Mitte - ein Kiezführer

Transcription

Mitte - ein Kiezführer
Mitte: Ein Kiezverführer
1
2
Mitte: Ein Kiezverführer
Der Bildungsverbund Brunnenviertel,
der diese Schreibwerkstatt mit
großer Unterstützung des Quartiers­
managements durchgeführt hat,
dankt allen Autoren von der
Vineta- und Gustav-Falke-Schule,
der Willy‑Brandt-Schule und
dem Diesterweg-Gymnasium,
der Kastanienbaum-, Heinrich‑Seidelund Papageno‑Schule und ihren
Lehrkräften.
6 Berlin hat eine Mitte
7 Mein Kiez
8 Bankräuber hinter Luxustür
10 Der Graffiti-Polizist
12 Das Geheimnis der Tür
14 Die alte Tür
16Zwischen Dönerbuden
und Arbeitsamt
18 Kiez-ABC Alt-Mitte
19 Kiez-ABC-Brunnenviertel
20 Türgeschichten
22 Ilse hat ihre Tür vermisst
24 Tür No 5
26 Mein eigenes Universum
28 Weddinger Wachstumstraum
3
0 Die Krachtür
3
2 Namensschilder
3
4 Gute Tage,
schlechte Tage
3
6 Überraschungstür
3
8 Frau Meyer und ich
40 Kiez-ABC
42 Wedding 65
44 Ghettoschule
45 Mein Vater und sein Viertel
46 In der Zwergenwelt
48 Die zwielichtige Tür
5
0 Das weiße Kleid
5
2 Ben und seine Brüder
5
4 Der Fluch
Berlins Mitte, unsere Welt
Schülererinnen und Schüler aus dem Wedding und aus Alt-Mitte – von
der Grundschule bis zum Gymnasium – haben sich mit ihren Texten an
diesem Kiezverführer beteiligt. Von Bankräubern, Zwergenwelten oder
Graffiti-Polizisten ist in diesen fantasiereichen Geschichten und Gedich­
ten die Rede, zu denen die Kinder durch Bilder von Türen aus ihrem
Viertel angeregt wurden. Andere erzählen von Einsamkeit und Arbeits­
losigkeit, von ihren Erfahrungen und ihrer Beziehung zu ihrem Quartier.
Sich dieses schreibend zu erschließen, macht ihnen – und ihren Lesern
– bewusst, was sie selbst an ihrem Lebensraum schätzen oder abstoßend
finden, was sie kennen und wo sie sich aufhalten.
Berlins Mitte ist noch eine gespaltene Welt: Während die Kinder aus
Alt‑Mitte den Friedrichstadtpalast, das Pergamonmuseum und die
Sophienkirche kennen, ist es bei anderen der Nanu-Nana-Laden oder
die Koranschule in der Pankstraße.
Die etwas älteren Autoren aus dem Brunnenviertel beschreiben ihren
Kiez mit aller politisch unkorrekten Härte – von »Straßenpennern«,
»Ghetto­schule« und Zukunftslosigkeit ist in ihren Geschichten die Rede,
eben von all dem, was für Außenstehende den Wedding zum »Problem­
kiez« macht. Und doch ist er ihnen »Heimat«, ihr Zuhause, eine Welt,
die sie auch Toleranz und Respekt erfahren lässt, die ihnen »Kraft und
Stärke« verleiht.
Ingke Brodersen für den Bildungsverbund Brunnenviertel
5
Berlin hat eine Mitte
Berlin hat eine Mitte
und ich sitz mittendrin.
Ob Alex, ob Museum –
da kommt man prima hin!
Rathaus und Regierung
haben hier ihren Sitz.
Berlin hat eine Mitte
und Mitte ist mein Kiez.
In Mitte gibt es Tiere.
Berlin hat einen Bär.
Die Spree ist voller Fische,
die schwimmen hin und her.
Berliner haben Mäuse
Und manchmal eine Miez.
Und ich bin ein Berliner
und Mitte ist mein Kiez.
Leonard, 10 Jahre, Kastanienbaum-Schule
6
Mein Kiez
Mein Kiez sind die Straßenpenner,
die von Pfandflaschen leben
Mein Kiez sind kleine Kinder,
die am Kiosk Kaugummi klauen.
Trotzdem fühle ich mich hier wohl.
Mein Kiez sind meine Nachbarn,
die von Kindergeld leben.
