- Universität Wien
Transcription
- Universität Wien
NDL - Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur Diese Mitschrift ist eine Kombination aus meinen persönlichen Mitschriften, den Folien und den Redemanuskripten. Inhaltsverzeichnis 1. Dr. Heidi Lexe – Jugendliteratur. Eine Einführung ............................................................... 1 2. Dr. Beate Großegger – Jugendkulturen und Medienkulturen im Wandel ............................ 11 3. Sébastien François - Fifty Shades of Potter.......................................................................... 17 4. Georg Huemer - Träume(n) von ewiger Jugend? ................................................................. 31 5. Robert Buchschwenter – Puzzlespielen Scherbenpark. ....................................................... 35 6. Thomas Walach - Fantasy-Rollenspiele im intermedialen Diskurs. .................................... 36 7. Kerstin Gittinger – Kämpfer der Zukunft............................................................................. 37 8. Ludwig Breuer – Stille Rebellion. Das Medium Comic ...................................................... 57 9. Sonja Loidl – „If the author is dead, who´s updating her website?” .................................... 64 10. Ernst Seibert – Geschichte der Jugendliteratur .................................................................. 72 11. Manuela Kalbermatten – „The world may need you, one day” ......................................... 76 12. Ulrike Eder – Vielerlei Deutsch ......................................................................................... 93 1. Dr. Heidi Lexe – Jugendliteratur. Eine Einführung Beginn mit Wolfgang Herrndorf: Bilder einer großen Liebe Kapitel 10, S. 29f. Dies ist eine kurze Szene aus „Bilder deiner großen Liebe“, einem – wie es im Untertitel heißt – unvollendeten Roman von Wolfgang Herrndorf, der in diesen Tagen erschienen ist. In dieser Szene verdichtet Wolfgang Herrndorf weibliche Adoleszenz, er verdichtet dasMoment einer weiblichen Jugend im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Selbstverleugnung in der Bewegung, die stets aufs Neue weg von etwas führt: „Nie hat mich einer gekriegt.“ Das Ich, das hier spricht ist Isa, das „Müllmädchen“, auf das Maik Klingenberg und Andrej Tschichatow in ihrem Road-Trip in „Tschick“ treffen. In ihrem Beitrag über „Bilder deiner großen Liebe“ nimmt Mia Eidlhuber im Standard darauf Bezug: Wer Wolfgang Herrndorfs – nein, nicht bloß Jugend- sondern ganz großartigen Roman Tschick, der 2010 erschienen ist und von dem mittlerweile über eine Million in 24 Sprachen übersetzte Exemplare verkauft wurden, gelesen hat (wer nicht sollte das unbedingt nachholen), wird sich an dieses Mädchen erinnern. (Eidlhuber 2014) Ihre Lektüreempfehlung betreffend gehe ich ganz und gar Konform mit Mia Eidlhuber; was aber will die Formulierung sagen, dass es sich hier nicht bloß um einen Jugend-, sondern vielmehr um einen ganz großartigen Roman handelt? Wird der Begriff Jugendroman hier als Qualitätskennzeichnung verwendet, die darauf verweist, dass man es bei Jugendliteratur per se mit eine literarischen Schwundstufen zu tun hat? Weil eine an nicht vollständig ausgewachsene Leserinnen und Leser adressierte Literatur gleichermaßen unvollständig sein muss? Wolfgang Herrndorfs selbst hat „Tschick“ immer als Jugendroman bezeichnet – und er wurde im Verlag Rowohlt bei seinem Erscheinen im Jahr 2010 auch als solcher präsentiert. Der große Erfolg von „Tschick“ scheint jedoch Anlass zur Image-Korrektur zu geben, denn kann – so 1 scheint sich die Literaturkritik zu fragen – ein Jugendroman wirklich jene literarästhetischen Qualitätskriterien erfüllen, die wir gemeinhin (und insbesondere im allgemeingermanistischen Kontext) an richtig, echte Literatur stellen? Zu fragen ist aber auch: Hat die große Bedeutung, die Wolfgang Herrndorf heute, bei Erscheinen seines letzten, posthum veröffentlichten und unvollendeten Romans zukommt, wirklich nur mit der Qualität und beeindruckenden Breitenwirkung von „Tschick“ zu tun? Verleiht nicht auch – oder vielleicht sogar vielmehr – das tragische Schicksal von Wolfgang Herrndorf dem Roman „Tschick“ Kultcharakter? Und lässt sich daher nicht auch „Bilder deiner großen Liebe“ vortrefflich als Abschiednehmen lesen und Isa als Projektionsfigur eines Autors, der mit dieser Figur letzte Wege beschreitet – bis hin zu jenem Zeitpunkt, an dem eine P8 ins Spiel kommt? Denn auch Wolfgang Herrndorf selbst hat sich ja am 26. August 2013 in Berlin erschossen, zu einem Zeitpunkt, als sein Körper durch einen irreparablen Hirntumor schon weitgehend devastiert war. Ein solcher Kultcharakter, der einzelne Werke auf Grund des Schicksals ihrer Figuren und/oder Autor_innen umgibt, zieht sich als roter Faden durch die Geschichte einer Adoleszenzliteratur und einer Kultur, an der junge Menschen exzessiven Anteil nehmen. + Ich erinnere an den Werther-Kult des 18. Jahrhunderts + oder den Teen Spirit der 1990er Jahre, der sich im Grunge und Kult um dessen Leitfigur Kurt Cobain verdichtet hat Weder an der außergewöhnlichen literarischen Qualität von „Tschick“ oder von „Die Leiden des jungen Werther“ ist zu zweifeln; noch an jener musikalischen (gemeint sind damit auch die lyrics) des Grunge-Albums „Nevermind“; dennoch ist der Kultcharakter dessen, was auf textinternen Ebene durch die Nutzung ganz unterschiedlicher Formen und Ästhetiken erzählt wird, durch textexterne Aspekte bedingt: durch den Kultcharakter der Kunstfigur Kurt Cobain und den Kultcharakter der fiktiven Figur Werther. Oder jener von Wolfgang Herrndorf, der über das Handlungsfeld der Jugendliteratur hinaus breite Bekanntheit durch seinen Blog „Arbeit und Struktur“ erlangt hat; und dessen Werke zu seinen Lebzeiten im Feuilleton längst nicht so breit rezipiert wurden wie nun, nach seinem Tod. Wolfgang Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“, der mittlerweile auch in Buchform veröffentlicht wurde, beginnt mit dem Eintrag „Dämmerung“ Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen. (http://www.wolfgangherrndorf.de/ [13.10.2014; 16:54]) Fast drei Jahre lang folgt Wolfgang Herrndorf in literarisierten Einträgen ebenso wie persönlichen Notizen seinem Leben mit der Krankheit, seinem Sterben. Zu der in „Dämmerung“ formulierten Sehnsucht nach dem Kind-Sein führt er auch seine IchErzählerin Isa, die in einer der letzten Passagen formuliert: „Der Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt … Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind.“ (S. 128) Der Roman war ursprünglich als eine Art Neuerzählung von „Tschick“ aus der Sicht Isas geplant und hat in den Jahren seit 2010 unterschiedliche Stadien durchschritten. Wofür die Autorin Kathrin Passig, eine langjährige Freundin von Wolfgang Herrndorf und der Lektor Marcus sich nun – im Einverständnis mit Wolfgang Herrndorf – als Herausgeber_innen entschieden haben, ist das Moment der Fragmentarität. In Wolfgang Herrndorfs Namen wird 2 hier erzählerische Linearität verleugnet und dabei auch auf die Tatsache verwiesen, dass jugendliche Lebenswelt heute gar nicht mehr linear, sondern eben nur noch fragmentarisch dargestellt werden kann. Jugendliche Biografien verlaufen im 21. Jahrhundert längst nicht mehr linear; sie sind – insbesondere im urbanen Bereich und vor dem Hintergrund einer digitalisierten, multikulturellen Gesellschaft nicht mehr vorbestimmt; zwar sind wir uns dessen bewusst, dass unser Bildungszugang immer noch durch unsere soziale Herkunft bestimmt wird; darüber hinaus jedoch sind biografische Neu-Erprobung und Neu-Erfindung zum integrativen Bestandteil jugendlicher Biografie geworden. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür den Begriff der „Bastelidentität“ (siehe Beck 1986) geprägt. Vor dem Hintergrund einer Vielfalt an angeboten werden Biografien immer neu zusammengesetzt; vor dem Hintergrund der sozialen Netzwerke werden Biografie in präsentable Kleinteile zerlegt, und Rolle stetig gewechselt. Wolfgang Herrndorf nähert sich dieser fragmentierten Wirklichkeit nicht zeitgeistig an; sondern legt sie in seinem Erzählen offen; zuallererst indem er – auch schon in „Tschick“ einen unzuverlässigen Erzähler nutzt, einem Erzähler also, dem nicht zu trauen ist. Herrndorf, so formuliert es Wolfgang Paterno, „opfert einen guten Wortwitz gern der Plausibilität der Handlung“ (Paterno 2014, S. 100). Die tut er als Gegner gängiger Literaturvermarktungskonzepte, die die Autorenpersönlichkeit vor das Werk stellen. Wolfgang Herrndorf selbst gehört einer Erzähl-Generation an, die in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren sehr wohl große Aufmerksamkeit durch die angesprochenen Literaturvermarktungskonzepte erregt, die sehr wohl die Autorenfigur vor das Werk gestellt hat. Ein Ihnen sicher bekanntes Beispiel dafür ist der Roman „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann, mit dem ganz auf den Authentizitätsfaktor gesetzt wird, der die „Wahrheit“ des erzählten durch die Biografie der Autorin beglaubigt. Helene Hegemann schickt ihre 16jährige Ich-Erzählerin Mifti durch die sich linksintellektuell gerierenden Künstlerwohngemeinschaften Berlins, in denen Helene Hegemann, Tochter von Frank Castorfs Chefdramaturgen Carl Hegemann, zu diesem Zeitpunkt angeblich selbst zu Hause war. Die Literaturkritik reagiert auf die nicht uninteressante Motivik des Romans kaum; die Authentizität des juvenilen Szenegeschehens jedoch wurde ihm ungefragt beschieden. Der Literaturbetrieb liebt solche Grenzverwischungen zwischen Autor / Autorin und Erzähler / Erzählerin und unterstreicht gerne die literarische Qualität eines Textes durch dessen angeblichen Wahrheitsgehalt. Wie Helene Hegemann wurde in den späten 1990er Jahren dieserart auch Alexa Hennig von Lange hofiert. Im Fall ihres Romans „Relax“ war es die Techno- und Drogenszene, in dessen Nähe die Autorin sich dazumal gerne selbst stellte und damit rasch zu einer Ikone der Pop-Literatur gemacht wurde. (Alexa Hennig von Lange war am Cover der Erstausgabe ja auch selbst abgebildet.) Genannt wurde sie gerne in einem Atemzug mit Benjamin von Stuckrad-Barre. Ein wenig zu Unrecht wie ich meine, weil sich „Relax“ in seiner Erzählstruktur doch deutlich von einer nur sich selbst verpflichtenden Fun-Poesie vom Zuschnitt des Romans „Soloalbum“ von Benjamin von Stuckrad-Barre unterscheidet, der als strukturelle Referenz die Popmusik nutzt (erzählt wird die Geschichte eines soeben von seiner Freundin getrennten Berufsjugendlichen, also dessen Solo-Album; an den Beginn jedes Kapitel wird ein Zitat von Oasis gestellt). „Soloalbum“ ist ganz aus dem popkulturellen Referenzsystem seines Autors heraus erzählt und weist auch allein auf ebendieses Referenzsystem zurück. 3 Es handelt sich dabei wohlgemerkt um ein Referenzsystem, das der Autor selbst erst mit seinem Roman entwirft; im Stuckrad-Barre-Universum haben wir es also ausschließlich mit Selbstreferenzialität zu tun. Als eine „Baustelle des Zeitgeistes“ (Radisch 1999) hat Iris Radisch die Pop-Literatur 1999 beschrieben, basierend nicht auf Bildern oder Charakteren, sondern auf einem Rede-Sound, der stets nur sich selbst zum Ziel hat. Aus heutiger Sicht war die Pop-Literatur ein Zeitgeistphänomen, die für eine kurze Zeit die Literaturszene aufgemischt und Lesungen zu Pop-Event gemacht hat. Einem Event also, der in einem deutlich jugendkulturellen Kontext wahrgenommen und die Pop-Literatur als eine neue Form der Jugendliteratur etabliert hat. Erst befeuert durch die Pop-Literatur haben Verlage im deutschsprachigen Raum ihren Blick für die Jugendliteratur neu geöffnet und Erzählprojekte ermöglicht, die jenseits einer konventionellen Vorstellung von Jugendliteratur liegen. (Und eine konventionelle Vorstellung von Jugendliteratur entspringt ja immer noch einer sehr themenund problemorientierten Wahrnehmung von Jugendliteratur: Die Welle; Die Wolke; Rolltreppe abwärts) Auch der Jugendliteraturforschung hat die Pop-Literatur zu dieser Zeit einen deutlichen Kick verpasst – um nicht zu sagen, einen dringend notwendigen Kick, indem sie das Forschungsfeld und den Blick darauf deutlich geweitet hat. Die Frage nach Jugendliteratur wurde neu gestellt; für eine Neudefinition zu Hilfe genommen wurden literaturwissenschaftlich längst etablierte Begriffe aus dem Bereich der Adoleszenzliteratur. Was heißt das? Sie kennen den Begriff der Jugendliteratur sicher zuallererst als Teil des Begriffes Kinder- und Jugendliteratur Was ist darunter zu verstehen? Definiert wird die Kinder- und Jugendliteratur über das kinder- und jugendliterarische Handlungs- und Symbolsystem (siehe dazu Hans-Heino Ewers 2000) Einem Handlungssystem ordnet Hans-Heino Ewers bestimmte Rollen zu, wie Autor/Autorin, Verleger/Verlegerin, Buchhändler/Buchhändlerin, Vermittler/Vermittlerin, Käufer/Käuferin, etc. (Ewers 2000, S. 41). Zu den Vermittlerinnen und Vermittlern, falls Sie diesen Begriff in diesem Zusammenhang noch nicht gehört haben, gehören all jene, die Kinder- und Jugendliteratur an Kinder und Jugendliche weitergeben: Lehrerinnen und Lehrer, Kindergärtnerinnen und Kindergärtner, Bibliothekarinnen und Bibliothekare etc. Zum Handlungssystem der Kinder- und Jugendliteratur gehören auch Jurys; gehören Lehrveranstaltungen wie diese; gehören Institution wie die STUBE (siehe www.stube.at) Dieserart entstehende Handlungsmuster unterscheiden sich dort von der Allgemeinliteratur, wo sie spezifischen Einfluss auf die Literatur für Kinder und Jugendliche nehmen – insbesondere natürlich pädagogischen Einfluss. Das Handlungssystem meint also textexterne Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur Das Handlungssystem der KJL kann also, muss aber keine Auswirkungen auf deren Symbolsystem haben Mit dem Symbolsystem der Literatur für Kinder und Jugendliche sind textinterne Aspekte gemeint 4 Es umfasst „die Gesamtheit von Konstruktionsregeln und Semantiken der Literatur (in unserem Fall der Literatur für Kinder und Jugendliche), soweit sie die Literaturproduktion, distribution und -rezeption steuern […]“ (Ewers 2000, S. 176). Beide Systeme, sowohl das Handlungssystem, als auch das Symbolsystem treffen eine Unterscheidung zwischen der Kinderliteratur und der Jugendliteratur. Das Handlungssystem über den Moment einer Alterszuschreibung von Literatur; das Symbolsystem über poetologische Aspekte. Beide Systeme werden in dieser Ringvorlesung relevant sein, wenn wir Jugendliteratur in den Kontext von Jugendkultur stellen Wir befreien uns also vom Begriff der Kinder- und Jugendliteratur und sprechen im weiteren Verlauf dieser Ringvorlesung nur noch von Jugendliteratur und deren poetologischen Grundlagen. Was umfasst nun eine solche Poetologie der Jugendliteratur. Ausgehen möchte ich dafür zuerst vom Begriff der Jugend, darunter ist zuallererst ein Lebensalter zu verstehen; Lebensalter korrespondiert mit unterschiedlichen Entwicklungsphasen + Pubertät, der sexuellen Reifung + Adoleszenz, als Reifung hin zum Erwachsensein, als Reifung im Sinne von Lebenserfahrung und Lebenskompetenz, Reifung zur Eigenständigkeit (soziale Eigenständigkeit, finanzielle Eigenständigkeit, sexuelle Eigenständigkeit … ) Pubertät kann also als biologischer, Adoleszenz als psychologischer Begriff verstanden werden; der Begriff der Jugend selbst erscheint vor diesem Hintergrund als soziologsicher Begriff (diese begriffliche Schärfung stammt von Ernst Seibert und ist dessen Vorlesungen entnommen). Als ein solcher soziologischer Begriff ist er stark an so genannte Jugendbewegungen gebunden Vielleicht gerade aktuellste, obwohl auch schon fast wieder vorbei: + Regenschirm-Revolution in Hongkong + mittlerweile ganz klassische: Punk Heute hat sich Jugend viel eher zu einem Grundprinzipien unserer Gesellschaft Die heutige Freizeitgesellschaft pflegt ihre Jugendlichkeit (sie tut das zum Beispiel mit Wellness und Fitness …) Und auch die Popkultur lässt die Grenzen zwischen den Generationen verwischen (Rolling Stones: was in den 1960ern die Ikone der Jugendlichkeit war, zieht sich heute als popkulturelles Phänomen durch alle Generationen) Längst hat sich heute auch die Jugendkultur vom offenen Ausleben eines Generationskonfliktes, von der inszenierten und sichtbaren Rebellion gelöst (siehe Großegger/Heinzlmaier, S. 6f.) Sie ist, wie Beate Großegger und Bernhard Heinzlmaier das in ihrem „Jugendkultur Guide“ formulieren, „aus ihren subkulturellen Nischen herausgetreten und über weite Strecken mehrheitsfähig geworden“ (ebd.). Die Jugendkultur im Sinne einer [FOLIE] „Alltagskultur der Jugendlichen“ (ebd., S. 6) hat sich zu einer „jungen, bunten und vor allem überaus populären Freizeitwelt gewandelt“ (ebd., S. 7), an der heute letztlich jede/er teilnehmen kann. 5 Blickt man nochmals auf die beiden Entwicklungsphasen (Pubertät und Adoleszenz), so ist für beide das Moment des Übergangs wichtig; beiden Phasen wohnt das Moment des Transitorischen inne Die Adoleszenz hat begrifflich auch Eingang gefunden in die Literaturwissenschaft: unter der Adoleszenzliteratur, abgeleitet vom lat. Wort für Jugend = adulescentia, versteht man „Texte, in denen die physiologischen, psychologischen und sozialen Aspekte des Heranwachsens […] thematisiert werden“. (Kolk, S. 5) Ausgegangen wird bei dieser Definition also vom Dargestellten (den „Aspekte[n] des Heranwachsens“); als prototypisch werden gerne Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“, „Frühlingserwachen“ (Wedekind), „Unterm Rad“ (Hesse), „Die Verwirrung des Zögling Törless“ (Musil) und für nach 1945 natürlich J. D. Salingers „The Catcher in the Rye“ und Plenzdorf mit „Die neuen Leiden des jungen W.