Leseprobe aus Miriam Baltzer Santiagos Kick

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Leseprobe aus Miriam Baltzer Santiagos Kick
Leseprobe aus
Miriam Baltzer
Santiagos Kick
Ein Buch aus dem
hnb-verlag
Tauentzienstr. 13A
10789 Berlin
www.hnb-verlag.de
[email protected]
Coverfoto und Fußball innen:
vectomart - Fotolia.com
Covergestaltung:
Hobbyfabrik, www.hobbyfabrik.de
Lektorat & Textredaktion:
Susanne Jauss, www.jauss-lektorat.de
1. Auflage
ISBN 978-3-944266-30-5
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de
abrufbar.
© 2014 by hnb-verlag, Berlin
Alle Rechte, einschließlich die des auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form und
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Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für
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Verarbeitung in elektronischen oder mechanischen Systemen. Zuwiderhandlung
verpflichtet zu Schadensersatz.
Alle handelnden Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Miriam Baltzer
Santiagos Kick
Die Autorin
Miriam Baltzer, geboren 1978, lebt mit ihrer Familie in Ludwigsburg und ist nach dem Studium der Sportwissenschaften als Pädagogin tätig. Die Geschichten der Jugendlichen, die sie in den letzten
Jahren begleitet hat, und ihr Bezug zum Sport haben sie zu ihrem
Roman inspiriert.
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Kapitel 1
»Frau Walz? Spreche ich mit Frau Anna Walz?«
Die dicken Falten am Kinn des Botschafters wackelten wie Pudding, wenn er den Kopf bewegte. Die Glatze des Mannes erinnerte
Santi an eine Bowlingkugel, so glatt und glänzend, dass man sein
Gesicht darin spiegeln konnte.
»Hier spricht Engelmann von der deutschen Botschaft in Buenos Aires, Argentinien.«
Das Hemd des Botschafters klebte unter den Achseln dunkel auf
der Haut. Der Knopf seiner Hose wackelte auf dem Bauch hin und
her, und Santi war sich nicht sicher, ob er das Gespräch überstehen
oder noch vorher zu ihm über den Boden herüberkullern würde.
»Frau Walz, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Schwester
vorgestern Abend verstorben ist.«
Die auffällige rote Narbe am Kinn des Mannes leuchtete frisch.
Vielleicht hatte sie ihm ja ein anderer Klient zugefügt, den er auch
so lange hatte warten lassen wie ihn. Santi konnte die Langsamkeit
des Mannes, die alles im Raum zu lähmen schien, kaum mehr ertragen. Trotz der Wichtigkeit der Lage drohte Santi einzuschlafen – so
wie früher im Unterricht. Der Lehrer hatte plötzlich die Stimme
erhoben, und Santi war aus dem Schlaf hochgeschreckt. Alle um ihn
herum hatten sich augenblicklich gerade hingesetzt. »Manchmal
bedarf es wohl eines Tempowechsels, um euch wachzurütteln«,
hatte der Lehrer gemeint.
Mal sehen, ob das bei dem Typen auch klappt, dachte Santi und
sprang vom Stuhl auf. »Was sagt sie?«
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Der Botschafter zuckte zusammen, und der Hosenknopf wackelte gefährlich. Seine dunklen Schlitzaugen funkelten Santi ärgerlich an. Er drehte den Schreibtischstuhl zur Seite, den Blick demonstrativ von Santi weg auf die gegenüberliegende Seite gerichtet.
»Das ist noch nicht alles, Frau Walz. Fernando Alvarez, Ihr
Schwager, ist ebenfalls tot. Er ist gestern mit dem Auto gegen einen
Baum gefahren.«
Santi versuchte, sich Anna am anderen Ende der Leitung vorzustellen. Er konnte sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Das
letzte Mal, als er sie gesehen hatte, hatte er sich noch für Flugzeuge
interessiert und Spielzeugautos in einem kleinen Koffer mit auf die
Reise nach Deutschland genommen. Jetzt stand er hier in dem miefigen Büro und versuchte, nicht daran zu denken, was das Telefongespräch für seine Zukunft bedeuten könnte.