Mein Kiez sind Schwerverbrecher,
die hilflose Jungen verprügeln.
Trotzdem finde ich es hier schön.
Mein Kiez sind die vielen verschiedenen Religionen,
die jeder respektiert.
Mein Kiez sind die vielen Migranten,
die sich integrieren.
Mein Kiez ist die Freude,
die in die Gesichter der Kinder geschrieben ist
Mein Kiez sind die Leute, die ich kenne.
Mein Kiez ist die Unterstützung,
die mir Kraft und Stärke verleiht weiterzumachen.
Ö m e r , 1 5 J a h r e , Di e s t e r w e g - G y m n a s i u m
7
Bankräuber hinter Luxustür
Ich wohne neben einem Haus mit einer Luxustür. Vor zwei Wochen sind
Johnny und seine Freunde in das Haus eingezogen – mit Billardtischen,
sechs mächtig großen Fernsehern und lauter schönen Möbeln. Als ich
das sah, dachte ich: Die müssen aber reich sein! Dabei sind sie alle erst
25 Jahre alt.
Vor drei Wochen wurde eine Bank ausgeraubt, das stand in der Zeitung.
550 000 Euro räumten die fünf Bankräuber ab. Mein Nachbar erzählt,
dass Johnny und seine Kumpel 500 000 Euro für das Haus auf den
Tisch gelegt haben und 50 000 Euro für die Möbel.
Ich bin zur Polizei gegangen. Die Jungs kamen für 12 Jahre ins Gefäng­
nis, und ich erhielt 5 000 Euro Belohnung. Die habe ich mit meinem
Nachbarn geteilt.
Can, 12 Jahre, Klasse 6a, Gustav-Falke-Schule
8
9
Der Graffiti-Polizist
Von außen sieht die Tür hässlich aus, aber im Treppenhaus liegt ein roter
goldumrandeter Teppich. Und obwohl das Haus nur zwei Etagen hat,
gibt es einen Aufzug. Im Haus wohnt eine Großfamilie aus Russland, ein
Japaner, ein Chinese, ein Chauffeur, eine Familie mit drei Kindern und
fünf von den zehn Wohnungen stehen leer.
Ein Polizist hat Graffiti an die graue Fassade gesprüht und es dem
Chauffeur in die Schuhe geschoben.
Ki l i a n , 1 1 J a h r e , K l a s s e 6 e , G u s t a v - F a l k e - S c h u l e
10
11
Das Geheimnis der Tür
Jeden Tag laufe ich an meiner Lieblingstür vorbei und immer wieder
frage ich mich, was sich dahinter verbergen mag. Die Zeichen und
Muster, die in die Tür eingeritzt wurden, stehen für ein Geheimnis. Es
könnte die Tür zum Glück sein, zum Pech, zum Himmel, zur Hölle,
vielleicht leben dort fliegende Kühe oder Riesenspinnen – ich weiß es
nicht. Könnte die Tür sprechen, hätte sie vermutlich 1000 Geschichten
zu erzählen. Sie muss schon viel erlebt haben, das sieht man an ihren
vielen Kratzern.
Den Mut, sie zu öffnen, habe ich nicht, obwohl sie mich dazu aufzu­
fordern scheint. Vielleicht aber will ich das auch gar nicht. Denn was
bliebe dann noch zu träumen?
Bach Dao Xuan, Klasse 6b, Kastanienbaum-Schule
12
13
Die alte Tür
Alte Tür, alte Tür
geht auf und zu
Jahr ein, Jahr aus
wohnt in einem alten Haus.
Viele gehen ein und aus
Manche lebend, manche tot
oder hetzend und in großer Not.
Alte Tür hat viel gesehen und ertragen
hat nur noch einen Wunsch:
möchte neue Farbe haben.
Ferdinand, 11 Jahre, Klasse 5b, Kastanienbaum-Schule
14
15
Zwischen Dönerbuden und Arbeitsamt
Das Leben ist hart, du musst was unternehmen,
wach auf, wenn du’s nicht tust,
so wirst du schlicht und einfach untergehen.
Du musst dich im Kiez beweisen, du musst kämpfen für deine Nahrung,
glaub’ mir, mein Freund, ich sprech’ aus Erfahrung.
Das ist mein Kiez, in dem keiner ohne den anderen überleben kann.
Zwischen Dönerbuden und Falafelstand,
mit Graffiti besprühten Wänden und Arbeitsamt.