“ genannt; und zuletzt natürlich auch Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ Sie finden an einigen Definitionsorten für die Adolesezenzliteratur auch konkreter Angaben zum Lebensalter, auf das sich die genannten „Aspekte des Heranwachsens“ beziehen; dieses Lebensalter wird gerne an das Alter der Strafmündigkeit gebunden, bezeichnen also jene Altersstufen, die zwischen Minderjährigkeit und voller Strafmündigkeit liegen Im Sinne der Gesetzgebung lassen sich solche Alterszäsuren setzen, im Sinne einer Entwicklungsphase sicher nicht Man spricht auch seit längeren davon, dass sich die Zeit der Adoleszenz deutlich verlängert hat und hineinreicht bis in die 30er (Hotel Mama) Während Jugend also ein sozilogisches Phänomen benennt, bezeichnet Adoleszenz genauer das Moment des Heranwachsens und die Adoleszenzliteratur Texte, die dieses Moment des Heranwachsens und alle damit verbundenen Übergänge thematisieren. Ein Literaturlexikon wie jenes von Metzler spricht von Adoleszenzliteratur, weil neben dem Roman auch das Drama mit einbezogen wird; aus der Sicht des heutigen Gattungsspektrum müsste zum Beispiel auch die graphic novel berücksichtigt werden, auf die wir im Verlauf der Ring-Vorlesung ja auch noch zu sprechen kommen werden. Auf den eingeführten Begriff der Adoleszenzliteratur hat die Jugendliteraturforschung nun in den ausgehenden 1990er Jahren zurückgegriffen, als ein bis dahin eingeführtes Verständnis von Jugendliteratur von Literaturangeboten außen überholt wurde (Stichwort: Pop-Literatur) Herauskristallisiert haben sich dabei zwei unterschiedliche Definitionsansätze: Ergänzend sei vorweggenommen: diese beiden Definitionsansätze schließen aneinander natürlich nicht aus, sondern nähern sich in der Theoriebildung !! der Jugendliteratur auf unterschiedliche Weise an. 1) Mit Jugendliteratur werden all jene Texte bezeichnet, die als solche zugeschrieben werden. Jugendliteratur ist also eine Frage der Zuschreibung. 2) Unter Jugendliteratur zu verstehen sind all jene literarischen Texte, in denen Jugend zentral dargestellt wird. Diese Definition fußt also auf dem Darstellungsgegenstand eines Textes und entspricht damit der eingeführten literaturwissenschaftlichen Definition von Adoleszenzliteratur. Ad 1 Unter Jugendliteratur versteht man also alles, was Jugendlichen an Literatur zugeschrieben wird (nicht zu verwechseln mit allem, was Jugendliche lesen; dafür verwendet man den Begriff der Jugendlektüre; vgl. dazu Ewers 2000, 16) 6 Diese Zuschreibung werden im Handlungsfeld der Jugendliteratur (siehe Ewers 2000) vorgenommen, also z.B. von den Autorinnen und Autoren selbst, von Verlagen, von Vermittlerinnen und Vermittlern in Schulen oder Bibliotheken, von der Literaturwissenschaft, die Literaturkritik … Die Frage nach der Jugendliteratur ist in diesem Fall also keine Gattungsfrage. Heinrich Kaulen plädiert hier für „ein ganz nüchternes Verständnis von Jugendliteratur“ (Kaulen, 4), die als ein „Subsystem des allgemeinen Literatursystems“ (ebd.) verstanden wird. Als Jugendliteratur gattungsunabhängig: gelten dieser Definition folgend also gleichermaßen und +Mats Wahl: Der Unsichtbare. (Krimi) +John Boyne: Der Schiffjunge (moderner Abenteuerroman, der im historischen Kontext verortet ist) + „Die Tribute von Panem“ (Future Fiction) + „Gretchen Sackmeier“ (ein tragi-komischer Familienroman) + John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter. (Adoleszenzroman, Sick-Lit) + Tamara Bach: jetzt ist hier (postmoderner Adoleszenzroman) Jugendliteratur wird hier also verstanden als ein Segment im Kontext des Literaturangebots, das sich per definitionem an Jugendliche – und damit traditionell an bestimmte Altersstufen richtet. Ausgesagt ist damit – dies als klärende Ergänzung – nicht über die literarische Gestaltung (Gattung, erzähltheoretische Gestaltung etc.) und/oder Qualität der jeweiligen Beispiele. Alles oben genannten Beispiele haben in der Jugendliteratur prototypischen Charakter. Problematisch wird diese Definition von Jugendliteratur über das Moment der Zuschreibung dort, wo die zuschreibenden Instanzen ein zu enges oder zu veraltetes Verständnis davon haben, was aus ihrer Sicht für Jugendliche geeignet sei. Zuschreibung paart sich also gerne mit der Frage der Eignung von Jugendliteratur für ihre jeweiligen Leserin_innen. Gebunden ist diese Frage an die leidige Diskussion um Altersangaben. Ad 2 Unter Jugendliteratur zu verstehen sind all jene literarischen Texte, in denen Jugend zentral dargestellt wird. In einem 1997 erschienen Beitrag mit dem Titel „Vom >guten Jugendbuch< zur modernen Jugendliteratur“ hält Hans-Heino Ewers mit Blick auf die Entwicklung der Jugendliteratur seit den 1970er Jahren fest, dass ein „eingetretener jugendliterarischer Wandel“ (Ewers 1997, 8) mit sich bringt, dass „moderne Jugendliteratur […] keine dezidierte Zielgruppenliteratur mehr sein“ (ebd.) will und der Leserbezug damit als definitorisches Kriterium für Jugendliteratur ausfällt (siehe ebd.). Er schlägt daher eine „werkbezogene Definition“ (ebd.) vor: „Jugendliteratur ist eine Jugend thematisierende, eine jugendliche Lebenswelten vergegenwärtigende, eine mit jugendlichen Problemen nicht nur beiläufig, sondern zentral sich auseinandersetzende Literatur.“ (ebd.) Ergänzend sein darauf hingewiesen, dass der Theorie- und Analyseblick vor dem Hintergrund dieser Definition nun auch auf Werke fällt, die ursprünglich nicht Jugendlichen zugeschrieben wurden, wie Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“ oder Paulus Hochgatterers postmoderner Adoleszenzroman „Caretta Caretta“; das bezieht Werke wie Milena Michiko Flašars Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ mit ein, das betrifft Wolfgang Herrndorfs genannten, 7 posthumen Roman „Bilder deiner großen Liebe“. Provokativ formuliert: Handelt es sich bei „Die Leiden des jungen Werther“ um Jugendliteratur? Ergänzung: Mit der Definition von Hans-Heino Ewers wird eine deutliche Fokussierung auf den realistischen Jugendroman vorgenommen – wobei es mir sozusagen wortwörtlich problematisch erscheint, „jugendlich[e] Probleme“ begrifflich in diese Definition mit hineinzunehmen. Ist dieser Begriff doch belastet durch die sogenannte problemorientierte Literatur der 1970er und 1980er Jahre, die das allgemeinliterarische Bild von Jugendliteratur auch heute noch stark prägt und von der sich eine moderne Jugendliteratur, wie Ewers sie im Blick hat, deutlich unterscheidet – und zwar durch die literarischen Verfahren, die sie anwendet. Mit einer problemorientierten Literatur ist eine ganz auf unterschiedliche Themenstellungen hin fokussierte Literatur gemeint, die auf (siehe Anmerkung einer Teilnehmerin an der Vorlesung) ganz auf Problemlösungen, nicht aber auf die Glaubwürdigkeit der Figuren setzt; literarische Verfahren, Binnenstrukturierungen etc. werden hier ersetzt durch eine Reihung von Ereignissen. Ebenfalls ergänzend sei an dieser Stelle auf die emanzipatorische Jugendliteratur verwiesen, die sich seit den frühen 1970er Jahren entwickelt hat (und zu der zum Beispiel die frühen Werke von Christine Nöstlinger zählen). Hier wird zwar gesellschaftspolitisch bewegt, aber doch basierend auf der Glaubwürdigkeit von Figuren erzählt; einbezogen werden nach und nach unterschiedliche Erzählverfahren, die unter anderen dem modernen (psychologischen) Roman entnommen sind: Mehrperspektivik, Collagenform, Innenperspektivierung etc. Mehr und mehr tritt der Anspruch des emanzipatorischen in den Hintergrund, und es entstehen – auch durch Impulse aus dem skandinavischen Raum neue Formen des Jugendromans / der Jugendliteratur, die natürlich lebensweltliche Themen aufgreifen, aber jenseits einer ausschließlichen Themenfokussierung literarische Verfahren anwenden, um jugendliche Biografien zu fiktionalisieren. In der Vorlesung als Beispiel genannt: Laurie Halse Anderson: Wintermädchen. Zurück zu den beiden Definitionen: + Jugendliteratur definiert über Zuschreibung + Jugendliteratur definiert über den Darstellungsgegenstand Im Vergleich der beiden Definitionen zeigt sich ein Unterschied in der Begriffsauffassung von Jugend, an den beide Definitionen gebunden sind: Im ersten Fall ist mit Jugend ein Lebensalter gemeint, womit auch eine Klassifizierungen von Jugendliteratur nach dem Alter ihrer Eignung und damit eine pädagogische / pädagogisierende Verortung von Jugendliteratur fortgeschrieben wird; mit der zweiten Definition wird deutlicher auf Jugend im Sinne eines individuellen Entwicklungsstadium verwiesen – und damit, wie bereits erwähnt, der Zusammenhang zur allgemeinliterarischen Definition der Adoleszenzliteratur hergestellt. Jugendliteratur wird dieser Definition entsprechend also über ihren Darstellungsgegenstand, die Jugend, definiert; Das entspricht der etablierten Definition von Adoleszenzliteratur, auf die nun auch begrifflich wieder zurückgegriffen wird; Um literarische Verfahren im Kontext eine sich neu etablierenden Form der Jugendliteratur genauer herauszustreichen, wird der Begriff des Adoleszenzromans wieder nachhaltiger in die Jugendliteraturforschung eingeführt – als Gattungszuordnung jenseits eines Jugendliteraturbegriffs, der über eine Zuschreibung eine Vielfalt an Gattungen umfasst. 8 Eine Ausdifferenzierung dieses Begriffes der Adoleszenzliteratur wird nun – und mit nun meine ich immer noch die späten 1990er Jahre – zur Möglichkeit, die Jugendliteratur definitorisch in ihrem Eignungskontext zu belassen, in der Jugendliteraturforschung jedoch mit Hilfe des Begriffs Adoleszenzroman auf neue jugendliterarische Entwicklungen zu reagieren und diese in den Kontext der Literaturgeschichte an sich zu stellen – und damit die Jugendliteratur auch aus dem Ghetto der Eignung herauszuholen. Deutlich abzugrenzen ist der Adoleszenzroman dabei von All-Age-Literatur; All-Age definiert sich ja weder über den Darstellungsgegenstand, noch über die Zuschreibung; AllAge sagt nichts darüber aus, für wen ein Text geeignet ist, sondern für wen er gestaltet ist – denn All Age meint eine Form der Textgestaltung, die bewusste Signale an unterschiedliche Altersstufen gleichzeitig gibt. Zurück zur Ausdifferenzierung des Adoleszenzromans, der nun nicht mehr allein auf Grund seines Darstellungsgegenstandes definiert wird, sondern durch poetologische Merkmale, die auch darüber hinausgehen. Ich beziehe mich hier wieder auf Heinrich Kaulen, der diese Kriterien in einem Beitrag aus dem Jahr 1999 deskriptiv festgehalten hat: [FOLIE] Der Adoleszenzroman schildert nicht nur die Adoleszenzphase eines oder mehrerer jugendlicher Figuren, diese „Adoleszenzphase wird [auch] als Prozess einer prekären Identitäts- und Sinnsuche aufgefasst und findet ihre Binnenstrukturierung in einer Reihe prägender Krisenerfahrungen und Initiationserlebnisse“ (Kaulen 1999, 7) Ergänzung: Der wesentliche Begriff in diesem Zusammenhang ist jener der Binnenstrukturierung; Krisenerfahrungen zu thematisieren, wie in der problemorientierten Jugendliteratur, sie auf der Ebene des Plots zu reihen, anzusprechen, auszuformulieren ist von literarischen Verfahren zu unterscheiden, durch die sich solche Krisenerfahrungen an der jeweiligen Struktur des Werkes, an seiner Raum- und Zeitstruktur, an seiner Sprachstruktur etc. ablesen lässt. Als Beispiele können hier Paulus Hochgatterer: Wildwasser oder Alina Bronsky: Scherbenpark oder die Romane von Tamara Bach genannt werden. Ausdifferenziert – und darauf möchte in nicht mehr genauer eingehen, werden auch die Erzählverfahren, die der Adoleszenzroman anwendet; bestimmt werden sie von Erzählverfahren des modernen psychologischen Romans, aber auch von Erzählverfahren, die die Postmoderne in die Literatur einbringt: Zitate, das Spiel mit Codes etc. dazu zählen auch Aspekte wie die Fragmentierung, die ich mit Blick auf Wolfgang Herrndorf bereits angesprochen habe; dazu zählen aber auch Aspekte von Coolness und Selbstdesign, wie die Pop-Literatur sie pflegt. Ergänzend zu Heinrich Kaulen, den ich erwähnt habe und dessen Beitrag in 1000 und 1 Buch im Jahr 1999 der zentrale Beitrag zur modernen Jugendliteratur, zum Adoleszenzroman und postmodernen Adoleszenzroman ist, möchte ich kurz auf drei weitere, wichtige Forschungslinien zum Adoleszenzromans verweisen + auf jene von Carsten Gansel er hat die umfassendste Auseinandersetzung mit dem Adoleszenzroman, dessen Begriffsgeschichte und dessen narratologischen Aspekten vorgelegt; + auf jene von Nicole Kalteis, die das Moment des Transitorischen der Adoleszenz aufgegriffen und dessen Eingang in die formalen Gestaltungsmittel des Adoleszenzromans untersucht hat. Sie hat eine Systematisierung unterschiedlicher Bewegungsmuster im Adoleszenzroman erarbeitet (siehe dazu Kalteis 2006) und erstmals die Trickster-Figur in den Diskurs um den postmodernen Adoleszenzroman eingebracht hat (siehe Kalteis 2008); prototypisches Werk in diesem Zusammenhang ist „Caretta Caretta“ von Paulus Hochgatterer; 9 Nicole Kalteis spricht hier vom Bewegungsmuster des Zickzack: „Trickreiche Helden im Niemandsland“ nennt sie Figuren wie Paulus Hochgatterers Dominik in „Caretta Caretta“ + und last, aber natürlich nicht least möchte ich auf die Forschungslinie von Ernst Seibert verweisen, der in seinen mentalitätsgeschichtlichen Diskurs österreichischer Gegenwartsliteratur den Adoleszenzroman als „eine Weiterentwicklung [literarischer] Kindheitsreflexion“ (Seibert 2005, 218) eingebracht und dabei den wunderbaren Begriff „Altersphasen-Kontrast“ (ebd.) etabliert hat. Dazu wird er Ihnen aber in seinem eigenen Teil dieser Ring-Vorlesung sicher mehr erzählen. Wichtig für den Adoleszenzroman ist das Moment des Ausschnitthaften: anders als der Entwicklungsroman führt der Adoelszenzroman die Individuationsprozesse seiner Protagonistinnen und Protagonisten nicht schlüssig zu Ende; er ist auf das Moment des Übergangs selbst konzentriert, ist aus der Bewegung und Entwicklung seiner Figuren heraus erzählt und erhält diese Bewegung auch aufrecht. Ein Kennzeichen des Adoleszenzroman ist dann, wenn er nicht überhaupt mit dem Tod des Protagonisten oder der Protagonistin endet, ein offenes Ende. Noch einmal zurück zur Initialzündung dieses neuen Diskurses über Jugendliteratur und Adoleszenroman, zum Definitionsvorschlag für Jugendliteratur von Hans-Heino Ewers: [FOLIE] „Jugendliteratur ist eine Jugend thematisierende, eine jugendliche Lebenswelten vergegenwärtigende, eine mit jugendlichen Problemen nicht nur beiläufig, sondern zentral sich auseinandersetzende Literatur.“ (Ewers 1997, 8) Wenn also Jugendliteratur definiert wird als Literatur, die Jugend zentral darstellt, dann muss diese zentrale Darstellung per definitionem jugendkulturelle Aspekte mit einbeziehen, wenn Jugendkultur als „Alltagskultur von Jugendlichen“ (siehe Großegger/Heinzlmaier 2004, 6) verstanden wird. Ohne genauer darauf einzugehen, verwendet Hans-Heino Ewers hier sicher nicht zufällig den Begriff der jugendlichen Lebenswelten. Es ist ein Begriff, der auch in der Jugendkulturforschung zentrale Bedeutung bekommen hat (vgl. dazu Heinzlmaier 2009) – auch hier wieder der Verweis auf die nächste Einheit mit Beate Großegger, die sicher genauer auf diesen Begriff der Lebenswelt und jenen damit zusammenhängenden der Intersubjektivität eingehen wird. Geht man also von der Definition von Hans-Heino Ewers aus, muss Jugendliteratur per se solche lebensweltlichen Aspekte mit einbeziehen. Das tut sie sicher dort, wo aus bestimmten Szenen heraus erzählt wird – ich habe auf Alexa Hennig von Lange oder Benjamin von Stuckrad-Barre verwiesen. Viel interessanter jedoch erscheint mir jenes Moment einer fragmentierten Wirklichkeit, auf das Wolfgang Herrndorf sich in seinem Erzählen bezieht. Daraus resultiert die Frage nach Zeichensetzungen, auf eine Literarisierung jugendlicher Lebenswelten beruht. Welche Zeichen, so könnte die Leitfrage unseres Semesters sein, nutzt also Jugendliteratur um jugendliche Lebenswelt darzustellen? In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ hält Wolfgang Herrndorf am 31. 3. 2012 zu seinem Vorhaben, „Tschick“ aus der Perspektive von Isa sozusagen neu zu erzählen, fest: „Mit etwas Rumprobieren einen Ton gefunden, schreibt sich wie von selbst. Und praktisch: kein Aufbau. Man kann Szene an Szene stricken, irgendwo einbauen, irgendwo streichen, irgendwo aufhören.“ (Herrndorf, 2014, S. 134) 10 Mit Hilfe des posthumen Textarrangements von Kathrin Passig und Marcus Gärtner entsteht sehr wohl Narration; das Moment des Ausschnitthaften jedoch, das dem Adoleszenzroman innewohnt, wird durch das Lückenhafte Moment des Textes betont – und durch das Moment der Edition als unvollendeter Roman sozusagen noch einmal gedoppelt. Das Moment des Transitorischen, das sich in der Bewegung im Raum spiegelt, wird auch hier aufgenommen: War „Tschick“ ein Roadmovie, so ist auch „Bilder deiner großen Liebe eines“ – allerdings ein Road-Movie zu Fuß. Im Versuch, sich selbst zu erden steigt Isa von ihrem Müllberg herab; Wolfgang Herrndorf entwirft dabei Bewegungsmuster die im Erzählrhythmus an Peter Handke erinnern. Er folgt ihren Wegen und hält inne an Stellen, an dem sich diese Wege mit den Wegen anderer Figuren für kurze Momente kreuzen: Kapitel 20, S. 72 Festen Boden unter die Füße bekommt Isa letztlich jedoch nicht. Sie erinnern sich: „Der Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt … Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind.