Kurzfassung Buch - Raffael Madonna Leo X
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Kurzfassung Buch - Raffael Madonna Leo X
Hanspeter M. Sigg RAFFAEL MADONNA LEO X. LA BELLE JARDINIÈRE und ihre Nachbildungen MADONNA LEO X. LA BELLE JARDINIÈRE 1 Abb. 1: MADONNA LEO X. RAFFAEL: MADONNA LEO X., LA BELLE JARDINIÈRE und ihre Nachbildungen Ein herzliches Willkomm zur Buchpräsentation! 01 Die Begrüssung verbinde ich mit dem Dank: • an Sie, verehrte Anwesende, für Ihr Interesse an meiner Arbeit, • an Dr. Ernst Halter für seine Beiträge im Buch, sowie seine Unterstützung bei der Buchgestaltung, und der Schlussredaktion, Abb. 2: Herkunft der BELLE JARDINIÈRE • an Prof. Jürg Meyer zur Capellen für den Nachweis wichtiger Kopien und Wir kennen die späteren Stationen: François Ier dürfte sie seiner Gattin, Eleonore von Kastilien, der Schwester von Karl V., am 3. Mai 1531 in Saint-Denis zur Krönung als Königin geschenkt haben. Später ist sie bei Louis XIV in Versailles dokumentiert und kommt 1793 in den Louvre1. Die LBJ gilt als Schlüsselwerk Raffaels und wird durch eine Grosszahl von Reproduktionen weltweit berühmt. • an Hiska Werner Stolz für wertvolle Hinweise zum Wandel von Raffaels Malstil, • an José Vázquez und seine Musiker für die Umrahmung der Buchvernissage und • an alle Freunde und Verwandte für ihre Mithilfe. Die beiden auf dem Titelblatt wiedergegebenen Gemälde stehen im Zentrum meines Buchs. 03 Dagegen kennen wir die MLX-Herkunft. Unter Zur Vereinfachung möchte ich ihre Namen wie folgt abkürzen: dem ersten Firnis (!) zeigt sie die authentische Signatur Raffaels und eine Inschrift im Mantelsaum: „LEONI P.O.M.I.R.U.“ Sie bedeutet „LEONI PONTIFICI OPTIMO MAXIMO INCORONATO RAPHAEL URBINAS“, zu Deutsch: „Leo, dem huldreichen Papst, zu seiner Krönung (gewidmet) von Raffael aus Urbino“. die MADONNA LEO X. mit MLX, die BELLE JARDINIÈRE mit LBJ. 02 Die LBJ soll Raffael nach kunsthistorischer Tradition 1507 oder 1508 gemalt haben. Ihre Herkunft ist nicht geklärt, Quellen schweigen, stilistisch wirkt sie als später gemalt. Diese Widmung nimmt Bezug auf das historische Ereignis und bezeugt, dass Raffael die MLX im März 1513 fertiggestellt und dem Freund, Leo X. zur Krönung als Papst (19. März 1513) wohl beim Festumzug am 11. April 1513 übergeben hat. Giorgio Vasari (1511-1547), der zuverlässige Berichterstatter für die Kunst der italienischen Renaissance, versagt ausgerechnet bei diesen beiden Gemälden: Die LBJ beschreibt er – wenn überhaupt – undeutlich in sibyllinischen Worten; die MLX erwähnt er überhaupt nicht. Das ist auffallend und dürfte einen Grund haben, dem wir nachgehen müssen. Vasari erwähnt ein von Raffael bei der Abreise nach Rom 1508 unvollendet in Florenz zurückgelassenes Madonnenbild für einen Edelmann in Siena, das von Ridolfo del Ghirlandaio vervollständigt und dem Besteller zugesandt wird. Ist die LBJ mit dieser Tafel identisch, so klafft eine 22-jährige Wissenslücke bis sie 1530 bei König François Ier in Fontainebleau auftaucht. Was ist mit ihr wohl in der Zwischenzeit geschehen? 1 Laut Dekret vom 26. Mai 1791 werden im Louvre die Werke von Wissenschaft und Kunst gesammelt und ausgestellt. Abb.3: Herkunft der MADONNA LEO X. 1 Ihr späteres Schicksal ist lückenlos bekannt. Vor seinem Tod schenkt sie Leo X. seinem Neffen Innocenzio Cibò, der sie 1527 zu den Fürsten von Massa bringt. Diese halten sie bis 1731 in Ehren und verkaufen sie dann der Dogenfamilie Cambiaso nach Genua. Seit 1866 ist sie im Besitz der heutigen Besitzerfamilie. Die MLX zeigt viele derartige Änderungen, in der LBJ sind sie weniger zahlreich und in den Kopien fehlen sie überhaupt. Das deutet darauf hin, dass es einen Vorlagekarton der Personengruppe gegeben haben muss, der mehrfach benützt wurde: von Raffael zunächst für die „Proto“-LBJ, ein zweites Mal – Jahre später – für die MLX. Er hat diesen also von Florenz nach Rom mitgenommen. 04 Beim ersten Blick sind MLX und LBJ fast identi- Nach Raffaels Tod fallen alle Werkstattunterlagen, auch dieser Vorlagekarton, an Giulio Romano2, Raffaels besten Mitarbeiter, Werkstattchef und Erben. In Mantua, dem Ort seines späteren Wirkens, wird der Karton wiederholt für Kopien verwendet. Auf den Kopien gleicht sich die Personengruppe darum wie ein Ei dem andern. sche Bilder. Sie zeigen Maria, flankiert vom Jesus- und vom Johannesknaben, in einer sommerlichen Landschaft unter leicht bewölktem Himmel. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber zahlreiche und wesentliche Unterschiede. Die zunehmende Zahl der Pentimenti bei der später gemalten MLX gegenüber jenen in der LBJ zeigt die Entwicklung von Raffaels Malstil seit seinem rund sieben Jahre früheren Entwurf, dem Vorlagekarton der Personengruppe für Siena. In der MLX wird der schiefe Blick des Johannesknaben mit einer Verschiebung des Profils um mehr als 2 cm korrigiert. Weitere Änderungen betreffen Gesicht und Gestalt von Maria und dem Jesusknaben, die bessere Gestaltung der Finger und andere Details. 