Hier, wo jeder denkt, aus denen kann nichts werden mein Kiez aus lauter Anzeigen und Beschwerden.
Mit Mädchen, die sich kleiden wie eine Gruselversion von Mickey Mouse,
Mädchen, die sich die Haare toupieren wie Amy Whinehouse.
Trotzdem lebe ich gern in diesem Kiez, weil ich hier zuhause bin.
A l i n , 1 5 J a h r e , Di e s t e r w e g - G y m n a s i u m
16
Wedding, zieh aus!
Du bist nicht sicher.
Gib mir
ein bisschen
Sicherheit
in einer Welt,
in der nichts
sicher scheint.
B i l g e , N u r c a n , 1 6 J a h r e , Wi l l y - B r a n d t - S c h u l e
17
Kiez-ABC Alt-Mitte
Abenteuerspielplatz
­Rosenthaler Straße
Berliner Fernsehturm,
­Bibliothek Philipp Schaeffer
Cacaogeschäft
in den ­Hackeschen Höfen
Dreispitzpassage
Elisabethkirche
Friedrichstadtpalast
Gipsstraße
Historisches Museum
Inselbrücke
Jüdische Synagoge
Kastanienbaum-Schule
Leihamt
Märchenhütte im Monbijoupark
Nikolaiviertel
Opernpalais
Pergamonmuseum
Rotes Rathaus
Sophienkirche
Theater Miraculum
U-Bhf. Weinmeisterstraße
Weltzeituhr
Zillemuseum
Di e 3 . K l a s s e n d e r K a s t a n i e n b a u m - S c h u l e
18
Kiez-ABC Brunnenviertel
A wie Alter in der Apotheke
B wie blühende Bäume
C wie Chillen im Center
D wie Döner im Dunkeln
E wie Eis bei Eisberg
F wie Fußball feiern
G wie Gangster in der Gang
H wie Hunde im Humboldthain
I wie irre Inlineskater
J wie jubelnde Jogger
K wie Krankenwagensirenen
L wie lustige Leute
M wie Mädchen im Mauerpark
N wie nervige Nachbarn
O wie Orangen im Obstladen
P wie Polizeiautos parken
Q wie Quatscher im Quartier
R wie rasende Rapper
S wie stylisch im Schwimmbad
T wie trinkende Teetrinker
U wie Unfall in der Usedomer
V wie Viertklässler in der Vineta
W wie Winter im Wedding
X wie X-Box XXen
Y wie Yaren und Yunus
Z wie zahllose Zigarettenkippen
A h m a d u n d A h m e d , K l a s s e 3 a , Vi n e t a - S c h u l e
19
Türgeschichten
Hinter dieser Tür wohnt ein junges türkisches Pärchen mit einer kleinen
Tochter, die gerade erst zu sprechen anfängt, und einem vierjährigen
Sohn, der von den Bussen fasziniert ist, die täglich an dem Haus vor­
beifahren. Nebenan lebt eine ältere Dame, die mit allem unzufrieden
ist: mit dem Wetter (vor allem, wenn es regnet), mit dem Gewicht der
Einkaufstaschen und mit ihrer Wohnung. Über ihr wohnt der etwas
beleibtere Mann, der den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt und sich
dabei mit Chips und Bier vollstopft.
Ivan, 11 Jahre alt, Klasse 6b,
Papageno-Schule, zusammen mit seinem Freund Mateo
20
21
Ilse hat ihre Tür vermisst
Es war einmal eine Tür. Die liebte es, eine Haustür in der Moritzstraße
zu sein. Denn ihre Mitbewohner waren die nettesten Menschen der Welt.
Puzzi zum Beispiel, die jeden Abend Brötchen für den nächsten Morgen
holte. Oder Ilse, die morgens mit ihrem Hund Gassi ging. Immer wenn
sie durch die Tür trat, streichelte sie sanft den Türknauf. So lebte die Tür
fröhlich, bis eines Morgens ein riesiger Lastwagen auf der Straße hielt
und Ilse mit vielen Kisten aus dem Haus kam, in den Lastwagen stieg
und wegfuhr. Die Tür schluchzte. Sie weinte drei Tage und Nächte, bis
drei Tage später wieder ein Lastwagen auf der Straße hielt und heraus
stieg – Ilse! Sie ging durch die Haustür und flüsterte dabei: »Ich hab’
dich ja so vermisst.«
Ada, Klasse 1-2-3 d, Papageno-Schule
22
23
Tür No 5
Hallo, ich bin eine Tür, die Nummer 5. Ich bin so alt, wie ich aussehe,
nämlich 66. Früher war ich jung und schön, bis mich 1982 drei junge
Leute angestrichen haben. Und nun sehe ich hässlich aus.
