Leseprobe PDF - Hobbyfabrik
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Leseprobe aus Jörg Reibert Verhängnisvoller Abgrund Ein Buch aus dem hnb-verlag Tauentzienstr. 13A 10789 Berlin www.hnb-verlag.de [email protected] Coverfoto: Jörg Reibert Covergestaltung: Hobbyfabrik, www.hobbyfabrik.de Lektorat & Textredaktion: Susanne Jauss, www.jauss-lektorat.de 1. Auflage ISBN 978-3-943018-62-2 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2014 by hnb-verlag, Berlin Alle Rechte, einschließlich die des auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form und der Übersetzung, sind vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb des Urhebergesetzes ist ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen oder mechanischen Systemen. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadensersatz. Die handelnden Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt, sondern rein zufällig. Jörg Reibert Verhängnisvoller Abgrund Der Autor Jörg Reibert wurde 1972 in Braunschweig geboren. Er studierte Maschinenbau und promovierte später im Fach Technikgeschichte. Heute arbeitet und lebt er mit seiner Familie in Bamberg. Der Roman »Verhängnisvoller Abgrund« ist sein belletristisches Debüt. 4 Für Eva, Henning und Jana 5 6 Prolog Natürlich war Bettina an allem schuld. Von selbst wäre ich nie auf die Idee gekommen, zum Psychologen zu gehen. Ich war doch nicht krank! Aber die beiden waren sich schnell einig, dass ich professioneller Hilfe bedürfe, um meine traumatischen Erlebnisse besser zu verarbeiten. So fingen meine Sitzungen an. Nachdem dann Bettina ihren tödlichen Unfall erlitten hatte, wurde ich Dr. Weis überhaupt nicht mehr los. Jeden zweiten Tag rief er bei mir an und wirkte ehrlich besorgt. Er wolle verhindern, dass ich »in ein Loch falle«. Ich entgegnete ihm, dass mich die Sitzungen bei ihm langweilten. Das liege nicht an seiner Person – ganz im Gegenteil, versicherte ich, er sei ein angenehmer Gesprächspartner –, doch es würde mich einfach anöden, immer nur über mich selbst zu sprechen. So spannend sei mein Leben nun auch wieder nicht. Mit Bettinas Tod würde ich schon klarkommen, es sei nicht der erste Verlust, den ich im Leben erlitten hätte. Er sah das natürlich anders. 7 Daraufhin hat er mir bei unserem letzten Treffen vorgeschlagen, mit dem therapeutischen Schreiben anzufangen. Nur für mich allein, ich müsse es keinem Menschen zeigen. »Um meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen«, wie er es in seiner schönen Sprache formuliert hat, die immer viel andeutet, aber selten konkret wird. Die Idee fand ich nicht einmal übel. Dadurch entkomme ich etwas seiner Aufmerksamkeit, und vielleicht gibt es ja wirklich ein paar Dinge in meinem Leben, die ich etwas genauer betrachten sollte … 8 1 Ich war wichtig. Und ich war unbeliebt. Das musste ich als Leiter der Internen Analyse auch sein. Meine damalige Firma, die Sneyder AG, war ein sogenannter Global Player im Bereich des Anlagenbaus, und ich hatte die Aufgabe, Geld einzusparen. Viel Geld, was konkret siebenstellige Beträge jährlich bedeutete. Ich tat meinen Job gerne, und ich war gut darin. Mein Name ist Alexander Martin. Ich leitete ein kleines Team und trieb die Mitglieder an, unsere Ziele zu erreichen. Wir suchten nach Möglichkeiten, alles schneller, billiger oder auch beides zu machen. Dabei drehten wir, wie es so schön heißt, jeden Stein um. Wir waren vom Vorstand befugt, uns in allen Bereichen und Abteilungen umzusehen. Dabei kamen natürlich auch etliche »Leichen« zum Vorschein. Es waren Projekte, die in Wirklichkeit weniger abwarfen, als vor ein paar Jahren auf dem Papier vorgerechnet worden war, Abläufe, die nicht mit den Firmenvorgaben zusammenpassten, und ähnliche 9 Dinge. Kurzum, alles was wir in die Hand nahmen, war dazu geeignet, die entsprechenden