05 Im Zeitpunkt, in dem Giulio Romano seine Kopien erstellt, hat er weder die LBJ noch die MLX vor Augen. Er malt die Personengruppen allein aufgrund des Kartons (somit als „unkorrigierte Zweit-Versionen“ der ursprünglichen Konzeption), den Rest nach Werkstattvorlagen, die verlorengegangen sind. Abb. 4: Die Unterschiede zwischen MLX UND LBJ Besonders auffällig sind dabei: • Die MLX ist rechteckig, die LBJ abgerundet; Ob die LBJ im Zeitpunkt ihrer Entstehung schon einen Hintergrund aufgewiesen hat und wie dieser ausgesehen haben könnte, wissen wir nicht; es dürfte aber kaum die aktuell sichtbare, blumenübersäte Sommerlandschaft gewesen sein. • das Stadtbild im Bildhintergrund rechts ist grundverschieden; • im Mantelsaum zeigt die MLX die erwähnte Widmung, die LBJ nur Arabesken; • diskretere Unterschiede zeigt die Flusslandschaft im linken Hintergrund. • der Blumenschmuck zu Füssen der Maria ist in der MLX weniger deutlich gemalt als in der LBJ. Bei der Personengruppe fallen in der LBJ neben dem wuchtigeren Kopf des Jesusknaben und dem nur in der MLX korrigierten „schiefen Blick“ des Johannesknaben weitere Unterschiede auf. Mehrheitlich sind sie nur beim genauen Vergleich mit der Doppellupe, unter Streiflicht, Ultraviolett-, Infrarot- oder Röntgenstrahlen erkennbar. Es handelt sich um „Pentimenti“, d.h. authentische Korrekturen. Dabei verbessert der Künstler den Entwurf nach der Übertragung der Vorzeichnung vom Punktionskarton auf die Tafel oder grundierte Leinwand beim Malvorgang. Abb. 5: Kopien nach MLX und LBJ (vgl. Umschlag-Rückseite) 2 Giulio Romano (1499 –1. Nov. 1546), eigentlich: Giulio di Pietro Giannuzzi. 2 07 Verlassen wir nun die Kopien und richten unse- Von Giulio Romano kennen wir mindestens drei erstklassige Nachbildungen – alle auf Holz 3. Seine Kopien sind bei den Fürsten höchst begehrt. ren Blick auf die Unterschiede in den Bildhintergründen rechts und links, erwarten uns spannende Entdeckungen. Es würde zu weit führen, alle Kopien hier im Detail vorzustellen und zu kommentieren. Dafür sei auf Teil 3 meines Buches verwiesen. Die wesentlichen Schlussfolgerungen lauten wie folgt: • Die meisten Kopien zeigen neben der Personengruppe das italienische Stadtbild (Tiber-Insel) und im Mantelsaum eine mit „LEONI“, beginnende Widmung. Beides beweist, dass bei allen Kopien die MLX und nicht die LBJ prioritäre Vorlage war.4 • Spätere Kopien zeigen auch Merkmale der inzwischen berühmt gewordenen LBJ, sei es in der Form der Tafel – die Dresdener Tafel ist zur Anpassung gar mit der Säge oben gerundet worden – sei es durch Übermalungen. So ist das Schicksal der Kopien, die zu Unrecht nach der LBJ benannt sind, oft abenteuerlich. Abb. 7: Unterschiede Hintergrund rechts (Stadtbild). Hier zeigt die MLX ein römisches Stadtbild. Nach den Feststellungen von Silvio di Volo 5 ist es der Ausblick vom Vatikan auf die Tiber-Insel mit von ihm identifizierten Bauten. 06 Auf den Kopien von Giulio Romano lautet die Widmung stets „VLEONI“. Die überzeugendste Deutung des vorangestellten „V“ ist eine Kurzfassung der Widmung: „V[rbinas] LEONI = „der Urbinate [Raffael] (hat dieses Bild) Leo [X.] (geschenkt)“. Für die Kopie ist der Anlass für die Erschaffung des Originals (incoronato) nicht mehr von Bedeutung, anders als die Signatur, die wichtig bleibt. Damit ist zugleich die Herkunft des Originals, nach dem die Kopie gemalt wurde, gesichert, nämlich: Es stammt aus dem Besitz von Leo X. Es genügt, gesagt zu werden, Raffael habe das Werk seinerzeit (denn weder er noch Leo X. sind noch am Leben) Leo X. geschenkt. Abb. 8: Di Volos Identifikation des MLX-Stadtbilds 08 Di Volo gelingt die Identifikation anhand alter Stiche und Beschreibungen, denn beim Tiber-Hochwasser von 1530 6 verschwindet ein Teil der hier dargestellten Gebäude (Rundbau des Fauntempels und 4 Das Victoria and Albert-Museum ist die weltweit einzige Institution, die ihr Gemälde als eine Kopie der MLX von der Hand Giulio Romanos bezeichnet. Abb. 6: Widmung in MLX und ausgesuchten Kopien 5 Silvio di Volo, „L’ARTE” RIVISTA DI STORIA DELL’ ARTE, Adolfo Venturi (Fondatore) Settembre-Dicembre 1956, S. 18-20. 3 Es sind dies die Kopien im Victoria and Albert-Museums (London, postum datiert „1547“), in Dresden (datiert 1575“ bzw. nach A. Eibner „1546“), in Genua (Göteborg) und wohl Avignon. 6 Eine Hochwassermarke an der Kirche S. Maria sopra Minerva zeigt den Wasserstand am 8. Oktober 1530, dem 7. Jahr des Pontifikates von Klemens VII., mit dem Vermerk: „…bis hier stieg der Tiber, und Rom wäre komplett überflutet worden, hätte nicht die Jungfrau Maria so schnell gehandelt.