Aber dafür kenne ich alle Menschen, die in diesem Haus wohnen.
Da gibt es die dürre Klara Kowalski mit ihren lockigen orange gefärbten
Haaren. Sie ist ein bisschen verrückt. Hinter der anderen Tür wohnen
Josy ­McDonaghough und ihre apathische Oma. Im zweiten Stock lebt
die Familie Stamper, von der merkt man fast gar nichts – ganz im
Gegensatz zu dem streitbaren Homer Diesel. Im obersten Stock wohnt
­Silvester Pound mit seiner Freundin Nina Natscho. Hinter der anderen
Tür verbirgt sich die ­Wohnung von Selina Shoes. Sie ist Schauspielerin.
Tja, das war’s!
Eleonore, 11 Jahre, Klasse 5c, Papageno-Schule
24
25
Mein eigenes Universum
Ich war ein einsames Kind, meine Familie gab es nicht mehr. Ich lebte
in einer Gastfamilie, die mich wie Dreck behandelte. Eines Tages lief
ich weg, ich lief so weit ich konnte, bis ich ein leer stehendes Gebäude
sah. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Ein ganzes Universum tat sich vor
mir auf – funkelnde Sterne, drei Planeten und goldene Monde waren
zu sehen und kleine Lichter, auf denen ich stehen konnte. Ich lief auf
die Sterne zu. Auf einem erfuhr ich, dass sich die Tür in sieben Minuten
hinter mir schließen würde. Ich wollte nicht gehen, denn ich fühlte mich
hier wie ein Engel. Als die Tür zuschlug, war ich gefangen in meinem
eigenen Universum. Kein anderer Mensch weit und breit. Ich trat auf
einen Planeten zu und gründete mir eine eigene Welt. Aber ich blieb –
mein ganzes Leben lang – allein.
Acelya, 12 Jahre, Heinrich-Seidel-Schule
26
27
Weddinger Wachstumstraum
Oh, Wedding, mit deinen vermüllten Grünanlagen
schlägst du mir schwer auf den Magen.
Du bist wie ein Fass bis zum Rand gefüllt,
so dass deine Schönheit sich kaum enthüllt.
Doch deine Dönerläden sind weithin bekannt,
nur von Vegetariern werden sie verkannt.
Aber für die gibt`s einen guten Bio-Laden –
ein bisschen Grünzeug kann ja keinem schaden.
J o n a s , 1 6 J a h r e , K l a s s e 1 0 B , Wi l l y - B r a n d t - S c h u l e
28
W
E
D
D
I
N
G
für wild: Jugendliche die am Zocken sind
für Eifersucht: Mädchen die sich um einen Jungen streiten
für Drogenkrieg: Heutzutage nehmen Jugendliche ab 18 Drogen
für Disziplin: Etwas dann tun, wenn man es tun muss
für Internet: Viele Jugendliche verbringen 99 % ihrer Freizeit am PC
für neugierig: Wer nicht in Berlin wohnt, ist neugierig
für Gesundbrunnen: 50 % aller Weddinger gehen dort einkaufen
Wi l l y - B r a n d t - S c h u l e
29
Die Krachtür
Ich chillte auf dem Weg, lief an der Tür vorbei.
Grellgrün die Farbe, ich hörte Geschrei.
Das Geschrei nervte, es begann zu stören,
Konnte es denn nicht endlich aufhören?
Man, dachte ich, das kann doch so schwer nicht sein.
Ich schlich heran, kam der Tür bedenklich nah,
bis ich sie endlich direkt vor mir sah.
Starr vor Neugier stand ich davor,
auf einmal wirkte sie groß wie ein Tor.
Ich ging geradewegs in einen Raum.
Was ich da sah, das glaubt man kaum.
Hätte ich mir denken können- das laute Schrei`n,
konnte nichts als der Fernseher sein.
Ich dachte bei mir, wofür
öffnete ich die grüne Tür?
