestens bekannter Rechtsphilosoph, der für Vorträge in Buenos Aires weilte. In Santiago, Chile, konnte ich 1958 den Präsidentschaftskandidaten Arturo Alessandri interviewen. Öfters fanden sich deutschsprachige Politiker in unserer Redaktion für Pressegespräche Roberto Alemann (3.v.r.) bei einem Redaktionsgespräch mit dem damalige EU-Kommissar ein. Wir veranstalteten in den fünfziger und und früheren deutschen Wirtschaftsminister Martin Bangemann. (3.v.l). Mit dabei: sechziger Jahren Vorträge mit geladenen Herausgeber Juan Alemann (2.v.l), der damalige Chefredakteur Peter Gorlinsky, Gästen in unserem Konferenzsaal am VerHelma Rissel (Hintergrund) und Stefan Kuhn (vorne). 9 Erinnerung an Argentinien I ch weiß nicht, ob es die Firma noch gibt. Damals lag sie gut im Geschäft. Die Bauwirtschaft florierte. Ich saß in einem Büro im zehnten Stock und blickte auf den Fluss, der die Stadt umspülte, in seiner trägen, lehmigen Flut, uferlos wie das Land, trügerisch wie der Name: „Construcciones Rio de la Plata, sociedad anónima“. Ich arbeitete in der Abteilung für Kostenvoranschläge: Reißbrett, Lineal, Baupläne, Ausschreibungen – Zahlen, Zahlen, Zahlen. Ich konnte mich nicht beklagen, ich hatte mir den Beruf selbst ausgesucht. Aber es war nicht meine Welt. Auf den Baustellen prangte das Bild des Staatschefs und seiner Frau - „PERÓN CUMPLE“ (Perón hält Wort). Ich war durch glückliche Umstände in das Land gekommen. Der Zweite Weltkrieg war gerade erst vorbei. Deutschland lag noch in Trümmern, ein Land ohne Zukunft. Auf einer Diskussionsveranstaltung begegnete ich dem Verleger Dr. Ernesto F. Alemann, der dem „Argentinischen Tageblatt“ das kämpferische Profil gab. „Haben Sie nicht Lust, etwas für uns zu schreiben?“ fragte er. Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Die Auseinandersetzungen der Zeit brannten mir auf den Nägeln. Ich beschrieb die letzten Tage des Krieges, die „Stunde Null,“ wie ich sie erlebt hatte: als 17-jähriger Kindersoldat, der den Stahlhelm in den Straßengraben warf, weil er keinen Sinn mehr in einem einzigen Toten sah. Es war mein erster Artikel, und ich freute mich über das Echo, aber ich wusste nicht, dass ich innerlich längst auf dem Wege zum Journalismus war. Während ich weiter Hochhäuser, Schulen und Vorortvillen berechnete und über Baustellen stapfte, schrieb ich über das Land, das ich hinter mir gelassen, und über das andere, das ich noch gar nicht entdeckt hatte. „Du musst dich entscheiden,“ sagte mir ein Freund, „Zeitungmachen geht nur ganz oder gar nicht.“ Dr. Theodor Brüll, leitender Redakteur des AT, bot mir eine feste Mitarbeit an. „Sie können als Korrektor einsteigen,“ sagte er. „ Wir fangen abends um sechs Uhr an und sind gegen ein Uhr fertig. Deutsch können Sie ja, alles andere findet sich.“ Er reichte mir die Hand. „Sie können gleich anfangen.“ Er schob mir Schere, Leimtopf und Papier die unerlässlichen Utensilien des Zeitungsmachers - über den Tisch und legte mir die Agenturmeldungen von UNITED PRESS und AFP daneben. „Viel Spaß,“ fügte er hinzu. Damit war meine Aufnahme in den ehrwürdigsten Berufsstand der Welt besiegelt. Die Atmosphäre der Zeitung ließ mich nicht mehr los. Sie behielt ihre Faszination bis heute. „Die Zeitung“ war die Umkehrung der Stahlbeton-Welt – hier das Berechenbare, dort das Unberechenbare. Die Zeitung erschien mir als der Spiegel des Lebens selbst – ungeordnet, improvisiert, jeden Tag neu. Die Redaktion arbeitete in einem Großraumbüro. Die Nachrichten wurden durch Boten gebracht und mussten ins Deutsche übersetzt werden, sofern sie nicht in den Papierkorb wanderten. Es gab alle Rubriken, die der Leser einer anständigen Zeitung erwarten konnte – vom Wetterbericht über die Schifffahrtsbewegungen bis zu den aktuellen Notierungen des Viehgroßhandels (auf die Dr. Brüll entschieden Wert legte). Ich sortierte das Weltgeschehen nach „Wichtig,“ „Unwichtig“ und „Überflüssig,“ wobei die Grenzwerte fließend blieben. Als jüngstes Redaktionsmitglied war ich eine Art „Mädchen für alles,“ zuständig für Vorkommnisse, die wir „noch nicht gehabt“ hatten. „Verstehen Sie was von Autorennen?“, fragte Dr. Brüll. „Nein,“ sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich auch nicht,“ sagte Dr. Brüll in seiner sanften Wiener Art. Es ging um den Großen Preis von Buenos Aires – das größte und populärste Autorennen Argentiniens, mit den „Silberpfeilen“ von Mercedes Benz und Weltmeister Juan Manuel Fangio am Steuer. Es war das größte Sportereignis seit dem Krieg und bedeutete die Rückkehr Deutschlands in die internationale Sportarena. Alle Zeitungen waren mit Sonderausgaben vor Ort – sollten wir damit konkurrieren? Das „Argentinische Tageblatt“ hatte den Faschismus von Anfang an bekämpft. Viele waren in die Emigration getrieben worden. Waren nicht auch die Rennwagen mit dem „guten Stern“ Idole der braunen Ära gewesen? Oder war nicht längst eine neue Epoche angebrochen, die neue Antworten verlangte? Konnten wir mit der Zeitung von gestern die Leser von morgen gewinnen? Als wir an diesem Abend das druckfrische Blatt in der Hand hielten, Heinrich Jaenecke wussten wir, dass wir einen Fehler gemacht hatten. Wir waren vor unserer eigenen Courage davongelaufen. Argentinien hatte seine besten Zeiten hinter sich. Aus dem Land, wo einst Milch und Honig flossen, war ein Land der Drangsalierungen und der Unterdrückung geworden. Jenes Argentinien, das der spanische Philosoph Ortega y Gasset einmal ein „Land der Verheißung“ genannt hatte, geriet in den wurde 1928 in Berlin geboren. Teufelskreis der Gewalt, in den es Seine Mutter Amalie Ebert war immer tiefer versank. Perón machdie Tochter des ersten Reichste aus seiner „Bewegung“ eine präsidenten Friedrich Ebert Ein-Mann-Diktatur, die „Evita“ zu (SPD). 1944 nahm er als Flakeiner Ikone stilisierte, die nichts helfer in Stettin am 2. Weltkrieg anderes war als sein gefügiges teil. 1947 wanderte Jaenecke Werkzeug. nach Argentinien aus. Dort stuDie Repressionen, denen die dierte er Architektur und hatte erfremdsprachigen Blätter ausgeste Veröffentlichungen im Argensetzt waren, die zu den traditionstinischen Tageblatt. 1954 kehrte reichsten des Landes zählten, naher nach Deutschland zurück, men existenzbedrohende Formen wurde Mitarbeiter der Süddeutan. Überfälle auf oppositionelle sche Zeitung, später Redakteur Blätter und Intellektuelle waren an der Passauer Neuen Presse. der Tagesordnung. Der Tod Evitas Über den Weserkurier (Bremen), wurde zu einer makabren Schau Revue (München) und die Illufunktioniert, die alles in den Schatstrierte Quick (München) kam er ten stellte, was das Land erlebt 1966 als Reporter zum Stern. hatte. Ich stand vor der Frage, meiSeit 1995 arbeitet er als freier ne Doppelexistenz aufzugeben und Autor. endlich den Beruf anzunehmen, für den ich mich innerlich entschieden hatte. Ich entschloss mich, meinen Lebenskompass ein zweites Mal den Realitäten anzupassen. Im Februar 1954 ging ich an Bord der „Bretagne“, eines der letzten und schönsten Transatlantikliner der zu Ende gehenden Linienschifffahrt. Ich genoß die Überfahrt als ein letztes Abenteuer. Noch immer war die See der Ort, wo sich die Lebenslinien kreuzten. Unterwegs nahmen wir ein Bataillon schwarzer Soldaten auf, die auf dem Weg nach Indochina Verstärkung aus der Fremdenlegion erwarteten. Ein paar Wochen später war keiner von ihnen mehr am Leben oder gefangen. Die Welt war nicht friedlicher geworden. Sieben Jahre nachdem ich Europa den Rücken gekehrt hatte - wie ich meinte, für immer - stand ich wieder dort, wo ich hergekommen war: um einige Illusionen ärmer und einige Erfahrungen reicher. Ich brachte nicht viel mehr mit als einen alten Kabinenkoffer, einen überflüssigen Tropenanzug, eine Landkarte der Republik Argentinien, die in ausgerolltem Zustand 2,85 Meter maß, einen schmalen Gedichtband von Jorge Luis Borges und ein Empfehlungsschreiben der Süddeutschen Zeitung. Letzteres öffnete mir zwar nicht die geheiligten Tore der Sendlinger Straße, aber immerhin einen mit 368,20 DM dotierten Anstellungsvertrag der „Passauer Neuen Presse,“ die sich von meiner Mitarbeit eine allgemeine Belebung der Lokalredaktion versprach. Das Vorstellungsgespräch fand hinter einem Sandsackwall des Bundesgrenzschutzes statt, denn in Passau herrschte Hochwasser, und zwar das schlimmste seit Menschengedenken. Auf einer vom Wasser umspülten Insel von Büromöbeln stand der Verleger und diktierte einen Leitartikel. „Wer sind Sie?“ fragte der Verleger, der gleichzeitig der Chefredakteur war. „Ich soll hier arbeiten,“ sagte ich. „Aha,“ sagte der Verleger, „dann schreiben Sie das bitte zu Ende.“ Nach diesem Intermezzo fand ich die publizistische Heimat, der ich bis heute treu blieb. Sie war mit dem Namen Henri Nannen verknüpft, der mit dem stern über Jahrzehnte hinweg die prägende Figur für eine Ära wurde. Der Beruf führte mich um die Welt, mit ihren Höhenflügen und Abstürzen, aber immer wieder zog es mich in das „Land der Verhei- 10 ßung,“ das so weit, so groß und so reich war. Doch das große, reiche Land fand keinen Frieden, sondern zerrieb sich in mörderischen Kämpfen. Es war für die Freunde schmerzlich zu sehen, wie der Hass - auf der einen wie der anderen Seite - die Vernunft überwältigte. Mitten im Falkland(Malwinen)-Krieg blickte ich vom obersten Stockwerk eines Luxushotels hinunter auf das Deck eines Truppentransporters und sah zu, wie das Schiff mit dem Kennzeichen des Roten Kreuzes übermalt wurde. 35 Jahre zuvor hatte ich meinen ersten Artikel im „Argentinischen Tageblatt“ geschrieben. Er handelte vom Krieg. Damals dachte ich, das ist vorbei, das haben wir hinter uns. Aber die alten Geschichten haben ein zähes Leben, in Europa wie auf der anderen Seite des Planeten. Die alten Mythen sind verblasst, neue Träume aufgeblüht. Geblieben sind die Erinnerungen – Erinnerungen an einen eingetrockneten Leimtopf, eine Rolle mit vergilbten Bauzeichnungen, eine argentinische Fahne, die der „Gringo“ am Nationalfeiertag auf dem Baugerüst hissen sollte (und es auch schaffte). Geblieben sind schließlich, sorgsam verwahrt, die gebundenen Bände von über hundert Jahrgängen des „Argentinischen Tageblatts“, das alle vorhergesagten Untergänge überstanden hat. Geblieben ist eine Zeitung – das flüchtigste Produkt der Zivilisation – ein Sieg über die Vergänglichkeit der Zeit. Lehrjahre beim „Argentinischen Tageblatt“ M eine Erlebnisse und Erfahrungen als junger Redakteur beim „Argentinischen Tageblatt“ liegen schon gut 35 Jahre zurück – doch sie sind mir stets in lebendiger und angenehmer Erinnerung geblieben. Es war im Januar 1972 als meine damalige Freundin Kathrin Rust und ich – wir haben im folgenden Jahr darauf auf einem argentinischen Standesamt geheiratet – per Frachtschiff aus dem winterlichen Europa im hochsommerlichen Buenos Aires eintrafen. Wir bezogen eine kleine Wohnung an der Tucumán 313. Im gleichen Gebäude befand sich praktischerweise auch der Redaktionsraum des „Argentinischen Tageblattes“ und tiefer unten im Keller die dazugehörige Druckerei (in der damals auch die AmerikaAusgabe der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ gedruckt wurde). Der Redaktionsraum, in der täglich das „Argentinische Tageblatt“ geschrieben, produziert, redigiert und konzipiert wurde, machte äußerlich einen etwas angejahrten Eindruck – er erinnerte an Presse-Szenen aus älteren SchwarzWeiß-Filmen oder an Reporter-Geschichten von Egon Erwin Kisch, in denen von „Redaktionsstuben“ die Rede war. Auf manchen Tischen stapelten sich hohe Papierberge. Herr Schröder, der Chef des Bildarchivs, war nur zu entdecken, wenn er seinen Kopf gelegentlich über die unzähligen mächtigen Pappschachteln emporreckte, in denen er meist tief gebeugten Hauptes nach geeignetem Bildmaterial fahndete. Von Computern und andern elektronischen Ausrüstungen, die heute zum StandardInventar einer Zeitungsredaktion gehören, hatte damals beim „Argentinischen Tageblatt“ noch niemand geträumt. Herr Gorlinksy war der Redaktionsleiter und die Seele im täglichen Redaktionsbetrieb. Er dirigierte und inspirierte uns bei der Auswahl und Zusammenfassung der aktuellen Themen mit väterlicher Autorität. Fast immer mit der Pfeife im Mund, schrieb er – zusammen mit dem Firmenpatriarchen Tito Alemann und seinen Söhnen Roberto und Juan – auch die meisten der täglichen Randglossen, einem Markenzeichen des „Argentinischen Tageblattes“. Neben Herr Gorlinsky gab es noch eine Reihe weiterer Kollegen in der Redaktion, an die ich mich lebhaft erinnere – ich denke an Werner Finkelstein, der nie um einen trockenen Scherz verlegen war und nach der deutschen Wiedervereinigung, viele Jahrzehnte nach seiner Flucht aus Hitler-Deutschland, wieder nach Berlin zurückgekehrt ist. Oder an Günter Ba- ding, den ich einige Jahre nach den Lehrjahren beim „Tageblatt“ unvermutet in Bonn als Kollegen getroffen habe. Auch der Chef-Metteur Jorge Müller (Günter Bading nannte ihn „El Gordo“), mit dessen tatkräftiger Hilfe spät in der Nacht jeweils der Seiten-Umbruch mit dem Bleisatz bewerkstelligt wurde, war eine einprägsame Figur. In den Jahren 1972 und 1973, in denen ich als junger Journalist beim „Argentinischen Tageblatt“ gearbeitet habe, ging es selbst für argentinische Verhältnisse politisch besonders turbulent zu. Der frühere Präsident und Diktator Juan Domingo Perón, der 1955 gestürzt worden war, kehrte im Herbst 1972 aus seinem Exil in Madrid nach Buenos Aires zurück – eine Entwicklung, mit der viele Beobachter und Auguren nie und nimmer gerechnet hatten. Der damalige Firmenpatriarch Tito Alemann bekannte in einer humorvollen Randglosse, dass er wegen der Rückkehr Peróns tatsächlich einen alten Filzhut verspeist habe, weil er eine entsprechende Wette verloren hatte. Auch im benachbarten Chile spitzte sich im 1973 die innenpolitische Polarisierung dramatisch zu. Der umstrittene sozialistische Präsident Allende wurde von einer Militärjunta in einem blutigen Putsch entmachtet und kam unter nie restlos geklärten Umständen im Präsidentenpalast ums Leben. Noch als „Tageblatt“-Redaktor begann ich, als Stellvertreter des damaligen Korrespondenten Dieter Kroner, nebenher gelegentliche Berichte für die „Neue Zürcher Zeitung“ zu schreiben. Nach einiger Zeit machte mir die NZZ das Angebot, ihrem Korrespondentenstab beizutreten. So kam es, dass ich nach zwei spannenden Jahren in Buenos Aires und einem kürzeren Zwischenhalt in Zürich in eine ganz andere Weltgegend, nämlich nach Moskau, wechselte, wo damals noch das Sowjetregime scheinbar unerschütterlich an der Macht war. Einige Jahre später ließ ich mich, ebenfalls für die NZZ, mit meiner Familie in Bonn nieder – damals nicht ahnend, dass die offiziell als „provisorisch“ deklarierte Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland noch zu unseren Lebzeiten wieder von Berlin abgelöst würde. Die nächste Station meines Korrespondentenlebens war Washington. Der NZZ bin ich als Journalist treu geblieben, seit bald anderthalb Jahrzehnten bin ich als Redakteur und Kommentator für internationale Politik in der Zürcher Zentrale tätig. Wer weiß - ohne die instruktiven Lehrjahre Reinhard Meier wurde 1945 in Uetikon am Zürichsee geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Zürich. 1972 fing er als Redakteur beim Argentinischen Tageblatt an, schrieb nebenher schon für die Neue Zürcher Zeitung, für die er 1974 als Korrespondent nach Moskau ging. Von 1979 bis 1988 war er politischer Korrespondent für die NZZ in Bonn. Anschließend für sieben Jahre in der gleichen Funktion in Washington. Seit 1995 ist er Redakteur und stellvertretender Ressortleiter Ausland in Zürich, zuständig unter anderem für Russland und ehemalige Sowjetrepubliken, Israel und den Nahostkonflikt, seit 2002 auch für Großbritannien. in Argentinien hätte meine berufliche Karriere vielleicht einen andern Verlauf genommen. 11 Menem lo hizo C arlos Menem war gerade wiedergewählt worden. Das Land war im Aufbruch. Und ich brach auf, an die Juncal 831, um meine Stelle beim Argentinischen Tageblatt anzutreten. „Ach ja, noch etwas“, raunte mit der deutsche Redaktionsleiter zu, nachdem wir durch die Büros gegangen waren: „Das Tageblatt ist Boca!“ Es war die Zeit, als sich Maradona und Caniggia auf den Mund küssten, wenn sie ein Tor geschossen hatten, und die Bombonera mehr Zirkus als Fußballstadion war. Ein paar Wochen lang behauptete ich also Boca-Fan zu sein, wenn ich danach gefragt wurde, was eigentlich bei jedem Tischgespräch passierte. Bis zu diesem Sonntag im Mai: La Boca, 15 Uhr, ein strahlender Herbstnachmittag. In einer Stunde ist Anpfiff. Ich schieße Fotos von den bunten Fassaden, den farbigen Fußballfans. Keine Ahnung, ob der Kerl, der auf einmal neben mir steht und einen Boca-Schal vor dem Gesicht trägt, tatsächlich eine Pistole unter seiner Jacke hält. Die „Minolta“ war weg, der Schrecken groß. Und ich tat, was jeder Mensch in so einer Situation tun würde: Ich wurde River-Fan. „Unmöglich“, sagten meine Freunde: „Du kannst deine Frau aber niemals deinen Verein wechseln.“ „River sind Millionäre, sind Hühner“, höhnten sie. „Menem ist von River!“ Ich bereute meinen Vereinswechsel vorerst nicht: River holte drei Meisterschaften in Serie. Zum Schluss noch die kontinentale Meisterschaft. „River supercopa”, titelten die Zeitungen. Die Millionäre gaben den Ton an. Auch Menem war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er trug Lacoste-Shirts beim Golfspielen, aß Pizza zum Champagner, baute Autobahnen, Brücken, Kraftwerke, Spitäler und in Recoleta kostete der ¾-Liter Quilmes fünf Dollar fünfzig. Es war eine absurde Vorstellung, aber man traute dem Mann mit dem lächerlichen Backen-Bart tatsächlich Wunder zu. Dann kamen die Skandale, die Korruptionsvorwürfe, die Schweizer Bankkonten. Menem übergab im Dezember 1999 auf dem Tiefpunkt seiner Popularität an De la Rúa. Niemals zuvor hatte ich einen Zusammenhang zwischen einer Fußballmeisterschaft und der aktuellen Regierung hergestellt. Bis am letzten Spieltag des Apertura 1999, eine Woche nach Memems Abschied. River holte auf merkwürdige Art und Weise ein 2:2Unentschieden bei San Lorenzo und gewann den Titel: „Menem lo hizo“, spottete ein Fernsehkommentator. Auf einmal fragte ich mich, ob ich nicht doch lieber Fan von Boca geblieben wäre: Wenigstens wird man dort von Angesicht zu Angesicht bestohlen. geboren 1968 im schweizerischen Biel, kam nach einer Lehrerausbildung zum Journalismus. Nach einem Volontariat und anschließender Redakteurstelle beim Bieler Tagblatt verschlug es ihn nach Argentinien. Von 1996 bis 2000 war er Redakteur beim Argentinischen Tageblatt. Zurück in der Schweiz fand er nach einem kurzen Intermezzo bei der Fifa wieder zu seiner Heimatzeitung, für die er 2003 mit einer Reportage den Schweizer BZPreis für Lokaljournalismus gewann. Heute arbeitet er bei der Berner Zeitung. Am Ball bleiben! Armin Lehmann D geboren 1969 in Berlin, war von April bis Juli 1997 Redaktionspraktikant beim Argentinischen Tageblatt. Damals hatte der studierte Historiker und Politikwissenschaftler (FU Berlin) schon ein Volontariat beim “Berliner Volksblatt” hinter sich. Seit 1993 ist er beim Berliner “Tagesspiegel”, zunächst als Pauschalist, ab 1998 Politikredakteur, dann verantwortlicher Redakteur Thema des Tages, Ressortleiter Sport, Politischer Reporter. Seit April 2007 ist er Ressortleiter Politik der Hauptstadtzeitung. Martin Arn er Kapitän steht und schnauft. Dann kommt der Ball, er, nicht sehr groß, nicht gerade schlank, dreht sich wie einst Gerd Müller, die Kugel weicht nicht von seinem Fuß. Es muss ein Tor werden, es wäre der Sieg. Spät ist es geworden, die Lichter der großen Stadt schenken Buenos Aires an diesem Abend im Winter 1997 ein wenig Romantik. Stefan Kuhn aber, Steff, hat jetzt keinen Blick für die schönen Seiten seiner Heimat. Er will schießen, „futbol cinco“ ist schließlich eine ernsthafte Angelegenheit, Fußball ist wahres Leben, ist Argentinien. Der Fuß schnellt nach vorn, aber einer der Gegenspieler des Teams, das gegen unser Argentinisches Tageblatt antritt, grätscht dazwischen. Kuhn stürzt und fällt unglücklich auf den Arm. Er zuckt, es schmerzt – er spielt weiter. Das ist seine Einstellung, ein bisschen wie bei Torwart-Titan Oliver Kahn: „Immer weiter, weiter muss es gehen.