“ 3 das Spitzdach seiner Umfassungsmauer). Der daneben dargestellte Obelisk stürzt gegen Ende des 16. Jahrhunderts um und zerbricht, der hoch aufragende Wohnturm macht mit anderen noch sichtbaren Gebäuden der barocken Stadterneuerung Platz. Das Stadtbild, ein naturgetreues Abbild der Tiber-Insel und der Gebäude am Aventin, muss daher vor 1530 entstanden sein. Die Identifikation lässt erkennen, dass die meisten dieser Gebäude persönliche Bezüge zu Leo X. und Raffael aufweisen und damit die Widmung im Mantelsaum bekräftigen. So erinnern die antiken Tempel von FAUN und ÄSKULAP an archäologische Grabungen, die Giovanni de’ Medici und Raffael gemeinsam dort durchgeführt haben7. Sie entdecken um 1510 ein rund vier Meter langes Votivschiff aus Marmor, das sie vor Giovannis Titularkirche SANTA MARIA DOMNICA aufstellen. Es ist noch heute dort zu sehen (vgl. Abb. 8). Abb. 9: Das Stadtbild in der LBJ Ohne Vorurteil liegt die Antwort fast auf der Hand. Wenn nämlich – wovon der Louvre überzeugt ist – der französische König François Ier die LBJ erworben hat, dürfte das Stadtbild auf ihn Bezug nehmen 9. Neben dem ägyptischen Obelisken erscheint die Giebelfassade des Klosters San Bartolomeo. Die hier eingerichtete ACCADEMIA ROMANA ist der Ort gemeinsamer Forschungen zu Raffaels Fresken in den Stanzen und anregender wissenschaftlicher Gespräche. Allerdings setzt das voraus, dass zumindest dieser Hintergrund der LBJ später als 1508 – wohl um 1530, der Zeit des Bilderwerbs – entstanden ist und damit nicht von Raffael (†1520) stammen kann. Es müsste auch akzeptiert werden, dass François Ier ein früheres Originalbild mit einem von ihm gewünschten Stadtbild hat „nachbessern“ lassen. Im spätrömischen Wohnturm der Anicier 8 soll Giovanni de’ Medici das Ergebnis der vier Wahlgänge im Konklave abgewartet haben, das ihn am 11. März 1513 zum Papst (Leo X.) gewählt hat. Hier soll ihm Raffael Gesellschaft geleistet haben, und gemeinsam haben sie wohl Zukunftspläne geschmiedet. Solches wäre in der Renaissance keineswegs ungewöhnlich, denn der sozusagen „absolute“ Wert des Originals um der Individualität des Künstlers willen beginnt erst im 18. Jahrhundert zu wirken. Die schöne Kopie geniesst eine dem Original vergleichbare Wertschätzung. Hofmaler und Restauratoren übermalen ältere Bilder nach Mode, Wunsch oder Geschmack ihrer Besitzer. Am Hof von François Ier ist das offenbar bei vielen Gemälden geschehen10. 09 In der LBJ erscheint an derselben Stelle im Bild eine Stadt, die traditionell als nordeuropäisch oder französisch bezeichnet wird. Überragt wird sie vom Turm einer gotischen Kathedrale. Auch hier ist der Bezug zu einer Person, die von der Gnade Mariens überstrahlt wird, zu vermuten. Zu wem ist bis heute offen. Vielleicht hat die daneben stehende Jahreszahl MDVII oder MDVIII die Forscher in die Irre geführt. 10 Prüfen wir die Hypothese einer Beziehung dieses Stadtbildes zu François Ier, entdecken wir im undeutlich gemalten Kirchturm im Hintergrund rechts eine Ähnlichkeit mit dem Turm der Klosterkirche von Captieux, einer Stadt am Jakobsweg, nahe der spanischen Grenze. Hier hat dieser mit Eleonore von Kastilien „in der Nacht des 4. Juli 1530 um zwei Uhr früh“ den Bund der Ehe geschlossen11. Der Turm erscheint undeutlich, wie damals im frühen Morgengrauen. 7 Die Entdeckung der Laokoon-Gruppe, 1506, bei Neros Haus am Esquilin hat eine eigentliche Ausgrabungshysterie entfacht. 8 Die Gens Anicia ist als Adelsfamilie seit dem 3. Jh. bekannt. Bedeutende Familienmitglieder sind im 6. Jahrhundert Boëtius (Anicius Manlius Severinus Boethius) Konsul, Kanzler, Philosoph und wichtiger Übersetzer der Spätantike, der weströmische Kaiser Olyrius, seine Tochter Anicia Iuliana und wohl auch Papst Gregor I. der Grosse (Pontifikat 590-605). 10 Primaticcio, vor allem, soll zahlreiche Bilder Raffaels in Fontainebleau manieristisch übermalt haben. 9 François Ier (1494-1547) wird nach dem Tod von Louis XII. (1.1.1515) am 25. Januar 1515 in Reims zum König gekrönt. Er ist der Sohn von Charles de Valois und Louise von Savoyen. 11 Die politische Ehe von François Ier wird im Frieden von Madrid am 14. Januar 1526 vereinbart und, nach Widerruf, im Damenfrieden von Cambrai am 5. August 1529 bestätigt. 