T e r r y , 1 3 J a h r e , Vi n e t a - S c h u l e
30
31
Namensschilder
Als ich eines Tages vom Einkaufen kam, sah ich eine Tür mit vielen,
vielen Namensschildern und hatte plötzlich Lust, Detektiv zu spielen.
Ich wollte an jeder Tür horchen, welche Sprache dahinter gesprochen
wird. Aus der ersten erklang eindeutig türkische Musik. An der zweiten
Tür meinte ich, polnisch oder russisch zu hören. Bei der dritten Tür
musste es sich um Araber handeln, dort wurde lautstark gestritten. An
der nächsten Tür brauchte ich gar nicht zu horchen – man roch die
Gewürze der Afrikaner schon von weitem.
Aber plötzlich ging die Tür auf, und ich bekam so einen Schreck, dass
ich davonrannte.
B e s i r , 6 c , Vi n e t a - S c h u l e
32
33
Gute Tage, schlechte Tage
Hinter dieser Tür wohnt die fünfköpfige Familie Schubert. Mutter Sabine
ist arbeitslos, Vater Heinrich arbeitet als Postbote. Tochter Lisa geht in
die vierte, ihr Bruder Mark in die sechste Klasse und die Jüngste, Marie,
in den Kindergarten. Die Familie verdient nicht viel Geld, aber trotzdem
hat sie gute Tage.
Vor sechs Monaten ist sie hier eingezogen. Lisa und Marie teilen sich
jetzt ein kleines Zimmer, Mark hat einen winzigen Raum für sich. Die
Kinder spielen oft im Garten. Dort gibt es eine Wippe, die kaputt ist,
und eine alte rostige Rutsche. Lisa und Mark mögen ihre Freunde nicht
einladen, weil sie sich wegen der kleinen Wohnung schämen.
Nursah, Klasse, 12 Jahre, Klasse 6a, Gustav-Falke-Schule
34
35
Überraschungstür
Die Tür so einfach und doch so wunderbar,
die Farben sind schön und auch ganz klar.
Was wohl hinter der Tür ist,
vielleicht was Gutes oder was Schlimmes,
etwas, was man nicht mehr vergisst.
Ach ja, was es wohl alles dahinter gäbe,
dass werde ich nur erfahren, wenn ich nach Überraschungen strebe.
Vielleicht wohnt dort ein dicker Mann,
der viel weiß und fast alles kann.
Vielleicht wohnt dort eine alte Frau,
sie trägt gerne die Farbe grau.
Tja, man weiß es nicht.
Vielleicht lernt man das im Unterricht?
Tung Lam Nguyen, 6b, Kastanienbaum-Schule
36
37
Frau Meyer und ich
Hinter dieser Tür wohnen meine Nachbarin Frau Meyer und ich. Frau
Meyer ist schon ein komischer Mensch. Ich mochte sie nicht. Bis ich
sie heute Morgen im Hausflur traf. Aus irgendeinem Grund haben wir
angefangen zu reden. Sie schlug vor, dass ich doch einfach mit in ihre
Wohnung kommen sollte, da könnten wir das Gespräch fortsetzen. Sie
machte einen Kakao und stellte Kekse auf den Tisch. Wir wollen uns
jetzt öfter treffen.
Hanna, 11 Jahre, Klasse 6c, Papageno-Schule
38
39
Kiez-ABC
A abo (gesprochen abuu) Abkürzung von Aboni
Das sagt man, wenn jemand etwas Schlimmes gemacht hat.
B Bey Blade, unser Lieblingsspielzeug
Biesmilah: Wir sagen das z.B., bevor wir einschlafen.
Es bedeutet: Beschütz mich
Bana ne: Ist mir doch egal!
C Chalas: Schluss, genug jetzt!
Center: Ich geh’ bei Center.
Cüs: sagen wir, wenn wir staunen.
D Die nerven mich!
E Ey!
F Fischkopf (arabisches Spiel)
G Guten Morgen!
H Hamdillah, sagt man z.B. nach dem Essen: Gott sei Dank
Habibe: mein Schatz
I Ich schwöre!
Ich geh’ Center.
J Jala, jala! Schnell, schnell!
Schreibweisen der Wörter aus der arabischen und türkischen Sprache frei nach den Angaben der Kinder
40
K Kubik: Koranschule in der Pankstraße
L Lidl an der Brunnenstraße
M Merhaba: Guten Tag
Machallah: staunen
N Nassesen: Wie gehts?