“ Stefan Kuhn wird diese Zeilen nicht gerne lesen, ja vermutlich wird er alles dran setzen, dass sie niemals veröffentlicht werden. Er wird fluchen, weil es um ihn geht und nicht allein um das Tageblatt. Er hasst das, er steht lieber im Hintergrund, er macht lieber. Aber es hat ja keinen Sinn es zu verschweigen, schließlich ist es die Wahrheit. Stefan Kuhn ist nicht der unwichtigste Teil dieser Zeitung, denn er liebt sie. Und er führt sein Team, wie er Fußball spielt. Bescheiden, leidenschaftlich, technisch gut ausgebildet. Der Arm, auf den Kuhn damals fiel, wenige Tage vor einem längeren Heimaturlaub in Deutschland, war gebrochen. Und das war ärgerlich, auch wegen des nun für Kuhn erschwerten Zigarettendrehns. Es war ein kleines Unglück, vielleicht nicht der Rede wert, aber es zeigt doch, wie der Leitende Redak- teur dieser Zeitung mit solcherlei Zwischenfällen umzugehen pflegt. Und ist es nicht so, dass auch das Argentinische Tageblatt zahlreiche dieser Unglücke und Zwischenfälle zu überstehen hatte unter seiner Führung. Es waren oft existenzielle Momente, die dieses Team in unterschiedlicher Besetzung und durch viele Jahre hindurch überstanden hat. Und so hat das Tageblatt im wahrsten Sinne des Wortes Zeitungs-, ja Kulturgeschichte geschrieben. Ein Kapitän weiß um die Situation seiner Mannschaft, er kennt das Umfeld, die Rahmenbedingungen, und er wird darauf achten, trotzdem im richtigen Moment den Kopf frei zu haben, um einen guten Job zu machen. Das ist nicht einfach. Der Kapitän darf nicht verzagen, wenn man in Rückstand gerät, denn er weiß, es wird immer möglich sein, ein Tor zu schießen. Den Zug zum Tor muss man haben. Was kann das im übertragenen Sinne bedeuten für eine Zeitung, die wie kaum eine andere dem Wandel des Lebens so sehr ausgesetzt ist wie das Tageblatt? Umfeld, Rahmenbedingungen - nicht immer optimal. Die Leser, sie werden nicht jünger. Das Geld, es ist knapp. Aber die journalistische Kompetenz, die gibt es noch. Dafür sorgt schon der capitano. Vom fernen Europa, aus Berlin, wünscht man sich deshalb, dass das Teamspiel im Tageblatt weiter funktioniert. Dass die Besitzer des „Klubs“, die Geldgeber und Verantwortlichen im Gespräch bleiben miteinander, dass sie ihrem Kapitän vertrauen und ihn unterstützen, damit die Geschichte weitergehen kann, die Geschichte einer, gemessen an den Bedingungen, journalistischen Sensation. Herzlichen Glückwunsch Que les vaya bien! 12 D Prägende Zufälle as Leben besteht aus Zufällen. Es war ein argentinischer Freund aus meiner Studienzeit in Madrid, der mich Anfang 2003 zu seiner Hochzeit nach Buenos Aires einlud. Als ich dort am Kiosk das Argentinische Tageblatt das erste Mal sah, ging ich zur Redaktion und stellte mich dem Herausgeber Roberto T. Alemann vor. Einmal hineinschnuppern? Ich könnte sofort beginnen. Dabei hatte ich eigentlich ein Praktikum in Kopenhagen angepeilt, das mir der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag, bei dem ich damals volontierte, dort in einer Außenstelle hätte leicht vermitteln können. Doch statt Wikinger wurden es nun die Gauchos. Guido Westerwelle und ein Seminar über Ländermarketing sind mir am stärksten in Erinnerung geblieben. Zum einen, weil ich in der norddeutschen Provinz wahrscheinlich niemals die Gelegenheit gehabt hätte, den FDP-Chef zu interviewen. Zum anderen, weil es reizvoll war, einmal losgelöst von der deutschen Umgebung und der Europa-Zentriertheit zu erfahren, wie andere, lateinamerikanische Staaten glauben, sich vermarkten und anpreisen zu können. Diego Maradona und argentinisches Hüftsteak – zieht das noch in Deutschland? Deshalb glaube ich auch, dass das Argentini- sche Tageblatt viel mehr ist als ein Unterhaltungsmedium für Deutschsprachige im Ausland oder ein beliebter Bezugspunkt für die Nachkommen der Auswanderer. Denn wer auf Deutsch in Argentinien publiziert und die Politik von Cristina Fernández de Kirchner kritisiert, der stützt sich bei seiner Beobachtung auf zwei Kulturbereiche, hat auch aufgrund seiner langen Geschichte einen weiten Erfahrungshintergrund, kann objektiver analysieren und vergleichen. Das macht diesen Journalismus spannend und die Lektüre des Argentinischen Tageblatts wiederum anspruchsvoll und interessant für den Leser. Zu diesen gehöre ich noch immer. Das Argentinische Tageblatt kommt alle zwei, drei Wochen über die Anden zu uns herüber in die Redaktion vom Cóndor, der deutsch-chilenischen Wochenzeitung, wo ich seit vier Jahren arbeite. Ein Cóndor-Exemplar lag übrigens damals in Buenos Aires auf dem Redaktionstisch – wie schon gesagt, das Leben besteht aus Zufällen. Den Kollegen, Mitarbeitern und Roberto Alemann beglückwünschen wir vom Cóndor zu dieser gelungenen Zeitung und deren 120. Jubiläum. Möge das Argentinische Tageblatt weiterhin mit spitzer Feder schreiben und die Leser sowie Anzeigenkunden dem Blatt so treu sein wie wir auch. Roman Herzog und Shakira T iqui taqui - was könnte es Schöneres geben, als darüber zu berichten, heutzutage in Sachen Fußball. Tiqui taqui, das so genannte Kurzpassspiel, mit dem die Spanier 2008 bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz den Titel herbeizauberten. Und den der FC Barcelona dieser Tage so wunderbar beherrscht wie keine andere Mannschaft auf der Welt, mit dem Argentinier Leo Messi vorneweg. Ich darf das sagen, denn ich war vergangenes Jahr einen ganzen Monat in Österreich dabei und unlängst gegen Bayern München auch. Als Reporter für meinen Arbeitgeber kicker, ein traditionelles Fußball-Magazin in Deutschland, mit seinen 89 Jahren im Vergleich zum ehrenwerten „Don Tageblatt“ aber wohl nicht mehr als ein „pendejo“. Man kennt den kikker auch in argentinischen Fußball-Kreisen, fragen Sie einen Cesar Luis Menotti oder Carlos Bianchi. Ich durfte sie interviewen, noch während meiner Argentinien-Zeit. Das waren interessante Gespräche damals für den jungen Freien Journalisten. Doch die herausragenden journalistischen Erlebnisse, beeindruckende, aufrüttelnde, zu Herzen gehende, freudig oder auch traurig stimmende, die gab es parallel dazu zwischen 1998 und 2004 fast häufiger als Redakteur und Reporter beim Argentinischen Tageblatt. Das soll kein aufgesetztes Lob zum 120. sein, dazu ist mein Respekt vor dem Jubilar viel zu groß. Es war schon wirklich so. Ob der damalige Bundespräsident Roman Herzog, ob Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, ein Gespräch mit der gerade ein rauschhaftes Comeback feiernden Mercedes Sosa, ein Treffen mit der elfenhaften Lennon-Witwe Yoko Ono oder der zauberhaften Schauspielerin Malena Solda – als Vertreter des „AT“ hatte man sie irgendwann alle vor Block und Mikrofon. Wo sonst, bitteschön, ist so etwas möglich? Es war wie auf einer großen journalistischen Spielwiese. Wer war da nicht alles darunter! Von hochrangigen Politikern wie dem heutigen Bundespräsidenten Horst Köhler, damals IWF-Chef, oder einem gewissen Carlos Menem bis hin zu Filmstars wie Ricardo Darin. Von der Tennisspielerin Gabriela Sabatini, dem Polo-Ass Adolfo Cambiasso oder der Borges-Witwe Maria Kodama hin zu den „kleinen Leuten“. Dann, wenn es etwa um deutsche Siedler in Charata ging oder das große ehrenamtliche Engagement all derer, die die deutschsprachigen Gemein- Arne Dettmann geboren 1975 in Hamburg. Nach dem Wehrdienst als Sanitäter in Hamburg. Von 1996 bis 2000 Studium der Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Journalistik und Spanisch an der Universität Hamburg. Daneben Praktika bei Tageszeitungen wie Hamburger Abendblatt, Hamburger Morgenpost, Bild-Zeitung, Die Welt sowie Pressestellen namhafter Unternehmen. Volontariat in einer Hamburger PR-Agentur. 2002 bis 2003 Volontariat beim SchleswigHolsteinischen Zeitungsverlag in Flensburg und Itzehoe. 2003 Praktikum beim Argentinischen Tageblatt. Anschließend Redakteur und Freier Journalist in Schleswig Holstein. Seit Mai 2005 Redakteur bei der deutschsprachigen Wochenzeitung Cóndor in Chile. Jörg Wolfrum schaften wo auch immer in Argentinien in verschiedenster Form am Leben halten. Bewegend waren die Begegnungen mit der durch Diktaturen, größtes menschliches Leid und den Verlust nächster Familienmitglieder nur noch gerechter gewordenen Ellen Marx, mittlerweile leider eben so verstorben wie die geboren 1968 im oberfränkigroße Emilie Schindler, so zart schen Münchberg kam 1998, und heldenhaft zugleich, auch nach seinem Studium der Benoch im hohen Alter. Mit Worten triebswirtschaft, als Volontär zum kann man ihrer Lebensleistung Argentinischen Tageblatt. Nach nicht gerecht werden. Der Dalai dem Volontariat blieb er als ReLama war dabei und auch die Ködakteur für Politik und Sport bei nigin des Karnevals von Gualeder Zeitung bis ihn die Fußballguaychú - und das Ganze war nicht weltmeisterschaft zurück nach nur ein Fest für die Sinne, weil opDeutschland rief. Das deutsche tisch ein Traum, sondern vor alFachmagazin kicker erweiterte lem eben auch, weil man beim Ta2004 seine Redaktion für Ausgeblatt nie nur auf einen Bereich landsfußball. Dort arbeitet er festgelegt war. nach einem kurzem Intermezzo Die Grenzen zwischen den Rebei den Wolfburger Nachrichten daktionen waren im positiven Sinheute wieder und verfolgt die arne fließend, die Aufgabenstellungentinische Nationalmannschaft gen auch. Rezension, Reportage quer durch Europa. oder Nachricht. Sport, Politik, Kultur. “Cazerolazo”, Shakira, Finanzkrise, 100 Jahre River, LAPA-Unglück. Das war fordernd, weil es schnelles Umschalten und Einarbeiten verlangte, das spornte aber auch an, weil es permanent Neues in oft völlig unterschiedlichen Welten zu entdecken gab, und das war lehrreich, weil es den Horizont erweiterte. Und, trotz aller räumlichen Distanz, war man mitunter am Ende einer Woche über das, sagen wir, politische Geschehen in Deutschland punkt- 13 genauer informiert als heutzutage vor Ort - weil das Tageblatt nunmal eine hervorragende Wochenschau bietet, die man angesichts des Agenturmaterials im besten Fall sogar noch selbst erstellen konnte. Nur auf die Zeilenlänge musste man angesichts eines begrenzten Platzes manchmal achten. Aber so lernt man, sich auf das Wesentliche zu beschränken – und die Zeilen holten wir uns dann ohnehin bei „HüDrü“ zurück, dieser wunderbaren Seite für das Hintergründige. „Hüben und Drüben“ oder vielmehr hüben oder drüben. Wo bin ich denn nun, da ich diese Zeilen, in Nürnberg sitzend, schreibe? Es kommt ja immer auch auf den Blickwinkel an, ich habe einen DNI und bin der Zeitung auch nach meiner Übersiedlung 2004 verbunden geblieben. Neulich erst konnte ich den Herausgebern Roberto T. Alemann und Juan Alemann sowie der Redaktion rund um Leiter Stefan Kuhn und Susanne Franz einen Besuch abstatten. Es war wie Heimkommen. Der Zauber des AT wirkt noch immer, die Lektüre bereichert wie einst Menschen in Buenos Aires, Argentinien, in aller Welt. Dank kaum vorstellbarem Einsatz der Genannten und vieler mehr. Sie wirken alle weiter. Es geht weiter. So soll es sein, immerfort. Erste Schritte im Journalismus E s ist nie einfach zu wissen, was man als Erwachsener sein möchte, wenn man 18 ist. Nach mehreren Jahren Nachdenkens, habe ich mich entschlossen, Journalistin werden. Ich fand, es ist eine Arbeit, die immer Neues bringt, und weil ich schon seit meiner Kindheit gerne schreibe, dachte ich, dass es etwas für mich wäre. Ich wusste nicht wie, aber ich war mir sicher, dass ich sofort damit anfangen wollte. Mein ehemaliger Lehrer aus der Pestalozzi Schule sagte, ich solle eine E-Mail an das Argentinische Tageblatt schicken. Und ich tat es. Einige Tage später kam eine Antwort, in der ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde. Plötzlich saß ich vor dem Herausgeber Dr. Roberto Alemann in dessen Büro. “Journalismus ist eine genaue Mischung aus Intelligenz, Kreativität, Adrenalin und der richtigeboren 1984 in Buenos Aires, gen Verwendung der Sprache war nach ihrem Schulabschluss beim Schreiben”, sagte ich, als er an der Pestalozzi Schule von mich fragte, warum ich Journali2002 bis 2003 Praktikantin beim stin werden wolle. Dr. Roberto Argentinischen Tageblatt. JourAlemann lachte und sagte: “Herznalistische Meriten hatte sie sich lich Willkommen.” bereits zuvor erworben: mit eiAm nächsten Montag fing ich nem Reportagepreis im Schülerals Praktikantin an. Susanne und zeitungswettberwerb des deutStefan zeigten mir, wie meine schen Nachrichtenmagazins Der Arbeit laufen würde: Texte bearSpiegel. Nach ihrem Praktikum beiten und Titel machen. Nicht beim Tageblatt, dem sie als freie Autorin treu blieb, arbeitete sie für schwer, höchstens wegen der spanischsprachige InternetseiSprache. In einer anderen Spraten. Lucia Alfonso hat an der UBA che zu denken und zu schreiben, Kommunikationswissenschaften ist gar nicht so einfach. Ich war studiert. Derzeit lebt sie in die einzige Argentinierin in einer Deutschland und verfolgt ihren Redaktion aus deutschen JournaTraum, als bilinguale Journalistin listen und Praktikanten. Ich hatzu arbeiten, weiter. te zwölf Jahre lang Deutsch gelernt und beherrschte die Sprache ziemlich gut, aber jetzt war ich keine Schülerin mehr und professionell zu schreiben, ist in jeder Sprache schwer. Man kann nicht Spanisch denken und Deutsch schreiben: jede Sprache ist einzartig. Wenn man etwas auf Deutsch sagen möchte, muss man es auf Deutsch denken. Beim Tageblatt habe ich gelernt, die deutsche Sprache richtig zu lieben. Stefan und Susanne waren sehr geduldig. Wir saßen lange und meine Text wurden korrigiert. So Lucia Alfonso viel über Schreiben habe ich noch nie gelernt. Deswegen war die Zeit beim Tageblatt eine richtige Ausbildung. Die journalistischen Profis haben mir alles über die Arbeit gezeigt und auch als neue Kollegin angeredet, obwohl ich nur Anfängerin war. Und so, mit viel Spaß und ausgezeichneten Tutoren, bin ich ein Jahr als Praktikantin geblieben. Man sagt immer, Objektivität existiert in den Medien nicht. Das hat sich mir nach sieben Jahren Studium auch bestätigt. Medien können nie objektiv sein, wie auch die Menschen nicht: Eine Person steht immer zu einer Meinung. Wichtig ist, das diese Person frei ist. Ich wurde von meinen Eltern und der Pestalozzi Schule erzogen, immer frei zu denken und frei zu entscheiden. Beim Tageblatt hatte ich die Chance, zu schreiben, was ich wollte. Meine Ideen wurden immer respektiert, so wie mein Blick auf die Themen. Man hat mir immer vertraut. Nach wenigen Wochen schrieb ich schon Kinokritiken und eigene Artikel, später auch Reportagen. Ich wünsche dem Argentinischen Tageblatt und den Menschen, die dort arbeiten, alles Gute zum Geburtstag. Ich sage in diesem Fall nicht “Profis” sondern “Menschen”, denn solche Menschen findet man nicht überall. Menschen, die mir die Möglichkeit gegeben haben, meine ersten Schritte als Journalistin zu machen. Das werde ich nie vergessen. Ich bin stolz darauf, ein Teil der Redaktion zu sein, wie meine Kollegen beim Tageblatt immer noch sagen. Leser-Blatt-Bindung W ie bitte? Was höre ich da? Enrique Heymann schreibt das „Argentinische Tageblatt“ noch immer mit seinen amüsantherzlichen Leserbriefen voll? Der Mann ist 102. Also wirklich. Nein, nein, jetzt im Ernst: Enrique, herzliche Glückwünsche nachträglich, zu deinem 101. und 102. Geburtstag. Nun ja, eigentlich könntest du ein Sohn des Tageblatts sein. Bei deiner Geburt war die Zeitung 18, also im besten Alter für die Familienplanung. Und ein bisschen kamt ihr mir auch verwandt vor, als ich im Oktober 2006 eine Geschichte für die Sonderausgabe des Tageblatts zur Deutschen Einheit über dich geschrieben habe. Die Zeitung und du, ihr ähnelt euch: Beide seid ihr liebenswürdig – und so vielschichtig, dass man euch nicht am ersten Tag versteht. Vielen Dank für die schöne Zeit! Und alles Gute zum Geburtstag! Ingo Schmidt-Tychsen geboren 1984 in Berlin, war von August bis Dezember 2006 freier Mitarbeiter beim Argentinischen Tageblatt. Derzeit studiert er Politikwissenschaft in Berlin und schreibt als freier Mitarbeiter für die Sportredaktion des Tagesspiegel. 14 Standortvorteile E lf gute Gründe, warum es das Argentinische Tageblatt auch noch 120 weitere Jahre geben sollte: 1. Das Argentinische Tageblatt wendet schon lange ein progressives Wirtschaftsmodell an: Der Trend zur kleinen Redaktion mit vielen Praktikanten ist für die Zeitung nicht neu. 2. Beim AT sind nicht nur die Praktikanten nett und kompetent, sondern auch die Redaktion. 3. Stichwort Kurzarbeit: Als Praktikant hat man alle Freiheiten der eigenen Themenwahl und eine Kernarbeitszeit von täglich drei Stunden. Wer die überschreitet, wird nicht selten nach Feierabend vom Redaktionsleiter auf ein Bier eingeladen. 4. Mit seiner Auflage hat das Tageblatt auch mit deutschen Hochglanzmagazinen wie Park Avenue locker mithalten können. Park Avenue wurde eingestellt, das AT lebt – auch von seiner langen Tradition. 5. Die Zeitung wurde mehrmals verboten, überstand als Sprachrohr der antinationalsozialistischen Opposition mehrere Prozesse, dazu Bombenattentate, Druckereischließungen und eine Hyperinflation. Alle anderen deutschsprachigen Blätter im Land blieben auf der Strekke, nicht das AT. 6. Neben den fundierten Kommentaren ist der faktenreiche Wirtschaftsteil des AT Pflicht- lektüre für alle, die sich dafür interessieren – oder sich interessieren müssen, weil sie vor 2001 argentinische Staatsanleihen gekauft haben. 7. Es gibt wohl kein deutschsprachiges Medium, das auf so charmante Art schwizerdütsch und hochdeutsch vereint. 8. Der Standort: Das AT hat zwar schon einige Redaktionsumzüge hinter sich, aber nie den Fehler gemacht, die Hauptstadt zu verlassen. Ich muss keinem Leser des Argentinischen Tageblatts erzählen, wie großartig und besonders Buenos Aires und die Porteños sind. 9. Der Standort für Praktikanten: Mit einem zwar unterdurchschnittlichen aber dafür Euroeinkommen ist der Mietspiegel in Buenos Aires ausgesprochen angenehm. Nie mehr werde ich für 200 Euro monatlich in einem Apartment im 18. Stock mit zwei Balkonen und Blick bis nach Uruguay wohnen. 10. Deutscher Fußball. Wenn das Tageblatt aus sportjournalistischer Sicht wegen der Herkunft der zuständigen Redakteure eigentlich einige süddeutsche Bundesliga-Vereine bevorzugt behandeln müsste, gelingt es Woche für Woche, auch über Werder Bremen halbwegs objektiv zu berichten. 11. Argentinischer Fußball. Bei Boca Juniors hört jede Objektivität auf. Dachte ich bislang immer, kein Stadion wackelt tatsächlich, wenn ein Tor fällt, wurde ich bei einem Re- geboren 1978 in Bremen, arbeitet als freiberuflicher Journalist in Hamburg, weil er immer noch auf ein Jobangebot vom Argentinischen Tageblatt wartet. Dort hat er sein erstes Praktikum gemacht und mehr über Lokaljournalismus gelernt, als ihm lieb war. Nach Henri-Nannen-Schule und einer schnelllebigen Mitarbeit für die Nachrichtenagentur Reuters, schreibt er zur Zeit hauptsächlich für das Lufthansa Magazin des Verlagshaus Gruner und Jahr. daktionsbesuch in der Bombonera eines besseren belehrt. Unvergesslich. Herzlichen Glückwunsch, Argentinisches Tageblatt! Türöffner Tageblatt Volker Gilbert I nach dem Studium der Germanistik und Theologie in Hamburg zog es den gebürtigen Essener in die Ferne. Zweieinhalb Jahre, von Anfang 1988 bis Mitte 1990, arbeitete er als Journalist für das Argentinische Tageblatt. Von Buenos Aires ging es dann nach Stuttgart, genauer in die Redaktion Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg. Mit der Rückkehr nach Hamburg begann die siebenjährige Tätigkeit als Pressesprecher von Bischöfin Maria Jepsen. Gleichzeitig arbeitete er als Redakteur beim Rundfunk (NDR). Heute ist der 50-Jährige Geschäftsführer des Vereins Andere Zeiten. Tim Cappelmann ch erinnere ihn noch gut, diesen Gang von der Calle 25 de Mayo in den Redaktionsraum des Tageblatts. Der Boden immer blitzblank, nur von den Wänden blätterte ein wenig die Farbe. Der Straßenlärm ebbte ab und eine eigene Welt tat sich auf. Das war nicht Buenos Aires und auch nicht Deutschland oder die Schweiz. Irgendwie dazwischen und auch heimatlich. Ab Februar 1988 habe ich über zwei Jahre diesen Weg zur Redaktion Benutzt, vorbei an den laut ratternden Nachrichtentickern von AFP und dpa. Hier sollten später die Meldungen eingehen vom Fall der Mauer und besonders dramatisch zu Weihnachten das Ende des rumänischen Regimes Ceaucescu. Das Computerzeitalter hatte das Tageblatt noch nicht erreicht und so saßen wir vor mechanischen Schreibmaschinen, während die Zeitung noch von Hand gesetzt wurde. Journalismus von der Pike auf gelernt - schrieb ich später in Bewerbungen. Und das habe ich dort (auch wenn mein Lebensweg sich nachher anders entwickelt hat). Meldungen schreiben, Korrektur lesen oder Berichte von Gesprächen mit deutschen Politikern verfassen, die Argentinien besuchten. Auf den Donnerstag habe ich mich immer besonders gefreut, dann ging’s ins Kino und anschließend an die Kritik. Das Tageblatt hat mir viele Türen geöffnet, zur deutschen Gemeinde aber auch zur argentinischen Gesellschaft. Viel gelernt habe ich damals, nicht nur in der Zeitung, aber Dank des Tageblatts. 