»Frau Walz, Sie sind die einzige noch lebende Angehörige des
gemeinsamen Sohnes der Familie, Santiago Luiz Alvarez. Es wäre
notwendig, sich über den Verbleib des Jungen zu unterhalten.«
Es klang, als wäre es ihm eine Last. Tut mir leid, dass ich dich
von einem Nachmittag bei Rotwein und einem saftigen Steak abgehalten habe, dachte Santi. Pech gehabt, es gibt mich noch. Ein
Überbleibsel der Familie Alvarez.
»Die Eltern haben ein Testament hinterlassen. Dort wird der
Wunsch geäußert, dass Santiago bei Ihnen leben soll.«
Nun wusste Anna, was Sache war. Santi stellte sich vor, wie sie
zu Hause auf dem Sofa saß, fernsah oder ein Buch las und dann
diesen Anruf bekam. Das Leben im Gleichgewicht – und eine Minute später kam alles durcheinander.
»Sie will dich sprechen.« Der Dicke hielt ihm den Hörer hin und
drückte sich mit beiden Armen an den Stuhllehnen nach oben. Der
Bauch fuhr an der Tischkante entlang und quetschte ein Blatt
Papier zwischen sich und dem Rand des Schreibtisches ein. Mit
einem schmutzigen Stofftaschentuch wischte er sich über die Stirn
und schob es dann umständlich zurück in die Hosentasche. Anschließend schlurfte er aus dem Raum. Das Papier, das an seinem
feuchten Bauch kleben geblieben war, segelte zu Boden.
Santi nahm den speckigen Hörer des Telefons und wischte angeekelt mit dem T-Shirt darüber, bevor er ihn ans Ohr hielt.
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»Anna?« Seine Stimme klang heiser.
»Santi! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Darauf fiel ihm nichts Passendes ein, daher fragte er: »Kommst
du am Freitag zur Beerdigung?«
Hoffentlich würde sie ihm beistehen. Er kannte sie kaum, aber
sie war die Schwester seiner Mutter. Maria hätte sich gewünscht,
dass sie dabei wäre. Und er hätte das Gefühl, nicht so alleine zu
sein. Aber sie war auch nicht gekommen, um seine Mutter zu besuchen, obwohl sie wusste, wie es um sie stand. Maria hatte sie angefleht, noch einmal zu ihr zu fliegen, doch Anna hatte sie ignoriert.
»Anna?«
»Ich muss das mit Jörg besprechen. Ich melde mich wieder.«
Santi traute ihr nicht. »Anna, bitte komm her. Ich schaff das
nicht alleine. Wo soll ich hin? Der Typ von der Botschaft hat gesagt, du musst das mit entscheiden.«
»Ich melde mich noch mal bei dir.«
Warum war sie so abweisend? Was war sie für eine Frau? War
ihr die Familie egal?
Santi ließ sich nicht abwimmeln. »Kannst du schon vor Freitag
hier sein?«
Sie seufzte. »Warte einen Moment.« Er hörte, wie sie im Hintergrund mit jemandem diskutierte. Vermutlich mit Jörg, ihrem Ehemann. »Santi? Ich komme, ich weiß nur noch nicht, wann. Sobald
ich einen Flug habe, melde ich mich.«
Damit gab Santi sich zufrieden. Was blieb ihm auch anderes übrig. Er war nicht sicher, ob sie kommen würde. Aber es war beruhigend zu wissen, dass sie sich als einzige Verwandte vermutlich um
ihn kümmern musste.
Er öffnete die Bürotür. Der fette Typ lehnte an der Wand, eine
fleckige Zigarette zwischen den wulstigen Lippen.
»Fertig!«
Er würdigte Santi keines Blickes. »Du kannst gehen. Den Rest
bespreche ich mit deiner Tante.«
Santi stellte fest, dass der Hosenknopf tatsächlich überlebt hatte.
Er hatte die Wette mit sich selbst verloren. Grußlos schlurfte er an
dem Mann vorbei, den kahlen Gang entlang, die Hände in den Hosentaschen begraben. Die Last auf seinen Schultern hatte seinen
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Gang schleppender gemacht. Die Leichtfüßigkeit, mit der er bisher durchs Leben geeilt war, schien ihm abhandengekommen zu
sein.