Verantwortlichen in größte Bedrängnis zu bringen. Und das tat es auch meistens. Da wir jedoch als Abteilung direkt am Vorstand angegliedert waren, bekamen wir von dort eine Rückendeckung, die uns unangreifbar machte. Ich war davon überzeugt, mein Gewicht in Gold wert zu sein. Und das meinte ich wörtlich. Wir brachten ständig hervorragende Ergebnisse, und das Gehalt, das ich bezog, war für meine siebenunddreißig Jahre überdurchschnittlich. Im Gegenzug war ich breit, mein Privatleben bedingungslos den Firmeninteressen unterzuordnen. Mein Arbeitspensum war hoch. Oft nahm ich mir noch Unterlagen oder Fachliteratur mit nach Hause. Das befriedigte mich mehr, als nach Feierabend fernzusehen oder mir mit anderen Dingen die Zeit zu vertreiben. Selbstverständlich erwartete ich auch von meinen Teammitgliedern einen hohen Einsatz. Wir lebten mit unseren Projekten und für unsere Projekte. Es galt als ausgemacht, nicht eher das Büro zu verlassen, bis die Zahlen und Ergebnisse für den nächsten Tag aufbereitet waren. Etliche Leute verließen daher auch im Laufe der Jahre die Gruppe freiwillig, da sie diesen Druck nicht ertragen konnten. Die restlichen verbliebenen vier Leute waren wie ich alle jung, ehrgeizig und alleinstehend. Ich handelte wie ein König in meinem kleinen Reich. *** 10 Die Rezession traf uns unvorbereitet und mit voller Wucht. Der Konzern, in dem ich arbeitete, war auf den Bau von Großanlagen für die Energie- und Abfallwirtschaft spezialisiert. Die Branche galt zwar allgemein als krisensicher, war aber von zahlreichen, vor allem kommunalen Kunden abhängig. Die ersten Anzeichen für einen Umschwung kamen noch langsam daher. Sie äußerten sich im Ausbleiben von Kundenanfragen, in Verschiebungen von Terminen und ähnlichen kleinen Indizien. Doch plötzlich wurden fast zeitgleich mehrere Großaufträge storniert, und die Sneyder AG sah sich mit einem massiven Umsatzeinbruch konfrontiert. Wäre nicht im laufenden Jahr mit Stellenkürzungen auf diese Situation reagiert worden, hätten wir ein paar Monate später das Ende des Betriebes erlebt. Die Unternehmensleitung reagierte panisch. Ein Geist des allgemeinen Misstrauens hielt Einzug in der Firma. So wurde zum ersten Mal auch meine Abteilung von einem externen Consultant auf den Prüfstand gestellt und als vorläufig verzichtbar eingestuft. Nur allzu bereit war man, uns so schnell wie möglich aufzulösen. Die guten Leistungen, die wir bisher für das Unternehmen erbracht hatten, galten nun nichts mehr, wir wurden kurzfristigen Zielen geopfert. Fürsprecher im Betrieb besaßen wir ohnehin nicht. Meine Mitarbeiter konnten in anderen Abteilungen eine Verwendung finden, ich selbst wurde jedoch mit sofortiger Wirkung freigestellt und fand mich auf dem Arbeitsmarkt wieder. Das war Ende September, nach der Urlaubszeit, wenn normalerweise der Jahresendspurt be11 ginnt. Am ersten Januar würde ich dann auch offiziell arbeitslos sein. Natürlich ließ ich mich nicht so einfach kaltstellen. Ich vereinbarte als Erstes einen Termin bei einem Fachanwalt für Arbeitsrecht. Ich kannte einen Juristen, mit dem ich damals zusammen mein Abitur gemacht hatte. Wir hatten zwar seit gut fünfzehn Jahren nur flüchtige gemeinsame Berührungspunkte, da ich Wirtschaftsingenieurwesen und er Jura studiert hatte. Wenn wir uns auf der Straße trafen, ergab sich jedoch immer eine Gelegenheit für einen netten Smalltalk. Unser Verhältnis war immer gut gewesen, und ich hatte Vertrauen zu ihm. Er arbeitete in einer Kanzlei, die aus zehn Anwälten bestand. Mit der Assistentin machte ich einen Termin aus, was kein Problem darstellte, nachdem sie erfahren hatte, dass wir Bekannte waren. Ansonsten sei Herr Behrmann sehr beschäftigt, erfuhr ich, was mir angesichts meiner derzeitigen Lage einen Stich versetzte. Als ich sein Büro betrat, kam er sogleich auf mich zugestürmt: »Alex! Schön, dich zu sehen. Mensch, das ist ja eine Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind.« »Thomas, ich freu mich genauso, auch wenn die Umstände unseres Treffens nicht die erfreulichsten sind.« »Jetzt setz dich doch erst mal und erzähl«, bat er mich. Er bot mir den Besuchersessel an seinem Schreibtisch an und orderte für uns beide einen doppelten Espresso. Ich erzählte ihm alles über meine Situation, erläuterte meinen Aufgabenbereich, berichtete über die Sneyder AG. 12 Er nickte oft. »Du bist nicht der Erste von Sneyder, der zu uns kommt. Aber ich will ehrlich zu dir sein. Du bist relativ jung, nicht verheiratet und hast keine Kinder. Im Unternehmen warst du auch noch nicht allzu lange angestellt. Somit sind deine Bonuspunkte in der Sozialauswahl mager. Man hat dir ordentlich gekündigt und zudem noch eine anerkennenswerte Abfindung draufgepackt. Nimm sie und verschwende keine weiteren Gedanken an den Rechtsweg. Wahrscheinlich würde kein Arbeitsgericht einer Kündigungsschutzklage stattgeben.« Ich schaute belämmert drein, was ihm nicht entging. »Du bist doch qualifiziert, such dir einfach was anderes. Hast du schon mal daran gedacht, dass man dich vielleicht auch gar nicht mehr haben möchte? Jetzt sind Berater im Haus, die deinen Job machen. Ihr würdet euch doch sofort in die Quere kommen. Warum haben sie dich sonst freigestellt? Normalerweise würde man doch erwarten, dass ein fähiger Mitarbeiter bis zur letzten bezahlten Sekunde seine Pflicht ableistet. Nimm das Geld und nutze die Zeit für deine Stellensuche. Sieh dich gut um, es gibt momentan mehr Möglichkeiten, als du denkst.« Ich dankte ihm für seinen Rat. Auf die Frage nach dem Honorar winkte er nur ab. »Die paar Minuten schenke ich dir gerne. Demnächst, wenn du irgendwo Geschäftsführer geworden bist, legst du dich einfach richtig mit dem Betriebsrat an. Die kommen dann zu mir, und ich verdiene doppelt und dreifach daran.« Lachend schlug er mir auf die Schulter und begleitete mich zur Tür. 13 *** Die nächsten Tage und Wochen wurden eine unvorstellbar öde Zeit für mich. Ich, der es gewohnt war, von morgens bis abends beschäftigt zu sein, hatte plötzlich nichts mehr zu tun. Anfangs freute ich mich noch auf die viele freie Zeit, die ich haben würde. Auf die Gelegenheiten zu lesen, spazieren zu gehen, wieder einmal Sport zu treiben. Ich wollte die Dinge nachholen, die in den letzten Jahren zu kurz gekommen waren. Außerdem hatte ich bis zum Auslaufen meines Vertrages zum Jahresende mehr als genügend Zeit, mir eine andere Stelle zu suchen. Die Realität kam jedoch anders. Schon beim ersten Frühstück daheim konnte ich mich kaum auf den Inhalt der Zeitung konzentrieren. Ich las sonst nie Zeitung. Mein übliches Frühstück – wenn man es überhaupt so nennen wollte – waren belegte Brötchen aus dem Automaten, die ich hastig verzehrte, während ich meine E-Mails las. Nun saß ich zum ersten Mal am Frühstückstisch und starrte auf die Buchstaben, die vor meinen Augen verschwammen, während ich an meine Projekte dachte und in Gedanken Pläne schmiedete, die nie umgesetzt werden würden. Mich beschlich eine innere Unruhe. Die Einsamkeit lastete auf mir, und das Radio kam mir als künstliche Geräuschkulisse vor. Allein schon der Gedanke daran, keine Arbeit mehr zu haben, ließ mich auf meinem Stuhl kippeln. Ich musste 14 mich durchorganisieren, schnellstmöglich eine neue Anstellung finden, meine Freizeit planen, nichts dem Zufall überlassen. Wozu hatte ich nicht so etwas im Arbeitsleben gelernt und täglich angewandt? Wer rastet, der rostet, dachte ich mir. Also nahm ich mir mit neuem Elan den Stellenteil vor und holte mir Schere und Leuchtstift, um eventuell interessante Angebote gleich zu markieren. Nach einer halben Stunde war die Ausbeute mager. Es gab zwei Annoncen, auf die mein Stellenprofil