“ (S. 128) heißt es in einer der letzten Passagen. Ein „kaputtes“ Werk nennen es Kathrin Passig und Marcus Gärtner den Roman in ihrem Nachwort. Es erzählt entlang des Abgrunds, entlang jener Bruchlinien, die durch die prägenden Krisenerfahrungen und Initiationserlebnisse der Adoleszenz (siehe Kaulen 1999, 7) bestimmt werden, er folgt einer verrückten Figur; und er folgt damit den emotionalen und geografischen Verrückungen einer Figur folgt. Literatur, so hält der Autor Nils Mohl bei der Verleihung des Kranichsteiner Stipendiums für seinen Jugendroman „Es war einmal Indianerland“ fest, Literatur ist für mich ein Singular ohne Präfix. Literatur, egal von wem und egal für wen, funktioniert stets und immer gleich. Literatur, so wie sie mir gefällt, ist das Gegenteil von Zerstreuung und Irrsinnskonditionierung. Literatur sediert nicht. Und Literatur motiviert nicht, die eigene Gestörtheit noch weiterzutreiben. Literatur, das wäre zumindest mein Wunsch, sorgt dafür, dass schlussendlich unsere Ansprüche an die Literatur hoch bleiben. 2. Dr. Beate Großegger – Jugendkulturen und Medienkulturen im Wandel Jugendkultur ist Lebensgefühl und Statement zugleich Young adult literature bzw. all age literature – ist vom Markt erfunden worden Jugendkulturen – worüber reden wir überhaupt? Jugendbegriff: 11 bis 29 – Ausdehnung der Jugendphase und Phänomen der langanhaltenden Jugend (Kids/Pree-Teens, klassisches Jugendsegment/“Teenager“, junge Erwachsene/Twentysomethings) Kulturbegriff: Kultur = „whole way of life“ (Kultursoziologie und „Cultural Studies“); „Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs“ (Hansen 2003: 17f) - der Alltag als Zentrum kultureller Praktiken - Historizität als zentrales Merkmal von Kultur Jugendkulturbegriff 11 - Jugendkultur dient heute nicht als Begriff, der die Lebensphase Jugend eingrenzt, markiert eher ein Lebensgefühl und damit verbundene bzw. daraus abgeleitete Lifestyles (Jugendkultur als Lebensgefühl und Statement zugleich) - Jugendkulturelle Ausdrucksformen stellen eine Verbindung Gesellschaft/Zeitgeist und dem eigenen Leben/persönlichen Erfahrungen her zwischen - Jugendkulturen als Lebensstilgemeinschaften: „Jugend erscheint hier nicht als etwas was man ist, sondern als etwas, was man tut (…)“ (Liebsch 2012: 27) – Szenen als typ. Vergemeinschaftungsformen in der Gesellschaft der Altersgleichen Jugendkultur als Generationenkultur „Jugendkulturen sind diejenigen Teile der nationalen oder übernationalen jugendlichen Population, die für das Jugend-Selbstverständnis einer Epoche oder eines ungefähr angebbaren Zeitraums Leitbilder setzen (…) ‚Jugendkulturelle Jugendliche’ erfüllen in besonders markanter Weise die Gestalt einer Epoche (…)“ (Baacke 2007: 227). Zeitgeist schafft Perspektivität, die uns so uns handeln lässt, wie wir handeln „Mich interessiert nicht irgendeine große Wahrheit, weil der Glaube an deren Existenz sowieso die größte Lüge ist, die es gibt. Mir geht es fast ausschließlich um Statements. Und um Unterhaltung.“ (Helene Hegemann) – „Augen zu und durch.“ (Rikki, Gothic) Leben in Revisionsbereitschaft Die Gesellschaft ändert sich, die Jugend auch … Unsicherheit wächst, am Ball bleiben wird zur ständigen Herausforderung, das digitale „Always-on“ laugt aus Die Frage lautet: Resignation oder Ablenkung – die Jugend hat sich für Letzteres entschieden Nicht Position beziehen/sich nicht festlegen liegt im Trend: statt dafür oder dagegen zu sein, „leidenschaftslose Überanpassung“ (Normopathie, Normcore) Dynamische Beschleunigungsgesellschaft Karl Mannheim und „das Problem der Generationen“ • In der Jugend/in der „formativen Phase“ gemachte Erfahrungen prägen unsere Generationenperspektive; diese formt unser Denken und Handeln: • Die Generationslagerung (Zugehörigkeit zu verwandten Geburtsjahrgängen) setzt nicht notwendigerweise Generationenbewusstsein voraus und doch gibt sie unserem Denken/Handeln eine Richtung (Perspektivität in der und durchdie „Zeitheimat“). • Das Generationsbewusstsein wirkt als Schnittstelle zum Generationszusammenhang: „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen“ (gemeinsam Erlebtes – Verarbeitungskategorie). • Alterskohorten sind soziokulturell nicht homogen – Generationseinheiten verarbeiten den für den jeweiligen Generationszusammenhang typischen Problemhorizont auf unterschiedliche Weise. Mentalitätswandel in den Jugendkulturen Seit Entdeckung des „Teenagers“: • Jugendkultur zwischen Konsum und Rebellion 12 Gesellschaftl. Individualisierung und Pluralisierung bringen Wandel – auch in den Jugendkulturen: • Vom Generationenkonflikt (inter-generationelle Distinktion) zur Suche nach Abgrenzung innerhalb der Gesellschaft der Altersgleichen (intra-generationelle Distinktion) – Protest/Provokation waren gestern … • Von sozialmilieuspezifischen Jugendszenen Jugendsubkulturen zu individualitätsorientierten • Von Appellfunktion zu einer Überbetonung der Ausdrucksfunktion „Appell: der will die Welt bewegen, sich zu verändern, er ist Aufschrei, Anrede, Diskussion. Wer sich ausdrückt, hat hingegen mit sich selbst zu tun, will sich darstellen, ein Stück Selbstverwirklichung am eigenen Leibe erproben.“ (W. Ferchhoff, Jugendforscher) Von den Cultural Studies zu Szeneforschung • Britische Cultural Studies der 1970er/1980er verstanden Jugendkulturforschung als Forschung über subkulturelle Stile: a) Re-Artikulation der bestehenden kulturellen Verhältnisse in jugendkulturellen Ausdrucksformen, b) kulturell eigensinnige, widerständige Praxen – Jugendkulturen als Freiräume jenseits bestehender Machtverhältnisse - Subkulturen werden als kleinere, stärker lokalisierte und differenzierte Struktur innerhalb eines größeren kulturellen Zusammenhangs begriffen: Beziehung zur Stammkultur, aber eigenständige Ausdrucksformen und Strukturen, die von der Stammkultur unterscheidbar macht (doppelt artikuliert – Beispiel Rocker: Rocker sind in Bezug auf die Arbeiterkultur als ihre Stammkultur artikuliert, sie sind aber auch in Bezug auf dominante Kulturen wie das Bürgertum artikuliert). • Heute gelten jugendkulturelle Stile nicht mehr als abhängig von einer Stammkultur, sondern als wählbar (und dann auch wieder abwählbar) - Medien und digitale Technologien unterstützen die Globalisierung jugendkultureller Stile – deterritoriale Vergemeinschaftungsnetzwerke (Communitys) - Statt einigen wenigen großen Jugendbewegungen, viele kleine jugendkulturelle Szenen: als post-traditionale Formen einer (lifestylevermittelten) Vergemeinschaftung Szenen = Lebensstilgemeinschaften Szenen = kulturelle Netzwerke, in denen sich Menschen mit ähnlichen Interessen und einer ähnlichen Lebenseinstellung („Attitude“) zusammenfinden Wir-Gefühl basiert nicht auf Standes- oder Lebenslageninteressen: gemeinsames Interesse für das Szene-Thema und für den gemeinsamen Lifestyle als sozialer Kitt Szenen = Gemeinschaften der Gleichgesinnten und Gleichgestylten Zugehörigkeit durch kompetente Anwendung des Szene-Codes (Dresscode, Musikpräferenz, Sprache, Rituale= und performatives Bekenntnis zum „expressiven Gruppenstils“ Jugendkulturelle Lebenswelten • Jugendkulturelle Lebenswelten umfassen „alle relevanten Erlebnisbereiche, mit denen Personen im Alltag zu tun haben (…). Diese Erlebnisbereiche wiederum sind bestimmend für die Entwicklung und Veränderung von Einstellungen, Werthaltungen sowie Verhaltensmustern (…)“ (Baacke 2007: 136). 13 • In den jugendkulturellen Lebenswelten spielen ästhetische Erfahrungen, die über Medien und Konsumartikel vermittelt werden, eine zunehmend wichtig Rolle. - (Jugend-)Kultur als „Such-Raum“ (Baacke 2007: 160): „(…) Offenheit des Horizonts, der über kulturelle Praxen neue Muster in die Welt stellt, aber auch als maßstab- und geschichtslose Versammlung von zerschmetterten KulturErbschaften unterschiedlicher Art, die sich als beliebiges Sammelsurium präsentieren.“ - Jugendkulturjugendliche agieren als „symbolische Touristen“ (Hepp 2006: 137): Stile dienen als Mittel der Identitätsartikulation - „Kultur ist die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten … Eine Kultur enthält ‚Landkarten der Bedeutungen’, welche die Dinge für ihre Mitglieder selbstverständlich macht“ (Clarke et.al. 1979: 41 zitiert in Liebsch 2012: 92). „Du zeigst mir, wie du aussiehst, ich sage dir, wer du bist“ Öko-Hippie versus Kommerzbarbie, HipHop versus Hipster: „Die Maske ist nicht die falsche, sondern vielmehr die wahre Seite des Menschen. Durch sie erst gibt er sich preis.“ (Ekkehart Baumgartner) Jugendkulturelle Identität formiert sich aus nach außen hin gezeigter Differenz. Wo man gerade ankommt, dort ist man und so lebt man – zumindest auf Zeit; als Grundregel gilt: „Change your look and your mind will follow …“ Bedeutung des Stils: klarmachen, wer man nicht ist Stil dient der Orientierung und Abgrenzung: „Man will klarmachen, was man nicht ist“ (Gerhald Schulze) Lifestyle als Medium der persönlichen Lebensphilosophie: Man macht sich ein Bild von denen, mit denen man sich nicht identifizieren will, und zeigt dann mit dem eigenen Stil, dass man sich selbst völlig anders sieht, anders lebt und auch anders denkt. Funktioniert auch bei Erwachsenen – Beispiel „Niveaumilieu“: geht nicht mit „Baggy Pants“ ins Theater, liest Qualitätstageszeitungen und eher selten Comics und hört vorzugsweise klassische Musik, nicht Black Metal. Mainstream mit post-heroischem Protestkulturen punkten mit „Style“ Selbstkonzept – Engagement & 14 Protest von rechts außen: rechtsextreme Jugendkultur 2.0 „Cooler Style“ mit linker Ästhetik und extrem rechter Ideologie „We are not a part of your society, we are not of your kind.“ Elite und Geborgenheit und as Recht auf eigenständiges Handeln als Selbstkonzept der “Nazissen” Jugendkulturen – was man auch noch wissen muss • Jugendkulturen sind außerpädagogische Sozialräume: außerschulisch, außerfamiliär, freizeitbezogen • Jugendkulturen müssen als Medium kultureller Selbstdeutung verstanden werden. Es bestehen kaum Berührungsängste mit Konsumkultur und der so genannten „Kulturindustrie“. • In einem von populären Medien geprägten Alltag stehen ästhetische Erfahrung und sinnlichsymbolische Interaktionsformen im Vordergrund. • Mit populärer Ästhetik ist eine Form des populären Vergnügens assoziiert, das sich von dem in der Hochkultur dominanten Rezeptionsstil klar abhebt. • Kreativität in den Jugendkulturen = gestaltendes Imitieren: Jugendkulturelle Kreativität ist alltagskulturelle Kreativität: es fehlt die reflexive Komponente – Publikumsebene: emotionales Involviertsein, Produktionsebene: Skills & Style (Selfperformance innerhalb eines vorgegebenen Rahmens) Co-Evolution von Technologie und Gesellschaft – Jugendkulturen als „Change Agents“ Die Welt als YouTube Clip? „Wer in einem Buch blättert, ist doch dem roten Faden auf der Spur; verbunden der Diskursivität der Sprache. (…) Die Optionenvielfalt heutiger Bilderfluten verstärkt diese Tendenz zum schnellen Wechsel. Der keineswegs mehr auf das Ganze aus ist (…), sondern wirkungsvolle Bruchstücke anzielt, die allenfalls im Rezeptionsvorgang blitzschnell collagiert werden oder unverbunden liegenbleiben. Durch solche neuen Wahrnehmungsweisen erschließen sich neue Verstehens-Prozesse. (…) Damit tritt das Signalentziffern häufig an die Stelle der Tiefendeutung“ (Baacke 2007: 108). Jugendzeit ist Medienzeit Dynamischer Medien- und Technologiewandel verändert jugendliche Lebenswelten und hinterlässt unübersehbare Spuren in jugendkulturellen Möglichkeitsräumen Jugendkommunikation = digital + mobil! Konvergenz: „Zusammenwachsen“ unterschiedlicher Medien, z.B. TV und Internet Verdichtung und Beschleunigung der Information Mediatisierung/mediale Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche: Offline- und Online-Realitäten laufen (scheinbar gleichwertig) parallel Pluralisierung: Vervielfachung der Angebote und Funktionen Diversifizierung – Segmentierung der Zielgruppen: spezielle Radio- und TV-Kanäle und Webangebote entstehen Kapitelfetischisten vs. Gelesene Prozente Assoziative Botschaften 15 Informations- und Kommunikationskulturen im Wandel: Bildzentriertheit und „verlinktes Lesen“– Prinzip der wählbaren Einheiten Mixed-Media-Erzählstil und „Sehlesen“ bringen die klassische Schreib-Lese-Kultur unter Druck: Text, der sich offline aus schriftlichen und grafischen/fotographischen Elementen sowie online aus auditiven, grafischen, fotographischen und BewegtbildElementen zusammensetzt Medien sind tragende Säulen des Kulturellen; jugendkulturelles Medienhandeln als Spiegel breiter angelegter Gesellschafts- und Bewusstseinstrends. Ästhetisierung „Let me entertain you“ – Entertainment immer und überall („Always on“) und Leben in einer Welt der schönen Dinge „Broadcast Yourself“: Web 2.0 als Bühne Web 2.0 schafft eine Kommunikationskultur der Selbstthematisierung: die „Generation Facebook“ bewegt sich zwischen Bekenntniskultur und Selbstvermarktung Jugendliche sind zugleich RegisseurInnen und DarstellerInnen ihrer Lebensgeschichte (LifestylereporterInnen in eigener Sache) Wenn alle senden, hört niemand mehr zu. (G. Lovink) Facebook & Co.: wo Marktgängigkeit trainiert wird In der Erfolgsgesellschaft wird Leistung ohne entsprechende Inszenierung kaum mehr belohnt (performative Ökonomie) Es geht um sich selbst Vermarkten: am Bildungsmarkt, am Arbeitsmarkt und privat marktförmige Selbstbeschreibungen beruhen auf der Verwendung kultureller Skripte: Grundlage für die Gestaltung der „wünschenswerten“ Persönlichkeit – Facebook und Co. als Probebühne, „Selfies“ als Online-Trend Jede/r und alles werden ständig evaluiert – kaum eine/r hat ein Problem damit: LikeButton und Kommentarfunktion = nach Marktkriterien definierte Evaluationstools „Hey Mann, so famous ist nicht jeder in unserem Alter. Hey, ich bin ur famous: Ich hab 100 Freunde in meinem Handy drinnen.“ (Gespräch zwischen zwei Lehrlingen in der U-Bahn) Die Online-Welt des jungen Mainstreams 85% der 14- bis 29-jährigen Österreicher_innen nutzen Facebook – allerdings nicht mehr ganz so begeistert wie noch vor kurzem; 69% nutzen WhatsApp (63% beides) „Wenn du in der U-Bahn sitzt und zehn Minuten fahren musst, dann holst du halt das Handy heraus und schaust, was es Neues auf Facebook gibt. Und wenn dir langweilig ist, schaust auf WhatsApp, anstatt einfach die Zeit zu genießen, die du frei hast.“ Rund 60% der 14- bis 29-jährigen Mädchen/jungen Frauen und rund 40% der 14- bis 29-jährigen Jungs/jungen Männer stellen „Selfies“ online. Ask.fm killt Langeweile: „Da posten die Leute dann uach immer auf Facebook: Fragt´s mich, mir ist langweilig!“ Defriender – die neue digitale Avantgarde? Typus: jugendkulturorientiert, weltoffen, höher gebildet und im Freizeitstil betont „outgoing“; Werte: Individualität & autonomie 16 Online-Social-Media-Praxen im Update: digitales Ausmisten – „digital suicide“, um für einen exklusiven Kreis von Leuten kurz darauf wiederaufzuerstehen Am meisten nervt derzeit: Facebook Vorbilder aus der Populärkulur: Sheldon Cooper, Harry Potter, Travel Shack Vienna Daft Punk (Thomas Bangalter) : „Mit dem Computer arbeitest du (…) komplett im Virtuellen. Es ist alles sehr einfach, aber auch sehr traurig. Es ist wie die ‚Truman Show’. Du erzeugst eine künstliche Welt, speicherst alles ab und klappst den Computer zu. Wenn du ihn wieder aufklappst, ist die Welt noch exakt dieselbe. Aber so ist das Leben nicht“ (Musikexpress 6/2013, S. 33). 