Nanu Nana, ein Laden bei Center, da gehen wir gern gucken!
O O-ha!
P Puttbusserstraße
Q Quatsch oder Quark
R Ramlerstraße
S Salam Aleikum!
T Tooor! Hört man oft auf unserem Sportplatz
U Uala! Ich schwöre!
V Vater
WWieso?
Was geht ab?
X X-Box 360, unser Lieblingsspielzeug
Z Zeeman
Klasse 1/2 h, Heinrich-Seidel-Schule
41
Wedding 65
Der Wedding ist mein Kiez, mein Revier,
ich kann überall leben, aber ich will’s nur hier.
Du willst wissen, warum?
Ja, frag doch nicht so dumm.
Meine Freunde leben alle hier,
im Wedding fühl’ ich mich wohl, das sag’ ich dir!
Du verstehst nicht, warum ich das sage?
Dann sag ich es dir: Was für eine blöde Frage!
Hier hab’ ich meine Gang, meine Sippschaft,
Ich gehe nicht weg von hier, für kein Geld,
denn hier ist meine Welt.
Mein Kiez steht hier,
meine Gang ist bei mir.
Der Wedding bedeutet mir viel, so ist es hier
groß oder klein, es ist scheißegal,
bleib hier, denn das ist deine Wahl.
N u r a y , 1 3 J a h r e , Wi l l y - B r a n d t - S c h u l e
42
43
Ghettoschule
Ich gehe auf die Willy-Brandt-Oberschule. Sie liegt im Wedding. Fragt
mich jemand, welche Schule ich besuche, gebe ich eine falsche Antwort.
Denn die meisten nennen meine Schule eine »Ghettoschule« – eine
Schule, an der man nichts lernt, an der kein Schüler eine Zukunft hat.
Vielleicht haben sie Recht. Die meisten von uns schwänzen lieber und
versauen ihr Leben. Aber es gibt auch andere, die was lernen, die später
eine Arbeit haben wollen.
An meiner Schule muss man selbstständig sein. Man darf nicht erwar­
ten, dass einem bei jeder Kleinigkeit gleich geholfen wird. Im Notfall,
wenn man nichts versteht, sind die LehrerInnen da. Die meisten mögen
die Schule schon deshalb nicht, weil sie im Wedding liegt. Dabei gibt es
dort, in meinem Kiez, auch schöne Dinge. Es leben viele Ausländer hier,
die meisten verstehen sich auch gut. Hier kann man auf jeder Straße,
einen Kiosk oder einen kleinen Laden finden.
Wenn man in diesem Kiez aufgewachsen ist, will man das Ghetto nicht
verlassen.
M a t i l d a , 1 3 J a h r e , Wi l l y - B r a n d t - S c h u l e
44
Mein Vater und sein Viertel
Mein Vater lebt schon lange hier im Viertel. Und eigentlich war er ganz
zufrieden mit seinem Leben. Aber irgendwann änderte sich das Viertel:
Einkaufscenter entstanden, vieles wurde teurer, die Wohnungsmieten
stiegen, und die Gewalt auf den Straßen nahm zu. Mein Vater fing an,
sein Viertel mehr zu hassen als zu lieben. Doch dann fiel ihm immer
wieder ein, dass es auch schöne Orte in seinem Viertel gibt, Gärten,
Museen und anderes. Am wichtigsten aber war und ist ihm, dass seine
Familie hier lebt. Und ein Teil davon bin ich.
M o h a m a d , 1 3 J a h r e , Di e s t e r w e g - G y m n a s i u m
45
In der Zwergenwelt
Ich rannte nach Hause, weil es Milchreis mit Zucker, Zimt und Apfelmus
gab. Auf dem Weg sah ich eine ganz neue Tür. Ich riss sie auf und wurde
plötzlich ganz klein. Hinter der Tür stand ein Zwerg. »Ich heiße Ludwig«,
stellte er sich vor. »Und ich Jonathan«, antwortete ich. Der Zwerg führte
mich tief in einen stockfinsteren Tunnel unter der Erde. Dabei hielt er
einen leuchtenden Kristall in der Hand.
In der Mitte des Tunnels hörte ich eine unheimlich heulende Stimme.
Ich hatte Angst, aber Ludwig rief mir zu: »Das ist mein Freund Eliot,
wir müssen zu ihm.« Wir leuchteten mit dem Kristall in die Dunkelheit,
da sah ich den Zwerg Eliot mit einem aufgeschürften Bein.