4 Um 1230 hat der Kapetinger Ludwig IX. (1214-1270, der Heilige) das von seinem Vorgänger, Ludwig VIII. (1187-1226, genannt der Löwe), gotisch erweiterte Kirchenschiff um den hohen gotischen Nordturm als sichtbares Zeichen der königlichen Macht ergänzt. Für François Ier, der kraft Friedensvertrags die Schwester seines ärgsten Widersachers, des Kaisers Karl V., heiraten muss, repräsentiert dieser Turm als Machtsymbol sein Selbstverständnis, auf das er auch in dieser Ehe grossen Wert legt. Im Krönungsgeschenk bringt er das zum Ausdruck. Abb. 10: Hypothesen zur Identifikation des Stadtbilds Die Wiedergabe des Turms ist in der LBJ leicht vereinfacht, wird er doch nicht nach der Natur gemalt, sondern nach Abbildungen oder Vorlagen, die wohl François Ier dafür ausgewählt hat. Ob der runde Turm und das Giebelhaus daneben an den Abschluss des Ehevertrages in Madrid 12 oder an die Verlobungsfeier am 16. Februar 1526 in Illescas erinnern sollen, ist nicht mehr auszumachen. Die entsprechenden Gebäude sind spurlos verschwunden. Alte Abbildungen, etwa der Stich von 1683, der im Monasticon Gallicanum 1870 publiziert ist (Abb. 10 unten Mitte), weitere Landschaftsbilder und archäologische Modelle beweisen, dass der dominierende Turm in der LBJ demjenigen in Saint-Denis erstaunlich gut entsprochen hat. Dagegen liegt es nahe, bei der zentral dargestellten Kathedrale die Basilika von Saint-Denis13 zu vermuten; hier ist Eleonore am 3. Mai 1531 feierlich zur Königin der Franzosen gekrönt worden. Gemalt wird er höchstwahrscheinlich in Mantua auf die ursprüngliche Tafel aus Siena – was nirgends offengelegt wird. Dort stehen in Giulio Romanos Werkstatt für alle Bildteile Vorlagen zur Verfügung, und dass dort für Kopien jene der MLX benützt wurden, zeigt Teil 3 des Buches. Weil die „Kathedrale“ auch deutlicher gemalt ist als der Rest, gewinnt die These an Gewicht, die LBJ sei das Krönungsgeschenk gewesen, das François Ier seiner Gattin überreicht hat. 1830 wird der Turm vom Blitz getroffen und 1846 als „baufällig“ bis auf die Basis abgetragen. Bemerkenswert ist: Dies geschieht zur Zeit des demokratischen Aufbruchs, der in der Februar-Revolution 1848 den Bourbonen-König Louis-Philippe (1773-1850), vom Thron verjagt.14 11 „Einspruch“, wird hier der Kritiker rufen: Die Identifikation der Hochzeitskirche ist allzu spekulativ und die Kathedrale von Saint-Denis hat keinen gotischen Turm! 12 Für die Hypothese des Krönungsgeschenks gibt Letzteres war aber im 16. Jahrhundert anders. Das zeigt die Baugeschichte der ehemaligen Klosterkirche von Saint-Denis, der späteren Basilika Minor und – seit 1966 – Kathedrale. es einen weiteren Beleg. Es ist der Kupferstich von Pierre Audoin, von 1803, welchen „Kommissar Zufall“ die Nachfahren von Jakob Weiss auf dem Flohmarkt in Paris an der Seine hat finden lassen. Auf dem Mantelbausch hinter dem Ellbogen der Madonna erkennt man ein Datum: oben ein „ANNO“ und darunter ein „1531“ in arabischen Ziffern15. 12 Der Friede von Madrid sieht Zahlungen, Gebietsabtretungen, die Überstellung der zwei Söhnen von François Ier als Friedensbürgen und, nachdem Claude de France 1524 gestorben war, die Ehe mit Eleonore vor. 13 Saint-Denis wird erst 1966 zur Kathedrale des Bistums Saint-Denis erhoben. Traditionell dient sie seit merowingischer Zeit als Grablege der französischen Könige und Krönungsbasilika der Königinnen. 14 Louis-Philippe (1773-1850, der „Bürgerkönig“) wird 1830 im Zuge der Restauration (sog. Julimonarchie) eingesetzt und als letzter Bourbone mit offiziellem Titel „König der Franzosen“ 1848 abgesetzt. 15 François Ier lehnt Latein – die Sprache der kaiserlichen Kanzlei – nach der Kränkung in der Kerkerhaft beim Kaiser in Madrid ab. Nach dem Edikt von Villers-Cotterêts (1539) sind in ganz Frankreich Texte nur französisch und Zahlen arabisch zu schreiben. Zugleich kommen aus politischen Gründen Venedigs schmallaufende Schriften in Mode. Abb. 11: Baugeschichte der Kathedrale von Saint-Denis 5 Abb. 13: Die LBJ-Jahreszahl des Louvre im Vergleich . Abb. 12: Kupferstich der LBJ von Pierre Audoin, 1803. Nun gibt in der Renaissance das Datum auf einem Bild nicht das Jahr seiner Entstehung an, sondern nach dem ursprünglichen Wortsinn von „datum fuit“ die Jahreszahl seiner Übergabe, seines Erwerbs oder seiner Schenkung. Darum ist es bei seiner späteren Weitergabe durchaus üblich, das frühere Widmungsdatum mit der neuen Jahreszahl zu übermalen. • Der Gutachter A. Eibner hat 1932 seinen Eindruck festgehalten, der Mantel sei in der LBJ beim Datum übermalt. Solches ist bei Restaurationen ungewöhnlich, selbst wenn das lateinische Datum breiter lief als vier arabische Ziffern nach Audoin. • Ein späterer Stich der LBJ im Louvre stammt von 1850 und zeigt die „restaurierte“ Datierung MDVII (MDVIII). Diese muss also kurz zuvor aufgebracht worden sein. Gleichzeitig wurde der Vorrat an Audoin-Stichen (mit der Widmung „1531“) entsorgt und landete auf dem Flohmarkt, wo Jakob Weiss’ Nachkommen den Stich entdeckt haben. In das von Pierre Audoins Stich dokumentierte Jahr 1531 fällt die Krönung von Eleonore von Kastilien, und wenn – nach unserer Annahme – die LBJ das Krönungsgeschenk gewesen ist, war dieses „1531“, ob original oder übermalt, genau als Widmung zu erwarten. Sollte der antiroyalistische Reflex der Februar-Revolution 1848 auch bei der Beseitigung der Widmung „1531“ wirksam gewesen sein, hätte er sich in der Übermalung des Mantels jedenfalls mit grossem Schwung bemerkbar gemacht! 