In der nüchtern gehaltenen Eingangshalle der Botschaft saß Giuliana auf einem Stuhl, der an einem seitlichen Metallhaken verbunden
mit weiteren Stühlen seiner Art in einer Reihe stand. Neben ihr ein
Kunstwerk aus verschieden großen Marmorkugeln, von dem Santi
sich zuvor schon gefragt hatte, was es darstellen sollte. Zwei Stuhlreihen waren einander gegenüber aufgebaut, und man konnte versuchen, in den Gesichtern der anderen Wartenden zu erraten, aus
welchem Grund sie wohl hier waren. Momentan war Giuliana jedoch die Einzige. Als sie Santi sah, wurde ihr Blick weich, und sie
zog ihn an ihren üppigen Busen. Santi roch die vertraute Mischung
nach süßem Kuchen und Parfüm, die ihm so lieb war. Giuliana war
die beste Bäckerin, die er kannte, und er liebte ihr Süßgebäck.
»Kommt sie?«
Er nickte. »Sagt sie jedenfalls.«
Giuliana strich ihm mit der weichen weißen Hand zärtlich über
die Wange. »Es wird alles gut, mein Schatz, lass uns nach Hause
gehen.« Das bunte Kleid wehte um ihren massigen Körper. Ihr
fester Schritt verriet, dass sie nicht zuließ, dass sich ihr jemand in
den Weg stellte. Giuliana handelte so, wie sie es für richtig hielt,
und meist traute sich keiner, diese Entscheidungen in Frage zu stellen. Sie war vor zwei Tagen in die Polizeistation marschiert, hatte
die Polizisten mit festem Blick angesehen und gesagt, dass sie Santi
mitnehmen und sich um ihn kümmern werde. Und sie hatte es geschafft. Keiner hatte ihr widersprochen. Wenn sie entschlossen war,
wurde ihr Blick hart und ihre Lippen zu einem schmalen Strich, als
hätte sie anstelle des Mundes eine dünne rote Narbe im Gesicht.
Doch abgesehen von ihrer Sturheit war Giuliana der liebenswürdigste Mensch, den Santi kannte. Sie hatte ein offenes Lachen, laut
und mitreißend, das so ehrlich war, dass einem davon warm wurde.
Giuliana strahlte eine mütterliche Herzlichkeit aus, die bei Santi ein
Gefühl der Geborgenheit hervorrief und ihn ein wenig wie zu Hause fühlen ließ.
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Giuliana war die engste Freundin von Santis Mutter gewesen. Sie
hatte Maria in die Gemeinde aufgenommen, als sie mit seinem Vater hierhergekommen war und niemanden kannte. Seine Eltern
hatten sich in Santiago de Chile kennengelernt, daher auch sein
Vorname: Santiago. Seine Mutter unterrichtete dort an einer Schule.
Es war immer ihr Wunsch gewesen, nach Südamerika zu gehen,
und so flog sie nach dem Studium nach Chile, um dort den Job
anzunehmen. Sein Vater arbeitete im Hotel eines Freundes. Über
mehrere Jahre hinweg half er dort aus, wenn er gebraucht wurde. Er
verliebte sich sofort unsterblich in Maria. Als klar war, dass sie
schwanger war, machte er ihr gleich einen Heiratsantrag und nahm
sie mit in sein Haus nach Moreno.
Für Maria war es zunächst nicht leicht, in der Gemeinde Fuß zu
fassen. Die meisten anderen Frauen waren tagsüber zu Hause bei
ihren Kindern und trafen sich regelmäßig draußen auf der Straße
oder bei einer von ihnen zu Hause. Maria ging jedoch weiterhin
arbeiten. Sie unterrichtete an einer deutschen Schule in Buenos
Aires. Das Unterrichten machte ihr Spaß, und sie hatte auch weiterhin das Ziel, von ihrem Mann finanziell unabhängig zu sein.
Fernando wurde von den anderen Männern dafür verspottet, dass
er seine schwangere Frau arbeiten schickte. Doch Maria ließ sich
nicht davon abbringen, das hatte sie Fernando schnell klargemacht.
Fernando fühlte sich zwar in seinem Stolz gekränkt, weil die anderen ihn aufzogen, doch er liebte Maria, und zwar auch genau deshalb, weil sie anders war. Weil sie stark und unabhängig war. Das
reizte ihn, auch wenn er oft darüber fluchte.