1989 dann der 100. Geburtstag des Tageblatts mit einem Empfang, Reden und kaltem Buffet. Viel erinnere ich nicht mehr, aber es war eine angenehme Auszeit. Das muss ungefähr zur Zeit der Hyperinflation gewesen sein. So leise habe ich nie wieder Supermärkte erlebt - erschrocken schwiegen die Menschen angesichts der Preiserhöhungen. Keine einfache Zeit für einen sicherheitsverwöhnten Deutschen wie mich. Das Wichtigste beim Tageblatt waren jedoch die Menschen, mit denen ich in der Redaktion zusammen gearbeitet habe. Allen voran die jüdischen Kollegen wie unser Chefredakteur Peter Gorlinsky, die in jungen Jahren vor Nazi-Deutschland geflohen und nach vielen Stationen in Buenos Aires eine neue Heimat gefunden hatten. Manchmal erzählten sie ein wenig aus ihrer Lebensgeschichte. Oder die ausgewanderten Deutschen, die über viele Umwege beim Tageblatt gelandet waren. Und die deutschstämmigen Argentinier, die mir ohne Erfolg das rollende “R” beibringen wollten und mir ansonsten beistanden, Argentinien zu verstehen. Das alles und noch viel mehr habe ich erlebt - es war ein spannender und erfüllender Abschnitt in meinem Leben. Glückwunsch, verehrtes Tageblatt und Familie Alemann, und Danke für die gemeinsame Zeit. 15 M Seife, Fußball und Coca Sarli ein Erbe ist ein Stück Draht. Erst vor kurzem hat mir eine Kommilitonin, die 2008 als Praktikantin beim Tageblatt war, bestätigt, dass es noch da ist: Zwischen den Wasserabflusslöchern im Waschbekken der Toilette des Argentinischen Tageblatts hängt Marcos Shayos „verblüffend einfacher“ Seifenhalter. Er sieht ein bisschen aus wie der Kartoffelstampfer aus der Küche meiner Oma. Und doch war dieser Seifenhalter, der laut Eigenwerbung „die Seife immer sauber und trokken hält“ und im April 2004 zu Beginn meines Volontariats noch 22 Pesos kostete, der Auftakt meiner einjährigen journalistischen Tätigkeit in Argentinien. Der Autor hatte sich mit der Bitte um eine Berichterstattung an das Tageblatt gewandt, und da saß ich nun in meinem ersten Interview auf Spanisch, vier Wochen nach meiner Ankunft in Buenos Aires. Sehr zu meinem Glück hatte Marcos, ein mittelgroßer Mann mit Platte und kreisrundem Bart um den Mund mit einer Aura eines Galans alter Schule, erkennbar am Pullunder und Seidenhalstuch, offenbar Mitleid mit mir. So erklärte er mir langsam und ausführlich den Sinn und das Revolutionäre an seiner Erfindung. Neben pfiffigen Erfindern – neben dem „Seifenhaltermann“ sprach ich auch mit einem Architekten von Strohballenhäusern – mehr und weniger Prominente für alle Sektionen der Zeitung: So überraschte der damalige Bundestagsabgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich beim Redaktionsbereich mit der Erkenntnis Argentinien sei nicht Malawi. Zu einem Besuch nach Deutschland, genauer gesagt zum WM-Finale 2006 in Berlin, lud Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit seinen damaligen Amtskollegen Aníbal Ibarra auf einer Pressekonferenz ein. Anlass war das 10-jährige Jubiläum der Partnerschaft der beiden Hauptstädte. Ob Ibarra allerdings tatsächlich das Endspiel im Olympiastadion verfolgte, ist nicht überliefert, weil er schon vorher über den Skandal um den Brand in der Diskothek „República Cromañón“ stolperte, der ab Dezember 2004 auch das Tageblatt für mehrere Wochen beschäftigte. Mit Sicherheit beim Endspiel – als Kommentator für das mexikanische Fernsehen – weilte 2006 Cesar Luis Menotti, dem ich über drei Wochen für ein Interview nachstellte. Damals als Trainer von Independiente lud er mich schließlich zu einem Gespräch für 18 Uhr ins Hotel Emperador an der 9 de Julio ein. Nach nur sechs Stunden weiterer Geduld – ich hatte mich bereits mit einem Journalisten aus Montevideo, der ebenfalls auf das Interview wartete, herzlich angefreundet – gab uns Menotti in der Hotelbar eine wahre Audienz. Während gefühlter zwei Dutzend Zigaretten und mehreren Cortados blickte er auf die über 35 Jahre Erfahrung als Fußballtrainer und über 45 Jahre im Fußballgeschäft zurück. Ich sog jedes Wort fasziniert auf. Vielleicht auch, weil er die Fußballwelt etwas realistischer sah als Kommentatorenkollege Fernando Niembro (Fox Sports), der bei einer Pressekonferenz den im sportlichen Wert knapp hinter dem Kirschkernweitspucken rangierenden Milchcup als „das wichtigste Fußballturnier des Jahres“ anpries. Ein Jahr später traf ich Niembro erneut, vor dem Jürgen Ramspeck Confederations Cup Spiel 2005 Deutschland gegen Argentinien im Pressezentrum des Stadions in Nürnberg. Über meine Versuche, ihm die Namen der deutschen Spieler Hildebrand und Schweinsteiger zungenknotenfrei über die Lippen zu bringen, verfasste ich ebenfalls einen Beitrag für das geboren 1978 in Nürnberg. Nach Tageblatt. einem Studium der InternationaNeben dem Sport erlebte ich len Betriebswirtschaftslehre an den sinnlichen Höhepunkt des der Universität Erlangen-NürnVolontariats bei der Eröffnung der berg, das er 2006 mit einer DiRetrospektive von Isabel „Coca“ plomarbeit über „RegierungsSarli, die in einem sündig roten kommunikation in Argentinien“ Stricknetz-Oberteil mit einem allam Beispiel der Regierung Kirchzu tiefen Ausschnitt im Palais de ner abschloss, trat er eine Stelle Glace erschien. Zwar hatte die in der PR-Abteilung der TeamSarli von heute mit der Sarli auf Bank AG Nürnberg an. Zum Jourden Filmplakaten aus den 60ern nalismus kam Ramspeck über nicht mehr allzu viel gemein, aldas Argentinische Tageblatt. lerdings demonstrierte ihr AuftreBeim Tageblatt absolvierte er ten immer noch die Würde einer 2004 bis 2005 ein Redaktionsklassischen Filmdiva. Sie verriet volontariat. Dazu kamen Hospidie Erfolgsformel ihrer Filme, die tanzen und Praktika bei Zeitunwohl Millionen argentinischer gen, Zeitschriften, Agenturen Teenager ins Kino gelockt haben: und Pressestellen, darunter die Außer der Vorgabe, sich einmal Nürnberger Nachrichten, Hannackt baden zu müssen, gab es delsblatt und das Sportmagazin kein Drehbuch: „Ein Film, in dem kicker. Neben seinem Beruf in der ich mich nicht bade, ist kein Coco Unternehmenskommunikation Sarli-Film.“ studiert Ramspeck Journalistik Apropos Sinnlichkeit: Auch an der Universität Hohenheim. der Seifenhalter-Architekt freute sich, mir als Neuzugereisten seine Lieblingsorte in Buenos Aires zu zeigen. Neben dem Shoppingcenter Buenos Aires-Design besuchten wir die Plaza Francia und das Denkmal Ramón Falcóns, auf das ein offenbar politisch Aktiver den Namen des Falcón-Attentäters Simón Radowitzky gekritzelt hatte. Die Tour schlossen wir an einem Brunnen ab, an dessen Wänden in der Nacht Gedichte projiziert werden: „Ein absolut sicherer Tipp, um Frauen zu beeindrucken“, zwinkerte mir mein Fremdenführer zu. Leider habe ich vergessen, wo sich dieser Brunnen in Buenos Aires befindet. Zum Glück war das nicht nötig, denn während des Volontariats lernte ich meine heutige Frau kennen. Deswegen bleibt mir nur noch das Schlusswort: Danke Buenos Aires, danke Argentinisches Tageblatt, alles Gute zum Geburtstag und bleib noch lange so wie du bist. Wer fehlt Viele fehlen. Allein in den letzten 20 Jahren haben mehr als 50 angehende Journalisten im Tageblatt volontiert, hospitiert, ein Praktikum abgeleistet oder als Redakteure gearbeitet. Viele Spuren haben sich verloren. Stellvertetend für sie stehen... ANITRA EGGLER (35) blieb nach einem Praktikum (1995/96) dem Tageblatt noch lange als freie Mitarbeiterin erhalten. Nach einem Volontariat bei der Passauer Neuen Presse wechselte sie ins Werbegeschäft. Heute ist sie Geschäftsführerin eines Verlags in Wien. FRANZISCA ZECHER (30) war von April bis Juli 2003 Praktikantin beim Argentinischen Tageblatt. Nach einem Volontariat beim Deutschland-Radio in Köln arbeitet sie heute als freie Hörfunkjournalistin. 2006 erhielt sie den Kölner Medienpreis. STEFAN FUHR (35) machte im Anschluss an sein Abitur an der Goethe-Schule in Buenos Aires ein Praktikum beim AT. Er volontierte bei der Deutschen Presseagentur (dpa) und ist heute Dienstleiter beim Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt/Main. 16 „Sieg einer guten Sache“ 75 Jahre Pestalozzi-Schule Buenos Aires Von Claudia Frey-Krummacher B uenos Aires (AT) - Unter den vom Auswärtigen Amt geförderten über 130 deutschen Auslandsschulen nimmt die Pestalozzi-Schule in Buenos Aires einen ganz besonderen Platz ein. Schon allein durch ihren Namen unterscheidet sie sich, und durch ihre ganz besondere Geschichte noch zusätzlich. Den Namen Pestalozzi-Schule wählten die Schulgründer 1934, weil sie in dieser Schule die humanistischen und pädagogischen Ideale des großen Schweizer Pädagogen des 19. Jahrhunderts verwirklicht sehen wollten. Dr. Ernesto Alemann war der Initiator der Schulgründung. Er war damals der Herausgeber der bis heute existierenden deutschsprachigen Zeitung „Argentinisches Tageblatt“. Er war schweizerischer Abstammung, seine Familie stammte aus Bern, aus dem deutschsprachigen Teil der Schweiz. Als Journalist hatte er Deutschland kurz nach der Machtergreifung Hitlers bereist. Als die Nazi-Ideologie ihr Echo unter den Auslandsdeutschen in Argentinien fand und damit auch in den deutschen Schulen Einzug hielt, handelten er und einige gleichgesinnte Eltern. Sie verfolgten ein anderes Projekt: „Die Pestalozzi-Schule kümmert sich nicht darum, ob Deutschland von einem halb analphabetischen Diktator geknechtet wird, der aus demagogischen Gedankengängen und Minderwertigkeitskomplexen heraus Minderheiten unterdrückt und ausrottet, ohne vor dem Verbrechen zurückzuschrecken. Wir wollen nur Bildung vermitteln, Begabungen die Bahn frei machen zu weiterer Entfaltung; und da der deutsche Geist und sein Beitrag zur Gesamtkultur der Menschheit nicht hinwegzudenken sind, da hundert Millionen Menschen, die diese Sprache sprechen, sich in ihrem Kulturwillen und -Bewusstsein nicht von den Zufälligkeiten einer vorübergehenden Entwicklung, von den Verbrechen einer Schreckensherrschaft, von den Launen einer Diktatur beeinflussen lassen können, bleiben sie eben der Sprache treu, in der sie geboren sind. Die Zeit wird uns recht geben, wenn auch die Gegenwart denjenigen bestechende Argumente liefert, die eine Sprachgemeinschaft vieler Nationalitäten mit einer Horde Barbaren gleichsetzen und sich daher verbittert abwenden.” (Dr. Ernesto Alemanns Rede zur Eröffnung des neuen Schulgebäudes 1939) Für sein entschiedenes Eintreten gegen die Nazidiktatur wurde Dr. Alemann sein Doktortitel von der Universität Heidelberg aberkannt. Er interpretierte dies als „eine Ehre“. An Angriffen und Überfällen auf die wenigen damaligen „Dissidenten“ in Buenos Aires fehlte es auch nicht. Zeitgenössische Geistesgrößen von Rang und Namen, die aus Deutschland emigrieren mussten, wie z.B. Albert Einstein, Thomas und Heinrich Mann, Sigmund Freud, Lion Feuchtwanger und Stefan Zweig, gratulierten Dr. Alemann aber zur Schulgründung: Albert Einstein: (…) Heute ist es wichtiger als je, dass die Kinder (…) vor der systematischen politischen Seelenvergiftung bewahrt werden.“ Der erste Schulleiter, Dr. Dang, Journalist und Sozialdemokrat, war aus Deutschland vertrieben worden. In den Jahren, die unmittelbar auf die Gründung folgten, nahm die Pestalozzi-Schule zahlreiche Kinder von jüdischen Emigranten und anderen Verfolgten auf. Diese hätten keine Aufnahme in den meisten anderen deutschen Schulen in Argentinien gefunden. Neben der Pestalozzi-Schule gab es für sie nur die Option, die Cangallo-Schule, ebenfalls in der Hauptstadt Buenos Aires gelegen, zu besuchen. Die Pestalozzi-Schule wurde für diese zum Teil schwer traumatisierten Kinder zur Heimat in der Fremde. Sie bereitete sie auf das Leben in einem spanischsprachigen Umfeld vor. „Ich besuchte die Pestalozzi-Schule, deren Lehrern ich immer dankbar sein werde. Sie erlaubten es mir, eine deutsche Identität zu bewahren, wie die ihre - weit entfernt von der Politik und Ideologie der Nazis.“ (Edith Aron, Schriftstellerin, La Nación Revista, 7.3.2004) Es ging den damaligen Schulgründern um den Erhalt der deutschen Sprache, Kultur und Werte im bewussten Gegensatz zur damaligen Doktrin der Nazis. Die Entwicklung der Schule gab den Gründern recht: Die Schülerzahl wuchs beständig und bald war das erste Schulgebäude zu klein. Viereinhalb Jahre nach der Schulgründung, 1939, konnte Dr. Alemann so schon von dem „Sieg einer guten Sache in einer Zeit, da alles Niedrige und Gemeine zu triumphieren scheint.“ sprechen. Im selben Jahr Fahnenträger der Pestalozzi-Schule; hinten die Direktorin Claudia Frey-Krummacher. wurde das noch heute bestehende und heute von der Primaria genutzte Gebäude und Schulgelände eingeweiht. Auch damals schon stellte man die Frage nach dem Sinn einer deutschen Schule in Argentinien. Die deutsche Sprache und Kultur erhalten, die Kinder „frei von Vorurteilen irgendwelcher Art“ erziehen, das erzieherische und humanitäre Ideal Pestalozzis verwirklichen, die Mehrsprachigkeit fördern, das war die Vision der Schulgründer. Fast wortwörtlich sind die Gründungsideale in die 2005 formulierte, heutige, Vision/Mission der Pestalozzi-Schule übernommen worden, denn sie sind von zeitloser Gültigkeit. PestalozziSchule heute Wie hat sich die damalige „Emigranten“schule weiterentwickelt? Als was stellt sich die Pestalozzi-Schule heute dar? 75 Jahre sind seit der Schulgründung in jenen schwierigen Zeiten vergangen. Anders als an anderen deutschen Schulen in Argentinien, konnte an der Pestalozzi-Schule seit ihrer Gründung kontinuierlich unterrichtet werden. Sie war aufgrund ihrer Gründungsgeschichte zu keiner Zeit durch Schließung oder Enteignung durch den argentinischen Staat bedroht. Die Pestalozzi-Schule war und ist eine bewusst laizistische Institution. Nach wie vor setzt sich der Schulvorstand ausschließlich aus Eltern zusammen, deren Kinder die Schule besuchen. Die Pestalozzi-Gesellschaft als Schulträger ist ein gemeinnütziger Verein. Die Pestalozzi-Schule ist Gründungsmitglied der „Arbeitsgemeinschaft der deutschen Schulen in Argentinien“ (AGDS) seit den 1960er Jahren und gehört seither auch zum Kreis der zurzeit über 130 deutschen Auslandsschulen. Diese werden im Rahmen der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik durch das Auswärtige Amt personell und finanziell unterstützt. Anders als vor 75 Jahren, wird Deutsch nicht mehr als Muttersprache, sondern als Fremdsprache unterrichtet. Daneben ist die Vermittlung der englischen Sprache eine Selbstverständlichkeit. Die Schülerinnen und Schüler sind nicht mehr Kinder deutscher Einwanderer, sie sind fast ausschließlich Argentinier. Die Eltern nennen als Gründe für die Schulwahl: die Geschichte der Schule, das gute akademische Niveau, die Werte, die vermittelt werden, sowie die Organisationsform. Zusammen mit über hundert einheimischen Lehrkräften unterrichten acht aus Deutschland vermittelte Lehrkräfte die über 1000 Kinder und Jugendlichen. Seit 2003 bietet die Schule das „Gemischtsprachige deutsch-spanische International Baccalaureate (GIB)“ als Option neben dem argentinischen Abitur an. Es bietet den erfolgreichen Absolventen den direkten Zugang zu allen deutschen und vielen anderen Universitäten weltweit. 17 Die Lehrpläne richten sich nach den Vorgaben der Stadt Buenos Aires. Schon lange ist die Pestalozzi-Schule vom städtischen Erziehungsministerium als bilinguale Schule anerkannt. Die Fächer, die in der Sekundaria ausschließlich auf Deutsch unterrichtet werden (ca. 30 %), richten sich inhaltlich nach deutschen Vorgaben. Die Ergebnisse aller externen Prüfungen, die eine Erfolgsquote von zwischen 80 und 90 % aufweisen, sind Zeugnis für die harte Arbeit, das Engagement und die Motivation aller Beteiligten. Die sich zyklisch in ihrem Anspruch steigernden Solidaritätsprojekte prägen das Profil der Primarstufe ebenso wie der Sekundarstufe. Zur Sicherung der Qualität und ständigen Anpassung an die modernen Erfordernisse, befindet sich die Pestalozzi-Schule seit 2004 in einem Prozess der kontinuierlichen Qualitätsentwicklung. Zwei umfangreiche Umfragen bei allen Mitgliedern der Schulgemeinde (2002 und 2008), ein Besuch sogenannter „kritischer Freunde“ - all dies sind Etappen auf dem Weg zur Zertifizierung, die die Schule für 2010 anstrebt. Diverse Um- und Ausbauten in den vergangenen Jahren, konstante Aktualisierungen des Lehr- und Lernmaterials sowie der technischen Ausstattung sind nicht nur durch kluges Wirtschaften, sondern auch dank gezielter deutscher Hilfe zustandegekommen. Der Zusammenhalt der Pestalozzischüler von gestern und heute, ebenso wie der gute Ruf der Schule in ihrem Umfeld, ist bemerkenswert. Gemeinsame - aus den Zeiten der Schulgründung tradierte, in der Gegenwart gelebte und vermittelte und in die Zukunft weisende - Werte bilden hierfür die solide Basis. Ein Jubiläumsjahr ist auch Anlass, allen zu danken, die die Pestalozzi-Schule unterstützt haben oder noch unterstützen, seien es Institutionen oder einzelne Personen: den Mitarbeitern der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen beim Bundesverwaltungsamt in Köln, der Deutschen Botschaft in Buenos Aires, der „International Baccalaureate Organization“, dem Netzwerk der deutschen Schulen in Argentinien, allen Lehrerinnen und Lehrern - damals und heute -, allen Eltern, die der Schule die Erziehung ihrer Kinder anvertrauen, den Mitgliedern des Vorstands, die viel Zeit und Arbeit investieren, und all den vielen Helfern, ohne die eine Schule nicht funktionieren könnte. Kurzum: ein großer Dank an all diejenigen, die an den erfreulichen Ergebnissen der Pestalozzi-Schule mitwirken. All das ganz Besondere, das die Pestalozzi-Schule in Buenos Aires auszeichnet und das hier nur ansatzweise dargestellt werden kann, garantiert ihr den festen Platz im Netzwerk der von der Bundesrepublik Deutschland geförderten Schulen im Ausland. Es ist ihr Vermächtnis und ihre Verpflichtung gleichermaßen. Die Pestalozzi-Schule ist stolz darauf, zu dem Netzwerk der Schulen im Ausland zu zählen, die Deutschland „Partner für die Zukunft“ nennt. Im Laufe des Jubiläumsjahres 2009 sind folgende Aktivitäten vorgesehen: In unterschiedlichen Unterrichtsprojekten wird allen Schülern die besondere Gründungsgeschichte bewusst gemacht werden, ein Festakt für die ganze Schulgemeinde wird am 3. Juni stattfinden, eine DVD über die Schule ist in Arbeit, der Internetauftritt wird aktualisiert und modifiziert, Ausstellungen und Konzertveranstaltungen der Kulturabteilung werden die Projekte ergänzen. Das Jahr 2009 steht im Zeichen des 75-jährigen Bestehens der Schule. Brief von Albert Einstein. Brief von Sigmund Freud. 