»Gut, dass ihr gekommen seid«, sagte er, »ich habe meinen Kristall ver­
loren und mir mein Bein wehgetan.« Kurz darauf fanden wir seinen
Kristall in einem Loch. Zusammen gingen wir weiter bis zu einem glit­
zernden Raum, vor dem Zwergenwachen standen. Ludwig stellte mich
vor, und wir durften hinein. Ich fand einen Diamantensplitter, den ich
mitnehmen durfte. Am Ende der Zwergenwelt verabschiedeten wir uns.
Als ich draußen war, wurde ich wieder groß und ging nach Hause.
Meine Mutter wollte wissen, wo ich gewesen war. Ich erzählte ihr die
Geschichte mit den Diamanten. Sie glaubte mir nicht. Aber sie machte
den Milchreis wieder warm. Ich legte den Diamanten in meine ­Kommode
und deckte den Tisch.
Jonathan Fritzsch, Klasse 2e, Papageno Grundschule
46
47
Die zwielichtige Tür
Bei einer Radtour durch die Gegend erblickte ich eine hässliche Tür. Sie
war voller Graffiti, sie sah zwielichtig aus.
Ich stieg vom Fahrrad, legte ein Ohr an die Tür und lauschte, um zu
ergründen, was sich hinter der Tür verbarg. Ich hörte, wie sich einige
Menschen stritten. Plötzlich fiel etwas zu Boden. Ich hatte Angst. Aber
da ich sehr neugierig war, blieb ich stehen und lauschte weiter. Dann
konnte man eine Frau weinen hören, als würde sie geschlagen. Ein
Mann schrie jemanden an, und gleich danach näherten sich Schritte der
Tür. Ich stieg schnell auf mein Fahrrad und machte, dass ich fortkam.
Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich eine Frau weinend aus dem
Haus laufen. Verwirrt und traurig fuhr ich nach Hause.
P a u l , 1 2 J a h r e , Vi n e t a - S c h u l e
48
49
Das weiße Kleid
Hinter dieser Tür am Weddinger Leopoldplatz lebte eine Familie mit
zwei Söhnen, Emre und Faruk, 16 und 18 Jahre alt, und ihrer vierzehn­
jährigen Schwester Melissa. Anders als Emre war Faruk eigentlich ein
anständiger Junge, aber oft, wenn er seinem Bruder zur Seite stand,
geriet auch er in Konflikt mit der Polizei.
Melissa war ein hübsches Mädchen. Seit acht Monaten hatte sie einen
Freund, Halil. Und das war ein Problem. Denn Melissa war Muslimin
und durfte keinen Freund haben. Eines Tages wurde sie von ihrem Onkel
mit Halil gesehen. Als sie nach Hause kam, hatte er schon ihre Eltern
informiert. Melissa log, Halil sei ein Klassenkamerad, den sie zufällig
getroffen habe. Diesmal kam sie noch davon, aber ihre Eltern wiesen
Emre und Faruk an, ihre Schwester zu beobachten.
Eine Woche später kam ein Brief von der Schule: »Liebe Familie Yilmaz,
wir müssen Ihnen mitteilen, dass ihr Sohn Emre seinen Mitschüler Ali
krankenhausreif geprügelt hat. Ali wird ihn anzeigen.« Die Eltern waren
nicht wirklich überrascht, so etwas war Alltag bei ihnen. Zwei Monate
später kam wieder ein Brief von der Schule: »Liebe Familie Yilmaz, wir
müssen Ihnen mitteilen, dass ihr Sohn Faruk von der Schule ange­
zeigt wird. Er hat einen Lehrer angegriffen.« Diesmal waren die Eltern
geschockt, von Faruk hätten sie das nicht erwartet. Aber Faruk hatte
sich vernachlässigt gefühlt, die ganze Aufmerksamkeit der Eltern galt
Emre und Melissa.
50
Die Zeit verging. Zwei Jahre waren Melissa und Halil jetzt schon zusam­
men. An ihrem Jahrestag schauten sie sich im Kino eine Lovestory an.
Auf dem Heimweg erwischte Emre die beiden. Er schleifte Melissa an
den Haaren nach Hause. Dort wurde sie von ihrem Vater geschlagen.