13 Der Louvre widerspricht resolut diesem von Audoin festgehaltenen Widmungsdatum. Er behauptet16, der Stecher habe sich beim „1531“ geirrt (!); nur das lateinisch geschriebene Datum 1507 (MDVII) das bei der Restauration (vgl. Bild) zum Vorschein gekommen ist, sei richtig. 14 Die nächste Frage wirft die Form der Schriften auf. Im „ANNO“ und in der Signatur „RAPHAELLO“ hat der Maler – wer immer es war – ein schmales, elliptisches „0“ eingesetzt. Das wirft prinzipielle kunsthistorische Fragen auf: • In Raffaels Biografie berichtet Giorgio Vasari von einer bei dessen Abreise 1508 nach Rom noch unvollendeten Madonnentafel. Den blauen Mantel habe Ridolfo del Ghirlandaio vervollständigt und anschliessend die Tafel an den Besteller (Sergardi?) nach Siena gesandt. Diese schmallaufenden „0“ und „N“, die Audoin bei „ANNO“ dokumentiert, stammen aus der venezianischen Kursive, die in Frankreich erst um 1530 in Mode kommt. Im Gegensatz dazu zeigt die MLX dreimal das runde „O“ und das quadratische „N“, von Raffaels bekannter Handschrift: in „LEONI P.O.M.I.R.U“ und beim „RAPHAELLO V“. • Ein unvollendetes Gemälde hat Raffael sicher nicht datiert, und sollte es sich dabei um die spätere LBJ gehandelt haben, hätte es 1508 (statt 1507) lauten müssen. Wenn überhaupt, wäre das Datum nach damaliger Übung neben der Signatur (!) von Ghirlandaio auf dem von ihm vervollständigten Mantel aufgebracht worden. Die frühesten Kopien, wohl zwischen 1525 und 1530 in Mantua entstanden, zeigen „Raffaels Signatur“ ebenfalls in einer jüngeren Schriftform und, wie die LBJ, in kleinerer Grösse. Entscheidend sind nicht die einzelnen Buchstaben, sondern der Schriftcharakter, wobei weder „ANNO“ noch Signatur zur Jahreszahl „MDVII(I)“ passen. 16 Brief Musée du Louvre an den Autor vom 24.8.2007 6 Abb. 14: Schriftvergleich: MLX/LBJ: Raffaels „O“ Abb. 15: Die Blumen im Vordergrund Fazit: In der LBJ sind Raffaels Signatur und das „ANNO“ nicht zu seinen Lebzeiten angebracht worden, und das MDVII wiederum nicht gleichzeitig mit dem „ANNO“ und der Signatur! 16 Es lässt sich nicht entscheiden, ob die „Proto“-LBJ 15 Der Blumenschmuck zu Füssen Marias macht auf Mit aller Deutlichkeit zeigt aber der Vergleich des linken Hintergrundes der beiden Gemälde, dass die damalige „Überarbeitung“ der Tafel im Sinne einer weitgehenden Annäherung an die MLX erwünscht oder geboten war. in Siena im Zeitpunkt ihres Erwerbs durch oder für den französischen König schon einen Hintergrund aufgewiesen hat, oder ob dieser erst 1530 eingefügt bzw. übermalt worden ist. den ersten Blick den Anschein, die LBJ würde sich hier grundsätzlich von der MLX unterscheiden, doch dieser Eindruck täuscht. Auch in der MLX gab es ursprünglich Pflanzen und Blumen, doch sind diese wegen rostbrauner Oxydation des verwendeten grünen Farbpigments nur noch beim genauen Hinschauen zu erkennen. Was sich noch wahrnehmen lässt, erinnert an die diskrete Pflanzendarstellung in der MADONNA IM GRÜNEN (1506, im Kunsthistorischen Museum in Wien) oder an Blumenwiesen bei Leonardo oder bei den Venezianern Bellini, Tizian u.a. Sie zeigt Glockenblumen und Breitwegerich! In der LBJ erscheinen die Blumen qualitativ anders. Sie werden manieristisch um ihrer Symbolik willen dargestellt: die Akelei als Sinnbild für Jesus und die Freude Marias, die Löwenzahnblätter und Anemonen als Symbole der Passion, die Erdbeere als himmlische Nahrung etc.17 Das ist nicht mehr Raffaels Stil, sondern eine kapriziöse, spannungsgeladene Manier, auf dem direkten Weg zum Barock. Abb. 16: Vergleich Hintergrund links und Kopf des Jesusknaben. 17 Meyer zur Capellen, a.a.O. Bd. I, S. 260 Abs. 2. Giulio Romano und vor allem seine Mitarbeiter im Palazzo del Te in Mantua, Rosso Fiorentino18 und Francesco Primaticco19, sind später in Fontainebleau bedeutende Vertreter des manieristischen Malstils, und so gehen wir kaum fehl in der Annahme, dass die Blumen in der LBJ – vielleicht auch andere Bildteile – ganz oder teilweise später gemalt werden und auf den in Fontainebleau wirkenden Francesco Primaticcio zurückgehen20. 18 Rosso Fiorentino (1494-1540) wird von Giulio Romano 1525 zur Ausschmückung des Palazzo del Te in Mantua beigezogen, verliert 1527 im Sacco di Roma seine Werkstatt und heuert bei François Ier an. Er übersiedelt 1530 nach Fontainebleau und wird vom König nach Italien gesandt, „um italienische Kunst für sein Schloss zu erwerben“. 19 Francesco Primaticcio (1504-1570) folgt 1532 der Einladung von François Ier nach Fontainebleau, wo er vor allem die Abgüsse italienischer Plastiken (Laokoon-Gruppe) überwacht, die Skulpturenwerkstatt leitet, aber als Hofmaler auch zahlreiche Gemälde der königlichen Sammlung restauriert bzw. nach seinem Geschmack überarbeitet. 