Giuliana unterstützte Maria. Seit Jahren kämpfte sie für mehr
Gleichberechtigung in den Familien. Giulianas Mann war abgehauen und hatte sie mit drei Kindern alleine gelassen. Sie zog sie alle
groß und ging nebenbei arbeiten, auch wenn es am Anfang alles
andere als leicht war. Seitdem war es ihr ein Anliegen, dass Mädchen eine Ausbildung machten und einen anständigen Beruf ergriffen. Sie arbeitete in einer Beratungsstelle, die junge Mädchen darüber aufklärte, wie man schwanger wurde, wie man sich vor Krankheiten schützte und wie man sein Leben selbst in die Hand nehmen
konnte. Marias Art, ihr Leben zu führen, gefiel Giuliana sofort, und
sie verteidigte sie vor den anderen Dorfbewohnern. Sie bezog Maria
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in ihre Arbeit ein und führte ihr Beispiel den jungen Mädchen vor.
Das besänftigte auch Fernando, der große Stücke auf Giuliana hielt.
Im Gegenzug für Marias Engagement hatte Giuliana häufig auf
Santi aufgepasst, wenn seine Mutter arbeiten war. Daher war sie für
ihn so etwas wie eine Tante geworden.
Santi ließ sich in den Autositz fallen, legte den Kopf in den
Nacken und schloss die Augen.
»Wenn wir zu Hause sind, mache ich dir Empanadas, die besten,
die du je gegessen hast!« Giuliana tätschelte seinen Oberschenkel.
Er nickte und lächelte ihr zu. Sie gab sich so viel Mühe, aber
er fühlte sich seit dem Unglück, als sei ihm der Boden unter den
Füßen weggezogen worden. Vorher war sein Leben sorglos gewesen, jetzt war es aus den Fugen geraten. Er musste zugeben, dass er
Angst hatte. Angst vor einem Leben ohne Eltern, die bisher alles
für ihn geregelt hatten.
Giuliana fuhr auf die Mauer des Friedhofs zu, die von dicht bewachsenen Büschen und Bäumen umgeben war. In dem warmen
Klima, das hier herrschte, sah man nicht häufig so viel Grün, der
Friedhof musste einen guten Gärtner haben. Sie bremste scharf und
hüllte das Auto in eine riesige Staubwolke, die Santis Sicht trübte.
Mehrere Fahrzeuge standen schon auf dem Parkplatz. Sie waren
also nicht die Ersten, die gekommen waren, um seine Eltern zu
verabschieden. Santis Herz schlug gegen das gebügelte weiße Hemd
unter dem wollenen Pullunder, den Giuliana zu diesem Anlass für
ihn gestrickt hatte. Sie hatte gleich nach dem Botschaftsbesuch damit angefangen und war in zwei Tagen fertig geworden.
Ob Anna wirklich kommen würde? Sie hatte noch einmal angerufen und ihm gesagt, dass sie rechtzeitig da sein werde, aber er war
sich nicht sicher, ob er ihr glauben konnte. Die schwarze Stoffhose
war ihm an den Beinen zu kurz, und er spürte den Luftzug an seinen Knöcheln, als er die Autotür öffnete. Er setzte die Füße, an
denen er Schuhe und Strümpfe seines Vaters trug, auf den Schotter.
In seinem eigenen Kleiderschrank hatte er nichts Passendes gefunden. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um. Dunkel gekleidete Menschen stiegen aus den Fahrzeugen oder kamen zu Fuß
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und traten durch das schmiedeeiserne Tor mit dem goldenen Kreuz
darauf.
Sein Blick streifte über den Parkplatz, doch er konnte Anna
nicht entdecken. Mit dem Fuß malte er ihren Namen in den Staub.
Die Spitze seines Schuhs, den Giuliana glänzend poliert hatte, wurde matt. Sie kommt doch nicht. Das war doch klar. Was hast du
denn erwartet?
Gerade wollte er mit einem Ruck den Namen durchstreichen, als
Staub aufwirbelte und ein Taxi neben ihm hielt. Eine Frau stieg aus,
groß, blond. Sie nahm eine Sporttasche vom Rücksitz und bezahlte
den Fahrer. Das Taxi fuhr weg, sie stand unschlüssig da und schaute sich um. Dann erblickte sie Santi, und sie sahen sich eine Weile
schweigend in die Augen.
»Anna!« Santi ging einen Schritt auf sie zu.