halbwegs passte. Eine Firma, die genau das suchte, was ich bisher gemacht hatte, gab es nicht. Ich musste also bis zum nächsten Samstag warten und danach wahrscheinlich wieder bis zum nächsten Wochenende und so fort. Niedergeschlagen warf ich die zerlesene Zeitung ins Altpapier und beschloss, mich schnellstmöglich an die Arbeitsagentur zu wenden. Außerdem wollte ich noch die Anzeigen im Internet durchforsten. Die Printmedien waren ohnehin dem Untergang geweiht, so hieß es doch von allen Seiten. Lediglich das nostalgische Gefühl des Umblätterns konnte einem das Internet noch nicht bieten. *** Nach dem Frühstück nahm ich mir einen Gang in die Innenstadt vor, bei dem ich meine Garderobe beim Herrenausstatter vervollständigen wollte. Durch meine vielen Geschäftstermine war ich bisher gezwungen gewesen, immer nur auf dem Sprung zu sein, wenn ich einmal einkaufen ging. 15 Ich betrat ein altmodisches Geschäft, das in einer Seitenstraße der Fußgängerzone lag, die aber trotzdem als eine der besten Lagen galt. Dezent war die Aufmachung des Schaufensters, und gediegen kam das Geschäft daher. Keine schreienden Reklamen, keine Rabattschildchen. Es wirkte eher so, als hätte man den Laden aus dem London der Fünfzigerjahre direkt nach Deutschland verpflanzt. Ich hatte noch keine konkreten Vorstellungen, was ich benötigte. Daher ging ich zuerst zu einem Holzregal mit zahlreichen kleinen Fächern, in denen Krawatten ausgelegt waren. Genüsslich zog ich eine nach der anderen hervor und hielt sie mir an. Zu jeder Lebenssituation passte nun mal eine bestimmte Art Muster, fand ich. Ich hatte meine Geschäftskrawatten satt. Jeden Tag war ich mit ihnen zur Arbeit gegangen. Diejenige, die ich am Tag meiner Kündigung getragen hatte, war gleich abends im Mülleimer gelandet. Auch wenn ich über eine ganze Stange voll Krawatten verfügte, sollte es nun etwas Neues sein. Ich fand zwei besonders hübsche, die ich für mich beiseitelegen ließ. Der junge Verkäufer war aufmerksam und beherrschte sein Handwerk. Ich kann es nicht leiden, wenn ich beim Herrenausstatter von Damen bedient werde. Die meisten von ihnen haben kein Einfühlungsvermögen für klassische Männermode. Der Verkäufer, der sich mit mir in dem leeren Laden unterhielt, trug einen gut sitzenden, gedeckten Zweireiher, der ihm ein ernsthaftes Aussehen verlieh. Auf die Frage, ob ich denn auch einen passenden Anzug benötigte – sie hätten gerade ein paar neue Modelle hereinbe16 kommen –, ließ ich mich mit Freude beraten. Ich erstand einen dunkelgrauen Zweiteiler, der sowohl für Geschäftstermine als auch für Bewerbungsgespräche angemessen war. Lächelnd zahlte ich die vierstellige Summe per Kreditkarte und verließ das Geschäft mit einer großen Tüte sowie einem kleinen Karton, einem Geschenk des Hauses, das ich öffnen würde, wenn ich daheim angekommen war. Entspannt ging ich in ein nahe gelegenes Café und setzte mich ans Fenster, um die Aussicht zu genießen. Es war ein milder Oktobertag, die Sonne schien und ließ die Platanen vor dem Fenster golden leuchten. Die Straße lag voller Blätter, über die auffallend viele Kinderwagen geschoben wurden. Sonst waren nur wenige Menschen unterwegs: Handwerker, ein paar Rentner, wenige junge Leute. Ich bestellte mir einen Weißwein und ein Panini als Mittagessen. Nach ein paar Minuten verflog meine Hochstimmung. Die Aussicht wiederholte sich, und ich begann, unruhig zu werden. Zur Ablenkung holte ich mir eine Tageszeitung vom Haken. Das Blatt las ich selten. Aber ich hielt mich auch nicht mit den Artikeln auf, sondern schwenkte gleich über zum Wirtschaftsteil und den Stellenanzeigen. Auch hier Fehlanzeige. Die einzig interessante Offerte hatte ich bereits am Morgen gesehen. Ich nahm den letzten Bissen, trank aus und zahlte. Jetzt war es an der Zeit, um daheim das Internet taktisch zu bearbeiten. 17