3. Sébastien François - Fifty Shades of Potter. - When Juvenile Literature Meets Fan Cultures Introduction To begin, allow me to introduce Steve Petrick. Who? Steve Petrick, the young man whose pseudonym on YouTube is “HarryPotteHimself” (sic) and who posted there the following video in 2010: http://www.youtube.com/watch?v=I0VlIjXj9NA&list=UU9S-TFQRjcMfFVy6DMmQkbA Nobody would deny that Steve Petrick is a Harry Potter fan. However, I’m not sure that if I had asked the question “are there people in this room who consider themselves Harry Potter fan (even if it was a few years ago)?”, I would have got the same results before and after the video… This small example seems to call to the fundamental question (“what is a fan?”), doesn’t it? Yet, S. Petrick is not perfectly representative of the fans academics usually study, and, above all, isolated cases can rarely lead to good research… The first thing one must keep in mind is that the objective of “fan scholars” is never to decide who a fan is and who is not: questions of self-declaration, of vocabulary (think of people who say “I’m not a fan”, but an “amateur”, a “lover” or sometimes a “connoisseur”), and even of distinction (somewhere, there’s always someone who is more fan then you are…) are in fact unavoidable. The second problem with that video is the reason why it has been made: thanks to his YouTube’s appearance indeed, Steve Petrick has been selected for an American realTV show about fans called FanAddicts!... and that’s very telling! Being a fan should be a kind of pathology –an addiction–, and being a fan could be reduced to its most spectacular and individual dimensions: collecting (sometimes extensively) merchandising and tie-ins from the Harry Potter franchise, being able to dress up as Harry Potter or to wear everyday Harry Potter clothes, or knowing everything about the young wizard and his adventures… Moreover, according to the video, being a fan seems a very lonely activity: where are the other fans, for instance those who waited with him before the release of the next book or the next movie episode? And what has Steve Petrick really created himself, and not bought? In fact, for social researchers, it is more important to know and to understand what fans are doing and how they act collectively, than what they “are”. In particular, the collective dimension of fandoms –the “kingdom of fans”, i.e. all the things a novel, a movie, a TV show or a music band can inspire among their audiences, as well as the community they constitute– is often a better starting point (and it will be several times during this lecture too!). Precisely as a kind of introduction to researches in human and social sciences about fans and their fandoms (but also to my own research), I would like to show how the scope, the visibility and even the image of fan practices have recently changed, especially under the influence of 17 “juvenile literature”1, starting with the Harry Potter franchise. In particular, I hope you will find here elements to understand why Harry Potter has played a role in the advent of “megafandoms”: Prof. Anne Jamison has coined the word to depict the fact that some media content are now able to raise fandoms with billions of participants from all over the world and doing a wide range of activities (Jamison, 2013), and it is true that the many “potterheads” – i.e. the fans of the Harry Potter franchise– have not only founded websites to discuss J.K. Rowling’s fictional world, but have also gathered during giant conventions, produced drawings, stories, songs or videos to celebrate the young sorcerer, and even created Quidditch teams to play the wizards’ game… Even though fans and Rowling seem to coexist quite peacefully, with mutual understanding, what is epitomized, among other things, by the launch of Pottermore in 2011–an official website which offers additional fictional contents and an online role playing game–2, the relationship between fans and original authors and/or creative industries is generally much more complicated: this lecture will also give some insights to understand why. Above all, I would like to demonstrate here that studying fandoms has become crucial to understand the original contents themselves, and not only fan creations: fan practices are less marginal than ever before, and cultural industries tend to integrate them more and more in their strategies; to sum up, I will argue that fan research is not only a matter of cultural reception, but a question of cultural production. My lecture starts with an introduction to the scientific production about fans and fandoms and its origins to insist on the reasons why fan phenomena seem to have radically changed during the last fifteen or twenty years. Then, fan fictions, i.e. the narratives written by fans for other fans, are used as a case study to discover the diversity of fans’ profiles and their interactions, and to demonstrate how these texts follow norms and rules that are socially elaborated, what leads to reconsider more legitimate cultural phenomena, like authority or the circulation of fictional worlds, especially regarding literature for instance. Outline I. II. Mainstreaming fan cultures A. Forever Fan(-atics)? B. Fan Studies: In Praise of the Active Viewer C. What is “Participatory Culture”? The “World” of Fan Fictions A. DIY Storytelling B. Creativity under Constraints I. Mainstreaming fan cultures A. Forever Fan(-atics)? 1 I’m using the expression “juvenile literature” to consider both children and young adult (YA) literatures: not only does the Harry Potter heptalogy operate a kind of transition from one to the other, but subsequent works such as Twilight or Hunger Games, which are directly in the field of YA literature, have also generated strong fandoms recently. 2 For those interested, this beautiful picture can be easily contested regarding the Harry Potter lexicon case which led the prosecution of the fan Steve Vander Ark (http://cyberlaw.stanford.edu/blog/2008/04/rowling-v-rdrbooks-trial-concludes-under-media-spotlight) or the issues faced by the young Heather Lawver when she launched The Daily Prophet website and had to endure Warner Bros.’s threats during the 2000s (see Jenkins, 2006: 175-216). 18 • Etymology and history I could speak for hours about the marvelous things fans are inventing and doing today, but there are some facts I wouldn’t be able to change, in particular the history and the etymology of the word “fan” (at least in English or in French for the languages I know the best). Both are important because they explain why so many stereotypes are still associated with fans, either in the media or in general population… and why we’ve all started to smile or to laugh while watching at Steve Petrick’s video! In fact, “fan” is an abbreviation for the adjective or the noun “fanatic” which referred originally to the most committed devotees of a religion or a cause… and quickly to the most excessive devotees among them –you know that we’re still using “fanatic” in this meaning in the case of terrorism… Even if the original word has a Latin etymology, it became abbreviated in English, probably at the end of the nineteenth century, in the United States, in relation with sports and perhaps influenced by the expression “the fancy”, a collective term for followers of a certain hobby or sport (especially boxing), which dates back to the eighteenth century: the supporters of some team or player, especially in baseball, due to the way they expressed their enthusiasm collectively, began to be described as “fans” in newspapers at this time. Quickly, the word’s scope was extended to cinema at the beginning of the twentieth century with the development of the star-system: stars –the industrial counterpart of celebrities (who have a much older history)– started to be a key-component of commercial strategies, first of the silent movies companies, and then of Hollywood studios. The name of some actors and actresses got famous and was used to attract viewers in theaters, in particular with the publicization of their personal (and frequently invented) lives: fan magazines can be found as early as the 1910s, stars started to receive “fan mails”, and the movie companies and studies created the first “fan clubs” during the same period, even though the expressions were officially used only from the 1920s and the 1930s respectively. The success of fandom in the movie industry helped the diffusion of the word in other cultural spheres which had already aroused fan phenomena, such as music or popular genres in literature (detective stories, science-fiction, etc.). In particular, science-fiction had a leading role in the 1930s to establish what would be fan practices during the rest of the century: this genre could be found on multiple media (literature, radio, cinema and later on television) and fans became sufficiently numerous to organize themselves, sometimes at a national level: again in the 1930s, their own fan-clubs got more visibility and they launched their first publications or “fanzines”(for “fan magazines”), and their first conventions, i.e. events where fans of a specific genre or a specific content gather and exchange ideas or creations. Whether it regards sports, cinema, literature or music, it’s important to note therefore that the word “fan” has always been linked to the massification of culture, and more precisely to moments when some cultural spheres got a more popular audience. Several times, it has been a way to distinguish the way people use and sometimes appropriate culture: since the word has a pejorative connotation from the very beginning, it has been a way to stigmatize some collective behaviors, especially when they belonged to popular social groups. • Fan cultures & religion It’s true that what fans do is sometimes frightening, and it evidently reminds the religious origin of the term. Sometimes, fans act as pious devotees, gathering and doing the same thing at the same time and at the same place (i.e. having rituals), or invent cults (“cult” is a very common adjective within fans: “cult movies”, “that quote is so cult”, etc.), revering the same idol, be it a rock star or Mickey Mouse… By the way, do you know that the fans of the famous Canadian singer Justin Bieber call themselves the “Beliebers”? But these practices are really new kinds of religions, aren’t they? 19 This question hides a debate between the specialists of fans and fandoms. For some of them, who believe in the advent of a postmodern era, the religious metaphor can be appropriately used while studying fans, because what they practice real lay religions: people have even substituted to old religions these new cults… For others nevertheless, and I’m one of them, it’s important to be more cautious: in some cases, the comparison with religion is perfectly justified when some kind of devotion can be observed or when people have reproduced, towards literary or pop stars, rituals what they had already practiced in religious contexts: for instance, from the XIXth to XXth century, some people have tried to collect the belongings of the British author Jane Austen, even her hair, treating them as “relics”! Likewise, after the death of the Brontë sisters, hundreds of people came to their house to make a kind of pilgrimage… The problem is that the motivations of the fans that collect “memorabilia” from their idols should be studied carefully, since the desire to celebrate a defunct creator –which could be described as a new “hagiology”– is frequently mixed with a financial appeal. There are very interesting papers about the pilgrimages of fans towards the former places of living of their idol, such as Graceland for Elvis Presley’s fans or more recently Michael Jackson’s Neverland. However, if the word “pilgrimage” may be useful to describe the mourning process some fans experiment or a kind of accomplishment in the fan’s career, it cannot be directly applied to the recent “touristic turn” of fandom, with the creation of Jane Austen tours in England or New Zealand’s touristic boom due to The Lord of Rings movies’ success for example. Rather than giving a definite answer in this debate, it reveals how difficult it is for fans’ behavior not be interpreted through a religious frame: fans have been for a long time despised because they have appeared as excessive devotees, with incomprehensible practices and, in addition, with illusory and sacrilegious objects of cult; their devotion does not match with the rationalization of Western societies… • The psychology of fans In the same way, many clichés about fans come from the emotional dimension of their commitment: from the very beginning, it has been judged as excessive and irrational, all the more so it is based on popular cultural culture, i.e. cultural goods which are considered as futile or secondary and which are often commercial. Their attitude was also judged very childish, especially since they seem unable to distinguish reality and fiction. As a consequence, being a fan has quickly meant a pathologic love for any cultural product: a love with no distance, no criticism and which may lead to dangerous behaviors. Besides, some fans have unfortunately contributed to this image: you’ve probably heard of those fan who have harassed some pop stars, or worse, kidnapped or killed them; remember for instance Mark David Chapman, a John Lennon’s fan, who killed the Beatle on December 1980, 8th, only a few hours after having asked him an autograph. Media fundamentally “enjoy” this type of event, which is each time an opportunity to reactivate the clichés around fandoms and to insist on their potential dangerousness. However, studies show that such pathologic fans not only have psychological problems or practices which are not linked to their object of passion (drug addiction, alcoholism, etc.), but that they also don’t share the same profile and activities as the other “mainstream” fans… In particular, they often act very lonely, not benefitting from the social bonds they can create within fan communities… As the following of this lecture shows, social judgments about fandoms have changed since the end of the 1990s, but it remains hard to depart from all the connotations linked to the word “fan”: due to this kind of pathological discourse in particular, fans have been (and are still often) considered as people apart from the rest of the audiences. As a consequence, the word “fan” 20 has long been a burden for the fans themselves, and that is why it has also taken years before they become a proper object of study in the academia. B. Fan Studies: In Praise of the Active Viewer3 The academic interest about fans and their fandoms is very recent indeed. It can be considered as a kind of reaction to the various stereotypes traditionally associated with fans –those I have just described–, and especially with the most popular fans: it has lead to several books and articles which have constituted the first wave of the “fan studies” tradition. • From Cultural to Fan Studies Not all research about fans can be assigned to fan studies 4, but that’s under this name that the majority of scientific works has been produced and kept, until today, a dominant position: actually, fan studies do not represent a coherent school of research, nor a homogeneous group of researchers following the same theoretical background; conversely, they have gathered scholars from a wide range of disciplines, since they are themselves a ramification of another interdisciplinary tradition, namely “cultural studies”. Bear in mind that cultural studies are originally the result of the association, during the 1960s and the 1970s, at the University of Birmingham, of several British social scientists, who had first contributed to the study of the English working class, especially from a cultural point of view. One of their initial ideas was to prove the workers’ culture was not entirely guided by dominant and commercial media: Richard Hoggart, for instance, through an ethnographic immersion within popular families, demonstrated that workers do not take for granted news they read in newspapers or receive on TV. They’re not passive readers, listeners nor viewers and can construct their own (sub)culture, even if they’re in a dominated position. On the one hand, his followers deepened this approach by giving a particular focus into various “subaltern groups”, i.e. social groups which had been largely neglected by social sciences until then: the cultures of “minorities” such as black people, women, or homosexuals have been studied to show their conflicting relationship with “hegemonic culture” and how they create their spaces of resistance. On the other hand, studies about the reception process also started a renewal in the 1980s however: whereas the dominant approach considered receivers as passive people who directly absorb the messages from media, cultural studies researchers wanted look at receivers during actual moments of reception, without preconceptions about their understanding and appropriation of media. With a focus on TV viewers 5, the diversity of receptions (according to social class, ethnic origin, or gender) has been clearly demonstrated by these works, as well as the persistence of an active reception among all receivers, even in front of the most popular TV shows (although its importance may be very different according the same social demographics). • Fan Productivities It is precisely an heir and a purveyor of cultural studies who initiated the shift to fan studies during the 1980s. John Fiske, a British scholar who was close to the Birmingham school, who taught in various places around the world, but who finished his career in the United States, wanted to apply and to extend the program of cultural studies regarding reception: his goal was to study the viewers that were generally considered as the most passive and naïve in front of 3 For more details about the research field about fans and fandoms, see Duffet, 2013. Other scholars have evidently studied “fans” but without using the word; see for instance, among many others, Robert Darnton’s work on Jean-Jacques Rousseau’s readers (1992). 5 For a wonderful study on readers however, see Radway, 1991 [1986]. 