»Santiago? Hallo! Ich hätte dich fast nicht erkannt, du bist so erwachsen geworden. Zum Glück hat mir deine Mutter immer Bilder
geschickt.« Sie umarmte ihn kurz. »Kann ich meine Sporttasche
während der Beerdigung im Auto lagern?«
Die Erleichterung löste ein Kribbeln in der oberen Bauchhälfte
bei ihm aus, und er entspannte sich ein wenig. Er öffnete die Tür
zum Rücksitz und betrachtete Anna genauer. Sie war bestimmt
einen Meter achtzig groß und damit auf Augenhöhe mit ihm. Der
blonde Zopf baumelte über dem aufgestellten Kragen des schwarzen Polohemdes. Santis Blick blieb bewundernd an den durch den
Bizeps gespannten Ärmeln haften. Seine Mutter hatte ihm erzählt,
dass Anna viel Sport trieb. Sie war Polizistin und musste sich fit
halten. Er hatte noch nie eine so durchtrainierte Frau wie Anna
gesehen. Als kleiner Junge war ihm das nicht aufgefallen. Ihre Augen leuchteten durchdringend blau und hatten irgendwie etwas Anziehendes. Anna wirkte stark, selbstbewusst und ein wenig maskulin. Sie gefiel ihm sofort.
Santi war froh, dass sie da war. Er stellte sie Giuliana vor, die um
das Auto herum eilte und Anna um den Hals fiel. Mit tränenüberströmtem Gesicht bedachte sie Anna mit einem Schwall spanischer
Worte.
Anna schob Giuliana sanft aber bestimmt von sich weg und gab
ihr zu verstehen, dass sie kein Spanisch sprach, indem sie beide
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Handflächen nach oben hielt, die Schultern hochzog und auf
Deutsch sagte: »Ich kann Sie leider nicht verstehen.«
Santi hatte nicht gewusst, ob Anna Spanisch sprach, er konnte
sich nicht daran erinnern. Da sich seine Mutter eine deutsche Beerdigung mit einem deutschen Pfarrer gewünscht hatte, würde
sie keine Schwierigkeiten bekommen, zu verstehen, was gesagt wurde.
»Kommt ihr?« Giuliana rief ihn wieder in die Realität. Jetzt gab
kein Zurück mehr.
Santi trat mit Anna und Giuliana durch das Friedhofstor, vorbei
an der Menschentraube aus Freunden, Nachbarn und Kollegen
seiner Eltern, die eine Gasse für ihn bildeten. Er wusste nicht, ob er
den Blick gesenkt halten sollte oder die Leute anschauen und ihnen
zulächeln durfte. Ganz vorne am Tor stand eine Kollegin von Mama. Sie hatte selbst einen Sohn, der mit Santi in die Klasse ging.
Obwohl sie eine dunkle Sonnenbrille trug, konnte man sehen, dass
sie weinte. Ihre Wangen waren feucht, und ihr Kopf bewegte sich
hin und her. In der Hand hielt sie ein zerknülltes Taschentuch. Als
Santi an ihr vorbeiging, berührte sie ihn leicht an der Schulter. Ein
guter Freund von Papa lehnte an einem Baumstamm direkt neben
der Mauer, sah starr auf den Boden und kämpfte mit den Tränen.
Er war ein Mann, der weinen als Schwäche empfand, auch wenn es
ihm guttun würde, dem Gefühl nachzugeben. Andere Freunde der
Familie hielten sich an den Händen und lehnten ihre Köpfe aneinander. Als Santi vorbeikam, wandten sie sich zu ihm und sahen
ihn aus verschleierten Augen an.
Santi fuhr sich mit der zitternden Hand unter den engen Hemdkragen, er fühlte sich unwohl. Er kannte all die Gesichter, aber
nicht so. Die Trauer schien sie zu verändern. Die dunkle Kleidung,
die gedrückte Stimmung machten sie zu Wesen, die ihm nicht mehr
vertraut waren und ihn verunsicherten. Vor dem Eingang der Kapelle gab Giuliana ihm ein Zeichen, stehenzubleiben. Sie drehten
sich zu den Gästen um, und Santi ließ seinen Blick umherwandern.
Da, zwischen zwei Männern im dunklen Anzug war eine Lücke,
durch die er auf die Friedhofsmauer mit ihren schön bewachsenen
Steinritzen hindurchsehen konnte. Wenn er die Augen zusammenkniff, entdeckte er sogar eine kleine Eidechse, die in einer dieser
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Mauerrillen umherkrabbelte. Sie hatte es gut, sie konnte einfach so
in einer Ritze verschwinden, wenn sie wollte.