20 Die Blumensymbolik am französischen Hof mochte gar später die Darstellung in der LBJ bestimmt haben, wobei nachträgliche Übermalungen nicht auszuschliessen sind. Man weiss, dass Primaticcio im Laufe seines Lebens verschiedene Gemälde am Hof von François Ier „verbessert“ hat. 7 Beim Kopf und Gesicht des Jesusknaben, die dem gleichen Vorlagekarton entstammen, lässt die üppigere Haarpracht des Jesusknaben seinen Kopf in der LBJ im Verhältnis zur Körpergrösse zu gross erscheinen. Ob er original ist, muss offenbleiben. Passavant hält 1839 zu dieser Stelle fest, sie habe, da schadhaft, später restauriert werden müssen, was der Louvre – nach Meyer zur Capellen – aber bestreitet. Auf den in der LBJ deutlich sichtbaren Heiligenschein ist hier nicht einzugehen, denn Heiligenscheine oder Auren sind allzu restaurationsabhängig, um eindeutige Schlüsse zuzulassen. Auch in der MLX trägt das Jesuskind unter dem ersten Firnis eine Aura, die – fein gezeichnet – im Original dem scharfen Blick nicht entgeht. Abb. 17: Der linke Hintergrund im Vergleich Bei der Landschaft fällt die extreme Ähnlichkeit der beiden Darstellungen auf, daneben aber auch deren Perfektion in der MLX. Auf das zum Vergleich beigefügte LBJ-Panorama ist gleich zurückzukommen. Hier überzeugt die Perspektive der Tiefe des Flusstals, in dem sich die angedeuteten Hügel, Bauten und Bäume sukzessive in der Weitsicht auflösen. In der LBJ wird dies weit weniger souverän gemeistert. Die Tiefenwirkung kommt weniger klar zum Ausdruck, und im Vordergrund verschwimmen viele Details. In der MLX ist die Meisterschaft zu bewundern, mit der Raffael ein nur rund 20 x 6 cm grosses Hintergrundbild so naturalistisch darstellt, dass sich die Bauten einzeln identifizieren lassen und wir sie sogar im Stadtplan einzeichnen können. Nach kunsthistorischer Regel verliert die Nachbildung gegenüber dem Original stets an Prägnanz und Detailtreue. Das spricht dafür, dass die Landschaft links in der MLX das Original ist und jene der LBJ ihre Kopie. 18 Benützen wir dazu den Plan des Vedutenstechers Giuseppe Vasi22 von 1746, stellen wir beim Eintrag der Sichtlinien nicht nur fest, dass das Panorama – wie das Abbild der Tiber-Insel – den Ausblick aus dem Vatikan, Leos X. künftiger Wohnung, wiedergibt, sondern winkelgetreu auch die Aussicht auf die dargestellten Gebäude. Diese ziehen sich vom Wehrturm links zum Palazzo Ricci und, nach der Unterbrechung durch die zentrale Figurengruppe, zum Ponte Cestio rechts der Tiber-Insel. Es kann nicht anders sein: Raffael hat mit einer Skizze gearbeitet, die er aus der Wohnung von Julius II. oder von der Dachterrasse des Vatikans gezeichnet hat. Mehr noch: Der stilistische Vergleich lässt annehmen, dass die beiden Gemälde eine unterschiedliche Handschrift zeigen, von verschiedenen Künstlern gemalt worden sind. Wohlverstanden, die LBJ ist deshalb kein schlechteres Bild. Sie ist ein prachtvolles und in ihrer sukzessiven Entstehung gar typisches Gemälde der Renaissance. Wer immer an ihr gearbeitet hat, gehörte zu den allerbesten Künstlern seiner Zeit. Unsere Methode hat uns ermöglicht, weitere in der MLX nur angedeutete Bauten zu identifizieren: etwa die Ruinen der Diokletiansthermen – sie werden im PORTRÄT VON GIULIANO II. im Hintergrund der Engelsburg ebenfalls sichtbar – oder das Kloster San Marco hinter dem Ponte Sant’Angelo auf der Gegenseite des Tiber. 17 Betrachten wir das Landschaftspanorama in hoher Vergrösserungsstufe, erkennen wir in der MLX den Wehrturm der Leoninischen Stadtmauer, die Engelsburg mit ihrer charakteristischen Brücke und den Spitzturm von Raffaels Projekt für die damals geplante Kirche San Giovanni dei Fiorentini 21. Rechts der markanten Baumgruppe sind der Narthex des Pantheons, die Fassade von Raffaels Wohnhaus (Palazzo Caprini) sowie der Giebel des Palazzo Ricci sichtbar. Auch wenn wir Raffael bei seiner Darstellung des Oberlaufes malerische Freiheiten zugutehalten, stimmen bei den Gebäudegruppen Gestalt und Lage so genau, dass wir ihr Abbild mit Fug als Vedute Roms im Jahr 1513 bezeichnen dürfen. Alle diese Bauten weisen einen engen Bezug zu Leo X. und zu Raffael auf. Sie erinnern – wie bei der Tiber-Insel – an geführte Gespräche, gemeinsame Erlebnisse oder erwiesene Wohltaten. Dies auszuführen, bleibt dem Buch vorbehalten. 