21 4 media, namely –I’m sure you’ve guessed– fans, and to prove that they were in fact the most active viewers or receivers. As an illustration, one of his main articles (Fiske, 1992) is an attempt to show that the process of reception can lead to three different kinds of productivities from the receivers, and fans are precisely those who are able to cumulate these three forms of productivity at the same time. First, as any other receivers, fans create meaning from the media they are consuming, and especially from the semiotic resources they provide: that’s what Fiske calls therefore “semiotic productivity”, and it is already a moment of content appropriation, since a same show can be understood very differently by individuals with diverse social identities or experiences (as shown by the previous works on reception made by cultural studies scholars). Secondly, a lot of people, but fans in particular, talk about what they have received with other people. It could be through informal conversations or today, through online discussions, but they are all producing discourses and comments about media: consequently, through this “enunciative productivity”, the meaning of original content can be once again altered and receivers demonstrate that they are really active and sometimes very critical in front of media. Finally, with “textual productivity”, Fiske underlines the fact that fans create new contents based on the first one, be it new texts, pictures, videos, etc. (as cultural studies have broad conception of what a “text” is): they extend the original media sometimes very differently and in a very personal way, what is the ultimate form of appropriation. • A continuum of receptions? Fiske’s work has therefore set the bases for subsequent studies on fans, by suggesting that fans are always active during the reception process, and that is why researchers should focus on their practical activities. It was an important rupture with dominant conceptions about fans and their fandoms, all the more since it suggested that there are no impassable boundaries between fans and the rest of the audience: everyone can engage in the three types of productivity at a moment in his/her life, because it is just the extension of the reception process. This idea is not accepted by all fan scholars, but it has led to various works showing that audiences are a continuum, and not a juxtaposition of diverse receivers, especially with a more empiric proofs than Fiske. Indeed, the essential limitation to Fiske’s thesis is his theoretical approach. He has written a lot about fandom and television, but generally without verifying his assumptions by asking actual fans according to scientific methods. Even though he is one of the founders of fan studies, with very useful and referenced reflections, the development of this research traditional would not have been so important without the contribution of scholars who wanted to know fans directly. C. What is “Participatory Culture” (Jenkins, 1992)? Whoever wants to begin research on fans must know the name of Henry Jenkins: not surprisingly, he is a former student of John Fiske, but with his major book, Textual Poachers, published in 1992, he has actively defined fan studies. Although he is also well known today for his promotion of the “transmedia” concept, he is still a major face of fan studies and his new reflections about media are precisely based on his understanding of fans’ behaviors, what he calls “participatory culture”. • Inside Fan Communities Jenkins is representative of the ethnographic turn, typical of the early fan studies at the beginning of the 1990s: unlike Fiske, he meets many fans, interviews a lot of them and makes numerous observations inside fan communities; for instance, he goes to fan conventions and visits groups of fans when they gather by one of their members. Thus, he is one the first scholars to provide a living illustration of the textual productivity suggested by Fiske, through a study of concrete fan productions, such as fanzines, fanfictions (see below), vidding (when fans make 22 short films from footages of their favorite shows, recorded via VCR) or filking (when fans create songs inspired by a media content). His immersion has been made possible because he is himself a fan (of Star Trek), what could raise an important issue of objectivity. However, Jenkins addresses directly this issue by explicating his position –he is an “aca-fan”– and weighting both its advantages and limitations. For example, he has had access to some fans and communities which are normally close to newcomers, but it implies to uncover all the stages it requires and to explain the vocabulary and codes these people use with each others. As a result, he has brought very detailed descriptions of fan practices and communities and influenced a lot of researchers within academia. In particular, he is also the first to focus on fandoms as the support of sociability and demonstrates from then on that fans acts barely alone: that was another great difference with previous ideas on fans, since they were frequently considered as asocial individuals. • Anticipating “Convergence Culture” (Jenkins, 2006) A decisive contribution of Textual Poachers finally regards what Jenkins says about the relationship between fans and creative industries –those which precisely provide the media contents fan are fond of. Thanks to the concept of “poaching”, this relationship ceases to be uniquely hierarchical and one-way: under certain conditions indeed, fans can contest not only the meaning proposed by media, but also the cultural industries’ strategies; for instance, fans can launch mobilizations to prevent the end of their favorite TV show; they're not always successful, but they’ve sometimes convinced producers or broadcasters, as it was the case with the final season of Star Trek at the beginning of the 1970s. Their resistance continues anyway with their diverse productions which can go very far from the original content: fanfictions or fan arts –i.e. the drawings made by fans– can challenge the story or the values of the original show so much, that creative industries have sometimes been forced to intervene, even through legal actions. Thus, fans are participating to culture thanks to their different productivities, but they are also interacting with the other cultural producers, those which are generally regarded as more legitimate: that’s the double meaning the researcher attributes to the adjective “participatory” when he uses the expression “participatory culture”. In addition, Jenkins has been rather prophetic with such an analysis. In Textual poachers, he described how audiences can get closer to creative industries, thanks to their active and sometimes critical reception. But the reverse motion is possible too: facing the empowerment of fans during the 1990s and the 2000s, especially thanks to the Internet, creative industries have tried to anticipate further fan practices and to integrate them in their commercial strategies from the very beginning. In a nutshell, interactions between fans and creative industries strengthen themselves. Jenkins describes this double evolution as the “convergence culture”, which is not a simple technological phenomenon in fact. Clearly, fans have been for a long time an illegitimate object of study in social sciences due to their bad reputation. Things have changed slowly, but unfortunately, it’s not solely the result of the fan studies’ efforts: the spread of the Internet which have made fandoms more visible and more massive, is rather the key-factor to understand why the image of fans is evolving, even in media and general population. Moreover, the first generation of fan studies has first had to struggle against all the stereotypes linked to fan practices, and that’s why they insisted more on the positive aspects of fandoms: creativity, capacity of mobilization and resistance, etc. Jonathan Gray, Cornell Sandvoss and Harrington (2007) call that moment the “fandom is beautiful” period to mean that it has missed some important dimensions of fan phenomena, such as the limitations of their creative liberty or the conflicts between fans themselves. My proposition is therefore to illustrate this other side of fandoms and their recent evolution, through an emblematic example of fan practices, namely fan fictions… 23 II. The “World” of Fan Fictions “Fan fictions” are a strange world indeed: a textual universe where the famous detective Sherlock Holmes can fall in love with his dear Watson, or where the brothers Winchester from the TV show Supernatural can have babies… hum, hum… together! They can be also a very encrypted world with its own terminology: do you know for example what “hurt/comfort”, “slash”, “OOC”, “HP/DM”, or “beta-reader” means? Nevertheless, I won’t explore the “world” of fan fictions, using the word “world” as a broad and vague metaphor: after a description of the dominant analysis of fanfictions, the ones which come directly from fan studies, I’ll show how “worlds” are a theoretical tool which I borrow from Howard Becker’s concept of “art worlds”, to explain how these texts are the results of strong social norms, and in order to identify the origin of these norms, both in the interactions between fans themselves and between fans and creative industries. A. DIY Storytelling 1) Some Historical Landmarks Although most of fanfictions are nowadays published online, the history of fan fictions has started much before the Internet. Fans themselves have started speaking of “fan fiction” at the end of the 1960s, in the United-States (which is not a surprise after what I’ve said before about the origin of the word “fan”): at this moment, science-fiction was attracting a more broader audience thanks to the creation of new shows, on television this time, starting with Star Trek. Consequently, more fans –even if it has led to tensions between the traditional science-fiction fans (with literary references) and the new ones– began to discover and to take part into fan activities: in particular, it opened a new era for fandoms with the multiplication of fanzines, i.e. the magazines created by fans… But simultaneously the content of these fanzines evolved too. Whereas first fanzines dedicated most of their pages to critical analysis of original contents (“could this spaceship actually work?”, “is such plot coherent with the previous one?”, etc.) and sometimes to the publication of original science-fiction stories written by fans, fictions inspired by the original contents were denigrated and mostly invisible. Things changed precisely at the end of the 1960s and in the 1970s thanks to a new generation of fans among which women succeeded to have a more active and leading part 6: these fans made room in fanzines for fictional pieces directly derived from the original universes – i.e. “fan fictions”– or even created their own fanzines only dedicated to this type of texts, in particular during the 1970s. That can be regarded as the first birth of modern fan fictions. Compared to other fan practices, writing fan fictions had however little legitimacy since it was based first and foremost on popular media products (i.e. TV shows) and since it was neither commentary, nor “original” fictional content. That’s why fan fictions have remained for several years a niche activity, but a stronger and stronger one: between the 1970 and the 1980s, fan fiction writers found new sources of inspiration, outside science fiction (such as police dramas like Starsky and Hutch, Miami Vice), outside the United States (with British TV shows, such as The Persuaders! or Doctor Who), and outside TV (with movies success like Star Wars). They also invented specific genres and specific words to design their texts which are still in use today: “slash” indicates, for example, the fan fictions in which two male protagonists have a love affair, even if they were definitely heterosexual in the original story; the word was first used to identify some Star Trek fan fictions starring Kirk and Spock (and signaled as K/S, what you 6 Please do not believe that there were no women among fans before: gender stereotypes have for a long time prevented them from belonging to the most influential fan groups (see, for instance, the gendered divide among the Sherlock Holmes fan-clubs which has lasted until the 1990s), and from promoting certain types of fan practices (such as fan fiction…). 24 must pronounce “Kirk slash Spock”), but it isn’t difficult at all to find HP/DM, i.e. fan fictions in which Harry Potter and Draco Malfoy fall in love (on often more…), within the Harry Potter fandom today! Besides, fans are generally early-adopters of innovative media contents –I’ve just talked about science-fiction TV shows in the 1960s–, but of new technologies too. Thus, nobody should be surprised to discover that American fan fiction writers quickly took advantage of the Internet’s ancestors in the 1990s (especially Usenet), because it made easier and less expensive text sharing. Nevertheless, it kept the phenomenon very typical of English-speaking countries and the general audience had still no idea of what was written and published by other fans. The second birth of modern fan fictions (and more generally of fan activities) came in fact from the generalization of the Internet in Western societies at the end of the decade: not only did it make texts even more accessible and visible, but a larger part of the population became aware of this activity too, and a larger proportion tried to participate. Fan fictions began to appear in specific sections of specialized fan websites, next to general information about series or movies, or next to fan discussions for instance; first fan fiction archives –i.e. websites specialized in the storage of fan fictions– were also created during this period, such as fanfiction.net in 1998 which remains until today the biggest and the most diverse fan fiction repository. Above all, fan fictions benefitted in parallel from the unexpected success of the literary saga Harry Potter, whose successive episodes were released with months and sometimes years between each others: the waiting time was obviously far too long for a lot of readers and that’s why Rowling’s works have become the major source of fan creativity ever; as an illustration, on fanfiction.net, there were in October, 2014 nearly 700,000 “potterfictions” and you must remember that it is only one site of publications among others (general or specialized websites, blogs, etc.). Harry Potter also helped younger fans to enter into this writing practice and set the ground for other successes from juvenile literature to become the source of new fan fictions: as a consequence, Percy Jackson by Rick Riordan, Twilight by Stephenie Meyer, or The Hunger Games by Suzanne Collins more recently have generated a lot of fan texts 7. Besides, Harry Potter and juvenile literature more broadly have been wonderful catalysts for the phenomenon because they participate to the globalization of fan activities: English is not the unique language of fan fictions anymore, and it has become easier to find fan fiction written in Spanish, German or French since the 2000s, as well as translations from texts initially written in English. But the migratory trend hasn’t stopped: new websites have recently become powerful fan fiction archives. Kindle Worlds is a good example: in 2013, Amazon, the leader of ecommerce in the Western world, has created a publisher service on its US website, through which everyone can sell his or her fan fictions, provided Amazon has signed an agreement with the original author in order to share money between the fanfic writer, Amazon and the original creator. But selfpublishing websites like Wattpad or Movellas are now in the game too: they’re more userfriendly than the previous archives, and defend the idea that people have a lot of imaginary worlds to share. However, they attract not all kind of fan fictions and tend to specialize in RPF (Real Person Fanfiction), such as stories involving the members of famous boy bands, like One Direction or 5 Seconds of Summer. Finally, with the release and, above all, the editorial success of the Fifty Shades of Grey novels, which are a former fan fiction written by E.L. James (under the pseudonym “Snowqueens Icedragon”), the mainstreamization of this fan practice seems difficult to stop… 2) At the Roots of Storytelling 7 In the same way, I could have mentioned The Mortal Instruments by Cassandra Clare, an author who is a former fan fiction writer! 25 As said before, fans have become a scientific object of study since the turn of 1990s, especially thanks to the seminal work of Henry Jenkins, Textual Poachers (1992). But what is particularly striking is that entire chapters of his book were already dedicated to fan fictions, although it isn’t the activity people intuitively associate with fans… Thus, fan fictions have started to intrigue researchers long before their online propagation: the first scientific articles about it were published in the 1980s, remaining mostly confidential 8, but as Jenkins’ work, they were already asking why people spent time and energy writing and expanding existing stories. Whereas fan fictions, like any other fan practice, can be considered as pointless, childish and uncreative –in short, at odds with the ideals of rationality and originality of modernity –, scholars have shown that they represent a kind of return to traditional (and perhaps “natural”) forms of storytelling. First, referring to classical works in anthropology, several researchers have tried to link this writing activity to the social function of storytelling in traditional societies, and more broadly to the social circulation of stories before the invention of intellectual property9: in numerous tribes for instance, members regularly gather around one storyteller (whose role in the tribe is sometimes totally dedicated to this task) to hear and receive stories which are common goods; the same stories are therefore repeated over and over, very often with small or important (re)interpretations from the storyteller, and then by the listeners themselves. These specific moments and stories are therefore used as a means to (re)assure the community and to convey information, values or knowledge that all the members should share, which implies a real appropriation of the stories and frequently their permanent transformation: ancient mythologies are a good example of that process. In non tribal societies, until the advent of legislations about intellectual property, the circulation of stories was, of course, less ritualized, but very effective yet. Legends, folktales and fairytales have been transmitted over generations thanks to their reframing by each of their storytellers: for instance, Sleeping Beauty or Little Red Riding Hood were not stabilized stories until Charles Perrault’s or the brother Grimm’s versions, respectively at the end of the XVII th and in the XVIIIth century. However, they belonged to common knowledge in large portions of European countries and they easily conveyed moral lessons to numerous children and adults. Hence, fan fictions could be the continuation of this process, since everyone can appropriate stories: the problem is that most of the media contents which inspire now fan fiction writers are not in the public domain, what raises complex legal debates… and invites scholars to call the fan fiction writers “poachers” very appropriately! In any case, many researches on fan fictions tend to prove that the phenomenon has a very long history, which has not begun in the 1960-1970s with the fanzine era. Even if the theoretical frameworks can very different, their main argument remains the same: when people receive a story, they tend to “fill in the gaps” to understand this very story, that is to complete the ellipsis left by the narrator, to imagine what the characters or places look like even when they aren’t fully depicted, or to assume what happened before or will happen next. Most of the time, these additions, which can be very personal and not entirely dictated by the original story, remain private and unelaborated, but when they become explicit and public, for instance as the base of a new fiction, people are already inventing some kind of fan fiction… “Fan fictions”, in this way, may seem as old as literature itself: from then on, researchers have tried to identify their ancestors everywhere in literary history, each time a sequel or a prequel had been produced for example (see the introduction of Pugh, 2005 to find illustrations of this 8 More details about the first studies about fan fictions can be found in the recent Fan Fiction Studies Reader, edited by Christina Busse & Karen Hellekson (2014). 