18 Selbstständiger, sicherer, sprachlich gewandter 30 Jahre deutsch-argentinischer Schüleraustausch in der Pestalozzischule Von Deborah Hermanns N eun Monate ist es her, dass ich mit zwei Freundinnen eine große Abschiedsparty in meiner Heimatstadt Berlin organisierte. Grund, ich würde für ein Jahr nach Argentinien gehen, die beiden anderen für jeweils ein halbes Jahr nach Kanada und Australien. Wie viele andere hatte auch uns die Idee fasziniert, schon im frühen Alter einmal weit weg von zu Hause zu kommen, in einem fremden Land in einer Gastfamilie zu wohnen und eine neue Sprache zu erlernen. Der Schüleraustausch enstand in den 50er Jahren. Wer allerdings schon damals für ein Jahr bevorzugt in die USA fuhr, war etwas ganz Besonderes. Inzwischen ist der Schüleraustauschs in der Mittelschicht schon fast zu einem Massenphänomen weltweit geworden. Zu einer guten Schulbildung gehört inzwischen aufgrund der Globalisierung auch das Bereisen der Welt, wie in Form eines Schüleraustausch und die Kenntnis mehrerer Sprachen. Und so werden die Programmangebote an Ländern mit jedem Jahr größer. Waren zu Anfang noch die USA der große Hit, wird die Auswahl der sogenannten “Exoten”, will heißen Südafrika, Lateinamerika, Osteuropa, sowie Asien immer größer. Zudem erfreuen sich Kanada und Neuseeland an immer größerer Beliebtheit. Trotzdem verschlägt es nach Südamerika noch verhältnismäßig wenige deutsche Schüler. So kam mir die Idee nach Argentinien zu gehen, dann auch eher zufällig, erschien es mir doch wesentlich interessanter und aufregender, in ein für mich etwas unbekannteres Land zu gehen, als mich der großen kanadischen oder englischen Mehrheit anzuschließen. Allerdings war ich damit trotzdem nicht die Einzige, der Schüleraustausch zwischen Deutschland und Argentinien nimmt mit jedem Jahr größere Ausmaße an. Dass natürlich der Reiseweltmeister Deutschland bei der Geschichte gut vertreten ist, ist klar, aber auch immer mehr Argentinier wagen sich in jungen Jahren für einige Monate in die Bundesrepublik. Hier berichten heute (Ex)schüler der deutschen Pestalozzi-Schule in Belgrano von ihren Erfahrungen im Austausch in Deutschland. Mich interessierte bei meinen Gesprächen besonders, inwiefern ihre Zeit in Alemania ihre Erwartungen erfüllen konnte und ob es ihnen für ihr weiteres Leben etwas gebracht hat. Was sie zukünftigen Austauschschülern für Tipps auf die Reise geben können und was sie, falls sie erneut mit 16 Jahren am Flughafen in Frankfurt ankommen würden, besser machen wollten. Wiedererkennungszeichen: gelber Hut Alejandro Verzoub, geboren am 8. Juli 1963, heute verheiratet mit zwei Kindern besitzt seine eigene Marketingagentur (AV Busniss & Kommunikation). Doch spulen wir einmal zurück in seine Vergangenheit, 29 Jahre ziehen an uns vorbei, bis wir im Jahre 1980 ankommen... Es herrscht kalter Winter in Bookholzberg, Alejandro (vorne rechts) mit argentinischen Freunden. einem 5000-Einwohnerdorf in der Nähe von Bremen und Oldenburg. Und das bekommt auch der gerade mal 16-jährige Alejandro zu spüren. Denn er hat sich entschieden, sechs Monate seiner Schulzeit hier zu verbringen. Hergekommen ist er durch die Pestalozzi-Schule und die Organisation ICX, die den argentinischen Schülern damals für eine gewisse Geldsumme eine Familie in Deutschland suchte und außerdem bei Problemen vor Ort war. Der Mangel an Internet macht die Ankunft am Flughafen natürlich noch einmal besonders spannend. Denn keiner weiß, wie die Familie aussehen wird, man hat nicht schon wochenlang mit seinem Gastbruder gechattet. Man weiß nicht, wie der andere tickt, kennt auch seine Eigenschaften und Vorlieben nicht. Die erste schwierige Aufgabe lauert also schon am Flughafen, die richtige Familie finden. Mit einem knallgelben Hut geschmückt und einer Beschreibung der Familienmitglieder in der Hand, gelingt es Alejandro allerdings leicht diese erste Hürde zu überwinden und schon kann er seine Gastfamilie in die Arme schließen. Was er noch nicht weiß, es wird der Anfang einer langen Freundschaft sein, haben sie schließlich heute noch Kontakt. Auch dreimal besucht hat er sie seitdem schon, erst alleine, dann mit seiner Frau und schlussendlich auch zusammen mit seinen Kindern. Seine Zeit in Bookholzberg, in dem gleichnamigen Gymnasium, in dem er die 10. Klasse besuchte, und die vierwöchige Reise durch Europa hat er sehr gut in Erinnerung und beschreibt die sechs Monate als eine der wichtigsten Etappen seines Lebens. Durch die neuen Erfahrungen in Deutschland hat er gelernt, sich besser und schneller an neue Kulturen anzupassen und offener und flexibler zu werden. Auch deshalb hat er seine beiden Kinder auf die Pestalozzi-Schule geschickt. Auch seiner älteren Tochter Lucila, die vor kurzem aus ih- rem Austausch zurückgekommen ist, hat die Zeit in Deutschland sehr gut gefallen. Wie ihr Vater konnte sie dort neue Erfahrungen sammeln und selbstständiger werden. “Während unserer Reise nach Berlin mit allen Pestalozzi-Schülern, musste wir uns ein Zimmer mit anderen südamerikanischen Austauschschülern teilen, auch sechs junge Schüler der Goetheschule. Eines nachts nahmen wir ihr Schlafzimmer mit Flaschen und Feuerwerken. Auch wenn wir danach Ärger kriegten, machte das Ganze unheimlich viel Spaß. Es war ein Krieg zwischen zwei argentinischen Schulen, in Deutschland.” Auf den Spuren des Großvaters Acht Jahre später machte sich Tamara Gottfeld, geboren am 4. November 1970, die heute mit ihrem Mann in den Vereinigten Staaten lebt, im Alter von 17 Jahren auf den Weg nach Deutschland, genauer gesagt nach Hannover. Innerhalb der acht Jahre hatten sich schon einige Details des Austauschs verändert, so war er von sechs auf viereinhalb Monate verkürzt worden und in der Vorbereitung gab es organisierte Treffen zwischen deutschen Lehrern und den Schülern, um diese bestmöglich auf den bevorstehenden Kulturschock in Deutschland vorzubereiten. Außerdem mussten Tamara und ihre Mitschüler eine Selbstbeschreibung an eine Organisation, die sich um die Suche der Familie kümmern würde, schicken. Tamaras Großvater, der während des 3. Reichs aus Deutschland nach Argentinien hatte fliehen müssen, “doch nie vergaß, woher er kam”, hatte ihr schon in ihrer Kindheit viel über die deutsche Kultur und Geschichte erzählt, so dass es für sie sehr wichtig war, seine Heimat einmal mit eigenen Augen zu sehen. Durch eine sehr engagierte und nette Gast- 19 so geht eine sehr schöne Zeit viel zu schnell um. Und er kehrt - offener und selbstständiger - wieder zu seiner Familie und Freunden nach Argentinien zurück. “Die Schule auf die ich ging, war sehr klein und eben eine typische deutsche Dorfschule. Dort hatte man noch nie einen argentinischen Jugendlichen gesehen und auch das Wort Schüleraustausch hatten die meisten auch noch nie gehört, dementsprechend viel Beachtung bekam ich dann auch. Außerdem fiel ich doch mit meinen langen dunklen gelockten Haaren zwischen all den blonden Kurzhaarschnitten sehr auf und jeder auf der Schule wusste, wer ich war.” Türkisch als Tischsprache Uriel (2. v. l.) mit drei argentinischen Mitschülern vor dem Brandenburger Tor. familie konnte sie anfängliches Heimweh schnell überwinden und wollte am Ende gar nicht mehr nach Argentinien zurückkehren. Auch in der Schule fühlte sie sich sehr gut aufgenommen, da sie wie “ein Schüler mehr” behandelt wurde. Das heißt, sie musste in allen Stunden anwesend sein und anstehende Tests mitschreiben. Zu den vielen Freunden, die sie sich während der viereinhalb Monate machte, und ihrer Gastfamilie, verlor sie leider im Laufe der Jahre den Kontakt, wobei sie auch über Google unglaublicherweise keine aktuellen Informationen oder Adresse der Familie ausfindig machen konnte. Der Schüleraustausch war ihrer Meinung nach, das Beste, was ihr passieren konnte, und sie ist ihren Eltern dafür sehr dankbar. Sie wurde durch ihre Zeit selbstständiger und erreichte außerdem ein deutsches Sprachniveau, wie es durch reine Unterrichtsstunden nicht möglich gewesen wäre. “Mir hat mein Austausch in Deutschland so gut gefallen, dass ich im Jahr 1990 die lange Reise antrat und zurückkehrte, sogar mit der Idee, dort ein Leben aufzubauen. Doch leider fing wenig später der Golfkrieg an und meine Familie bat mich, als Einzelkind, wieder nach Argentinien zu kommen. Dadurch ist der Traum eines Lebens in Deutschland leider nie in Erfüllung gegangen.” Von der Großstadt zum Bauernhof Lisandro Botto, geboren am 18. März 1974, lebt heute mit seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter in Buenos Aires und besitzt einen Hochschulabschluss in Immobilienmarketing. Vor bald 20 Jahren, genauer im Januar 1991 machte auch er sich im Alter von 17 Jahren auf den Weg nach Deutschland. Dort soll er die ersten fünf Monate des letzten Jahres seiner Schulkarriere in Wagenfeld, einem Dorf in der Nähe von Bremen, verbringen. Ihn verschlägt es, wie man in Deutschland sagt, wirklich in die Pampa, nämlich auf einen Bauernhof. Seine Gastfamilie besitzt ein großes Haus mit Getreidefeldern, Kühen und anderen Tieren. Was am Anfang noch etwas gewöhnungsbedürftig scheint, stellt sich später als eine sehr schöne und interessante neue Erfahrung heraus. So lernt er sogar, einen Traktor zu fahren. Und welcher Großstadtbürger kann das schon von sich behaupten. Allerdings hat die kleine Ortschaft natürlich auch den deutlichen Nachteil, dass es für den feierfreudigen Argentinier kaum Möglichkeiten gibt, abends wegzugehen. Doch das holt er auf seinen vielen Reisen nach. Mit einem argentinischen Freund begibt er sich auf die legendäre Europareise. Eine einmonatige Unternehmung, die zu dieser Zeit allen Schülern der Pestalozzischule erlaubt war und meist die Osterzeit einschloss. Durch das damals noch sehr bilige Zugtikket Europax gelangt er auf diese Weise in kurzer Zeit von Städten wie Barcelona, Madrid und Lissabon bis nach Paris, Rom und Amsterdam. Nebenbei fährt er auch noch zweimal nach Berlin, wobei ihm dort deutlich der immer noch sehr große Unterschied zwischen Ost und West ins Auge fällt. Während ihm der westliche Teil schon moderner und lebendiger erscheint, hält er den östlichen noch für etwas eintönig und altmodisch. Doch trotzalledem verbringt er natürlich auch Zeit in seiner sehr netten Familie, wobei weniger der Kontakt mit dem gleichaltrigen Gastbruder, als mehr der mit Gastmutter und Oma entsteht. Dazu hilft er seinem Gastvater noch dessen Ländereien zu bewirtschaften und Gerade ein Jahr aus Deutschland zurück ist der kurz vorm Abschluss stehende Uriel Kassman, geboren am 7. November 1991. Er kam schon in den Genuss der neuen Form des Schüleraustauschs, wie sie 2003 von der damals gerade ins Amt getretenen Direktorin der Pestalozzi-Schule, Claudia Frey-Krummacher, eingeführt wurde. Diese nutzte die Diskussion rund um die Einführung des International Baccalaureate für eine Reform des Austauschs. Von nun an sollten jegliche Aufenthalte in Deutschland nur noch in den 3 Monaten Sommerferien stattfinden, von einigen wenigen Dezembertagen mal abgesehen. Dafür aber würden von nun an auch Austauschschüler aus Deutschland die Pestalozzischule besuchen, nämlich die/der jeweilige deutsche Gastschwester/bruder. Eine gute Idee, da auf diese Weise der Austausch einerseits verlängert wurde und außerdem die Schüler nun die Möglichkeit haben, ihr eigenes Leben und ihr Lisandro vor seinem neuen Lieblingsspielzeug, dem Traktor. 20 Heimatland Argentinien einmal durch die Augen eines deutschen Gastschülers zu sehen. Aber auch ein Problem, da ca. 40 PestalozziSchüler natürlich auch 40 deutsche Austauschschüler pro Jahr bedeuten, und diese immer wieder in den Schulalltag einzubauen, stellt keine leichte Aufgabe dar und benötigte sogar einige neue Stellen. Doch wieder zurück nach Kerpen, wo der 16-jährige Uriel im Dezember 2007 ankommt. Wohnen wird er bei einer deutsch-türkischen Familie, deren etwas ältere Tochter ein halbes Jahr später dann zu ihm nach Buenos Aires reisen wird. In der Familie lebt er sich schnell ein, trotz einiger Sprachprobleme, Türkisch steht leider (noch) nicht auf dem Stundenplan der Pestalozzi-Schule, und kann sich schon nach wenigen Wochen wie ein Teil der Familie fühlen. In der Schule dagegen fängt es mit einem Samstag als erstem Schultag schon von Anfang nicht gut an. In seiner Klasse kann er sich bis zum Ende nicht richtig wohlfühlen und auch die große Auswahl an Mitschülern, immerhin besucht er eine der größten Schulen Deutschlands mit ca. 3000 Schülern, hilft nicht dabei, sodass er die meiste seiner Pausenzeit mit den argentinischen Kollegen verbringt. Insgesamt sind sie sechs Pestalozzi-Schüler auf der gleichen Schule, was er inzwischen auch als einen großen Nachteil sieht. Denn die Gefahr besteht schnell, zu viel mit den argentinischen Freunden zu machen und darüber den eigentlichen Sinn des Aufenthaltes zu vergessen, nämlich den Austausch zwischen Argentinien und Deutschland. Am meisten genießt er es, einfach durch die gemütlichen Straßen seiner Nachbarschaft zu spazieren, ohne Ziel, immer der Nase hinterher. Denn die Ruhe und Sicherheit des Dorfes sind für den aus Buenos Aires stammenden Schüler eine neue Erfahrung. “ Mehrmals begaben wir uns, eine Gruppe von vier argentinischen Pestalozzi-Schülern, auf kleine Reisetouren durch Deutschland. Dafür kauften wir uns ein Wochendticket der Deutschen Bahn und fuhren an unser Wunschziel. In diesem speziellen Fall sollte es uns bis zum Bodensee verschlagen. Von Heidelberg wollten wir über Karlsruhe zu dem größten See Deutschlands fahren. Das Problem war allerdings, müde nach nur einer Stunde Schlaf – wir waren in der vergangenen Nacht auf einer Feier gewesen – fielen uns im Zug angekommen sofort die Augen zu. Einmal aufgewacht, wunderten wir uns, da unser Zug immer noch im Heidelberger Bahnhof stand. Doch mit einem Blick auf die Uhr mussten wir feststellen, dass wir bereits einmal nach Karlsruhe und wieder zurück gefahren waren. Wir hatten es durch unser Schlafen also verpasst, auszusteigen und mussten die ganze Reise noch einmal von vorne antreten. Durch dieses Missgeschick durften wir eine ganze halbe Stunde am Bodensee verbringen, bevor wir uns wieder auf die 10-stündige Fahrt nach Köln machen mussten. Viel gesehen haben wir also nicht, aber Spaß hatten wir sicher.” Bauer sucht Land und Land sucht Bauer Argentinien - Einwandererland und neue Heimat vieler Deutscher Von Dorothee Kammel A delheid Weckesser ist im siebten Monat schwanger, als sie 1926 in Bremerhaven an Bord der „Sierra Cordoba“ geht. Fünf Jahre zuvor war die Wolga-Deutsche gemeinsam mit ihrem Mann und ihren acht Kindern in der Hoffnung auf ein besseres Leben von Saratow, Russland, nach Frankfurt an der Oder gegangen. Aber jetzt ist ihr Ziel Südamerika, genauer gesagt: Argentinien. Die Familie möchte sich dort als Farmer ein neues Leben aufbauen. Lebin Weckesser wird zwei Monate später in der Colonia Barón geboren. Heute, mit 81 Jahren, arbeitet er noch als Dreher in Córdoba. Sein Bruder Jorge gründete die erste Bandoneon-Werkstatt in Buenos Aires. Seine Tochter Ana Maria und die Enkelin Julia leiten heute die Werkstatt. Doch zurück zu ihrer Reise: Wie sie, sind mehr als sieben Millionen Auswanderer zwischen 1830 und 1974 von Bremerhaven aus mit der Schiffspassage in die USA, nach Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien ausgewandert. Hunger und Krieg zwang sie dazu, in ein völlig unbekanntes Land aufzubrechen – getrieben durch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Entscheidung, ein neues Leben in einem fremden Land zu beginnen, konnte mehrere Ursachen haben: Wirtschaftliche Not war ein zentraler Punkt, aber auch politische Unterdrückung, zum Beispiel unter Bismarcks Sozialistengesetzen, motivierte viele zur Ausreise. War man früher noch wochenlang auf Segelschiffen unterwegs, so wurde die beschwerliche Reise mit der technischen Enwicklung etwas erträglicher und die Fahrten bezahlbarer: 1885 kostete die Überfahrt von Hamburg nach New York acht Dollar; ein Preis, der manchmal sogar weniger betrug als die Reise zu einem der atlantischen Häfen. Viele der Auswanderer erwogen nun eine vorübergehende Reise nach Übersee mit der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat. Begehrtestes Ziel waren die USA. Aber nachdem die Einreisebedingungen verschärft wurden, entschieden sich viele, zunächst nach Lateinamerika auszuwandern. Argentinien als neue Heimat war beliebt, da die dortige Politik das Ziel verfolgte, einen neuen, eigenen Nationalstaat zu formen, und die Einwanderung förderte. Argentinien sollte sich nach der neuen Verfassung von 1853 aus den damaligen kolonialen Strukturen lösen. Doch hierzu benötigte man Menschen – denn das Land war teilweise völlig unbewohnt. „Gobernar es poblar“, sagte bereits der argentinische Politier Juan Bautista Alberdi (1810 – 1884). Die liberale Verfassung vom 25. Mai 1853 legte den Grundstein für eine aktive Einwanderungsförderung. Mit dem 1876 in Kraft tretenden Gesetz 817 (Ley Avellaneda) wurden die Verfassungsziele zur Einwanderung durchgesetzt. Die Einwanderung war staatlich gelenkt und hat- Foto: Ciro Cappellari In der Bandoneón-Werkstatt in Buenos Aires: Lebin Weckesser, Ana Maria und Tochter Julia. te eine ausgewogene Immigration zum Ziel. „Argentinien erlebte unterschiedliche Einwandererwellen, wobei die Ursprungsländer und die Motive für das Auswandern wechselten”, betont Benjamín Marcón, Architekt und Mitarbeiter des Einwanderermuseums in Buenos Aires. Die meisten Einwanderer Argentiniens kamen aus anderen Ländern Europas als Deutschland, es waren vor allem Italiener, Spanier und Franzosen. Insgesamt stieg aber die Zahl der deutschen Immigranten kontinuierlich an. Zwischen 1857 und 1910 waren es im Schnitt nur 1,2 Prozent der argentinischen Einwanderer, zwischen 1920 und 1930 machten es bereits sechs Prozent aus und zwischen 1933 und 1945 sogar 28 Prozent. Argentiniens Bevölkerungsstruktur veränderte sich im Zuge der Masseneinwanderungen im 19. und 20. Jahrhundert wie bei keinem anderen Land, denn die europäischen Einwanderer trafen auf eine zahlenmäßig sehr kleine Bevölkerung. Über sechzig Jahre machten die Einwanderer 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Buenos Aires aus. An Bord der Schiffe herrschte eine strikte Trennung zwischen den Reisenden der ersten und dritten Klasse. Die erste Klasse war den Wohlhabenden vorbehalten, der Klerus reiste in der zweiten Klasse. Die meisten Auswanderer mussten mit den einfachen Bedingungen der dritten Klasse vorlieb nehmen. 21 Das heutige Museum hatte zwischen 1911 und 1953/54 die Aufgabe des Hotels für die Einwanderer. “Als die Einwanderung in den 1950er Jahren nachließ und mit dem Militärschlag gegen Perón die Militärdiktatur einsetzte, funktionierte man es zu einer Militärkaserne der Marine um”, erzählt Benjamín Marcón. Seit 1990 steht das Gebäude unter Denkmalschutz. 1995 wird das Museo Nacional de Inmigración gegründet und Archive und Büros werden dort eingerichtet. Das Besondere dieses Museums ist die direkte Verknüpfung mit der Einwandererbehörde. Wer mehr über seine Vorfahren wissen möchte, kann dies direkt über einen Computer, der mit dem Nationalarchiv verknüpft ist, erhalten. In Zusammenarbeit mit dem CEMLA (Centro de Estudios Migratorios Latinoamericanos) sind hier 3.700.000 registrierte Einwanderer zu finden, die das Land auf dem Seeweg zwischen 1882 und 1927 betraten. Die Bibliothek ist ebenfalls für die Öffentlichkeit zugänglich und enthält Artikel und Bücher speziell zum Thema der argentinischen Einwanderung. Auswandern vor 40 Jahren und heute Heute sieht Auswandern aus Deutschland und Einwandern nach Argentinien oft ganz anders, und weit unspektakulärer aus. Ingrid Hampel lebt seit 1968 in Buenos Aires. Die gebürtige Hamburgerin lernte ihren Mann Anfang der 60er Jahre in Hamburg kennen, wo er für eine deutsche Bank arbeitete. Sie verliebte sich und entschloss sich, mit ihm nach Argentinien zu ziehen. Knapp und ohne Schnörkel erzählt sie dies. Sie hatte Glück und fand sehr schnell Arbeit in einer deutschen Firma. Trotz dieser unkomplizierten Übersiedlung heißt es auch heute noch: anderes Land, andere Sitten - eine Sprache, die am Anfang nur viele Fragen aufwirft. Sogar Brötchenkaufen stellt für manchen eine Hürde dar und Geduld ist eine Tugend, die man sich antrainieren sollte. Ingrid Hampel lebt jetzt seit über vierzig Jahren in Buenos Aires. Ihre hanseatische Art hat sie sich, zumindest sprachlich, be- Viele Einwanderer packten ihre Habseligkeiten in einfache Jutesäcke. War die mehrwöchige Überfahrt überstanden, erwartete sie bei ihrer Ankunft in Buenos Aires das “Hotel de Inmigrantes”. Hier konnten sie für fünf Tage kostenlos essen, schlafen und sich eine Arbeit suchen. Viele waren von der langen Überfahrt geschwächt und konnten im eigens dafür errichtetes Krankenhaus versorgt werden. Hatte eine Familie schon Kontakte vor Ort, konnte sie direkt weiterreisen. Alle anderen blieben zunächst im Hotel. Aus Angst vor Epidemien, wurden die Einwanderer bereits auf den Schiffen ärztlich untersucht und die Einreisepapiere geprüft. Für manchen konnte das schon das Aus der Reise bedeuteten, denn wer an einer ansteckenden Krankheit litt oder eine Behinderung hatte und somit nicht arbeitsfähig war, durfte nicht einreisen. Die zuständigen Organisationen, die die Überfahrt organisiert hatten, mussten in einem solchen Fall die Kosten für die Rückreise tragen. Das Museum existiert noch in seiner ursprünglichen Fassung und ist heute eingebettet in den Komplex der Einwanderungsbehörde. Die Treppenstufen zu den oberen Stockwerken sind ausgetreten von den zigtausenden von Schuhen der Einwanderer, die zu den hier gelegenen Schlafsälen stiegen. Die Räume, mehr Hallen als Zimmer, sind hell und luftig. Unten befand sich der Speisesaal, in dem bis zu tausend Personen auf einmal essen konnten. Eine Glocke ertönte, um die Mahlzeiten anzukündigen. Es gab gewöhnlich einen großen Teller Suppe, Nudeln, Reis oder Eintopf. In den oberen Stockwerken waren die Schlafsäle: Frauen und Männer nächtigten in getrennten Schlafsälen auf dicht gedrängten beigefarbenen Pritschen. Die verschiedenen Pavillons des Areals direkt am Hafen des Río de la Plata waren fast wie eine Kleinstadt angeordnet und sind 1906 als Projekt des Ministeriums für öffentliche Bauten (Ministerio de Obras Públicas) entstanden. Foto: D. Kammel Bis zu tausend Personen auf einmal konnten im Erdgeschoss des damaligen „Hotel de Inmigrantes“ essen. 22 Foto: Deutsches Auswandererhaus Beengte Reisebedingungen unter Deck in der dritten Klasse. Nachbau des Zwischendecks auf dem Segelschiff „Bremen“ 1854. wahrt. Blickt sie zurück, betont sie zwar, wie unspektakulär das alles gewesen sei, aber die ein oder andere Anekdote lässt sie sich dann doch entlocken. Vor allem gab es hin und wieder Schwierigkeiten mit ihrer Geburtsurkunde – denn diese existierte nicht. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges konnte ihre Mutter nur ein einziges, 1941 ausgestelltes Dokument retten, das belegte, dass der Inhaber dieses Ausweies in die Deutsche Volksliste unter der Nr... aufgenommen worden war und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Ihre damalige Geburstadt Karlshausen ist heute das polnische Czempin. Ihr Mann, ein Deutscher, der seit seinem neunten Lebensjahr in Argentinien lebt, erleichterte ihr das Eingewöhnen, als sie 1968 nach Argentinien kam. Zunächst bekam sie eine “cédula” – vergleichbar mit dem Personalausweis, die es ihr ermöglichte, frei in den Nachbarstaaten Argentiniens zu reisen, was damals mit einem deutschen Reisepass komplizierter als heute war. Sie fand innerhalb von zwei Wochen Arbeit in einer deutschen Firma – als “Tippse”, wie sie es selbst nennt. Ihre Arbeit als Übersetzerin konnte sie anfangs nicht ausüben – ihr Spanisch reichte dafür nicht aus. Doch sie verdankt es fast ein wenig der manchmal ausufernden argentinischen Bürokratie, dass sie ihre Sprachhemmungen überwand: ihr Ärger über einen zeitaufwändigen, aber nicht erfolgreichen Besuch bei der Polizei, löste ihre Zunge – und sie schimpfte drauflos: auf Spanisch. Doch das ein oder andere sprachliche Fettnäpfchen am Anfang blieb nicht aus. Die hiesige Sitte, sich mit “rauen Kosenamen” wie “gordo” oder “tolo” anzureden, griff sie in bestem Glauben auf: Dabei wurde ihr das Wort “pelotudo”, was soviel wie “Idiot” bedeutet, zum Verhängnis. Sie dachte: “pelado” sei jemand ohne Haare, “peludo” jemand mit dichtem Haar und “pelotudo” sei der, der mit einer “hohen Stirn” gesegnet sei. Ihren Schwiegersohn habe sie dann immer “pelotudo” genannt, bis ihr Mann sie höflich darauf aufmerksam machte, dass das nicht sehr charmant sei. „Wieso? Ich mache mich doch nicht über ihn lustig – das ist doch lieb gemeint“, war ihre Reaktion. Als sie dann über die eigentliche Bedeutung aufgeklärt wurde, hat sie es sofort gelassen. Die Nachbarschaft im Stadtteil Olivos, in der sie lebt, ist nicht rein deutsch, aber innerhalb der deutschen Kolonie war es üblich, in den deutschen Ruderclub oder in den deutschen Turnverein zu gehen. Viele Erinnerungen verbinden die Leute noch heute und bei bestimmten Veranstaltungen sehe man immer einige bekannte Gesichter. Zu neuen Ufern aufzubrechen scheint Tradition innerhalb der Familie zu haben: die Tochter lebt jetzt seit fünf Jahren mit ihrem argentinischen Ehemann im süddeutschen Ravensburg. Argentinien empfängt heute nicht mehr solche Massen von Einwandern wie in den vergangenen Jahrhunderten. Die meisten, die heute nach Argentinien einwandern, kommen aus China oder Korea, aber auch viele Lateinamerikaner aus den angrenzenden Ländern Paraguay, Bolivien und Peru wählen Argentinien als ihre neue Heimat. Nähere Informationen zum Museo del Inmigrante: http://www.mininterior.gov.ar/migraciones/museo museo_servicios.htm Der Eintritt ist kostenfrei. Führungen unter Voranmeldung beim Sekretariat des Museums: (011) 4317-0285, Av. Antártida Argentina 1355 - CP 1104ACA Auswandererhaus Bremerhaven Dort, wo sie Europa verließen, befindet sich mit dem Deutschen Auswandererhaus heute das größte europäische Erlebnismuseum zum Thema Auswanderung. Gegründet wurde es am 8. August 2005 am neuen Hafen in Bremerhaven. Anhand verschiedener Einzelschicksale kann man in die Auswandererbiografien eintauchen. Jeder Besucher bekommt am Eingang einen “boarding-pass” und erkundet als “Maria Becker aus Mecklenburg-Vorpommern” oder als “Erwin Müller aus Berlin” die Reise dieser Menschen. Diese Auswanderbiografie begleitet den Besucher bei seinem historischen Rundgang. Mit einer Aktionsfläche von 3.500 Quadratmetern steht das Deutsche Auswandererhaus an authentischer Stelle – dort, wo zwischen 1830 und 1974 insgesamt etwa sieben Millionen Menschen aus dem alten Europa in die Neue Welt aufbrachen. Wer mehr wissen möchte über das Schicksal der Migranten, kann in 11.000 Lebensgeschichten nachlesen, in unzähligen Kästen und Schubläden stöbern. 2008 veranstaltete das Auswandererhaus eine Sonderausstellung “Nach Buenos Aires!”, die in die Dauerausstellung integriert wurde. www.dah-bremerhaven.de 23 Che Guevara – eine argentinische Ikone Vorbildlicher Revolutionär oder weltfremder Fanatiker? Von Marcus Christoph B uenos Aires - Das berühmte Porträt mit dem in die Ferne gerichteten Blick, dazu die Baskenmütze mit dem roten Stern. Wer kennt dieses Bild von „Che“ Guevara nicht? Keine Frage, der Revolutionär, der in Kuba triumphierte und in Bolivien tödlich scheiterte, ist eines der „Gesichter Argentiniens“ schlechthin. In seinem Heimatland ist der Umgang mit dem weltbekannten Rebellen indes zwiespältig: Einerseits wählten ihn seine Landsleute vor nicht allzu langer Zeit in einer Fernseh-Umfrage über „argentinische Helden“ noch vor Evita Perón auf Platz eins. Andererseits habe man Che Guevara von offizieller Seite über lange Jahre fast wie einen „Paria“ ignoriert, wie Eladio Gonzáles, der Initiator des Che Guevara-Museums Buenos Aires, beklagt. Am Wirken des Revolutionärs, den die US-Zeitschrift „Time Magazine“ zu den 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts zählte, scheiden sich die Geister. Die einen verehren ihn als idealistischen Kämpfer, der für seine Vorstellung von einer besseren Welt bereit war, das eigene Leben zu opfern. Für die anderen war „Che“, wie Ernesto Guevara von den Kubanern aufgrund seiner argentinischen Aussprache genannt wurde, ein Fanatiker, der zur Durchsetzung realitätsferner Ziele über Leichen ging. Foto: mc Das Leben Che Guevaras, das Regisseur Steven Soderbergh jüngst in zwei Teilen cineastisch in Szene setzte, ist voll von dem Stoff, der Denkmal für Che Guevara in La Higuera/Bolivien, zur Mythenbildung einlädt. Das Licht der Welt erblickte Ernesto am dem Ort seiner Exekution. 14. Juni 1928 in Rosario. Seine Eltern waren aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Die Kindheit verbringt der vom zweiten Lebensjahr an un- Hand. Schnell stieg er zum „Comandante“ auf, was den höchsten Rang ter Asthma leidende Ernesto überwiegend in Alta Gracia und später in in der Rebellenarmee darstellte. Seinen größten militärischen Erfolg Córdoba. Sein Abitur besteht er in Buenos Aires, wo er anschließend erkämpfte er in der zentralkubanischen Stadt Santa Clara, durch deren auch Medizin studiert. Doch eine bürgerliche Laufbahn mit Arztpraxis Einnahme er Ende 1958 den Weg nach Havanna freimachte. Dort sollte ist nicht gerade das, was er sich erträumt. Schon während des Studiums später auch das große Che-Monument entstehen. unternimmt er Reisen, um Südamerika kennenzulernen. Der Anblick Im Zuge der Revolution, in deren Folge er auch für Todesurteile des Elends in weiten Teilen des Kontinents beeinflusst sein Denken gegen Vertreter des alten Regimes verantwortlich gezeichnet haben soll, nachhaltig. stieg Che zum Chefideologen auf. Er wurde zum Leiter der NationalEine entscheidende Wendung erfährt das Leben Guevaras, als er im bank sowie zum Industrieminister ernannt. Geldscheine unterzeichnete Sommer 1955 in Mexiko-Stadt Fidel Castro kennenlernt. Bereits nach er, der Geld eigentlich verachtete, kurz mit „Che“. Doch mit seiner dem ersten Abend stand fest, dass Che die exilkubanischen Rebellen Politik der Verstaatlichung scheiterte er. Er verlangte von den Kubabei ihrem erneuten Umsturzversuch auf nern die gleiche Selbstaufopferung, die ihrer Heimatinsel unterstützen würde. Er er selber versuchte vorzuleben. Neben heuerte als Arzt an. Castro erinnert sich der Talfahrt der kubanischen Wirtschaft später wie folgt an die einzige Bedinführten Konflikte mit dem (damals) eher gung, die Che für seine Teilnahme stellpragmatisch ausgerichteten Fidel dazu, te: „Wenn die Revolution in Kuba siegdass Che 1965 urplötzlich aus dem öfreich verlaufen ist, dann verbietet mir fentlichen Leben der Karibikinsel vernicht, nach Argentinien zu gehen, um schwand und sein revolutionäres Glück auch dort für die Revolution zu kämpin anderen Teilen der Welt suchte. „Unfen.« Guevara war in der Zwischenzeit ter mir spüre ich wieder die Rippen Ropolitisch immer weiter nach links gesinantes“, schrieb er damals in einem rückt. Entsprechende Lektüre und auch Brief an seine Mutter in Anspielung auf die Erfahrungen in Guatemala, wo er das Pferd von Cervantes´ tragischer Ritt1954 Zeuge eines von den USA unterergestalt „Don Quijote“. Es folgten zwei stützen Militärputsches gegen eine linke Jahre der Rückschläge und des ScheiRegierung wurde, hatten ihn geprägt. terns: erst im Kongo und dann in BoliviDer Verlauf der kubanischen Revoluen. Völlig aufgerieben und ohne Untertion ist inzwischen Legende: Auf der stützung in der Bevölkerung geriet Che Yacht „Granma“ wagten 82 Rebellen um nahe der kleinen Ortschaft La Higuera Castro Ende 1956 die Überfahrt von in den östlichen Ausläufern der Anden Mexiko nach Kuba. Bei ihrer Landung in Gefangenschaft und wurde gleich am wurden sie von den Truppen des Diktanächsten Tag durch das bolivianische tors Batista fast aufgerieben. Nur zwölf Militär exekutiert. Um die Welt ging das Revolutionäre überlebten und flüchteten Bild des im Waschhaus von Vallegrande in die Berge der Sierra Maestra. Doch es aufgebahrten Ches: „Es war unglaublich: gelang den in der Bevölkerung populäEr sah eigentlich nicht wie eine Leiche ren Rebellen, neue Mitstreiter zu finden aus. Es schien, als schaute er mir mit seiund durch Überraschungscoups und genen offenen Augen direkt in die Kameschickte Propaganda die wenig motivierra. Sein Blick war ungebrochen“, erinten Truppen Batistas zu bezwingen. Che nert sich der Bayer Erich Blössl, der dawurde dabei zusehends vom Arzt zum mals als Entwicklungshelfer vor Ort war Das Che-Bild von Alberto Korda gehört aktiven Kämpfer mit der Waffe in der zu den am meisten reproduzierten Fotos der Welt. und das Geschehen miterlebte. 24 Die Umstände trugen zum Märtyerkult bei. Da half es auch nichts, dass die Gebeine an der Fluglandebahn von Vallegrande verscharrt wurden und dort knapp 30 Jahre versteckt lagen, ehe ein damals beteiligter Soldat plauderte. Argentinische und kubanische Suchtrupps forsteten das Areal mit Spitzhacken durch, bis endlich die Gebeine gefunden wurden. Castro ließ sich die Propaganda-Chance nicht entgehen und inszenierte eine pompöse Überführung und Beisetzung. Heute ist Che in Kuba eine Art Nationalheiliger, der auf unzähligen PropagandaPlakaten zu sehen ist. „Che war ein großer Held in Kuba. Sein leuchtender Stern ging aber in dem Moment aus, als er Kuba verließ“, meint Blössl, der dem Revolutionär nicht viel Positives abgewinnen kann: „Che war ein verbissener Weltrevolutionär. Seine Idee vom neuen Menschen war illusorisch.“ Dabei hätte Guevara, der gelernte Arzt, den Menschen als Mediziner viel besser helfen können. Aber er sei halt ein Mann der Waffe gewesen, meint Blössl. Ein ganz anderes Verhältnis zu Che hat Eladio González, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Erinnerung an den Revolutionär in Argentinien hochzuhalten. Der heute 66-Jährige wurde bei einem KubaAufenthalt Anfang der Neunzigerjahre zum Che-Fan. Er gründete das Solidaritätskomitee „Chaubloqueo“, das ein Ende des US-Wirtschaftsembargo gegen Kuba fordert, organisierte mit seiner Frau Irene Perpiñal diverse Hilfslieferung und eröffnete in Buenos Aires ein Che Guvara-Museum. Das Gebäude in der Calle Nicasio Oroño im Stadtteil Caballito diente zugleich als Kulturzentrum. Doch in Folge der politi- Foto: mc Eladio González will die Erinnerung an Che in Buenos Aires aufrechterhalten. Foto: mc Auf den Straßen von Buenos Aires ist das Konterfei Che Guevaras präsent. Foto: mc Erich Blössl war damals vor Ort als die Leiche des Che im Waschhaus des Krankenhauses von Vallegrande zur Schau gestellt wurde. schen und wirtschaftlichen Krise 2001/02 musste der Standort aufgegeben werden. Die erbetene Hilfe von der Stadtverwaltung sei ausgeblieben, so González. Mit einigen wenigen Exponaten und Fotos in seinem Antiquitätengeschäft in der Calle Rojas hielt er die Erinnerung aufrecht. In diesem Jahr nun soll das Museum im Kulturzentrum der „Madres de Plaza de Mayo“ (Avenida del Libertador 8465) eine neue Heimstatt finden. Für González ist Che Guevara ein absolutes Vorbild in Sachen Menschlichkeit und Konsequenz, mit dem sich das „offizielle Argentinien“ gleichwohl immer schwer getan habe. Seitens der argentinischen Medien habe man lange meist nur negativ über den Revolutionär berichtet. Es habe viel Zeit gebraucht, ehe sich in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild vom gefährlichen Freischärler zugunsten eines von moralischen Prinzipien geleiteten Revolutionärs gewandelt habe, meint González. Es gibt jedenfalls keinen anderen Argentinier, der weltweit eine so große Wirkung erreicht hat. Das eingangs erwähnte Bild, das Alberto Korda im Jahre 1960 machte, gehört zu den am meisten vervielfältigten Fotos der Welt. Überall gilt Guevara als Symbolfigur für Protest und Revolution. Zuerst bei den 68er-Demonstrationen auf den Straßen der Metropolen des Westens, wo der linke Rebell in der Zwischenzeit fast zu einer Pop-Ikone geworden ist, die auch zu kommerziellen Zwecken vermarktet wird. Später auch in Lateinamerika, das in der letzten Dekade einen Linksruck erfuhr. Hier erlebte Che Guevara mancherorts eine regelrechte Renaissance. Staatschefs wie Hugo Chavez oder Evo Morales beziehen sich in ihrer Politik und öffentlichen Reden auf den Argentinier. Das Konterfei des ersten und einzigen „linken Popstars“ ist bei Protestdemonstrationen in aller Welt auf Plakaten, T-Shirts und Fahnen dabei. Dass dies so ist, liegt sicherlich – neben seinem konsequenten Weg - auch an dem frühen Tod Guevaras, der ihn unsterblich gemacht hat. So bleibt in der Welt das Bild des jungen und attraktiven Revolutionärs zurück. Ein heute über 80-jähriger Che würde sich sehr viel schwerer als Ikone und Projektionsfläche für die Träume jugendlicher Protestierer eignen können. In Argentinien gibt es derzeit zwei Museen, die Che Guevara gewidmet sind: Eines in Alta Gracia (Provinz Córdoba), wo Che einen Großteil seiner Jugend verbrachte. Ein anderes Museum befindet sich in San Martín de los Andes. Dort gibt es eine Ausstellung in einer ehemaligen Scheune, in dem Che und sein Freund Alberto Granado während ihrer Reise nächtigten. In Rosario, der Geburtsstadt des Revolutionärs, gibt es seit knapp einem Jahr eine Che-Statue. In diesem Jahr will Eladio Gonzáles das Che Guevara-Museum von Buenos Aires im Kulturzentrum der „Madres de Plaza de Mayo“ (Avenida del Libertador 8465) neu eröffnen. 25 Atombomben auf Buenos Aires Wie und warum Buenos Aires 1962 ins Visier der sowjetischen Fernraketen geriet Von Federico B. Kirbus B uenos Aires (AT) - Nahezu geropa keinerlei Transzendenz.“ Die räuschlos rollte die anthrazitTeilnehmer verglichen ihre Listen schwarze Zil-Limousine, vom mit der großen Wandkarte, um sich Kreml kommend, den Mittelstreifen zu vergewissern, wo Malta lag. des Akademika Sakharova ProDann machten sie ein Kreuz oder spekts, dann des Bolevard Charkidurchstrichen die Zeile, mit Bleizovskaja und anschließend der stift: weiche, tonsatte Graphitmine Schelkavskoya Schosse entlang, 2 B, deren Strich selbst durch Wasstets in nordöstliche Richtung, endsereinfluss erhalten blieb. Wie es lich auf der A-103 bis Gorbowo. Vorschrift für sämtliche sowjetiZwei Insassen in Zivil mit Bürschen Streitkräfte war. Deshalb: stenschnitt. Kein Stander, selbst Schreibmaschine mit schwarzem kein besonderes Kfz-Kennzeichen Band und Bleistift auf Papier. Dahätte die Zil 111 G als Regierungsmit waren die Sowjets den Nordfahrzeug verraten, wäre es nicht des amerikanern sogar auch im schweUmstandes wegen gewesen, dass der relosen Raum im Vorteil, denn wähLuftaufnahme der Ford-Werke in Pacheco (circa 1962). Wagen den für die Nomenklatura rerend die Kosmonauten in den servierten Mittelstreifen der Hauptstadt-BouEs war ein Dienstag, der Tag, an dem sich Raumkapseln problemlos Notizen machen levards benutzte. wie allwöchentlich der Stab für die Revidiekonnten, hatte die NASA ihren Astronauten unSchon vor Gorbowo wurde die Gegend walrung und Aktualisierung der ausgewählten bedachterweise moderne Kugelschreiber in die dig und die Straßen fast leer. Es ging durch eine Atomziele der roten Interkontinentalraketen Hand gedrückt, die im schwerelosen Raum parDatschengegend, bis die Zil 111, ein sowjetitraf, die von hier auf ihre Objekte in Großbritout nicht funktionierten. sches Imitat des nordamerikanischen Ford Fairtannien, in den USA und wer weiß sonst noch „Die heutige Neuigkeit, die ich vom Politlane aus den Smolensker Automobilwerken, vor wo im kapitalistischen Westen gerichtet werbüro bringe, ist das bisher am weitesten enteiner unscheinbaren Villa anhielt. den konnten. fernte Ziel für unsere ballistischen NuklearraEin Wachtposten am Tor salutierte, prüfte Ein rundes Dutzend Männer erwarteten die keten“, fuhr Koloschenko fort, während ihn die die Ausweise und ließ das Auto in den Garten, Besucher und deuteten bei deren Eintreffen Teilnehmer erwartungsvoll anblickten. „Glückwo es unter dichten Baumkronen parkte. militärischen Gruss und Haltung an. Es war wie licherweise zeigen unsere jüngsten SchießverDas Äußere des Gebäudes ließ nichts von gesagt ein Dienstag, und es war im Oktober suche, dass es möglich ist, mit unseren modernseinem Inneren erahnen, in das die beiden An- 1962. sten Waffen ein so weit entferntes Ziel zu erkömmlinge traten: hell erleuchtete Räume, Der eigentlich wichtige der beiden An- reichen.“ Schreibtische mit Telexapparaten und Telefokömmlinge, seines namens Pjotr AlexandroKoloschenko atmete tief durch. nen, Konsolen, und Karten an den Wänden, an witsch Koloschenko und beruflich Oberst der „Einige von Ihnen werden den Namen kendenen bunte Lämpchen leuchteten. Alles noch Luftwaffe, war Verbindungsoffizier zwischen nen, andere vielleicht nicht. Ich spreche also brav elektrisch, denn das kybernetische Zeitaldem Stab des Oberkommandos der Strategidie Ortsbezeichnungen langsam und deutlich ter funkelte erst in Zukunftsromanen. Und, unschen Raketen und Bomber im Kreml, das seiaus: AR GEN TI NA und BUE NOS AI RES. sichtbar, sämtliche Fenster mit doppelter Vernerseits vom Politbüro abhing, und der unterKlar? Hier noch die Grobkoordinaten: 34 Grad glasung, damit von außen niemand per Richtirdischen Einsatzzentrale in Gorbowo. 36 Minuten Süd und 58 Grad 22 Minuten westmikrofon die Gespräche in den Räumen erlauDie Anweisungen des Politbüros über das lich von Greenwich.“ schen konnte. Oberkommando wurden von Koloschenko nach Zwei der Teilnehmer waren an die WandVon einem Seitenraum konnte man mit eiGorbowo gebracht, denn die Daten konnten und karte getreten und maßen die Entfernung mit nem modernen Lift in die Untergeschosse fahdurften weder per Telex noch per Fernsprecher dem Handspann ab. ren. Und zwar ziemlich tief, denn das Villendurchgegeben werden, auch schon deshalb, um „Fast fünfzehntausend Kilometer!“, bergebäude stand -absichtlich- exakt auf dem mögliche Irrtümer zu vermeiden. Von Funk merkte der eine überrascht. Schaft einer längst aufgegebenen Kohlengruganz zu schweigen. „Nicht ganz“, beruhigte Koloschenko. „Nabe, wo man vor Jahrzehnten das schwarze Gold Die Runde nahm Platz, Koloschenko an der türlich würden wir die Raketen aus unseren am zu fördern gedachte, was sich jedoch als unStirnseite des Tisches. Obwohl fast alle eingeweitesten südwestlich gelegenen Silos abfeuwirtschaftlich erwiesen hatte. fleischte Zigarettengenießer waren, rauchte ern, beispielsweise in der Nähe von Kiew, was Lautlos glitt der Aufzug 200 Meter weit in niemand. Auch von Wodkaflaschen nicht die meinen Sie, Gawreliuk?“ die Tiefe. In den Ohren der beiden Besucher geringste Spur. Abstinenz total. „Jawohl Herr Oberst, entweder Kiew oder knackte es wegen des Druckunterschiedes, be„Gut, Genossen“, begann Koloschenko sei- aus einem der verstärkten Silos in der Gegend vor sich die Türen öffneten. Ein kurzer Gang nen Vortrag. „Wir haben heute zwei Ziele zu von Winniza. Aber auf alle Fälle sind es mehr führte in einen früheren Stollen, der in einen bearbeiten: eines wird gelöscht, das andere soll als 13.000 Kilometer, ein Drittel des ErdumKonferenzraum für etwa 20 Personen verwanletzteres als mögliches Angriffsziel ersetzen.“ fanges! Weswegen wir mindestens unsere R 16 delt worden war, mit einem Lagetisch in der Koloschenko blickte auf die Konferenzteil- Raketen einsetzen müssten. Oder die neuen UR Mitte. nehmer, von denen jeder ein Register mit auf100, die als vollständig einsatzbereit gemeldet Das Büro tief unter den Kiefernwäldern war gelisteten Angriffszielen in die Hand nahm und sind“, schloss Gawreliuk, der Spezialist für in Wahrheit die Kommunikationszentrale für zurechtrückte. Reichweiten-Fragen. „Außerdem verbleiben sämtliche sowjetischen Raketenstützpunkte „Das eine Objekt, das wir eliminieren müs- uns noch immer unsere Atom-U-Boote im Südzwischen dem Baltikum und Wladiwostok, sen, weil es laut Politbüro jede militärische und atlantik“. zwischen Leningrad und Sewastopol. Der unpolitische Wichtigkeit verloren hat, ist Malta. „Nicht nötig“, unterbrach Koloschenko. terirdische Raum war nämlich das Herz und Diese Mittelmeerinsel war seit dem Altertum „Unsere landgestützten Raketen mit den neuHirn des Atomwaffenarsenals des Kreml. Wobis noch zum Großen Vaterländischen Krieg en Treibstoffen und den verbesserten, hochpräher die beiden Besucher gerade herkamen. In von überragender strategischer Bedeutung. zisen Inertial-Zielgeräten, sollten genügen. zweihundert Meter Tiefe, dachte man damals, Doch im Zeitalter der Fernbomber, der AtomVorerst ‚schießen’ wir uns auf der Karte auf war man vor Atomschlägen gefeit, obwohl man U-Boote und der Interkontinentalraketen besitzt unser neues Ziel ein. Unsere Informanten in später noch sicherere Befehlsbunker baute. das Felseneiland zwischen Afrika und SüdeuBuenos Aires haben uns die ungefähren Koor- 26 dinaten bereits durchgegeben, bald aber erhalten wir die exakten Längen- und Breitendaten unseres Ziels.