21 Giovanni de’ Medici hat um 1510 einen Architektenwettbewerb für eine Kirche im Florentiner Quartier ausgeschrieben, an dem neben Raffael die führenden Architekten Baldassare Peruzzi, Antonio da Sangallo und Jacopo Sansovino teilnehmen. Geldmangel und Hochwasser verzögern den Bau. 1550 lässt Paul III. den Bau durch Michelangelo neu planen. Giacomo della Porta und Carlo Maderno beenden ihn 1593-1614 in barocker Form. 8 20 Es ist historisch belegt, dass François Ier um 1530 Rosso Fiorentino nach Fontainebleau kommen liess und ihn später beauftragt hat, „in Italien Kunstwerke für sein Residenzschloss zu erwerben“. Die Geschichtsschreibung präzisiert freilich nicht, um welche Bilder es sich dabei handeln sollte. Die Ähnlichkeit von MLX und LBJ ist aber sicher nicht zufällig. Könnte es daher sein, dass François Ier als Krönungsgeschenk für Eleonore von Kastilien die ihm bekannte MLX24 im Auge gehabt hat, diese aber bei ihrem Besitzer, Alberico I. Cibò-Malaspina, Markgraf von Massa, nicht zu kaufen war? Massa hat geopolitisch den Passo di Cisa – die Verbindung von Parma zum Hafen von La Spezia – zu sichern, und der Markgraf ist mit dem Kaiser verbündet. Das kann erklären, warum die MLX damals dem „französischen Feind“ nicht verkauft wird 25. Abb.18: Sichtlinien vom Vatikan auf das Panorama 19 Markieren wir die Entsprechungen der dargestellten Objekte in unseren beiden Vergleichsgemälden, gehen die Parallelen so weit, dass es die Vorlage der MLX gewesen sein muss, die diesen Hintergrund der LBJ definiert hat: Praktisch identisch sind die Hügelzüge, das Flusstal und der Uferverlauf sowie die Baumgruppen. Einzig die als typisch römisch erkennbaren Bauten sind in der LBJ unterdrückt bzw. verfremdet, denn die Landschaft muss mit dem französischen Stadtbild auf der Gegenseite harmonieren. Anhand ihrer Position bleiben sie noch zu erahnen. Die Ähnlichkeiten weisen die MLX eindeutig als das prioritäre Bild aus23, denn unmöglich hätte das MLXPanorama aus der LBJ kopiert werden können. Die alte Altartafel aus Siena, die der LBJ bei der Vervollständigung zugrunde gelegen haben dürfte, hat bei der Übermalung oder Ergänzung offensichtlich den Hintergrund der MLX erhalten und vielleicht noch etliches mehr (z.B. Blumen). Abb. 20: Entwürfe Raffaels für Sieneser Tafel 1506/07 Damit Rosso Fiorentino nicht unverrichteter Dinge nach Fontainebleau zurückkehren muss, dürfte ihm Giulio Romano die alte Marientafel in Siena vermittelt haben. 22 Giuseppe Vasi (1710-1782) aus: Delle magnificenze di Roma antica e moderna, 1747. Dieser Plan eignet sich für unseren Zweck besser als der frühere Stadtplan von Giovanni Battista Falda von 1676. 23 Im rechten Hintergrund der LBJ wird hinter dem Stadtbild der fast identische Hügelzug sichtbar, wie hinter der MLX-Tiber-Insel. 24 François Ier wird am 25. Januar 1515 in Reims zum König gekrönt. Am 10. Februar 1515 heiratet Giuliano II. de‘ Medici die Tante des Königs, Filiberta von Savoyen. Die Heirat wird von Leo X. für seinen jüngsten Bruder „eingefädelt“. Nach der Schlacht in Marignano (13./14. September 1515) treffen sich am 19. Dezember 1516 François Ier mit Leo X. und Raffael am Konkordat von Bologna. Man spricht über Investiturrechte des Königs in der französischen Kirche und sicher auch über Raffaels Gemälde. Vielleicht war sogar die MLX dabei. 25 Die V+A-Kopie scheint sich damals ebenfalls im Grafenschloss von Massa befunden zu haben, doch war diese dem französischen Gesandten, Rosso Fiorentino, offenbar nicht gut genug. Dazu mehr im Buch, Teil 3. Abb. 19: Entsprechungen in MLX und LBJ im linken Hintergrund 9 Nach ihrem Ankauf für den König wird sie in der Werkstatt in Mantua nach seinen Wünschen und den Vorlagen der MLX zur LBJ vervollständigt. Inwieweit auch Francesco Primaticcio dabei mitgearbeitet hat, kann offenbleiben. Rosso Fiorentino hat so seinen Auftrag erfüllt und dem König angeblich das gewünschte Bild gebracht. François Ier überreicht es der Königin am 3. Mai 1531 zur Krönung als echten Raffael, vermeintlich als die MLX. Dieser „Austausch“ der Bilder, LBJ statt MLX, dürfte dem König nicht bewusst geworden sein. Vasari und sein Dienstherr, Cosimo I. de’ Medici, Herzog der Toscana, kennen ihn, und die Täuschung des mit den Medici mehrfach verschwägerten Königs ist ihnen offensichtlich peinlich. Abb. 21: Zum Stilwandel der Raffael-Madonnen pressionistische Malweise, die sich später gesamteuropäisch durchsetzt. Obgleich Rosso Fiorentino dem König das in seinem Kern ursprünglichere Bild überbracht hat, muss Vasari in seiner Biografie Raffaels über die MLX vollständig schweigen und darf zur LBJ nur sibyllinische Andeutungen preisgeben. Offensichtlich aus politischen Gründen. In der kurzen Zeit der Sedisvakanz nach dem Tod Julius II. ein Gemälde für den neuen Papst zu schaffen, wäre in der traditionellen Technik nicht möglich gewesen. So übernimmt Raffael auf Rat der Venezianer Kollegen die neue Technik auf Leinwand. Wie wir wissen, gelingt ihm diese Première in der MLX auf Anhieb bestens. Der Bildertausch hat bis heute Konsequenzen. Weil die LBJ – von Giulio Romano fertiggestellt – weltweit als authentisches Raffael-Gemälde gilt bzw. gelten muss, darf es die echte MLX nicht geben. Sie kann nur im Schatten des Pariser Bildes existieren, bestenfalls als ihre Kopie. Die Leinwandmalerei – vor allem ihre Grundierung verbessert Raffael in der Folge von Bild zu Bild. Nach der VELATA 1513, der VERZÜCKUNG DER HEILIGEN CÄCILIA 1514, den beiden Porträts von GIULIANO II. DE’ MEDICI und BALDASSARE CASTIGLIONE 1515 und weiteren, führt sie 1516 – neben der noch als Holztafel begonnenen MADONNA DI FOLIGNO – zum Höhepunkt eines Leinwandbildes: der SIXTINISCHEN MADONNA. Das ist unwissenschaftlich und nimmt der Forschung die Möglichkeit, die MLX als erstes authentisches Leinwandgemälde Raffaels und Zeuge seines Stilwandels unter venezianischem Einfluss zu erkennen. 