9 Legislations on copyright, on which are based actual laws on intellectual property, began to be established during the XVIIth and XVIIIth centuries in Western societies, for example in France or in Great Britain. 26 academic tendency). However, from a literary perspective, this type of analysis has serious consequences on the relationships between fictional works: not only do texts frequently influence each others, with tropes such as citation, reference, pastiche or plagiarism –what can be sum up as “intertextuality”–, but some are also supporting the same fictional universes, even if they are written or composed very differently. Thus, the recent book of the French Canadian scholar Richard Saint-Gelais, which is unfortunately not translated in English nor in German yet and entitled Fictions transfuges (2011), is one of the most ambitious and rigorous attempt to demonstrate this theoretical refinement10: based on the concept of “transfictionality” (“transfictionnalité”), i.e. the fact that the same fictional universe can circulate among various works and media, the first chapters systematically analyzes the ways two (or more) works can combine the same fiction, with examples borrowed from canonical literature from the XVIIth to the XXth century. As it could be expected, later in the book, another chapter is precisely devoted to fan fictions and shows that the same operations are still active within fan narratives: fan fiction are transfictional objects indeed and they can be included in longer genealogies and traditions, especially into the diverse histories of the forms of transfictionality. Some researchers think, at last, that the origin of fan fictions should be sought even more deeply, saying that they express a biological need. This audacious thesis comes from a set of works inspired by cognitive sciences which flourish under the name of “Neuro-Literary Criticism”: scholars, such as Jonathan Gotschall (see his 2012 book The Storytelling Animal), consider that the ability to tell, to understand and to retell stories is an evolutionary advantage of human species. Consequently, each time the brain receives a story, it is already constructing his “own” by anticipating and filling its gaps for adaptive reasons: that’s why humans learn in fictions scenarios of action, discover feelings and emotions vicariously. It is therefore essential that stories be appropriated and indefinitely retold. An integrated theory explaining fan fictions from the cognitive roots of storytelling to the modern practices is however far from being ready. Neurosciences, psychology, theories of reading/creative writing are still segmented, and it could be premature and somehow dangerous to apply theories with so strong assumptions such as “Neuro-Literary Criticism” with other approaches. Nevertheless, this brief presentation shows how fan fictions can lead to a reevaluation of the role of fictions, even in our modern societies, and why they have inspired so many researchers. 3) Playing with genres and genders The second dominant set of scientific works on fan fictions regards one of their most spectacular dimension: the large amount of texts that contain explicit sexual content, in particular within the fan fiction subgenre called slash (see above for definition). It’s true that any newcomer in the world of fan fictions may face big surprises while searching his or her first readings: among potterfictions for instance, on fanfiction.net or elsewhere, it is quite easy to discover stories in which Harry has an affair with one of his schoolmates, like Hermione or (more often) Draco, with one of his teachers, like Severus Snape or Albus Dumbledore, or even stories in which the Weasley twins –the brothers of Harry’s best friend Ron– love each other, what can be very disturbing and shocking11! With this type of texts, be they pornographic, or sometimes including pedophilia or incest, fan fictions seem to fall in the dark side of the Internet where everything has an pornographic counterpart. Moreover, these fan fictions, whose number is significant but does not represent the majority of the publications, do not help the writing practice to be taken seriously by media and people unfamiliar with it: fan fictions seem the 10 11 For other historical and theoretical approaches of fictional worlds, see Saler, 2012 or Wolf, 2013. More details about this subject can be found in Tosenberger, 2008. 27 home of perverse writers who haven’t find anywhere else to publish their ideas and fantasies, don’t they? Actually, this trend within fan fictions is absolutely not linked to the Internet era and deserves a much complex analysis. Every foundational works on fan fictions was aware of that issue because pornography had already been a component of the phenomenon during the fanzine era: be it the first articles of the 1980s, generally with a strong feminist approach (see the first chapters in Busse & Hellekson, 2014), or the foundational works of fan studies at the beginning of the 1990s (Jenkins, 1992; Bacon-Smith, 1992), they have all enlightened this aspect of fan fictions by pointing out that, in any case, their authors are mostly women. As a consequence, the “eroticization” of any original story (Jenkins, 1992)12 is not the doing of a specific kind of fans, potentially with mental issues, but the result of the feminine dominance among fan fiction writers. As said before, fan fictions have been a means for women to enter the realm of fans which had always been male-dominated and in particular fanzines: female fans have therefore introduced original approaches and forms of creativity, far from the dominant ones and sometimes in opposition to the latter. The focus on characters and on personal relationships is one of them, and slash as well as stories with explicit content must be understood as a result of this central thematic: fan fictions enable their authors to explore issues regarding sociability and to experiment indirectly the judgment of others, thanks to the use of a shared fictional universe. Most importantly, research has been able to question the subversive dimension of these particular fan fictions. For some scholars indeed, subgenres like slash or “Mpreg” (i.e. fanfictions in which men can have children), are a real challenge to the dominant hetero-normative values in our societies: they could offer fictional worlds where gendered issues are more explicit, or even “post-gendered” worlds, i.e. worlds in which roles are not attributed according the biological sex of individuals. For others, what is at stake in these subgenres reflects more conservative conceptions of human relationships: beyond first impression, the stages leading to a couple’s formation or sexual intercourse look very much like romance novels, and do not debunk the clichés about love and sexuality. It’s very difficult therefore to know the definitive meaning of a fan fiction –if we assume there’s one– and albeit so much has been written on theses aspects of the phenomenon, there’s still a need for more research. B. Creativity under Constraints In the previous subsection, I’ve presented a map to guide you through the content of fan fictions, which have their own genres and their own narrative dynamics: the major researches on the subject have helped to pave the way. However, these works show the same limitations as many studies on fan practices (what is a direct result of the first generation of fan studies): they consider fan productions as final products, whereas they are always works-in-progress. In particular, they apply to fan fictions a strict structuralist model, studying texts for themselves, whereas, even in literary studies, the sociology of texts has been taken into account. As a consequence, they cannot expand the analysis to more than one or a few texts (otherwise, the risk of over interpretation gets very high), and underestimate the role of the contexts of creation: in fact, fan productions are always the result of contexts that implies some limitations13. From my point of view, using the concept of “art worlds” is precisely a possible key to modify our perspective, and to understand why so many stories published today remain fragmented, are not well written or even not completed, while still remaining fan fictions… It’s important to note that, in Jenkins’ work, “eroticization” is only one of the ten subgenres he identifies within fan fictions. 13 I’m not the only to support that position : see also Stein & Buss, 2009 or Thomas, 2011. 28 12 1) Howard Becker’s “Art Worlds” In 1982, the American sociologist Howard Becker published a masterpiece with his book Art Worlds: its influence on the sociology of arts, the sociology of culture and other disciplines is still perceptible indeed, and its 25th anniversary has been celebrated with a new edition I obviously recommend. But you may wonder why his contribution has been so decisive: it’s because his reflection disrupted traditional perspectives about art’s production. His initial idea was to apply his sociological perspective (called “symbolic interactionism”) to art: for Becker, there is no such thing as a pure creation, or as a pure artist; thus, no artist works entirely alone, with his or her sole inspiration… Keep in mind that Becker’s theory does not only say that artists are under many influences –what wouldn’t have been very new–, but that artists cannot perform their works, from a very materialistic point of view, if they are not in interaction with a lot of other people who aren’t necessarily artists themselves…Artists are used to work with some people they know, and that’s how habits, norms and above all conventions of creations may appear. For instance, if a composer wants that his or her music to be played by an orchestra, he doesn’t need to invent every time a new way to transcribe notes, melody and rhythm: he/she must write his/her piece on paper according to the official conventions (five lines, with keys of G, etc.), otherwise, it will become more difficult to find musicians… Likewise, if a painter regularly uses the same supplier for his colors, it will have an impact on his/her paintings and what is defined as his/her “style”, by some critics or by his/her audience. From then on, it is up to the artists to respect norms or established conventions, to play with them, or to make a break. Artists are finally in the middle of chains of cooperation composed of numerous individuals and art works are actually the result of the interactions between all these people. That’s precisely their collective organization that Becker calls an “art world”, what is well summed up in this sentence: “Art worlds consist of all the people whose activities are necessary to the production of the characteristic works which that world, and perhaps others as well, define as art” (Becker, 2008 [1982]: 34). 2) A transposition to fan fictions This theoretical framework is useful while analyzing fan fictions since it offers an opportunity to understand the textual production as a whole, i.e. it prevents from limiting the study to the “best” ones: fan fictions’ format and content are clearly the result of their world’s organization. My demonstration14 is therefore based on a transposition of Becker’s model, which could be decomposed as follows: • Artists According to Becker, artists rarely work alone: not only do they look at each other’s works, but they frequently collaborate, even though collaborators’ names tend to disappear at the end of the process. Similarly, many fan fictions writers invent stories together and constitute writing teams very explicitly: they can use one pseudo for two (or more) authors for instance. In one of my interviews, I have even discovered that two writers could attribute each other one character to produce dialogs quite easily, before adding description and narrative passages within their story. Thus the final structure of the texts appears totally dependent of these practical collaborations. • Support Personnel “Support personnel” design all the people whom artists use as human resource or to get access to material resources: assistants, students, suppliers, etc. belong to that category. Regarding 14 See my articles : François, 2009, 2012a, 2012b. 29 literature, you may think of the role played by editors or publishers too: they clearly affect the final version of the text. Though, things are not different with fan fictions since fans often benefit from the help of other fans before publishing: they’re called “beta readers”. Their function is to edit the texts, to make suggestions concerning the coherence of the plot and finally to authorize publication. That’s another way to observe that there is no a unique author to fan fictions, even in the case there is one official writer… Similarly, fan fiction writers are very reliant on publication websites and their webmasters. Fan fictions for instance are today very fragmented with a lot of unfinished attempts, very short texts – this type of fan fictions is called “One Shot” – or structures made of a lot of brief chapters: this is the result of the websites adopted by fans which encourage a publication process with successive updates; a brief publication is already a publication, and publishing multiple updates is a means to attract readers. By the way, fans are always under the threat that their publishing websites ban their texts or that they simply disappear from the Internet! • Audience An art work becomes to be known as an art work only if there are people to see it, watch it, hear it, or read it… It may seem an evidence, but without an audience, playing with conventions is impossible: their members are the people who come with expectations, who can recognize conventions, or who may be offended by their transgressions. Consequently, artists rarely create without thinking of their potential audience and seek opportunities to know it. In the world of fan fictions, writers are actually very close to their readers, especially thanks to the reviewing system. Once again, fan fictions are not published anywhere online, i.e. mostly on websites where readers can publish comments (or “reviews”) after every update of the fan fiction they are reading: beyond their content, the number of reviews is very important because it is a kind of symbolic retribution for writers, and a way for readers to identify texts of (apparently) good quality. The fact that fan fiction writers cannot ignore their readers and often engage intense exchanges with them determines too how the texts are written and published. • Theorists and Critics In addition, among the audience of art productions, can be found some professionals, like art critics or theorists, who act as the gatekeepers of the “official” art conventions, and that’s why their point of view is also essential to help an art work to emerge and become famous. Conversely, fan fictions have their own critical space which is represented by some websites or online forums dedicated to the analysis of fan texts: there, their language correctness or their plot are evaluated, sometimes very roughly. This additional textual production is called “metatext” among fans, and when writers anticipate it, it impacts, once again, their stories. • Institutional Contexts Finally, art worlds belong to broader institutional contexts according to Becker: in particular, what is the role of the State? Are there places for artists to make exhibitions, to play concerts, etc.? Is art encouraged or rather censored by authorities? Thus, the differences between countries also explain why art worlds can be nationally very different… In the