Alfredo kam auf ihn zu und nahm seine Hand. »Es tut mir so
leid, Santi. Dein Vater war wie ein Bruder für mich, das weißt du.«
Er senkte den Blick, klopfte ihm auf den Oberarm und machte
Platz für Julia, die ihn herzlich in die Arme schloss und ihm ins Ohr
weinte. »Sie waren noch so jung. Und du, du armer Junge, bist nun
ganz allein, ich …« Schluchzend wandte sie sich von ihm ab.
Eine Schlange hatte sich gebildet. Wollten ihm jetzt alle einzeln
ihr Beileid ausdrücken? Sein Brustkorb fühlte sich so eng an, als
müsste er jeden Moment platzen. So im Mittelpunkt zu stehen,
setzte ihn unter Druck. Hilfe suchend sah er sich nach Anna um.
Auch ihr drückten die Menschen die Hand und umarmten sie, obwohl sie keiner kannte. Doch sie strahlte eine Ruhe aus, als ob sie
das alles nichts anging. Sie lächelte distanziert und ein wenig abweisend, immer gerade so viel, dass man sich nicht getraute, ihr zu
nahezukommen. Es war, als ob sie eine unsichtbare Barriere umgab.
Santi konnte nicht leugnen, dass er sie interessant fand. War ihre
Unnahbarkeit echt? Oder schaffte sie es auf diese Weise, mit der
Situation besser klarzukommen?
Sie fing seinen Blick auf und nickte ihm stumm zu. »Ich werde
mit Santiago schon vorgehen, wir brauchen eine Minute für uns«,
richtete sie das Wort an die Menge. Dann legte sie einen Arm um
Santis Schultern und ließ die Leute stehen. Santi sah sich nach Giuliana um, er wusste nicht, wie sie es finden würde, wenn er einfach
verschwand, ohne die Gäste zu begrüßen. Giuliana legte viel Wert
auf Höflichkeit.
»Mach dir keinen Kopf, die werden das schon verstehen«, flüsterte Anna ihm ins Ohr. Sie führte ihn in die Kapelle, in der die
Feier stattfinden würde. Die Kühle des Raumes traf sein erhitztes
Gesicht, und der Ortswechsel half ihm, sich wieder zu fassen. Jedenfalls so lange, bis er die beiden Särge neben dem Rednerpult
entdeckte. Keine Menschenseele war in der Kapelle, nur leere Stuhlreihen, ein Altar mit Mikrophon – und eben die beiden Särge.
Annas Blick im Rücken ging Santi durch die leeren Reihen und
lauschte seinen Schritten in der Stille. Er fuhr mit den Fingern über
das robuste Eichenholz der Särge und über die blank polierten
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Messingbeschläge an deren Seiten. Da sollten seine Eltern drin liegen? Er legte die Wange auf das Holz und schloss die Augen, in der
Hoffnung, die Nähe seiner Mutter unter ihm zu spüren, wenn er
sich nur genügend konzentrierte. Doch außer der Maserung des
Holzes war da nichts. Während er noch immer den Kopf auf dem
Sarg liegen hatte, blickte er zur Tür und sah die Menschentraube,
die eintrat, allen voran Giuliana. Als sie ihn so sah, wollte sie loseilen und ihn da wegholen, er sah es ihr genau an. Doch Anna hielt
sie am Arm zurück. Es beeindruckte ihn, wie sie seine Unsicherheit
spürte und ihn subtil lenkte, ohne dass jemand etwas davon bemerkte. Es war wirklich gut, dass sie hier war.
Dann stellte er sich vor, wie er die Särge öffnete und sie leer waren. Er würde aufspringen und rufen: »Seht her, sie sind gar nicht
tot. Ihr seid umsonst gekommen. Es war alles nur Show.« Doch er
wusste, dass er niemals den Mut haben würde, den Deckel anzuheben.
Nicht alle Trauergäste fanden Platz in der kleinen Kapelle, ein
Teil blieb draußen im Hof stehen. Trotz der Menschenmenge war
es unheimlich still. Nur leises Gemurmel drang zu Santi nach vorne.
Kein Geplauder, kein Gelächter, kein unruhiges Hin und Her. Alle
bewegten sich bedächtig, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen
und niemanden in seiner Trauer zu stören. Das kam ihm unnatürlich vor, verklemmt, einengend. Aber vermutlich waren Beerdigungen genau das.