“ „Und das wäre?“, fragte ungeduldig einer der Anwesenden, Bleistift zwischen den Fingern. Koloschenko schaute auf seine Unterlagen und räusperte sich, bevor er antwortete. „Auch die Amerikaner haben gelernt. Besonders seit Pearl Harbor wissen sie, dass sie zwar weit ab vom Rest der Welt liegen, aber nicht unerreichbar sind, weder zur See noch zur Luft. Die Flugzeugträger haben vieles geändert, die strategischen U-Boote, die Langstreckenbomber. Schon im zweiten Weltkrieg mussten sie daher mehrere große Kriegsindustriebetriebe, die in der Nähe der Atlantik- und der Pazifikküste lagen, aufwendig tarnen, um sich vor den Japanern und den Deutschen zu schützen.“ *** Während des 2. Weltkrieges, nach Pearl Harbor, machten sich die USA ernste Gedanken darüber, dass auch das nordamerikanische Festland von japanischen Bombern heimgesucht werden könnte. Besondere Sorgen bereiteten die in Küstennähe befindlichen Industrien, so vor allem die in Burbank nahe Los Angeles gelegenen Lockheed-Flugzeugwerke, ein riesiger Komplex gewaltiger Hallen, die kinderleicht ausfindig zu machen waren. Das II Army Corps of Engineers beschloss daher, die ausgedehnte Anlage mit Netzen zu verdecken, aus denen künstliche Baumkronen herausragten. Alles sah aus der Luft schließlich so aus wie eine ländliche Wohnsiedlung. Was nun wiederum die Bosse mehrerer Filmstudios erzürnte, die in der Gegend ebenfalls große Hallen besaßen und vom Feind leicht mit der Flugzeugfabrik verwechselt werden konnten. Ein Filmboss: „Dann werden wir am Boden riesige Pfeile und Hinweisschilder anbringen müssen: „Dorthin geht es zu Lockheed.“ Ähnlich wurde mit der von Ford erbauten Fabrik in Willow Run, zwischen Ypsilanti und Belleville, Michigan, verfahren: sie wurde in Rekordtempo für die Produktion der aus jeweils 488.193 Einzelteilen zusammengesetzten, viermotorigen B 24 Liberator-Bomber errichtet und stellte schließlich eine Maschine in der Stunde her. Weil sie sehr weit von der Küste lag, mussten die Hallen nicht getarnt werden. Und noch der Fall der Ajax-Waffenschmiede bei Ontario, Kanada. Hier wurde auf offenem Feld gleichfalls ein Industriekomplex quasi über Nacht aus dem Boden gestampft, in gebührender Entfernung von der Küste. Als man der Anlage (und heutigen Stadt) einen Namen geben musste, erinnerte man sich daran, dass sich bei der Seeschlacht zwischen dem deutschen Panzerschiff Graf Spee und drei alliierten Schiffen ein Kreuzer befand, der HMS Ajax hieß. So kam dieser britische Zerstörer zu unerwartetem Nachruhm. *** „Die Amerikaner, wie ich schon sagte, haben’s gelernt und wissen, dass sie nicht unerreichbar sind. Deshalb haben sie noch eins draufgesetzt und jetzt im fernen Südamerika ein Werk zur Herstellung von Raketen fertiggestellt“, setzte Koloschenko seinen Vortrag fort. „Ihr neuester Trick ist es, eine Kraftfahrzeugfabrik zu bauen, in der auch gegebenenfalls In- B 24 Montagewerk Willow Run von Ford: 25 Bomber täglich. terkontinetalraketen produziert werden können.“ Koloschenko blickte seine Leute reihum an. „Jetzt, angesichts der steigenden Gefahr durch unsere Fernraketen, baut Ford ein Kraftfahrzeugwerk im scheinbar weit entfernten und friedlichen, aber heutzutage eben doch nicht unerreichbaren Argentinien, nahe der Hauptstadt Buenos Aires. Was naheliegender, als das Montagewerk von Anbeginn so auszulegen, dass neben Personenwagen, Pick-ups und Lastern auch Raketen montiert werden können?“ Mehrere der Anwesenden nickten zustimmend mit dem Kopf. „Konkret: vor etwa zwei Jahren erwarb die Ford Motor Company in einem Vorort von Buenos Aires, genannt General Pacheco, ein Areal von einhundertelf Hektar. Es liegt etwa 35 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt. Für das Gelände und die darauf errichteten Werksanlagen gaben die Nordamerikaner rund 70 Millionen Dollar aus, die bisher größte Auslandsinvestition der Detroiter. Natürlich nicht nur, um ihre südamerikanischen Nachbarn mit Automobilen zu versorgen, sondern alles ist so geplant und ausgeführt, dass man sozusagen im Handumdrehen von Autos auf Raketen umstellen kann. Sämtliche Anzeichen deuten unverhohlen darauf hin, dass in den hohen Hallen mit den weiten Gängen große Flugkörper montiert werden können. Schließlich waren es schon im zweiten Weltkrieg die Privatbetriebe, die durch Umstellung auf Kriegsindustrie die wenigen echten Kriegsgewinnler waren.“ Koloschenko setzte erneut an: „Was wir da sehen, ist eine Blaupause ähnlicher Projekte aus den 40er Jahren. Mit folgendem Zusatz: zunächst würde niemand daran denken, worum es sich in Wahrheit handelt. Von außen sieht es brav wie ein harmloses Puppenhäuschen aus, doch drinnen ist alles dafür vorgesehen, nach kurzer Umstellung die ICBM Atlas zu bauen – und all das außerhalb der Reichweite feindlicher -unserer- Raketen!“, trumpfte Koloschenko mit erhobenen Augenbrauen auf. „Aber, wir verfügen über die erfolgreichen Ergebnisse unserer letzten Tests: mit den mit neuartigen Treibstoffen betriebenen Raketen vom Typ UR-100: gut 14.000 Kilometer mit überraschender Treffsicherheit. Natürlich, das wäre ein Angriff der zweiten Welle. Wir würden die Anlage mit zwei Detonationen unserer Fissionswaffen dem Erdboden gleich machen. Weder im Pentagon noch die Jungs vom Corps of Engineers Ballistic Missi- le Const Office (CEBMCO) in Omaha, Nebraska, mögen sich wohl vorstellen, dass wir ihre neuestes und glitzerndstes Juwel in der unbewohnten Pampa bereits im Visier haben. Vorerst notieren wir das Ziel und bereiten zwei Raketen mit mittelschwerem Gefechtsköpfen vor.“ „Und welche Kraft sollen die Sprengkörper haben, von welchem Typ?“ fragte Witebski, ein anderer aus der Runde. „Wie ich schon erwähnte: zwei mittelstarke Uran 235-Köpfe, also Kernschmelze. Nichts da von Kernfusion, eine Wasserstoffbombe ist zu schwer und zu teuer in diesem Fall. Uran U235 oder Plutonium genügen. Diese modernen Hallen aus einem Fachwerk-Metallgerippe und Wellblech werden schon durch ein kräftiges Niesen wie Tarockkarten weggeblasen. Zweihundert Meter Zielpräzision sollten ausreichen.“ „Immerhin“, warf ein anderer Teilnehmer ein, „wir sollten nicht vergessen, dass Argentinien nicht nur ein westliches, sondern auch ein neutrales Land ist.“ „Ist mir absolut klar“, sagte Koloschenko. „Doch wenn eine Regierung den Aufbau einer neuen Industrie genehmigt, muss sie wissen, worum es sich wirklich handelt. Vor kurzem wurde dort mit dem Bau von Autos begonnen, aber alles ist vorbereitet, um auf die Montage von ballistischen Flugkörpern umzustellen. Und in der weiten Pampas-Ebene haben die Nordamerikaner obendrein noch mehr als genügend Raum, um außerdem unterirdische Abschussbunker einzurichten. Mister Robert McNamara, der nordamerikanische Kriegsminister, wird sich wundern. Meine Herren, ich danke Ihnen, Nächste Woche bitte den ersten Rapport, ja?“ Koloschenko grüßte kurz und ging. Oben empfing ihn der erste kalte Oktoberwind. *** Diese Episode könnte sich so oder ähnlich abgespielt haben. Oder auch nicht. Tatsache ist, dass gerade in jenen Tagen Präsident Kennedy die in der Karibik stationierte US Navy anwies, den sowjetischen Transporter Grozny abzufangen, an dessen Bord sich Raketen und Abschussrampen befanden – mit Kurs Kuba. Dass die Werkanlagen in General Pacheco tatsächlich zur Umstellung von Kraftfahrzeugauf Raketenherstellung ausgelegt waren, erfuhr der Autor dieses Artikels seinerzeit aus dem Mund der nordamerikanischen Techniker, die am Aufbau des Werks beteiligt waren. Die Bilder der Hallen sprechen im übrigen eine mehr denn deutliche Sprache. Es war 1962 übrigens nicht das letzte Mal, dass Argentinien in das Visier von ferngelenkten Atomsprengköpfen der Großmächte geriet. Zwanzig Jahre später, während des MalwinenKonflikts, als die Argentinier vorübergehend die Oberhand über die Briten erlangt hatten und der Ausgang der Kämpfe ungewiss war, soll gut unterrichteten Quellen zufolge Missis Thatcher „vorsorglich“ angeordnet haben, mit Nuklearraketen eines ihrer Atom-U-Boote die Industriestadt Córdoba anzupeilen. Denn die Verluste der Engländer, bis heute schamhaft verschwiegen, waren doch wesentlich schwerer als zugegeben: 1.029 Gefallene, 31 Schiffe beschädigt oder versenkt, 45 Flugzeuge zerstört bzw. abgeschossen. 27 Wollte Hitler auch nach Argentinien? 70 Jahre Patagonien-Affäre Von Georg Ismar B uenos Aires - Hunderte Argentinier drängeln sich an jenem Tag vor den Vitrinenkästen der Zeitungen in Buenos Aires. «Will Hitler Patagonien erobern?», lesen sie reichlich erstaunt. Es ist der 31. März 1939, mehrere argentinische Zeitungen drucken einen angeblich von der Deutschen Botschaft in Buenos Aires stammenden Brief an das Kolonialpolitische Amt der NSDAP in München. Darin wird Patagonien als Niemandsland klassifiziert, das im Handumdrehen zu annektieren sei. Die Argentinier sind in heller Aufregung, sie fürchten, dass die vielen Deutschen im Land eine Vorhut, eine Art fünfte Kolonne bilden, die den Weg für Hitlers Argentinien-Abenteuer ebnen sollen. War vor 70 Jahren nach Österreich und der Tschechoslowakei nun das ferne Land am Río de la Plata wirklich das nächste Ziel Hitlers? Wollte man so die deutsche Sehnsucht nach Kolonien erfüllen? Die Die Meldung war Betrug, die Angst real – Nazis in Rio Gallegos, Patagonien. Argentinier bekommen es mit der Angst zu tun. Seit Jahren hat sich die Stimmung gegen die rund heimdienst seine Finger im Spiel hatte und Jürges unterstützt hat, um 230 000 Deutschen und Deutschstämmigen im Land aufgeschaukelt - so die Stimmung gegen die Deutschen anzustacheln. Die Deutsche spätestens seit 20.000 im April 1938 in Buenos Aires den «Anschluss» Botschaft dementiert sofort heftig, dass der Brief von ihr stamme. Österreichs gefeiert haben. Patagonien, diese riesige, menschenleere, Auch das von Schweizern 1889 gegründete «Argentinische Tagevon Gletschern und wilder Natur geprägte Region sei tatsächlich kaum blatt» (AT) veröffentlicht das Jürges-Dokument. «Als die Zeitung den geschützt, stellt man fest. gefälschten Brief veröffentlichte, hat sie das nicht gewusst. Später Im Verbund mit deutschen Emigranten, die vor den Nazis an den schon», weist der heutige Herausgeber, Roberto Alemann, den Vorwurf Río de la Plata geflüchtet waren, fordern viele argentinische Zeitungen des bewussten Arbeitens mit Fälschungen im Kampf gegen «Nazidrastische Maßnahmen. Mitte Mai wird die NSDAP-Landesgruppe ver- Umtriebe» zurück. boten. «Die dokumentierten Gerüchte, dass Hitler Patagonien ähnlich Die Deutsche «La Plata»-Zeitung, Gegenspielerin des AT und Sprachwie Österreich annektieren wollte, riefen selbst in Regierungskreisen rohr der dem Dritten Reich zugeneigten Deutschen, schäumte. Den Zorn Irritationen hervor», sagt der Kölner Historiker Holger M. Meding. bekommt neben dem «Argentinische Tageblatt» auch die EmigrantenEs herrschte eine fast hysterische Stimmung, doch das Dokument organisation «Das andere Deutschland» zu spüren. «Pseudodeutsche war eine Fälschung. Verantwortlich: Heinrich Jürges. Aus der NSDAP hetzen mit», titelt die Zeitung. «Geflüchtete Vaterlandsverräter treten ausgeschlossen, emigrierte er nach Lateinamerika und schloss sich der in Aktion. Wüste Hetze gegen das Dritte Reich», ist im Untertitel zu Schwarzen Front an, einer Gruppe von NSDAP-Dissidenten. Ein Mo- lesen. tiv für die Fälschung könnte Rache gewesen sein. Der kanadische HiDie Patagonien-Affäre sei ein markanter Wendepunkt gewesen, sagt storiker Ronald Newton hält es für erwiesen, dass der britische Ge- der an der Universität Köln lehrende Lateinamerikahistoriker Meding. «Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sich der Ableger der NSDAP am Río de la Plata ziemlich frei entfalten, Propaganda betreiben und einen großen Teil der ansässigen deutschen Gemeinschaft gleichschalten.» Warum aber fielen die Argentinier so leicht auf die Fälschung herein? «Nun, man muss die damaligen Zeitumstände berücksichtigen», sagt Meding. «Das 1932 völlig danieder liegende Deutschland hatte sich zum grenzenlosen Erstaunen der Argentinier in nur sechs Jahren zur Hegemonialmacht Europas entwickelt, hatte Österreich und das Sudetenland annektiert und war in die sogenannte Rest-Tschechei einmarschiert», analysiert der Wissenschaftler und ergänzt: «Im Spanischen Bürgerkrieg hatte man Franco zum Sieg verholfen. Offen wurden nun auch Ansprüche auf Kolonien angemeldet.» Und die Gerüchte fielen auf fruchtbaren Boden, da es in Teilen der Bevölkerung eine Vorliebe für Fantastereien rund um das Dritte Reich gab, wie mehrere Forscher schreiben. Das ist zum Teil bis heute so. Recht erfolgreich im Geschäft ist der Hobbyhistoriker Abel Basti, ein viel verkauftes Buch von ihm heißt «Hitler in Argentinien». Er will eindeutige Beweise gefunden haben, dass Hitler und Gattin Eva Braun per U-Boot 1945 in Argentinien gelandet sind und dort ihren Lebensabend verbracht haben. Der Selbstmord im Führungsbunker sei eine «große Inszenierung» gewesen, ist Basti felsenfest überzeugt. Patagonien – menschenleer und kaum geschützt. 28 Von Kränen und Worthülsen Ein Rückblick auf die Beziehung der DDR zu Argentinien Von Wiebke Tasch und Stefan Kuhn D eutschland und Argentinien verbindet viel. zur Sowjetunion, zu den östlichen Nachbarn PoSeit über 150 Jahren gibt es diplomatische Belen und CSSR sowie zur Bundesrepublik Deutschziehungen zwischen beiden Ländern. Deutsche land an der Spitze der außenpolitischen Agenda.” Einwanderer haben Spuren hinterlassen und zur Ein Beispiel für die anfangs strikte Anwendung Entwicklung des Landes beigetragen. Relativ dunder Hallstein-Doktrin ist der Besuch einer Delekel bleibt allerdings ein jüngeres Kapitel der gation des Bundestages im Frühjahr 1960 in Bradeutsch-argentinischen Geschichte. Wie waren die silien, wo Bundestagspräsident Eugen GerstenBeziehungen zwischen Argentinien und dem zweimeier unverhohlen drohte: “Leider müssten wir ten deutschen Staat, der DDR? mit Brasilien brechen, falls die Beziehung zu OstDeutlich sichtbar ist die Deutsche Demokratideutschland aufgenommen würden.” sche Republik nur an einer Stelle in Argentinien: Gegenstück der Hallstein-Doktrin seitens der an den Docks des Puerto Madero. Vor den in den DDR war die sogenannte Ulbricht-Doktrin, mit 90er Jahren zu Wohn- und Geschäftshäusern umder sich die Staaten des Ostblocks von der Bungebauten ehemaligen Lagerhäusern erheben sich desrepublik abgrenzten. Sie besagte, dass Staaten Lastkräne mit der Aufschrift „VEB Kranwerke im Hegemonialbereich der UdSSR nur Verträge Eberswalde“. Die Kräne wurden nicht lange und mit der BRD abschließen, wenn diese die DDR werden seit langem nicht mehr genutzt, aber imvölkerrechtlich anerkennt. Die DDR behalf sich merhin trägt auch heute noch ein „Volkseigener mit der Schaffung von Handelsmissionen in verBetrieb“ zum postindustriellen Ambiente des noschiedenen Staaten. Allergisch reagierte man in blen Ausgehviertels bei. Bonn nur auf die Worte Anerkennung und BotAnsonsten gibt es wenige Verbindungen. Am schafter. Rande vielleicht die Familie Bunke. Sie steht für Die Hallstein-Doktrin wirkte, wurde aber leeinige den Nationalsozialisten entkommene soziadiglich zweimal konsequent angewandt: im Falle Sichtbares Zeichen – listische oder kommunistische Flüchtlinge, die in Jugoslawiens 1957, sowie 1963 bei Kuba, nachdie Kräne am Puerto Madero. Argentinien Unterschlupf fanden und nach dem dem der Staat die DDR anerkannt hatte. Einen 2. Weltkrieg in den sozialistischen Teil Deutschlands zogen. Der Vater, Erfolg verbuchte die Bundesrepublik beim 1958 unabhängig gewordeErich Bunke, ein kommunistischer Arbeitersportler, war 1935 nach Ar- nen afrikanischen Staat Guinea. Als Guinea 1960 einen Botschafter gentinien gekommen. Er war in Buenos Aires im sozialistischen Club nach Ostberlin schickte, wurde der bundesdeutsche abgezogen. Die Vorwärts engagiert und kehrte 1952 nach Deutschland zurück. Seine Afrikaner leugneten, jemals einen offiziellen Vertreter entsandt zu haBiografie lässt es erahnen: in die DDR. Bunkes Tochter Tamara ging ben. Die Bonner waren beruhigt, und schickten den ihren wieder nach als „Tania la Guerrillera“ in die Geschichte ein. Die gebürtige Argenti- Conakry. nierin starb 1967 mit Che Guevaras Guerrilla-Truppe in Bolivien. Über In Lateinamerika war der Kampf um Anerkennung für die DDR weden Club Vorwärts gab es Kontakte zwischen den Rückwanderern und sentlich härter. Deutschland bedeutete in fast allen Staaten der Region den in Argentinien gebliebenen Genossen. Der Vorwärts war auch die Bundesrepublik Deutschland. Erst durch Salvador Allende, den 1970 einzige Institution innerhalb der deutschen Gemeinschaft, die Informa- an die Macht gekommenen sozialistischen Präsident Chiles, bekam Osttionen über die DDR vermittelte. berlin nach Kuba ein zweites Standbein in Lateinamerika. Die ReaktiOffizielle Kontakte zwischen den beiden Staaten gab es vor 1973 on aus Bonn blieb aus. nicht. Dafür sorgte die „Hallstein-Doktrin“. Die nach Walter Hallstein Die auch in den Unionsparteien mittlerweile kritisierte Doktrin wur(CDU), dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und späte- de aufgeweicht. Willy Brandt, seit 1966 SPD-Außenminister eine groren EU-Kommissar, benannte Doktrin zementierte den Alleinvertre- ßen Koalition aus CDU/CSU und SPD, wandte sie nicht mehr an. Auch tungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland. Im Klartext hieß das, Staaten wie Irak, Algerien oder Ägypten nahmen Beziehungen zur DDR die Bundesrepublik bricht die diplomatischen Beziehungen zu einem auf, ohne dass die Bundesrepublik reagierte. Es begann eine neue Phase in der DDR-Außenpolitik, die wiedeLand ab, das diplomatische Beziehungen zur DDR aufnimmt. rum Willy Brandt, nunmehr Bundeskanzler einer SPD/FDP-Regierung, auslöste. Mit dem Grundlagenvertrag zwischen der BundesreKampf publik und der DDR, der am 11. Mai 1973 ratifiziert wurde, wurde gegen Hallstein Anerkennung war in den Anfangsjahren generell das außenpoliti- letztere faktisch als souveräner Staat anerkannt. Beide Staaten traten der UNO bei, und die DDR existierte politisch auch in nicht-sozialische Ziel der DDR. Lateinamerika war dabei eher eine marginale Region. Dahinter standen sowohl ein gewisses ökonomisches Desinteresse stischen Staaten. Die DDR-Führung bemühte sich jetzt um ein eigenständiges Auftreals auch der erwartete Druck seitens der wirtschaftlich bedeutenderen ten in den Regionen. Vor allem auch Lateinamerika. Die steigende Zahl von Besuchen lateinamerikanischer Außenminister in der DDR machte Bundesrepublik. die beginnende Normalität in den bilateralen Beziehungen deutlich. Raimund Krämer schreibt 1998 in den “Lateinamerika Nachrichten”: Annäherung “In größeren Abhandlungen zur an Argentinien DDR-Diplomatie nahmen die Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika Spezielle Aufzeichnungen zur Beziehung der DDR zu Argentinien eher einen marginalen Platz ein. Das verstauben vereinzelt in den Archiven und sind in diversen Büchern entsprach auch dem tatsächlichen verstreut zu finden, die ab und an jemand aus der Vergessenheit reißt. Stellenwert dieser Ländergruppe für In der der Bibliothek der Philosophischen Fakultät der Universität Buedie DDR-Außenpolitik. Dabei vari- nos Aires findet man deutsche Bücher, die von der Humboldt-Gesellierte zwar im Verlaufe der vierzig schaft, damals das ostdeutsche Pendant des Goethe-Instituts, gespenJahre der Platz einzelner Regionen, det wurden. Man erhält Fakten aus Jahrbüchern, die nicht die ganze wie z.B. Afrika oder der arabische DDR-Epoche abdecken, wie unter anderem die Jahresausgabe: “AuRaum, in der Prioritätenskala. Je- ßenpolitik der DDR – 1973”. Genauere Beschreibungen bleiben jedoch Tamara Bunke. doch waren stets die Beziehungen aus. Man erfährt beispielsweise, dass die diplomatischen Beziehungen 29 zu Argentinien am 25. Juni 1973 aufgenommen wurden, damit erschöpfen sich die Informationen bereits. Ein Fachmann für die Beziehungen zwischen Argentinien und der DDR ist Alfredo Bauer, der Vorsitzende des Club Vorwärts. Er selbst hat in dieser Zeit die DDR bereist, Kontakte geknüpft und in Vorträgen über den sozialistische Teil Deutschlands informiert. Der Verein hat immer Beziehungen zu beiden deutschen Staaten aufrechterhalten. “Das ist ein schwieriges Thema, denn der DDR wurden teilweise Steine in die Wege gelegt, seitens der BRD, seitens Moskaus. Beide verhinderten, dass tiefere Verbindungen zu anderen Staaten entstehen konnten“, erklärt Bauer. „In Argentinien existierte eine Handelsmission, die vom Club Vorwärts auch Unterstützung fand, so zum Beispiel stehen heute noch Kräne der Firma “VEB Kranbau Eberswalde” im Puerto Madero. Es entstand eine Freundschaftsgesellschaft Anfang der 60er mit dem Namen Ateneo, ein