case of fan fiction, the economic and the legal contexts are crucial to explain some of the texts’ features. The presence of “disclaimers” at the beginning of the majority of fan fictions is one example, among others, of their consequences: indeed, you can often read sentences such as “Harry Potter and its characters belong to J.K. Rowling” (even though variations are infinite) before your favorite potterfictions. It’s in fact a reference to the American legislation on intellectual property, in which tolerance for derivative works is possible, among other conditions, if there is no confusion between them and original works. As a consequence, fan fiction writers, even 30 outside the United States, have integrated this writing convention, despite the fact that it is not at all a sufficient protection for their creations… This brief overview of my own work is already a demonstration of the relevance of Becker’s art worlds to study fan fictions. Identifying the various actors constituting the world of fan fictions, as well as their interactions, reveals a lot about the conception process: since fan fictions, like every fan creations, are an activity strongly based on communities and sociability, they cannot be analyzed only as the result of their authors’ will. Conclusion I don’t pretend that this lecture is an exhaustive depiction of the growing interaction between juvenile literature and fan cultures: I have more insisted on the conditions that have made possible their encounter. On the one hand, the bad reputation of fans –all the clichés the research on fans precisely has to struggle with– has reduced because fandoms have become bigger and more visible in Western societies, especially thanks to development of the Internet. On the other hand, Harry Potter’s success has happened at the right moment to amplify this evolution and enable younger people to participate in fan cultures: Rowling’s novels, with their fantasy background, their serial and cyclic structure, and their ability to be transposed on multiple media have created inextinguishable expectations among readers (and then among spectators and gamers) that has led to one of the major mega-fandoms of the recent years. In a nutshell, there is more than “magic” behind the young wizard’s celebrity. My other wish is that you have here discovered the basics about the research on fans and their fandoms, in particular about the dominant tradition, namely fan studies. I have tried to exemplify the strengths and limitations of this kind of scientific work thank to the example of fan fictions. These texts cannot epitomize all fan creations, but their specificities are sufficiently fascinating to have attracted many scholars –be they “aca-fans” or not–, and they are a wonderful support for a reappraisal of more legitimate form of creation, such as literature. I hope that their analysis, through the lens of Howard Becker’s art worlds, has made this point clear, and convinced you there is still a lot to do concerning the understanding of how fan express themselves. If you’re not, please have a look at other signs suggesting that the mainstreamization of fandoms is still at its early stages: fan fiction writers can now be the main characters of young adult novels, like Fangirl by Rainbow Rowell, and one must be aware that Harry Potter keeps mobilizing. The Harry Potter Alliance for instance, an non-governmental organization which is typical of the recent trend called “fan activism”, has recently raised hundreds of thousands dollars to support charities like the fights against poverty or illiteracy... Is somebody still skeptical about the fans’ power? 4. Georg Huemer - Träume(n) von ewiger Jugend? Teens, Twens und „Ich“ zwischen Selbstdarstellung Selbstinszenierung in aktueller Jugendliteratur Kulturgeschichtlicher Überblick 1972 Das kleine Ich bin Ich Zitat: aus dem Buch Schilderung einer Idylle, Locus Amöbus (?), Ruhe durch Laubfrosch gestört, verlegene Antwort, bunte Blumenwiese ist nicht mehr einladend, Beginn der Suche, kein Tier gleicht dem karierten Irgendwas, Ich bin Ich (Erkennung), am Ende ist wieder Idylle hergestellt, alle freuen sich. 31 Selbstfindungsprozess in sprachlich sehr gekonnter weise. Darstellung von individueller Glück, Kindheit oft Zeit des Unglücklichseins (auch in wohlhabenden Ländern), Erwachsenwerden künstlich prolongiert, deutschsprachige Literatur in letzten zwei Jahrzehnten gekennzeichnet durch: Verlängerung der Jugend (Prolongierung), weil das Ziel des Erwachsenwerdens nicht erreicht wird. Antike – Traum von ewiger Jugend Idealisierung der Jugend, Alter Krankheit und Tod von Abscheu geprägt, Heroenbilder – nach Tod folgt Unsterblichkeit, archaische Zeit bis Hellenismus und wieder in Aufklärung aufgenommen. Herakles soll Äpfel stehlen, die unsterbliches Leben versprachen, einer seiner 12 Aufgaben Winkelmann - Edle Einfalt und stille Größe, Grundsatz seines Kunstverständnisses. männlicher Torso Beschreibung: hang zum Superlativ, Antike sei grau und farblos gewesen, jetzt wissen wir, dass Farben nur verloren gegangen sind, seine Bewunderer Goethe und Rainer Maria Rilke: Gedicht vom Torso, das sich auf Winkelmann bezieht: Archaischer Torso Apollos 1908 Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Entstand als Rilke das Louvre besuchte, mit Theorie Winkelmanns verschränkt. Yuval Noah Harari - Eine kurze Geschichte der Menschheit Wissenschaftler aus Israel, Bestseller, 2013 in Deutschland erschienen, seit 2014 auf Englisch: Die Ewigkeit wird als Last und Qual dargestellt. in ein paar Jahren wird es möglich sein, das Leben so zu prolongieren, dass sich eine Elite es leisten kann, ewig zu leben, die Möglichkeit wird eine Qual darstellen. Wenn Medizin alles heilen könnte und ewiges Leben dadurch gewährleisten könnte, würden die armen Schichten, die sich das nicht leisten können vor Wut und Zorn gegen die Eliten hetzen. Denn bis jetzt waren alle zumindest vor dem Tod gleich, durch Medizin wäre ein Ungleichgewicht, denn nur Arme müssten sterben. Außer der Zufall will es, dass durch Unfälle die Eliten sterben. Aber Würde ewiges Leben auch ewiges Glück bedeuten? Alle Menschen sind sterblich - Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1946 Ein Mensch, dem der Tod erspart wird, führt zur Beliebigkeit, jede Liebe verliert ihre Einmaligkeit, die Begrenztheit des Lebens gibt alles seinem einmaligen Stellenwert, die Einmaligkeit macht sie wiederum ewig. 32 Zeus und Sterblicher Ganymed, wird zum Mundschenk ersetzt die Göttin der Jugend Hebe, Gabe das ewige Leben zu schenken. Twilight: die Geschichte zwischen Unsterblichen und Sterblichen Topos in der Literatur: Streben nach Unsterblichkeit. Ändert sich in der Postmoderne und besonders jetzt in der Postpostmoderne, wird das aufgebrochen, völlige Hinterfragung, Ironisierungen. Franzose Michel Houellebecq Ist das Leben viel mehr mit Langeweile verbunden? 2010 – Karte und Gebiet, hohe Auszeichnung dafür bekommen Elementarteilchen eher in deutschsprachigen Gebiet bekannt, wurde verfilmt 2006: Es geht um ein ungleiches Brüderpaar, Molekularbiologe, Beziehungsunfähiger Lebensmann, mit 40 finden beide Liebe, alte Jugendfreundin, die andere verliebt sich in Sexbessesene, beide nehmen sich das Leben (unheilbare Krankheit), der eine wird verrückt, der andere entwickelt theoretische Grundlangen für neue geschlechtslose und unsterbliche Menschenrasse, keine Individualität, klont sich, kennt altern und sterben nicht. Die Möglichkeit einer Insel (Klomotiv) 2005 Die Handlung des Romans spielt auf zwei verschiedenen Zeitebenen: Im 20./21. Jahrhundert (Ich-Erzähler ist Daniel1), etwa 2000 Jahre später (Ich Erzähler ist zuerst Daniel24, später Daniel25). In der 1. Zeitebene beschreibt Daniel1, wie er zum gefeierten Star wird. Zahlreiche sexuelle Begegnungen mit Frauen hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. Lediglich zu zwei Frauen entsteht so etwas wie eine Beziehung. Isabelle, die seine Frau wird, und, nachdem diese Ehe zerbrochen ist, Esther, eine Nachwuchsschauspielerin, 25 Jahre jünger als er. Beide Beziehungen enden unglücklich und Daniel bleibt allein und verlassen zurück. Sein einziger treuer Begleiter ist sein Hund Fox. Das Leben des Ich-Erzählers ist bis zum Schluss bestimmt von der Suche nach Liebe. In der 2. Zeitebene stellen erst Daniel24, dann Daniel25 Betrachtungen über Daniel1 an. Daniel25 entschließt sich erst am Ende des Romans, aus einem ereignislosen Leben der Kontemplation auszubrechen. Er macht sich mit seinem Hund auf die Suche nach „einer Insel“, auf der vielleicht noch ein erfülltes Leben möglich ist. Klonen spielt wesentliche Rolle, autobiographische Züge zwischen Daniel und Autor. Lanzerote lernt Daniel 1 eine Sekte wieder, dadurch ändert sich sein Leben, die werben fürs Klonen, Elohimiten, der Führer wird umgebracht, Elohimiten geben dessen Sohn als Replikation aus. Daniel 24/25 Lanzerote als Erinnerung des Glücks, Klone können nicht so gut Gefühle empfinden, keine persönlichen Kontakte, Essen Mineralsalz, stirbt er, wird ein neuer Klon erstellt, Neo-Menschen, Daniel 25 will ausbrechen, will Bedürfnisse der Menschheit wieder finden. Findet das erste Mal das Meer – Gedanken der Unendlichkeit. Ewige Leben ist für Autor, nur eine Möglichkeit von vielen. Viele Parallelen zu Harari. Beschäftigt sich mit Wirtschaftskrise, entwirft wenig Hoffnungsvolle Zukunftsszenarien. Karte und Gebiet: Kritik als ausgefeiltester Roman dargestellt: Jugend und Ewigkeit zentrale Rolle. Jed Martin ist Maler, zieht sich zurück, 2035 wieder unter Menschen, Zurückgezogenheit neue Phase Verfallsprozesse dokumentiert, Jed filmte 10 Jahre den Wald, Zeitraffer, widmet sich Verfall von Gegenständen 15 Jahre lang, stufenweise Darstellung, keine Zeitraffer, erkrankt an Krebs. Zwei wichtige Aspekte: 33 Autor selbst im Buch eine Figur, wird ermordet. Andere Figuren tragen Züge des Autors. zwei Karikaturen des Autors Ist ein Zukunftsroman, Zeitsprünge, Frankreich Zeit um 2035 Science Fiction, Klonen ist keine Option mehr, Monotonie, Einsamkeit, verzweifelter Versuch des Protagonisten der Vergänglichkeit zu entgehen. „Die zeitgenössische bildnerische Kunst, die jegliche ästhetischen Grundsätzen der vergangenen Jahrhunderte trotzt, in dem sie nicht mehr die technische Ausarbeitung, sondern die Idee zum obersten Dictum ernennt hat, wird zum Sinnbild der Vergänglichkeit schlechthin.“ Zeitgenössischen Jugendroma der letzten 20 Jahre Sprung weg von allgemeiner Literatur, allgemeiner Topoi der Literaturgeschichte, hin zum zeitgenössischen Jugendroma der letzten 20 Jahre. Schoßgebete – Charlotte Roche Zeitschriften und wissenschaftliche Aufsätze der letzten Jahre nennen gehäuft die Begriffe Generation X, Generation Y. Begonnen in Nachkriegszeit 50er Jahre (Zeit des „Der Fänger im Roggen“), Generationen wollte man fassen, Terminologie Entwicklung in der Soziologie. In rezenteren Werken wird mit Träumen nach ewiger Jugend gespielt, Katastrophen Szenarien und Monotonie ersetzen schwelgerische Lust. Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur In letzten 20 Jahren geprägt durch Angloamerikanischen Erfolgsprodukten: Tagebücher von Craig, Tribute von Panem, Harry Potter; gilt als zeitgenössischer Klassiker, Bände sind, (sagt Gerhard Lauer) von durchaus unterschiedlicher literarischer Qualität, Popularität hat abgekommen. Bestseller der letzten Jahrzehnte Popliterartinnen: Charlotte Roche, Christian Kracht, Alexa Henning von Lange. Grenze zwischen autobiographischen und literarischen verschwimmt, gerade in Popromamen, gewissen Grad an Alltag scheitern, nehmen Drogen, Erwachsenenwelt ist Gegenpol, wollen Zeit anhalten, Herausforderungen des Erwachsenenlebens Überforderung, Christian Kracht: Faserland, Standardwerk, zentrales Werk für Popliteratur. Zwei Jahre später: Relax von Henning von Lange: Chris und Omek, Liebesleben unbefriedigend für Omek, die androgyn ist, Sex Ikone in ihrer Phantasiewelt. Kurze Handlung, Doppelperspektive, Chris geht abfeiern, Omek in Wohnung sehnt sich nach Liebe und Sexualität, sucht ihn mitten in der Nacht, findet ihn halb Tod (Drogensüchtiger). Kritiker: Relax polarisierte, erste Mal Frau als Protagonistin, die ihre Perspektive schildert, Forschung: Henning viele Studien, zählt zu meistgelesenen Popromanen in 90er Jahren, archaisches Sehnen und Wünschen, beide passen irgendwie nicht in 20 Jhd., Adoleszenzroman bis dahin noch nicht so bekannt, Autobiographische Züge, zumindest behauptet sie das. Literarischer Durchbruch, starke Weiterentwicklung, Preis für „Ich hatte einfach Glück“, Relax: in Jugendlichkeit gefangen, da sie die Elternrollen ablehnen, prolongierte Jugend, viel drastischer in Charlotte Roche – „Entweihung des weiblichen Körpers“, als Antwort von Henning von Lange. Feuchtgebiete aus Ich-Perspektive, Helen will Versöhnung der Eltern herbei, ist im Krankenhaus, Pfleger Robin ist ihr Geliebter, sie entspricht nicht konventionellen Vorstellungen, steht nicht auf Hygiene, unterschiedliche Rezeption, Deutschland heftige Debatte: eher öffentlich, wenig wissenschaftlich, Autorin schon vorher bekannt, Feuchtgebiete als Film bzw. Hörspiel (Autorin liest selbst vor), typisch Popliteraten inszenieren sich andauernd selbst, sind auf den Covers, feministischer Seite wurde Roche attackiert, bezeichnet sich selbst als Feministin 34 Schoßgebete: Protagonistin Elisabeth Kiel, ist erwachsen, stabile Beziehung, berichtet über Mann, Beziehung, Liebe; viele autobiographische Züge, haben schlechte Beziehung zu Mutter, Kritik: Alice Schwarze – Roman sei zweitklassig, verruchte Heimatschnulze über Sex und Liebe. Probleme Erwachsenwerden, will Verantwortung umgehen, ist ihrem Mann mental ergeben, er übernimmt Verantwortung. Besonders die Autorin ist in der Diskussion im Vordergrund, auch bei Henning von Lange, nicht so sehr ihre literarischen Qualitäten oder die Inhalte der Bücher. Charlotte Roche im englischen Raum viel mehr in der wissenschaftlichen Diskussion als im deutschsprachigen Raum. Wolfgang Herrendorf wird sehr positiv dargestellt, hat Block verfasst, unheilbar krank, im Internet dokumentiert. Selbstdarstellung ist zeitgenössisch zur gängigen Praxis geworden, auch in der Kinder – und Jugendliteratur. Zurück zum Ich bin Ich und Harari Der Traum von ewiger Jugend ist Teil der Geschichte der Menschheit, vll wie der Traum fliegen zu können. Bei Ikarus nicht möglich, jetzt durch technischen Fortschritt schon. Ewige Jugend wird mit Schönheit assoziiert, mit Vollkommenheit, Winkelmann hat Einfluss auf Künstler der Moderne. Jung bleiben ist für viele Protagonistinnen die einzige Möglichkeit dem Alltag zu entgehen. Illustration von Ich bin Ich; Susi Weigel: Adjektive: lieb, herzig, großer Kopf, kleiner Körper, große Augen, entspricht Kindchen-Schema, das Tier wird nicht als Schön bezeichnet, darin liegt vielleicht sein Erfolg. 5. Robert Buchschwenter – Puzzlespielen Scherbenpark. Vom Jugendbuch zum Comin-of-age-Film Literaturverfilmung ist als Begriff falsch, denn Literatur kann nicht verfilmt werden. Filmsprache hat zum Teil Ähnlichkeiten mit Sprache, aber eine Einstellung (analog ein Wort) ist beim Film nicht nur ein Bild. Ein Satz ist beim Film eine Szene, eine Szene ist aber immer gegenwärtig, im Gegensatz zum Satz, bei dem alle Zeiten möglich sind. Ein Absatz könnte als Montage gesehen werden. Vergleich Anfang des Buches/Filmes von Scherbenpark Film hat ein Voice-Over Buch lässt und hat mehr Zeit, um in eine Geschichte einzuführen. Problemkomplex darstellen, Charakter beschreiben. Ein Film muss ökonomischer arbeiten, in Bezug auf Zeit. Film kann nicht subjektiv darstellen, sind also in gewisser Distanz, auch wenn die Figur die Geschichte erzählt. Durch die Distanz kann man viel schneller und anschaulicher Ängste/Probleme nahe bringen bzw. ein Lebensgefühl darstellen. Filme haben brachiale Linearität. Im Film werden im 1. Akt alle Figuren und der Kontext etabliert, im zweiten Akt beginnt die Konfliktphase/Fragestellung/Lösungsweg wird erzählt. Es dürfen nach dem 1. Akt keine neuen Figuren eingeführt werden, da sie sonst als Fremdkörper empfunden werden. Wie verfilme ich den Satz: „Ich hasse Männer“ Film ist ein anschauliches Medium. Zu viele Rückblenden machen den Film unkonsumierbar. 35 Es ist schwer Adverbien darzustellen: seit, nie, immer. Man kann nur beispielhaft handeln im Film, damit eine Idee ein Eindruck davon entsteht. Vergleich der Schlüsselszene im Buch und Film: förmliche Umkehrung der Handlung, um trotzdem auf das gleiche Ergebnis zu kommen. Es handelt sich um eine Abweichung, die aber an der Substanz nichts ändert. Innenleben im Roman durch Begriffe gut darstellbar, das ist so im Film nicht möglich. Voice over würde oft Atmosphären zerstören Film ist gewalttätig in seiner Unmittelbarkeit Filmmusik Buch kann natürlich nicht mit Filmmusik arbeiten. Musik ist das filmsprachliche Mittel, das die Literatur vom Film am ehesten unterscheidet. Regisseur hat jeder Rolle in Crazy eine Rolle zugeteilt. Viele nicht erzählbare Dinge sind durch Musik vermittelbar. 