Anna setzte sich in die erste Reihe und gab ihm ein Zeichen, es
ihr nachzutun. Er strich noch ein letztes Mal über das Holz und
ging dann über den glatten Marmorboden zu ihr hin.
»Wir trauern heute um Maria und Fernando Alvarez.« Der Pfarrer hatte sich an den Altar gestellt, rückte die Brille zurecht und sah
über ihren Rand hinweg in die Menge. »Alle, die wir hier sind, sind
wir gemeinsame Wege mit ihnen gegangen. Wir haben mit ihnen
gelacht, gefeiert und gehofft. Wir sind auch durch schwere Zeiten
mit ihnen gegangen, haben gebangt, geweint und wieder gehofft.«
Der Pfarrer konnte deutsch und spanisch. Er wiederholte alle Sätze
in beiden Sprachen, was das Ganze sehr in die Länge zog. Santi, der
beide Sprachen verstand, empfand es als quälend, das Gesagte
zweimal hören zu müssen. Es hatte etwas Eindringliches an sich, als
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ob er die Worte niemals vergessen dürfe. Wie wenn man ein Gedicht auswendig lernen muss und die Sätze mehrmals hintereinander wiederholt. Und dabei hätte er das hier doch am liebsten sofort
vergessen.
Santi schloss die Augen. Gelacht, ja, das haben wir. Oft. Sehr oft
sogar. Schmunzelnd musste er an eine Situation denken, die schon
einige Jahre her war.
Auf dem Nachhauseweg vom Fußballplatz war ihm damals ein
Hund zugelaufen. Ein hinkendes, zottiges graues Fellbündel, das
nur noch ein Auge hatte. Santi hatte sich sofort in das kleine Etwas
verliebt. Er nahm es mit nach Hause, und Fernando half ihm, ein
Versteck für das Tier zu finden. »Lass ja Mama nichts davon wissen«, hatte sein Vater ihn beschworen.
Santis Mutter wollte keine Haustiere, egal wie sehr er sie auch
anflehte. Drei Wochen lang hatten sie den Hund in der Hütte eines
Nachbarn gehalten, und Santi hatte ihn jeden Tag gefüttert und mit
ihm gespielt. Dann war er abgehauen und durch die offene Haustür
direkt in die Küche gerannt. Santi fand ihn bei Maria auf dem
Schoß, die ihn knuddelte und ihm eine Wurst zusteckte. Fernando, der ihm zu Hilfe eilen wollte, warf Santi einen fragenden Blick
zu.
»Wird ja auch Zeit, dass ihr mir unser neues Familienmitglied
vorstellt«, meinte seine Mutter lächelnd. »Ich habe mich schon gefragt, wann ihr mir endlich von ihm erzählen wollt.«
»Du weißt von ihm?«, fragten Fernando und Santi gleichzeitig.
»Natürlich, und zwar schon seit etwa drei Wochen.«
Alle drei sahen sich an und prusteten los. Sie lachten, bis sie
nicht mehr konnten, und der kleine Hund sprang aufgeregt zwischen ihnen hin und her. Ab diesem Tag durfte er offiziell in der
Hütte wohnen und auch öfter zu ihnen ins Haus. Doch leider starb
er drei Monate später. Seine Mutter war am traurigsten darüber. Sie
hatte ihn sehr in ihr Herz geschlossen.
Die Musik der Orgel holte Santi in die Realität zurück. Der Pfarrer war noch nicht fertig mit seiner Rede. »Wir weinen um sie, doch
unser Leben wird weitergehen. Sie sind nicht mehr da, und sind
doch ganz nah bei uns. Denn sie werden für immer einen Platz in
unseren Gedanken, unseren Erinnerungen und unseren Herzen
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haben.« Er nickte den Sargträgern zu, die sich gemeinsam vor den
beiden Särgen bückten und sie an den Messinggriffen hochhoben.
Santi beobachtete die Männer, wie sie im Gleichschritt mit unbewegten Gesichtern den Weg entlangschritten, bemüht, aufrecht
zu gehen und sich nicht anmerken zu lassen, wie schwer die Last
für sie war. Er wünschte, jetzt Fußball spielen zu können, durch die
Leute hindurch zu dribbeln und den Ball durch das offene Friedhofstor zu schießen. Dann würde er sich besser fühlen.
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