SED nahes Institut, das unter anderem Deutschunterricht in Buenos Aires gab. Auch entstand in Rostock das “Lateinamerika-Institut”, welches den Kulturaustausch förderte”, erinnert sich der Arzt und Schriftsteller. Also wieder die Kräne. Es scheint ein schwarzes Tuch über der Geschichte der Beziehungen zwischen der DDR und Argentinien zu liegen. Uwe Schoor, der ehemalige Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), pflichtet dem bei: “Die Geschichte der Beziehungen Argentinien-DDR muss erst geschrieben werden.” Der Feind meines Feindes Schreiben können wir diese Geschichte nicht, doch zumindest einzelne Informationen zusammenfassen. Wie bereits erwähnt, entstanden erste diplomatische Kontakte 1973. Der erste Botschafter der DDR in Argentinien hieß Dr. Günter Blum. Nach dem Besuch einer argentinischen Delegation im Mai 1974 in der DDR, folgte eine Reise einer Delegation der Volkskammer nach Mexiko, Kolumbien und Argentinien. Vom 20. November bis 3. Dezember 1974. Ein besonderes Interesse der damaligen Präsidentin Maria Estela Martínez de Perón bestand laut Protokollen darin, einen zukünftigen möglichst “regen Kulturaustausch” zu realisieren. Der offizielle Besuch, der sich hauptsächlich im Urlaubsort Mar de Plata abspielte, hatte folgende politische Schwerpunkte auf dem Programm: “Kampf für Entspannung in der Welt” und “Lösung aller Probleme in den internationalen BeziehunDelegationsleiter gen mit friedlichen MitHeinrich Homann (links). teln”. Präzisere Aufzeichnungen sind nicht zugänglich. Diese schwammige Diplomatensprache wurde in den folgenden Jahren beibehalten. Man wollte sich als Friedensstaat darstellen und hatte das auch nötig. Die „Rote Gefahr“ bestimmte die politische Agenda in den Staaten der westlichen Hemisphäre. Das erste Handelsabkommen mit Argentinien wurde am 31. Januar 1977 abgeschlossen. Die DDR schien wenig Probleme mit durch einen Putsch an die Macht gekommenen Generale gehabt zu haben. Im September tagte die erste “gemischte Regierungskommission” in der DDR, an der Argentinien teilnahm und die einen weiteren Ausbau der kommerziellen Beziehung feststellte. Ende der 70er Jahre verdoppelt sich auch wirklich der Handel zwischen der DDR und Argentinien. Ausschlaggebend war wohl ein stra- tegisches Interesse der UdSSR vor allem wegen dringend benötigter Getreidelieferungen. Die Devise für Satellitenstaaten wie die DDR lautete jetzt „friedliche Koexistenz“. Eine kleinere Rolle mag dabei auch die Feindschaft zwischen Argentinien und Chile gespielt haben: “Der Feind meines Feindes ist mein Freund.” Chile war wegen des PinochetPutsches gegen den demokratisch gewählten sozilaistischen Präsidenten Allende zum „Unstaat“ geworden. Vom drohenden Konflikt Argentiniens mit Chile wegen der Inseln im Beagle-Kanal erhoffte sich Moskau eine Schwächung Pinochets. Später spielte auch der Malwinen-Krieg eine Rolle, bei dem die UdSSR Argentinien bei Walter Hallstein. dessen “Kampf gegen den Imperialismus” Unterstützung anbot, die Argentinien freilich ablehnte. Im Gegensatz zu Moskau war die Militärjunta in Buenos Aires hier konsequent: Es wäre schon etwas pervers gewesen, nach dem „Schmutzigen Krieg“ gegen den Kommunismus im eigenen Land mit dem Mutterland des Kommunismus zu paktieren. Wesentlich gewichtigere Gründe für die Ablehnung dürften jedoch in der befürchteten Reaktion der USA gelegen haben. Ostberlin stand im Gegensatz zu Moskau dem Malwinen-Krieg skeptisch gegenüber: “Aus allgemeiner antikolonialer Hinsicht gab es in der DDR ein Verständnis für die Ansprüche Argentiniens, aber nicht für die Politik der dort herrschenden Militärjunta. Wir haben uns auf das Prinzip der Nichteinmischung zurückgezogen”, erinnert sich der frühere hohe DDR-Diplomat Joachim Naumann. Das kann man als eine hinsichtlich sozialistischer Ethik korrekte Entscheidung bezeichnen, aber außenpolitisch hätte sich die DDR gegenüber der Bundesrepublik Vorteile verschaffen können. Die stand klar auf der Seite Großbritanniens und stimmte für das Wirtschaftsembargo der damaligen EWG gegen Argentinien. Verfehlte Ziele Im Juli 1984 wurde auf der 5. Tagung der “gemischten Regierungskommission” eine Niederschrift über gemeinsame Ex- und Importvorhaben zwischen Argentinien und der DDR verfasst. In dieser Zeit exportierte wohl auch der “VEB Kranbau Eberswalde” seine Kräne nach Buenos Aires. Schon zur Amtseinführung des neuen neuen demokratischen Präsidenten Raúl Alfonsin im Dezember 1983 war eine DDRDelegation des Staatsrates anwesend. Sie wurde von Heinrich Homann geleitet, dem stellvertretenden Vorsitzenden der DDR-Regierung. Ein kleines Bonmot der Geschichte: Der Vorsitzende der Blockpartei NDPD hatte die DDR-Botschaft, in der die Delegation residierte, auch wieder besenrein zu übergeben. Argentinien bekannte sich unter Alfonsín zu den Blockfreien Staaten, denen damals auch sozialistisch regierte Länder wie Kuba oder Jugoslawien angehörten. Die „Blockfreien“ waren ein umkämpftes außenpolitisches Terrain von kommunistischen wie kapitalistischen Staaten. Aus dem Archiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR ist ein Kulturabkommen zu entnehmen, das beide Regierungen am 10. Juli 1985 in Berlin unterzeichneten, in zwei ExemIsabelita: regen plaren in deutscher und spanischer Kulturaustausch realisieren. Ausfertigung. Inhaltlich ging es um 30 die Zusammenarbeit auf Gebieten der Kultur, Kunst, Wissenschaft, des Bildungswesens, Sport und anderen. Aufschlussreich ist außerdem ein Auszug aus dem Band: “Außenpolitik der DDR 1985”. “Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Volkskammer der DDR, Hermann Axen, empfing am 14.11.1985 den Sonderbotschafter des argentinischen Staatspräsidenten Dr. Aldo Tessio. Dieser übermittelte herzliche Grüße des Präsidenten der Republik Argentinien, Dr. Raúl Alfonsin, an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker. Hermann Axen dankte und bat Dr. Aldo Tessio, Präsident Alfonsin aufrichtige Grüße Erich Honeckers zu überbringen. Die Gesprächspartner stimmten darin überein, die Deklaration von Delhi zu unterstützen und einen Beitrag im Kampf um Frieden und Abrüstung zu leisten.” Das ist DDR-Sprache wie sie leibt und lebt. Die Anstrengungen, die wirtschaftlichen Potentiale Lateinamerikas stärker zu nutzen, scheiterte nicht zuletzt an der ökonomischen Schwä- che und an der durch die Staatsdoktrin geprägten, mangelnden internationalen Kooperationsfähigkeit der DDR. „Wie in der realsozialistischen Außenpolitik generell, so war auch in der Politik der DDR-Führung gegenüber diesen Regionen ein erhebliches Maß an Ideologie, manchmal auch revolutionärer Romantik, vorhanden“, stellt Raimund Krämer in den Lateinamerika-Nachrichten fest. „Revolutionäre Romantik“ ist treffend: Es gab intensive Kontakte zum sandinistischen Nicaragua, zu Castros Kuba und auch zu Chile während der Regierungszeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Rund 5000 Verfolgte der Pinochet-Diktatur fanden in der DDR politisches Asyl, unter ihnen auch Chiles heutige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet. Argentinische Diktatur-Flüchtlinge dagegen zogen die Bundesrepublik Deutschland vor. Das ist auch ein Zeichen für die nicht so intensiven Beziehungen zwischen Argentinien und der DDR. Was bleibt, sind die Kräne des VEB Eberswalde. Wo Pappe zu Literatur wird “Eloisa Cartonera” - der kleinste und bunteste Verlag der Welt Von Marion Kaufmann D ie Druckerei Eloisa Cartonera ist so klein, dass man fast vorbeigeht, wenn einem der Eingang nicht durch seine bunte Bemalung auffallen würde. Auch drinnen ist es bunt, in dem ziemlich heruntergekommenen Raum der einen Verlag beherbergt, der sich „No hay cuchillo sin rosas“ nennt, wo sich die auf Straßen gesammelte Pappe in Literatur verwandelt. Hier werden Bücher gedruckt, die gleichzeitig einem gemeinnützigen Zweck dienen. Washington Cucurto und Fernanda Laguna, zwei Schriftsteller, haben zusammen mit Javier Barilaro, einem Maler, dieses nicht auf Gewinn ausgerichtete Projekt nach der Krise von 2001 gegründet, als der Papierpreis eine Höhe erreicht hatte, die das Fortbestehen ihres kleinen Verlages, in dem sie Lyrikbände herausgaben, unmöglich machte. Es war die Zeit, als ein neuer „Beschäftigungszweig“ entstand, und immer mehr Menschen gezwungen waren, das einzusammeln und zu verkaufen, was andere Menschen wegwerfen. Ricardo Piña, Juan Gómez, Miriam Merlo und Leonardo Sánchez, die zu dem Team von sechs jungen Leuten gehören, die hier beschäftigt sind, erklären die Arbeitsmethode: Die Pappe wird passend zur Größe des Manuskriptes zugeschnitten, die Seiten werden in den Deckel geklebt und mit ihm zusammengeheftet. Die getippten Texte werden auf einer alten Multilit – Jahrgang 1970 – gedruckt. Auf einer Schablone („die machen wir auch selbst“) wird der Titel auf den Deckel übertragen und geweißt, und dann mit Tempera bemalt. Die Farben, das Design, wählt jeder nach seinem Geschmack. Deshalb kann man ruhig behaupten, dass es hier keine zwei gleiche Bücher gibt. „Eloisa“ kauft den „cartoneros“ die Pappe ab, zu Preisen, die erheblich höher sind als jene, die sie allgemein bekommen. „Dreimal mehr“ präzisiert Ricardo Piña, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. „Wir nehmen nur eine ganz bestimmt Sorte Pappe, sie muss sauber sein, ohne Flecken, und wenn sie mit einem Aufdruck kommt, macht das nichts.“ Im Verlag. Deshalb kann es sein, dass auf einem Deckel außer dem Buchtitel auch „Mendoza, Argentina“, „líder de hojaldre“, oder „this side up“ zu sehen ist. So steht zum Beispiel auf dem Einband von Rodolfo Walshs Erzählung „Esa mujer“: Cinta de empaque de oficina - Transparente - 48x40 mts. Jedes Buch fünf Peso „Wir sind eine Genossenschaft, „ erklärt Miriam. „Wir erhalten keine Subvention und wollen auch keine haben. Wir befassen uns auch mit der Verteilung, und das ist das Schwierigste, denn wir müssen ja viele Bücher verkaufen. Hier bei uns kostet jedes Buch fünf Peso; im Laden ist es etwas teurer. Von dem Erlös bestreiten wir die Miete, den Kauf des Materials und unser Gehalt. Man findet uns und die Autorenliste im Internet, viele Leute bestellen unsere Bücher auf diese Art, oder rufen einfach an.“ „Hier macht jeder alles“, fügt sie hinzu, während sie geschickt und schnell die Seiten einer Kurzgeschichte zusammenheftet. (Die Tür des Lokals steht offen; zuweilen kommen Nachbarn vorbei, sagen hallo, und gehen wieder.) Manche, die dort arbeiten, waren früher anders beschäftigt oder waren arbeitslos. „Ich habe studiert und früher andere Sachen gemacht“, berichtet Juan, ohne auf Näheres einzugehen. Er kommt aus Kolumbien, spricht leise, mit dem typischen Singsang. Ricardo war Angestellter. Jetzt arbeitet er nur bei „Eloisa“. Andere hingegen waren selbst „cartoneros“. Wie Miriam, die von allen „Osa“ genannt wird. „Ich bin immer mit dem Karren an der Druckerei vorbeigekommen, und kannte Cucurto vom Sehen. Einmal hat er mich gefragt, ob ich nicht hier arbeiten wolle. Das ist nun vier Jahre her – jetzt bin ich die Sekretärin der Genossenschaft!“ Auch Alfredo Leonardo hat bis vor kurzem noch Pappe auf den Straßen gesammelt; heute freut er sich, dass er bei „Eloisa“ arbeitet. „Aber ich bin auch Schauspieler“ fügt er halb schüchtern, halb stolz, hinzu. „Leonardo Di Caprio“, stellen ihn die Kollegen lachend vor. Literatur mit sozialem Anliegen In dieser primitiven Druckerei im Stadtteil La Boca, in nächster Nähe des berühmten Stadions – es soll früher eine Garage gewesen sein – hat ein Grüppchen junger Menschen einen neuen Lebensinhalt gefunden, den Vater Staat ihnen nicht bieten konnte. Mit wenig Geld, aber viel Idealismus, ermöglichen die drei Verlagsgründer diesem Grüppchen, ein würdiges Leben zu führen. Sie arbeiten, sie produzieren, sie bekommen ein bescheidenes, aber regelmäßiges Gehalt. Im Katalog findet man an die 200 Titel: Lyrik, Erzählungen, Kurzromane, Bühnenstükke und Kinderbücher. Aus der Liste geht klar hervor, dass ihnen die Werke lateinamerikanischer Verfasser besonders am Herzen liegen. Hier stehen die Namen von Autoren aus Chile, Peru, Brasilien, Bolivien, oder Mexiko, neben argentinischen wie César Aira, Ricardo Piglia, Alan Paul, Fabian Casas, Fogwill um nur einige zu nennen, die - wie die meisten ihre Manuskripte dem Verlag spenden. So fin- 31 det man auf den Regalen die Bücher unbekannter Autoren, neben anderen, die allseits bekannt oder berühmt sind, zum Beispiel Airas Novelle „Mil gotas“, von der schon 1.000 Exemplare verkauft wurden „und das übersteigt bei weitem den durchschnittlichen Verkauf von Büchern hiesiger Autoren, die von den großen Verlagen herausgebracht werden“. Piglia, mit „El pianista“, steht dem Kollegen nicht nach. „Wir drucken auch gerne Texte, die früher gelesen wurden, aber in Vergessenheit geraten sind“, bemerkt Ricardo. „Eloisa Cartonera“ lebt nicht nur in Buenos Aires. In Peru existiert schon seit fünf Jahren „Sarita Cartonera“; ein paar Jahre später haben drei Schriftsteller in Bolivien einen ähnlichen Verlag gegründet; auch in Chile und Mexiko, in Paraguay und Brasilien entstanden „Eloisas“. Der Mann mit dem komischen Namen Washington Cucurto, Verleger und Schriftsteller, hat eine Vorliebe für die chilenische Literatur, und plant auch, einmal eine Anthologie von brasilianischen Autoren der 70er Jahre herauszugeben. Wer ist dieser Mann? Auf die Welt gekommen ist er als Santiago Vera; Freunde gaben ihm den neuen Namen und alle Welt nennt ihn einfach Cucu. Der heute 35Jährige ist in ärmlichen Verhältnissen aufge- wachsen, hat sich schlecht und recht mit einfachen Arbeiten durchgeschlagen, bis er sich einer Gruppe von Schriftstellern anschloss. Er hat mehrere Bücher geschrieben, sieht sich aber nicht als Intellektueller, und hat in einem früheren Interview frei zugegeben, dass er von seinen Büchern nicht viel halte. Er hat auch einmal erklärt, dass er mit Literatur nichts zu tun habe, dass er ein Arbeiter sei, kein Schriftsteller. Dass die Kritiker von ihm verlangten, gut zu schreiben, er aber schlecht schreibe. Er hat, unter anderem, „Zelaya“ (1998), verfasst, „La máquina de hacer paraguayitos“ (1999); „Cosa de negros“ (2003); „Las aventuras del señor Maíz (2006). Seine Bücher werden entweder haushoch gelobt, oder angegriffen. Sein Lyrikband „Zelaya“ wurde in Santa Fe, wo ihn das Erziehungsministerium als „erniedrigend“ „ausländerfeindlich“ und „pornographisch“ bezeichnete, auf der Straße verbrannt; hingegen kam sein letztes Buch „El curandero del amor“ (2006) bei dem angesehenen Verlag Planeta heraus... Der Leser muss sich anfangs an Cucurtos Stil gewöhnen: seine Lieblingsthemen sind Sex und Musik, vor allem die Cumbia, und er nennt die Dinge beim Namen. „Ich habe nichts mit Literatur zu tun“, hat er in einem Gespräch mit der Zeitschrift „Viva“ zugegeben. „Ich bin kein vornehmer, gebildeter Kerl, ich bin nicht Manuel Puig.“ Ein Stipendium hat ihm und einigen seiner Mitarbeitern vor ein paar Jahren einen Aufenthalt in der Akademie Schloss Solitude, in Stuttgart, ermöglicht. Dort entstand das Buch „Kein Messer ohne Rose“ (No hay cuchillo sin rosas), in Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen. Die Auflage von 2000 Exemplaren war schnell ausverkauft. „Wir machen weder Kunst, noch produzieren wir Müll“, schreibt Miriam Gómez in dem Jahrbuch der Akademie Schloss Solitude, „wir machen ganz besondere, einzigartige Bücher, zum Lesen während der Busfahrt, als Geschenk für einen geliebten Menschen.“ Die Bücher findet man bei Proa (in La Boca), in der Boutique del Libro und in verschiedenen anderen Buchläden, wie auch auf gelegentlichen kulturellen Veranstaltungen. Und wer, bitte, ist Eloisa? „Das war der Name eines Mädchens, das einem unserer Verleger vor langer Zeit mal gefallen hat...“ Die Liebe verging, der Name ist geblieben. „No hay cuchillo sin rosas“ Brandsen 647,Buenos Aires www. Eloisacartonera.com.ar Tel. 155 502 1590 Kosten, Konsum und Kursschwankungen Eigenarten und Schwächen des modernen Kapitalismus Von Juan Alemann D er Kapitalismus als System, auch Marktwirtschaft benannt, hat im Laufe der Zeit große Wandlungen durchgemacht. Einmal wurde das soziale System ausgebaut, vor allem in der Nachkriegszeit, die Ralf Dahrendorf als das Zeitalter der Sozialdemokratie bezeichnete, auch bei Regierungen anderer Prägung. Doch was das rein wirtschaftliche ausmacht, so haben die multinationalen Unternehmen einen großen Aufschwung erlebt, der mit einem im Verhältnis zum BIP überproportionalen Wachstum einher geht, und die Strukturen der Unternehmen haben sich geändert. Dieser Kapitalismus hat weltweit zu hohem Wachstum geführt, weist jedoch gleichzeitig Schwächen auf, die in der gegenwärtgen Krise deutlich zum Vorschein kommen. Wenn man sich dieser tiefen Wandlung nicht bewusst ist, kann man die Krise in ihrem innersten Wesen nicht begreifen. 1. Die fixen Kosten Der Produktionsprozess ist zunehmend kapitalintensiver geworden und gleichzeitig auch starrer. Die fixen Kosten beanspruchen einen zunehmenden Teil der Gesamtkosten, so dass bei Produktionsrückgängen sofort Verluste auftreten, die die Unternehmen auf die Dauer nicht ertragen. Vor über einem halben Jahrhundert hatte der deutsche Betriebswirtschaftler Eugen Schmalenbach darauf hingewiesen, dass die zunehmenden fixen Kosten den Unternehmen die Anpassung an die Konjunkturschwankungen erschwere, was gelegentlich die Marktwirtschaft als solche in Frage stellen könnte. Wenn die fixen Kosten mit einer hohen Kapitalintensität einhergehen, wie bei der Petrochemie, dann haben die Unternehmen die Möglichkeit, die Amortisationen der Konjunktur anzupassen. D.h. sie weisen in der Bilanz bei Rezession geringere Gewinne, eventuell sogar Verluste aus, die jedoch im Wesen nur buchmäßig sind und auf Kosten ihrer Amortisationen gehen, so dass sie kein finanzielles Problem darstellen. In vielen anderen Fällen, in denen die hohen fixen Kosten auf starre Unternehmensstrukturen zurückzuführen sind, entstehen bei Rezession untragbar hohe Verluste, und dann wird Vater Staat zur Hilfe gerufen. Siehe die US-Automobilunternehmen. 2. Die gestiegene Empfindlichkeit des Konsums dauerhafter Güter In den Industrietstaaten ist die Bevölkerung allgemein ausreichend mit dauerhaften Konsumgütern, angefangen Automobilen, ausgestattet. Die Wirtschaft funktioniert dank einem künstlichen Erneuerungsbedarf, hinter dem viel Propaganda und eine irrationale Haltung der Konsumenten steckt. Wenn nun eine Krise eintritt, dann wird allgemein zunächst auf die Erneuerung von Automobilen und allerlei Haushaltsgeräten, auch Bekleidung u.a. Produkten, verzichtet. Das bedeutet, dass in diesen Fällen der Umsatz unverhältnismäßig stärker als das BIP zurückgeht, was Rezessionen verschärft, und bei den betroffenen Branchen eine tiefe Krise herbeiführt. Wenn in den USA u.a. wohlhabenden Ländern während zwei Jahren überhaupt keine Automobile verkauft werden, so geschieht vom Standpunkt des Konsumenten überhaupt nichts. Keiner büßt dabei effektiven Wohlstand ein. Aber die Wirtschaft erlebt eine Katastrophe... 3. Hohe Kursschwankungen an der Börse Die Notierungen von Aktien an der Börse sollten theoretisch im Verhältnis zum Gewinn und den Dividenden stehen. Das ist jedoch in der Praxis immer weniger der Fall. Die Börsen werden grundsätzlich durch die Liquidität der Wirtschaft beeinflusst, wobei die Makler Argumente erfinden, um Kunden anzuziehen. Da wird auf “zukünftige Gewinne” 32 hingewiesen, die meistens mit viel Phantasie berechnet werden, auch auf die Kurssteigerungen der unmittelbaren Vergangenheit (“past performance”), wie wenn diese ewig weitergehen würden. Professor Robert Shiller hat in seinem Buch “Irrational Exhuberance” (Irrationale Übertreibung) dieses Thema eingehend erläutert, und klar nachgewiesen, wie wenig rationell die Börsen sind. Wenn nun die Aktienkurse stark steigen, so führt das bei einer Gesellschaft, in der der Aktienbesitz, direkt oder über Investment-Fonds, weit vebreitet ist, zum Empfinden zunehmenden Reichtums, so dass weniger gespart und mehr konsumiert wird. Die Sparquote war in den USA in den langdauernden Jahren des Börsenaufschwungs auf etwa Null gesunken. Dies führt zu einem bösen Erwachen. 1997 hat der damalige FedPräsident Alan Greenspan vor der Aufblähung der Aktienkurse gewarnt, und dabei den Ausdruck verwendet, den Shiller dann zum Titel seines Buches machte. Die Hausse hat länger gedauert, als Greenspan erwartete, aber schließlich kam doch der Augenblick der Wahrheit: im Jahr 2008, und zum Teil schon vorher. Die Bürger fühlen sich somit ärmer, und werden dabei motiviert, wieder zu sparen, was auf Kosten des Konsums geht. Die Kursschwankungen an der Börse wären als solche nicht so wichtig, wenn sie sich nicht direkt auf die Sparneigung auswirken würden, deren Schwankungen die Konjunkturbewegungen verschärft. 