21 Zum Abschluss sei noch auf den 4. Teil des Buches hingewiesen, auf die stilistischen Neuerungen im Malstil Raffaels nach 1513. 22 Die MADONNA DI FOLIGNO hat Raffael Ende 1512 auf Holz und, im unteren Teil, noch in traditioneller Maltechnik begonnen. Über der vom Engel getragenen „leeren Tafel“ wird der Stil zunehmend impressionistischer und zeigt, gemäss H.W. Stolz, den Hintergrund in vollendet venezianischer Art. Dieser Stilwandel hat sich bei Raffael schon 1512 im Fresko TRIUMPH DER GALATHEA in der Villa Chigi, der heutigen Farnesina, angekündigt, denn dort hat er ab 1511 neben venezianischen Malern gearbeitet und sich mit ihnen über neue Maltechniken ausgetauscht. Das führt uns zur Annahme, diese Altartafel sei kaum vor 1516 vollendet worden. Der Zeitpunkt ihrer Aufstellung in der Kirche Santa Maria in Aracoeli oder ihrer Weihe, d.h. ihre Vollendung, ist leider nicht überliefert. Die Feuchtigkeitsempfindlichkeit der hölzernen Bildtafel hat in der Wasserstadt Venedig ab 1450 zur Entwicklung der Leinwandmalerei geführt. Neben einer besseren Feuchtigkeitsresistenz hat die Leinwand entscheidende Vorteile. Sie ist handlicher und preiswerter. Dank rascherem Abtrocknen der Farben beschleunigt sich die Fertigstellung von Bildern und ermöglicht den Künstlern dank höherer Produktivität auch ein höheres Einkommen. Die Fragwürdigkeit der in der Lehre vertretenen früheren Fertigstellung der Monumentalmadonnen (1512/13) wird im Buch diskutiert. Die wachsende Arbeitslast, die Leo X. Raffael aufbürdet und die im Buch biografisch näher beschrieben wird, zwingt ihn dazu, in der Werkstatt Gehilfen anzustellen. Ab 1515 Giulio Romano, 1516 zusätzlich Für die traditionelle Punktionstechnik ist die Leinwand aber nicht geeignet. Darum entwickeln die venezianischen Künstler die freie, spontane, gar im- 10 23 Unbestreitbar haben die Venezianer Malerkollegen bei Raffael nach den Lehrjahren bei Perugino und Leonardo eine dritte „Lehrzeit“ eingeleitet. Und nicht nur hat er es meisterhaft verstanden, den neuen Stil von Bellini (1430-1516), Giorgone (1477-1510), Lorenzo Lotto (1480-1556), Sebastiano del Piombo (1485-1547) und Tizian (1485-1564) in seine römische Maltradition zu integrieren – er hat diese gar zu einem bisher nicht gekannten Höhepunkt geführt. Der Stilwandel setzt mit der MLX als erstem Gemälde in moderner Technik auf Leinwand ein. Die MLX ist daher ein Wendepunkt in Raffaels Œuvre, der gebührende Beachtung verdient, und es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch endlich den Blick auf ein lang und zu Unrecht verkanntes Schlüsselwerk freimacht. Abb. 22: Raffaels Stilwandel 1512–1516: Madonna di Foligno Giovanni da Udine, 1517 folgen Raffaellino del Colle, Francesco Penni usw. Zürich, 11. Mai 2014 Auffallend ist, dass die Leinwandgrundlage bei Raffael nach nur rund 12 Gemälden um 1516 erneut dem Bildträger Holz weicht. Das dürfte damit zusammenhängen, dass sich Giulio Romano als „Werkstattchef“ nie hat für die Leinwandmalerei begeistern können. Auch seine MLX-Kopien realisiert er später ausschliesslich auf traditionellen Holztafeln. Vermutlich hat Giulio Romano nach 1516 Raffaels Gemälde auf Holzgrundlage vorbereitet und dem Meister, der ihn gewähren liess, so die traditionelle Technik vorgegeben. Da Giulio Romano Raffaels Malstil perfekt beherrscht, wird oft diskutiert, was von ihm und was vom Meister stammt. Oft verrät nur ein manieristischer Stileinfluss Giulio Romanos Hand, wie etwa bei VISION DES EZECHIEL (um 1518) oder bei der VERKLÄRUNG CHRISTI (1519/20). Anerkanntermassen ist Letztere von Giulio Romano vollendet worden. Abb. 23: VISION DES EZECHIEL Abb. 24: VERKLÄRUNG CHRISTI 11 Hanspeter M. Sigg Der Einfluss der venezianischen Malschule auf Raffael nach 1513 POLYPHEM von Sebastiano del Piombo TRIUMPH DER GALATHEA, 1512 MADONNA DI FOLIGNO, nach 1515 Abb. 25: Venezianischer Einfluss auf Raffael 12 Die Nachbildungen Personengruppe, Wolken, Hintergrund, Vordergrund V+A-Museum, London Dresden Torriti-Madonna, Göteborg Genua-Kopie Avignon Faringdon Sotheby’s-Madonna Windsor Walters Museum of Art, Baltimore Pinacoteca Ambrosiana, Mailand Impressum: Druck J.E. Wolfensberger AG