Er drohte, Halil umzubringen, wenn sie sich weiter mit ihm träfe. Melissa
machte Schluss mit Halil. Der war tief verletzt, und sie selbst war traurig,
sie konnte gar nicht mehr lachen. Halil betrank sich jeden Abend. Dabei
hatte er doch geschworen, Melissa zu lieben und zu beschützen! Er ließ
ihr eine Nachricht zukommen: Sie sollten gemeinsam flüchten.
Aber es war zu spät: Melissa sollte das weiße Kleid tragen. Sie hat sich
umgebracht, den Fremden wollte sie nicht heiraten. Und Halil? Er bat
Allah um Vergebung und jagte sich eine Kugel in den Kopf.
K ü b r a , 1 3 J a h r e , Wi l l y - B r a n d t - S c h u l e
51
Ben und seine Brüder
Hinter meiner Tür lebt eine große Familie mit sieben Söhnen, und diese
Jungen haben sehr unterschiedliche Hobbys. Einer futtert ständig Chips,
einer liebt Nintendo Ds-Spiele, einer sitzt oft vor dem Fernseher, einer
mag Blumen, einer geht gern zur Schule, und einer guckt sich ständig
Plakate an. Nur Ben, der Kleinste, hat kein Hobby. Er faulenzt. Ben ver­
bringt viel Zeit damit, nichts zu tun.
Ben hat schlechte Noten; er kann nichts. Eines Tages sagt seine Mama:
»Ben, du musst mit dem Faulenzen aufhören!« Ben denkt nach.
Wenige Tage später rennt er von der Schule, so schnell er kann, nach
Hause und schreit: »Ich habe eine Eins bekommen!«.
»Sehr gut, mein Kind«, sagt die Mama. »Jetzt hast du auch ein Hobby.«
»Wirklich?«, fragt Ben. »Was denn?«
»Du lernst«.
Nun haben alle sieben Söhne Hobbys, selbst Ben.
Basma, 10 Jahre, Klasse 4b, Gustav-Falke-Schule
52
53
Der Fluch
Die Schule war anstrengend gewesen. Doch das ist nicht wichtig. Als ich
nach Hause kam, sah ich eine Tür, die ich nie zuvor bemerkt hatte. Ich
war ganz sicher, dass ich sie früher nicht übersehen hatte, dachte aber
dennoch, dass ich mir vielleicht alles nur einbildete.
Als ich Max, meinen Freund, holte, um mich selbst zu überprüfen, war
die Tür nicht mehr da. Max erklärte mich für verrückt und ging wut­
entbrannt davon.
Kaum war er verschwunden, war die Tür wieder da. Vielleicht konnte
nur ich sie sehen. Ich wollte unbedingt wissen, was sich dahinter ver­
barg. Aber eine innere Stimme warnte mich: »Öffne sie besser nicht. Es
könnte ein Fluch auf ihr liegen.« Ich ignorierte sie und öffnete die Tür.
Vor mir tat sich ein finsterer Raum auf. Eine zwielichtige Gestalt trat vor
mich hin, sie war weiß, so weiß wie ein Geist. Ich unterdrückte meine
Angst und ging auf den Geist zu. Er sprach mich an: »Wirf Wasser auf
mich! So wird ein Fluch, der auf mir liegt, beseitigt.« Das tat ich.
Und auf einmal war alles so, wie es sein sollte. Die Tür war weg, und vor
mir stand ein großes Mädchen, viel größer als ich, und sagte: »Danke,
dass du den Fluch von mir genommen hast. Drei Jahre lang musste ich
ein Geist sein. Durch dich bin ich wieder ein Mensch geworden.«
Zeki, 12 Jahre, Heinrich-Seidel-Schule
54
55
Impressum
Mi t t e : Ei n Ki e z v e r f ü h r e r
Copyright Bildungsverbund Brunnenviertel
Berlin 2011
Redaktion Ingke Brodersen
Fotos und Gestaltung Kurt Blank-Markard
D r u c k u n d H e f t u n g L a s e r l i n e Di g i t a l e s D r u c k z e n t r u m
Hinter den Türen von Mitte – Schüler aus
dem Weddinger Brunnenviertel und
aus Alt‑Mitte haben Geschichten geschrieben,
ein Alphabet ihres Viertels verfasst und Slogans
entworfen. Sie erzählen von ihrer Beziehung
zu ihrem Quartier. Es sind traurige und harte,
melancholische und witzige Erfahrungen,
von denen sie berichten.