4. Aktionäre und Manager Unternehmen wachsen, aber gleichzeitig verzettelt sich deren Besitz, einmal wegen Erbschaft und Aktienverkäufen, dann wegen Aufnahme von Kapital an der Börse, und gelegentlich auch durch Fusionen und Verkäufe von Aktienpaketen. Der Unternehmer, der gleichzeitig Manager und Besitzer war, ist bei Großunternehmen eine Seltenheit und erscheint bei mittleren Unternehmen auch nur als eine vorübergehende Erscheinung. Bei dieser Entwicklung treten Berufsmanager auf, die andere Interessen als die Aktionäre haben, wie es John Kenneth Galbraith in seinem Buch ¨Die neue Industriegesellschaft¨ vor 40 Jahren dargestellt hat. Manager haben ein primäres Interesse am Wachstum des Unternehmens, und erst an zweiter Stelle am Gewinn. An dessen Auschüttung in Form von Dividenden sind sie kaum interessiert. Ihre Entlohnung hängt weitgehend von der Größenordnung der Firma ab. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Unsitte durchgesetzt, die Manager gemäß dem Gewinn zu entlohnen. In vielen Fällen führt dies dazu, dass sie den kurzfristigen Gewinn dem langfristigen voranstellen, auch Manipulationen in diesem Sinn vollziehen und unverantwortliche Risiken auf sich nehmen. Das Paradebeispiel in dieser Hinsicht war der Fall Enron. In den USA erhalten die Manager gelegentlich auch das Recht, Aktien zum Buchwert zu beziehen (¨Stock options¨). Da dieser in diesen Fällen unter dem Börsenwert liegt, können sie die Aktien nachher mit Gewinn verkaufen. Dabei wird das Kapital zum Schaden der Aktionäre verwässert. In Argentinien ist dies zum Glück nicht möglich, weil die bestehenden Aktionäre ein Vorzugsrecht bei Aktienausgaben haben. Die Aktionäre sind im modernen Kapitalismus faktisch weitgehend zu Rentnern degradiert worden. Sie interessieren sich kaum für die Unternehmen, deren Aktien sie besitzen, sondern schauen nur auf die Dividende. Und die Manager versuchen, dass sie stets eine Dividende erhalten, oft auch bei Verlustbilanzen, womit diese den Charakter eines festen Zinses auf eine Obligation erhält. Die Aktionäre werden bei Generalversammlungen weitgehend von Banken vertreten, oder sie halten ihre Aktien indirekt, nämlich über Investment-Fonds. Somit sind sie schließlich auch durch Manager vertreten, die nicht mit ihnen, sondern mit den Managern der Unternehmen gemeinsame Sache machen. Das erklärt, dass sich die Öffentlichkeit erst in letzter Zeit, und eigentlich nur bei krisengeschüttelten Firmen, über die unanständig hohen Manager-Bezüge aufregt. USPräsident Obama hat jetzt bestimmt, dass Manager bei Unternehmen, die Hilfe vom Staat erhalten, nur bis zu u$s 500.000 pro Jahr verdie- nen dürfen. Das ist immer noch großzügig. Als Lee Iacocca vor drei Jahrzehnten Chrysler sanierte, legte er für sich ein Gehalt von einem Dollar pro Jahr fest, bis er den staatlichen Kredit zurückgezahlt hatte. Aber die allgemeine Frage, wie Manager-Gehälter berechnet werden, wer sie bestimmt und wie hoch sie sein können, ist noch ungelöst, sowohl in den USA, wie die Deutschland u.a. Staaten. 5. Die zunehmende und steigende Staatsverschuldung Die Staaten haben in den letzten Jahren, mit wenigen Ausnahmen, eine allgemeine Neigung gezeigt, sich bis zu einem Punkt zu verschulden, bei dem das Budget stark durch Zinsen belastet wird, was zu chronischen Defiziten führt, wobei in vielen Fällen die Gefahr des Defaults eintritt, die zu höheren Zinsen für den betreffenden Staat führt und das Grundproblem noch verschärft. Die Verschuldung entsteht grundsätzlich, weil der Staat immer mehr Aufgaben übernimmt, und den Anforderungen hoher Infrasktruktinvestitionen entgegenkommt, wobei gleichzeitig die Besteuerung bei einer gewissen Höhe zunehmende negative Auswirkungen auf die Wirtschaft hat. Die Steuerbelastung hat eine Grenze, die empirisch ermittelt wird. Wird sie überschritten, dann entstehen Störungen in der Wirtschaft, die zur Stagnation oder Rezession führen. Wenn nun die Staaten in Krisenzeiten das Problem mit zusätzlichen Investitionen und Sozialausgaben lösen wollen, dann nimmt das Verschuldungsproblem zu. Staaten mit relativ niedrigen Verschuldungskoeffizienten können sich dies leisten; andere, mit hohen Koeffizienten, besonders Italien, gewiss nicht. Aber sie verschulden sich trotzdem weiter und schaffen dabei ein zusätzliches Problem. Gelegentlich endet dies mit massiven Defaults. Um diese Entwicklung zu verhindern, muss man sich bemühen, dass der Staat Aufgaben an die Privatwirtschaft abgibt. Das bezieht sich nicht nur auf Privatisierungen von Staatsunternehmen, sondern auch auf öffentliche Investitionsobjekte, wie Straßen und Flugplätze, die in Konzession an Privatunternehmen vergeben werden können. Schließlich können auch viele Funktionen des Staates ganz oder teilweise an Privatfirmen abgegeben werden, wie Erziehung, Gesundheit und Kontrollarbeiten. Es besteht allgemein ein beschränktes Bewusstsein über die Grenzen des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft. Und das ist verhängnisvoll. 6. Die neue Technologie Die technologische Revolution, die in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, hat die Wirtschaft strukturell verändert. Sie kommt besonders im Computerwesen und Internet zum Ausdruck. Thomas Friedman hat diese Revolution in seinem Buch “Die Erde ist flach” sehr anschaulich dargestellt. Dies hat eine doppelte Sparwirkung von Arbeitskräften herbeigeführt: einmal direkt, weil diese Technologie die Verrichtung vieler Produktionsprozesse mit viel weniger Aufwand menschlicher Arbeit erledigt, und dann weil dies erlaubt, bestimmte Tätigkeiten, die mit Datenverarbeitung zusammenhängen, über Internet ins Ausland zu verlegen, in Länder, in denen die Löhne für diese Arbeit viel niedriger sind als in den Industriestaaten. Dies führt in diesen, und auch in anderen, zu einer Verringerung der Beschäftigungselastizität (Zunahme der Beschäftigung im Verhältnis zur BIP-Zunahme) und zu mehr Entlassungen in Rezessionszeiten, wenn Unternehmen unter Kostendruck geraten und sich auf kostensparende Technologien besinnen. Andererseits ist die moderne Wirtschaft bei der Beschäftigung von Arbeitskräften anspruchsvoller. Die neuen Maschinen und die allgemeine Einführung von Informatik stellen an Arbeiter und Angestellte viel höhere Anforderungen. Das führt dazu, dass nicht qualifizierte Arbeitskräfte in Industriestaaten zunehmende Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz oder eine unabhängige Beschäftigung zu erhalten. Der moderne Kapitalismus ist auf bessere Ausbildung der Bevölkerung angewiesen, was die Wirtschaft, und besonders den Staatshaushalt, zunehmend belastet, sofern hier die Privatwirtschaft nicht stärker eingeschaltet wird. 33 Club Europeo – heute nach sechs Jahren Von Gerd Kayser - Ehrenpräsident I n den nächsten Tagen kommen zwei Jubiläen auf uns zu. Das Argentinische Tageblatt feiert sein hundertzwanzigjähriges Bestehen, eine wahre Herkulesleistung in der turbulenten Epoche, die das 20. Jahrhundert überspannt, denn zeitweise war es sicher schwierig, den unerschrockenen und kompromisslosen Journalismus aufrecht zu erhalten, den das Land benötigt und den die deutschsprachige Leserschaft verdient. Ungleich bescheidener ist das andere Jubiläum: der nunmehr sechste Gründungstag des Europäischen Klubs. Hier gestatte man mir einige Worte “pro domo”: gewiss ist dieser Klub sehr jung, wenn auch einige seiner Gründervereine mit dem Tageblatt altersgleich sind, doch ist der Europäische Klub nun mal ein Verein der Jüngeren, der nächsten Generation. Als wir seinerzeit mit Dr. Caffaro Kramer das “Baby” aus der Taufe hoben, wagten wir noch nicht von seiner gegenwärtigen Entwicklung zu träumen. Es war anfangs auch etwas mühselig, die Vorsicht der angesprochenen Mitgliedervereine zu zerstreuen. Wir lehnten uns an das Modell der Europäischen Union mit wechselnder Präsidentschaft an; nur schafften wir es wesentlich rascher, eine harmonische Einmütigkeit all dieser Mitglieder zu erreichen. Wir stellten uns einen Verein vor, der sowohl in kultureller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht Europa mit Argentinien verbinden und den Fortschritt und die kulturellen Werte der Europäischen Gemeinschaft sowohl unserer Mitgliedschaft, als auch der Gesellschaft im Allgemeinen näher bringen sollte. Einheit in der Vielfalt : wir waren und sind bestrebt, in Buenos Aires einen Ort zu schaffen, an dem sich Angehörige jedwelcher Nationalität treffen sollen, um ihre Ideen auszutauschen und ihre Talente zu entfalten. Wir suchten einen weit diversifizierten gesellschaftlichen Klub, der harmonisch wächst und doch die Traditionen der Gründervereine erhält. Es ist unsere Hoffnung, damit zu einer Gesellschaft, die Bildung, Kultur und gutes Zusammenleben hochhält, beitragen zu können. Alle Klubs pflegen ihre Unabhängigkeit, sie tragen aber entscheidend zum allgemeinen Gelingen bei. Die im Club Europeo zusammengeschlossenen Klubs unterhalten weiter ihre Gebäude, die den übrigen Mitgliedern des Club Europeo offenstehen. Der deutsche Club ist mit seinen Räumen der Hauptsitz. Einige der Mitgliedervereine unterhalten hervorragende Restaurants; auch im Kulinarischen herrscht hier Vielfalt. Wir setzten von Anfang an auf die Jugend und übergaben alsbald die Gestaltung der Aktivitäten und Initiativen an die jüngere Generation. Dies sollte sich als das große Erfolgsrezept herausstellen. Heute sprengen das kulturelle und das Veranstaltungsprogramm fast den Kalender. Zu unseren Veranstaltungen zählen Konzerte, kulturelle Vorträge, künstlerische Ausstellungen, Kurse über Philosophie und Literatur, ungezwungene gesellschaftliche Zusammenkünfte in verschiedenen Sprachen, sogenannte Arbeitsfrühstücke mit Diplomaten, an denen Botschafter sich selbst und ihre Länder vorstellen, Vorträge namhafter Politiker mit Gelegenheit zu persönlichem Kontakt. Letzthin referierte der damalige österreichische Bundeskanzler bei uns über aktuelle Themen seines Landes und Europas. Veranstaltungen wie die EURO UNIVERSITARIA, zur Förderung der Weiterbildung junger Argentinier an bekannten europäischen Lehranstalten, waren ein großer Erfolg. Und dann: gesellschaftliche Anlässe für die Jugend, wie die stark besuchten “After Office” mit oft über tausend Gästen. Viele Mitglieder treffen sich regelmäßig beim Tangound Salsaunterricht mit Beteiligung an “Milongas” oder auch zum gemeinsamen Opernbesuch. Auch die alte Kunst hat ihren Platz, indem wir uns um die Erhaltung wertvoller Kulturgüter des Landes kümmern. Eine Modeschau mit anerkannten Modeschöpfern ist für dieses Jahr zum zweiten Mal geplant. Schließlich gibt es Jahresfeste, unter denen besonders der “Venezianische Karneval” im Circolo Italiano zur Tradition geworden ist. Abgerundet werden die Programme durch bemerkenswerte soziale Initiativen im Inneren des Landes und in bedürftigen Vororten unserer Millionenstadt. All das wird eben nicht durch ein professionelles und teures Management geplant, organisiert und gesteuert, sondern von den jungen Mitgliedern des Club Europeo getragen. Initiative und Fantasie, Begeisterung und Gestaltungswille zeichnen die Arbeitsgruppen der jungen Menschen aus. Die im Vorstand vertretenen Präsidenten der Klubs helfen mit wachsamem Auge und schützender Hand bei dem Geschehen. Der Europäische Klub unterhält Gegenseitigkeitsabkommen mit zahlreichen Vereinen des In- und Auslands. Er ist dadurch an namhafte Sportvereine angeschlossen, so dass unseren Mitgliedern die Türen offenstehen, dort ihren Lieblingssport zu treiben, sei es nun Rudern, Schwimmen, Golf oder Motorflug, oder sei es beispielsweise auch nur die Anwesenheit bei Poloturnieren der absoluten Weltklasse. Der Klub betrachtet es als seine Aufgabe, die Verbindung zwischen den verschiedenen Vereinen der Gemeinschaften europäischen Ursprungs untereinander und mit Argentinien zu festigen. So werden sich auch in den nächsten Wochen, zu den zehn Gründervereinen des Europäischen Klubs, die Gemeinschaften der Ungarn und Griechen hinzugesellen. Die wesentliche Priorität des Europäischen Klubs ist seine Verbindung zu Europa, sowohl im bilateralen Austausch mit verschiedenen europäischen Ländern, als auch direkt mit den Organen der Europäischen Union, wie etwa der hiesigen diplomatischen Vertretung. In diesem Zusammenhang war es für uns eine erfreuliche Genugtuung, die ausdrückliche Anerkennung des seinerzeitigen Präsidenten der Europäischen Gemeinschaft, Mario Prodi, erhalten zu haben. Erfreulicherweise steigt unsere Mitgliederzahl zunehmend, zu einer Zeit, in welcher andere Vereine an Substanz verlieren. Die Anzahl der eigenen und “angeschlossenen” Mitglieder nähert sich den Zehntausend. Alles in Allem : eine Entwicklung mit der wir zufrieden sind. Wer immer sich von Wesen und Mission des Europäischen Klubs angesprochen fühlt, ist hiermit herzlich aufgefordert, Kontakt mit uns aufzunehmen. Wir verweisen auf unseren “website”: www.clubeuropeo.com. 34 «Meine Leserbriefe haben Klasse» Die Geschichte des 102-jährigen Tageblatt-Lesers Enrique Heymann Von Tom Odebrecht B uenos Aires - «Es ist eine Villa, die werden Sie sofort erkennen» waren seine Worte am Telefon. Langsam gehe ich die Straße im vornehmen Stadtteil Coghlan hinab und suchte nach dem größten Haus, das ich sehen kann. Als ich vor der richtigen Hausnummer stehen bleibe, schaue ich verwundert auf das Gebäude: Eher ein einfaches Haus, aber eine Villa ist es nun wirklich nicht. Es sollte nicht der letzte Scherz sein, über den ich mich während meines durchaus ernsten Gespräches mit dem wohl ältesten, und vielleicht sogar treuesten, Tageblatt-Lesers Enrique Heymann (102) amüsieren sollte. Ich bin unmittelbar davor Zeuge und Protagonist einer lehrreichen und äußerst unterhaltsamen Konversation zu werden. Eine Unterhaltung über persönliche Schicksale, zu Unrecht abgelehnte Leserbriefe und besoffene Bolivianer. Und die aktuelle Politik wurde auch nicht ausgespart. Eine solche Bandbreite kann man wohl nur mit der Lebenserfahrung von 102 Jahren bieten. rend er sich in aller Ruhe einen Schluck Kaffee gönnt. Nach mehrmaligen Nachfragen kommen wir wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen: Heymanns Reise um den Erdball mit der Endstation Buenos Aires. Während seiner Zeit als Handwerker im Nahen Osten hatte der gebürtige Berliner von einem deutsch-jüdischen Unternehmer erfahren, der Arbeitskräfte für seine Zinkminen in Bolivien anheuert. «Damals war das eine große Chance für viele jüdische Flüchtlinge», versucht Heymann mir seinen Schritt über den Atlantik verständlich zu machen. Zwölf Jahre hat er dort in Bolivien, in der östlichen Provinz Oruro, in dem Büro einer Zinkmiene des deutschen Entrepreneurs gearbeitet. «Das Arbeitsleben war hart in Bolivien, aber ich habe ja drinnen gearbeitet. Da hat man es aushalten können», sinniert er über alte Zeiten. Und wie haben es die Bolivianer mit der Knochenarbeit ausgehalten?, frage ich. Die AntEnrique Heymann im März 2007 bei der Vorstellung seines Buchs. wort schallt mir noch jetzt in den Ohren: «Das weiß ich auch nicht, aber die Bolivianer waren sowieso immer besoffen. Das hat wahrscheinlich geholfen.» Ein Augenzwinkern zeigt mir, wie die Antwort einzuschätzen ist. Nach den vielen JahVon Berlin ren habe er nur noch weg gewollt aus Bolivien, sagt der alte Herr. «Wie nach Buenos Aires Gemütlich sieht es aus im Wohnzimmer des Herrn Heymann, auch übrigens auch die Bolivianer, nur die können ja nicht», fügt er trocken wenn nicht abzustreiten ist, dass den modischen Entwicklungen der hinzu. Dass es dem greisen Herrn nicht an verbaler Schlagfertigkeit Innenarchitektur in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit ge- mangelt, steht außer Frage. In die argentinische Hauptstadt hat es Heymann im Jahre 1948 verschenkt wurde. Neben dem alten Klavier, auf dem Heymann nach eigener Aussage jeden Tag spielt, liegt ein Buch, welches sofort meine Auf- schlagen, ohne einen Pfennig in der Tasche, wie er betont. Die solidarimerksamkeit auf sich zieht: Es trägt den Titel «Juden in Berlin». Natür- sche Unterstützung jüdischer Hilfsgemeinschaften hat ihm einen Neulich frage ich nach. «Im Jahre 1933 bin ich und ein paar nahe Familien- anfang in Buenos Aires ermöglicht. Durchgeschlagen hat sich Heymann angehörige vor den Nazis aus meiner Heimatstadt Berlin und Deutsch- mit verschiedenen Jobs, bis er am Ende wieder in einer Bank gelandet land geflohen», kommentiert er und berichtet über die Flucht nach Li- ist, nur diesmal am anderen Ende der Welt. Hier in der Stadt am Rio tauen, der ersten Station auf seiner Reise um die Welt. Von Litauen Plata habe er auch seine spätere Frau, eine deutschstämmige Jüdin aus ging es kurz darauf nach Palästina, was damals noch von der britischen der ehemaligen Tschechoslowakei, kennengelernt, berichtet er. 51 JahKrone regiert wurde. Dort habe er drei Jahre lang als Maurer gearbeitet, re war er mit ihr verheiratet, bis sie vor einigen Jahren verstorben ist. Noch heute spricht seine gesamte Großfamilie in Argentinien was natürlich eine gewaltige Umstellung vom Alltag in der Berliner Bank, seinem früheren Arbeitsplatz, gewesen sei, erklärt Heymann mit Deutsch, vom Urenkel bis zur eigenen Tochter. Er habe darauf bestanden, dass alle Familienmitglieder der deutschen Sprache mächtig sind, demonstrativer Gelassenheit. Aber Herr Heymann wäre nicht er selbst, wenn er nicht immer wie- räumt Heymann ein. Obwohl er nach seiner Flucht nur vier Mal Deutschder versuchen würde, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. land wieder besucht hat, ist die Verbundenheit zur Heimat nie verloren Während ich noch versuche, weiter in der Vergangenheit Heymanns zu gegangen. An Deutschland schätze er seit jeher die reiche Kultur und bohren, ist mein Gesprächspartner schon längst bei seinen eigenen The- natürlich die Sprache: «Die deutsche Sprache ist ein Kulturgut, das es men: Er habe ein Buch geschrieben, welches seine besten und witzig- zu bewahren gilt.» Und auch das Tageblatt helfe ihm seine Verbundensten Leserbriefe an die Redaktion des Argentinischen Tageblattes bein- heit mit der Muttersprache zu bewahren, fügt Heymann hinzu. halte, erklärt mir Herr Heymann. «Ich bin gewiss nicht eingebildet, aber Von Cristina meine Leserbriefe haben einfach Klasse. Die muss man drucken», sagt bis Angela er als er mir meine eigene Kopie seines Werkes «Ein und Ausfälle eines Fragt man ihn über seine politische Meinung, stellt man schnell fest, Hundertjährigen» übergibt. Später, nach eingängigem Studium des Buches, weiß ich, dass sich tatsächlich nicht wenige äußerst geistreiche dass er immer noch sehr gut über die aktuellen Geschehnisse unterrichtet ist, ob in Deutschland oder in Argentinien. Beim Versuch seine EinKommentare zu aktuellen Nachrichten in dem Buch befinden. Weiter erfahre ich, dass «skandalöserweise» sogar einige seiner Briefe von der schätzung über die hiesige politische Lage einzufangen, werde ich kurRedaktion des Tageblattes abgelehnt wurden. «Da mag mich einer in zerhand unterbrochen: «Alle korrupt!». Das Urteil fällt vernichtend aus. der Redaktion nicht, glaube ich», sagt Heymann schmunzelnd, wäh- «Das fatale Ehepaar Kirchner hat es geschafft, das bisschen Vertrauen 35 der Menschen in das politische System dieses Landes wieder zu verlieren», meint Heymann erbost, wobei er zugibt, dass die Ernennung Cristina Kirchners zur Präsidentin wahrscheinlich das kleinere Übel gewesen sei. Korruption, Misstrauen und allgemeines Desinteresse an der Politik seien die größten Probleme der politischen Kultur hier im Lande, erklärt er. Zum Glück sei das nicht überall so. Seine Bewertung der deutschen Politiklandschaft, und besonders der jetztigen Regierung, fällt daher ungleich positiver aus: «Die Merkel macht das ganz gut, finde ich. Sie hat ihren eigenen Stil gefunden und lässt sich nicht reinreden.» Mit Bezug auf die im September stattfindende Bundestagswahl wollte Heymann aber auch mit 102 Jahren Lebenserfahrung keine Prognose abgeben: «Das ist schwer vorherzusagen. Man wird die Zeit bis zum September abwarten müssen, es kann noch viel passieren». Ich stimme nickend zu. Dieser alte Herr in seinem Haus in Coghlan ist besser informiert als so mancher Student an der UBA. Heymann betont immer wieder, wie sehr im das Tageblatt nach so vielen Jahrzehnten ans Herz gewachsen ist. Jeden Samstag liest er mit Genuss die aktuelle Ausgabe. Und jeden Samstag sei er uneins mit den politischen Kommentaren des Chefredakteurs, sagt er lachend. Dennoch merke ich, dass das Tageblatt fester Bestandteil des Lebens von Enrique Heymann ist. «Denn unter Freunden darf man auch mal unterschiedlicher Meinung sein», stellt er klar, während er mir am Ende unseres Gespräches zum Abschied die Hand reicht. Kurz bevor ich seine «Villa» verlasse, ruft er mir noch hinterher, dass er sich besonders auf die Jubiläumsausgabe freue, die mit seiner Geschichte drin. Die Geschichte über den wohl ältesten Tageblatt-Leser aller Zeiten. Auf dass er sich noch auf viele weitere Tageblatt-Ausgaben freuen kann.