6. Thomas Walach - Fantasy-Rollenspiele im intermedialen Diskurs. ("Ihr spinnt doch alle!") Was ist ein Rollenspiel? Die Rollenspielfamilie Pen & Paper RPG LARP (Live Action RPG) MMORPG (Massively Multiplayer Online RPG) Definition Pen & Paper "[...] an episodic and participitatory story-creation system that includes rules that assist a group of players and a gamemaster in determining how their fictional characters' spontaneous interactions are resolved.” Mackay 2001, S. 4. Gamemaster ist der Spielleiter, im Deutschen wird er auch oft als Meister bezeichnet. Geschichte Table Top-Simulationen + Fantasy-Literatur = RPG Erstes Rollenspiel 1973 Dungeons & Dragons Rollenspiel und Fantasy-Literatur Komplexe Erzählsituation • Die Erzählung entsteht ad hoc und wird (außer im Kollektiven Gedächtnis der Spieler) nicht erinnert. • Diegetisches und extradiegetisches Sprechen (zB Sprechen über Regeln) wechseln sich ständig ab. • Spieler und Spielleiter sind sowohl Rezipienten als auch Produzenten des kollaborativ erzählten Textes. • Dabei darf nur der Spielleiter zeitweise die Rolle eines auktorialen Erzählers einnehmen. Die Spieler müssen zwischen Spielerwissen und Charakterwissen differenzieren. 36 • Regeln und offizielle Spielweltbeschreibungen bilden einen Metatext außerhalb der konkreten Erzählsituation. • Über den durch Zufallsgeneratoren bestimmten Teil der Erzählung hat kein Spieler Kontrolle. Zufallsgeneratoren sind zum Beispiel Würfel. These Fantasy-Settings sind im Rollenspiel besonders beliebt weil beide explizit der Hervorbringung von Imaginationen dienen. In beiden spielt der Aspekt von Selbst-Ermächtigung eine wesentliche Rolle. Sagen Sie aber niemals "Eskapismus" zu dieser Funktion! Die Dungeons & Dragons-Kontroverse Do RPG promote • Crime • Suicide • & Satanism among children? Vgl. Lancaster 1994. Akteure und Behauptungen • James Dallas Egbert: Er ist verschwunden, man gab dem Spiel Dungeon & Dragon die Schuld, auch als er wieder gefunden wurde, war das den Medien egal. • Patricia Pullings: ihr Sohn habe sich umgebracht, weil ein Mitspieler ihn bei Dungeon & Dragons mit schwarzer Magie belegt hat. • Bothered About Dungeons & Dragons (BADD) • National Coalition on Television Violence (NCTV) • Radecki: 45 D&D related deaths. • "The kids start living in the fantasy... and they can't find their way out of the dungeon." Zitat eines Psychologens • "D&D is a [...] home study kit for 'black magic'" • "Mazes & Monsters" Medientheorie & Jugendkultur 1. Das Sender-Empfänger Modell (Claude E. Shannon/Warren Weaver) 2. Das Medium ist die Botschaft (Marshall McLuhan) 3. Der produzierbare Text (John Fiske) 7. Kerstin Gittinger – Kämpfer der Zukunft15 Jugendliteratur Im Kontext der proletarischen Jugendkultur in der Ersten Republik 15 Buchtitel eines Standartwerkes der sozialistischen Erziehung (Kanitz, Otto Felix: Kämpfer der Zukunft. Eine systematische Darstellung der sozialistischen Erziehungsgrundsätze. Wien: Jungbrunnen 1929.) 37 „Das weiß ich jetzt: wir müssen uns das Märchenland erst erschaffen.“ 16 Der Diskurs des „neuen Menschen“ in der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik17 „Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung“ (M. Adler 1924, 66) – Kurz und bündig benennt der Philosoph und Politiker, Max Adler, der zugleich als einer der wichtigsten Theoretiker des Austromarxismus gelten muss, das Hauptziel aller sozialistischen Erziehungsbemühungen innerhalb der Arbeiterbewegung der Ersten Republik. Für die Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit, die sich in ihrer speziellen Ausformung als Kulturbewegung versteht, ist ein stark ausgeprägtes pädagogisches Moment festzustellen. Das Ziel, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, ist dabei unmittelbar mit der Vorstellung nach einer „Bewusstseinsrevolution“ oder, wie Otto Bauer es formuliert, nach einer „Revolution im geistigen Leben“ (Bauer 1976, 742) verbunden. Denn nach austromarxistischen Gesichtspunkten ist der Sozialismus weder durch ein spontanes, revolutionäres Aufbegehren mit der gewaltsamen Aneignung der Produktionsmittel, noch parlamentarisch, per Dekret durchzusetzen, sondern bedarf zuallererst der psychologischen Vorbereitung in den Menschen selbst. (vgl. Pfoser 1980, 19) In diesem Zusammenhang ist der „neue Mensch“, laut dem renommierten Sozialphilosophen, Norbert Leser, als missionarisch anmutendes Heilsziel zu werten, da dieser in der theoretischen Auseinandersetzung zur Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft als unbedingte Voraussetzung gesehen wird. (vgl. Leser 1988, 19) Das Ziel, ein verändertes Bewusstsein zu entwickeln, wendet sich zwar ebenso an die erwachsene Arbeiterschaft und wurde auch u. a. durch gezielte Vortragstätigkeit und den Ausbau der Arbeiterbüchereien forciert, in erster Linie ist der „neue Mensch“ aber als Erziehungsziel an die heranwachsende Generation zu verstehen. Die proletarischen Kinder und Jugendlichen sollten es sein, die schließlich das Meisterstück des friedlichen Übergangs in eine klassenlose Gesellschaft vollbringen sollten. (s. u. a. Jalkotzy 1922, 162; Winter 1924, 135) Ausgangspunkt, Untersuchungsgegenstand, Thesen und Fragestellungen Da hier ein wahrer Kult um die proletarische Jugend im Entstehen begriffen war, sich letztlich alles Hoffen und Bangen auf eine bessere Welt auf das zukünftige Wirken und Walten der heranwachsenden Generation konzentrierte und, wenn man auch selbst nicht mehr Teil dieser neuen Gesellschaft sein sollte, man doch größtmöglichen Einfluss auf das psychologische Profil der Kinder und Jugendlichen nehmen wollte, stellt sich die Frage nach den kulturellen Ausdrucksformen, die dieser Jugendkult innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung angenommen hat. Im Speziellen stehen in dieser Auseinandersetzung die literaturpädagogischen Ambitionen der sozialistischen Erziehungstheoretiker im Vordergrund und der Einfluss dieses Erziehungsdiskurses auf das Schreiben von Autoren, die der austromarxistischen Bewegung nahe standen. Denn genauso wie im Zuge der Aufklärungsbewegung im 18. Jahrhundert eine eigenständige Kinder- und Jugendliteratur mit gezielt pädagogischer Absicht entstanden ist, nachdem (bürgerliche) Kindheit als besonderer Zustand erkannt wurde, (vgl. Beutin/Ehlert et al. 2008, 178) genauso ist auch hinsichtlich des Kults um die proletarische Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts anzunehmen, dass dieser 16 Feld, Friedrich (1957): Tirilin reist um die Welt. Eine Erzählung für denkende Kinder. Schutzumschlag, Einband und Illustrationen von Karl Köhler. Wien: Jungbrunnen [1. Aufl. 1931]. S. 139 17 Die hier dargestellten Inhalte, Thesen und Forschungsergebnisse sind Teil des Diplomarbeitsprojekts der Autorin. Diese Arbeit wurde im Mai 2013 mit einer Prämie der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (OeGKJLF) im Auftrag des bmukk für herausragende Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung gewürdigt. Unter folgender bibliografischer Angabe ist diese Diplomarbeit an der Universitätsbibliothek in Wien zu finden: Gittinger, Kerstin: Proletarische Kinder- und Jugendliteratur. Eine Untersuchung zum Diskurs des "Neuen Menschen" in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik. Dipl.-Arbeit der Universität Wien 2011 38 sich auf die literarturpädagogischen Bemühungen und auf die Literatur ausgewirkt hat. Zur Überprüfung dieser These ist es zunächst notwendig, zu untersuchen, welche Vorstellungen sich hinter dem Schlagwort des „neuen Menschen“ verbergen und wie man gedachte, die Arbeiterkinder zu neuen Menschen zu erziehen. Um ein Profil des „neuen Menschen“ zu erstellen, wird insbesondere auf theoretische Auseinandersetzungen, philosophische Diskurse und sozialpsychologische Darstellungen der wichtigsten sozialistischen Erziehungstheoretiker der Ersten Republik, die u. a. mit Otto Felix Kanitz, Max Adler, Max Winter, Alois Jalkotzy und Alfred Adler zu benennen sind, zurückgegriffen werden. Daran anschießend stellt sich die Frage, ob diese Theoretiker, die allesamt auch in die praktische Umsetzung der Erziehungsziele maßgeblich involviert waren, innerhalb ihrer literaturpädagogischen Überlegungen gedachten, Literatur bzw. insbesondere Kinder- und Jugendliteratur zur Erziehung des „neuen Menschen“ heranzuziehen. Hierzu sind Antworten innerhalb der Zeitschrift Die sozialistische Erziehung, welche zwischen 1921 und Februar 1934 erschienen ist, zu erwarten. Diese Zeitschrift, die einen stark wissenschaftlichen Charakter aufweist, fungierte primär als Organ für die Funktionäre, Theoretiker und Pädagogen der sozialistischen Erziehung. Auf einer weiteren Ebene sollen letztlich sechs kinder- und jugendliterarische Werke von Autoren, die sich im näheren Umfeld der austromarxistischen Bewegung befanden, dahingehend untersucht werden, inwiefern der Diskurs des „neuen Menschen“ deren literarisches Schaffen beeinflusst hat und inwieweit das Bild des „neuen Menschen“, das in der vorangehenden Analyse bestimmt worden ist, selbst in diesen Texten auszumachen ist. Der Untersuchungszeitraum ist mit dem Ausrufen der Ersten Republik im November 1918 bis zum Februar 1934 definiert, da hier das Theoriegebäude der sozialistischen Erziehung entwickelt wurde. Die Bemühungen zu deren praktischen Umsetzung müssen mit dem Bürgerkrieg im Februar 1934, dem anschließenden Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPÖ) und aller mit ihr in Verbindung stehenden Vereine und Zeitschriften sowie der darauf folgenden Konsolidierung des austrofaschistischen Ständestaates als beendet betrachtet werden. Der „neue Mensch“: Ziel und Fluchtpunkt aller sozialistischen Erziehungsbemühungen Eingangs ist festzuhalten, dass die Vorstellung des „neuen Menschen“ keine Erfindung der sozialistischen Erziehungstheoretiker der Ersten Republik ist, sondern eine Erscheinung der säkularisierten Moderne darstellt. Der Religions- und Kultursoziologe, Gottfried Küenzlen, weist die Idee des „neuen Menschen“ bis in die Renaissance nach, bestätigt sie ebenso für die Aufklärungsbewegung im 18. Jahrhundert und sieht ihre Blüte dann insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert. Hier wird sie Flucht- und Angelpunkt für die verschiedensten politischideologischen Bewegungen (vgl. Küenzlen 1994, 93-94): So findet sich diese Vorstellung bei den französischen Utopisten, unter der Intelligentsia des vorrevolutionären Russland und im frühen Sowjetstaat, bei den Anarchisten, etwa aber auch im Zionismus, wie auch in der faschistischen Bewegung und im Nationalsozialismus. (Küenzlen 1994, 94) Philosophisches und psychologisches Fundament des sozialistischen Erziehungsdiskurses Für das Konzept des „neuen Menschen“ innerhalb der SDAPÖ ist speziell auf zwei Diskurse zu verweisen, die maßgeblich zu dessen Konstitution beitragen und auf die fortlaufend seitens der Theoretiker argumentativ zurückgegriffen wird: einerseits sind starke Anleihen auf die Philosophie Immanuel Kants zu verzeichnen und andererseits wird die Möglichkeit, einen neuen Menschen nach den sozialistischen Vorstellungen zu erziehen, mit Verweis auf die individualpsychologischen Erkenntnisse Alfred Adlers untermauert. Auf die große Bedeutung des Neokantianismus für die österreichische und deutsche Sozialdemokratie ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und dessen Einfluss innerhalb der 39 sozialistischen Theoriebildung macht u. a. der Germanist, Alfred Pfoser, in seinem umfassenden Werk Literatur und Austromarxismus aufmerksam. (vgl. Pfoser 1980, 32) Hinsichtlich der Relevanz der Philosophie Kants auf die Entwicklung des sozialistischen Erziehungskonzepts verweist insbesondere Peter Schneck in seiner Dissertation. Dabei wird von den Erziehungstheoretikern vor allem Kants Schrift Über Pädagogik (1803) rezipiert. (vgl. Schneck 1975, 24-25) Kants Plädoyer, „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande (…) angemessen erzogen werden“ (Kant 1984, 33), wird in direkter oder variierter Form unzählige Male aufgegriffen und diente dazu, wie unschwer zu erkennen ist, dem Erziehungsdiskurs des „neuen Menschen“ ein theoretisches Fundament zu geben. Dass der „neue Mensch“ kein utopischer Entwurf darstellt, sondern dass die grundlegenden Anlagen, die mittels der sozialistischen Erziehung aufs Höchste entwickelt werden sollten, bereits von Geburt an in jedem Menschen vorhanden sind, wird mit der Verknüpfung dieses Erziehungskonzepts mit Alfred Adlers Individualpsychologie aufgezeigt. A. Adler stellt in der Psychologie des Menschen zwei Urtriebe fest: den individualistischen und den gemeinschaftlichen Trieb. Letzterer wird durch die Fürsorge und Liebe, die das Kind in seiner Umgebung erfährt, geweckt und stellt dabei die Grundlage für den menschlichen Fortschritt dar. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ermöglicht(e) letztlich jegliche kulturelle und zivilisatorische Entwicklung. Zudem basiert das Überleben des einzelnen Menschen auf seiner Fähigkeit, in Gemeinschaft mit anderen Individuen zusammenzuleben. Dem angeborenen Gemeinschaftsgefühl steht der individualistische Trieb gegenüber. Dieser Trieb, den Adler auch als das Geltungsstreben im Menschen definiert, speist sich vorrangig aus dem Minderwertigkeitsgefühl, das aus der kindlichen Unmündigkeit und Hilflosigkeit seiner Umwelt gegenüber erwächst. Um die elterliche Abhängigkeit, und damit indirekt den Ursprung des Minderwertigkeitsgefühls, zu überwinden, strebt das Kind fortlaufend nach Anerkennung, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Beide Triebe, sowohl der individualistische als auch der gemeinschaftliche, stellen zentrale Faktoren in der kindlichen Entwicklung dar. (vgl. K. Adler 1981, 166-169) Allerdings führen unterdrückerische Strukturen in der Erziehung, ein auf Konkurrenz und Wettkampf basierendes (bürgerliches) Schulsystem und schließlich auch ein auf Ausbeutung fokussiertes Wirtschaftstreiben dazu, die Minderwertigkeitsgefühle jedes einzelnen aufrechtzuerhalten und das individualistische Streben nach Macht und Geltung zur treibenden Kraft zu machen. Dadurch verkümmert nach Erwin Wexberg, Psychologe und Anhänger von Alfred Adlers Individualpsychologie, im schlimmsten Fall der soziale Trieb, womit die grundlegenden Voraussetzungen für kapitalistische Strukturen fortlaufend gefestigt werden. (vgl. Wexberg 1924, 428-429) Da jedoch auch das Gemeinschaftsgefühl als Urtrieb in jedem Individuum von Geburt an vorhanden ist, ist damit ebenso die Basis für eine sozialistische, schließlich kommunistische Gesellschaftsordnung gegeben. Dementsprechend gelte es, so die sozialistischen Bildungstheoretiker, die Bedingungen zu schaffen, um das soziale Denken und Handeln auf das Höchste zu entfalten. Dies beispielsweise durch selbsterziehende Gemeinschaften, wie sie Otto Felix Kanitz mit der Kinderkolonie in Gmünd (1919) oder der Kinderrepublik in Seekamp bei Kiel (1927) beschreibt, durch gemeinschaftliches Arbeiten, wie es Alois Jalkotzy vorschlägt, und durch ein Schulsystem, das nicht auf Konkurrenz, sondern auf gegenseitiger Hilfeleistung beruht. (vgl. Kanitz 1929, 66-69; Jalkotzy 1922b, 84; Wexberg 1924, 429; Lazarsfeld 1923, 194) Neben dem primären Ziel, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, wird damit ebenso die Absicht verfolgt, den Heranwachsenden Selbstsicherheit und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten frühestmöglich zu vermitteln, um das kindliche Minderwertigkeitsgefühl abzubauen und 40 folglich das individualistische Streben nicht zur treibenden Kraft werden zu lassen. (vgl. Wexberg 1924, 428-429) Das Profil des „neuen Menschen“: die ihn konstituierenden Erziehungsziele Mit der Beschreibung von Alfred Adlers Inividualpsychologie ist bereits ein wesentliches Teilziel innerhalb der sozialistischen Erziehung hin zum „neuen Menschen“ benannt: die Erziehung zur Solidarität. Man betrachtete die Fähigkeit zur gegenseitigen Hilfeleistung einerseits als wesentliche Voraussetzung, die Klassengesellschaft zu überwinden, indem alle Unterdrückten und Ausgebeuteten gegenseitig Solidarität üben, und andererseits stellte ein stark ausgebildetes Gemeinschaftsgefühl auch die Grundlage der zu errichtenden klassenlosen Gesellschaft dar, in welcher durch kollektivistisches Arbeiten das Wohle aller gesichert werden sollte. Deshalb habe, nach Kanitz, die Arbeiterklasse „alles Interesse daran, in ihren Kindern den sozialen Trieb stark und mächtig zu entfalten (…).“ (Kanitz 1921a, 4) Die neue Gesellschaftsordnung sollte zudem ohne Unterdrückung und Unterjochung bestehen können, womit ein weiteres Teilziel innerhalb der sozialistischen Erziehung formuliert ist: die Erziehung zur sittlichen Freiheit. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, ohne äußeren Zwang oder Gewaltandrohung gut zu handeln. Damit in Verbindung steht die sittliche Erkenntnis jedes einzelnen, für das Gemeinwohl der Gemeinschaft freiwillig die eigene Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. (vgl. Kanitz 1921b, 3) Dieses Erziehungsziel könne, Kanitz zufolge, allerdings nicht im klassischen Sinne erlernt werden, sondern ist nur durch Vorbildwirkung der Erwachsenen und der Erzieher sowie durch eigene Erfahrungen in selbsterziehenden Gemeinschaften zu verinnerlichen. (vgl. Kanitz 1924, 9) Bevor jedoch mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft begonnen werden konnte, fehlte noch eine wesentliche Fähigkeit, welche zugleich das letzte Teilziel innerhalb der sozialistischen Erziehung darstellt: die Erziehung zum klaren, selbstständigen und kritischen Denken. Indem die Urteilskraft der Kinder gestärkt werden sollte, erhoffte man sich, dass die Heranwachsenden eigenständig, abseits jeglicher Indoktrination, zu der Erkenntnis gelangten, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht gottgeben, sondern veränderbar ist. In diesem Sinne schreibt Kanitz: Klare Vorstellungen und logisches Denken müsste die Kinder zu der Erkenntnis führen, dass arm und reich, Ausbeuter und Ausgebeutete, Lohnsklaverei und Faulenzertum durchaus keine Dinge seien, die immer so waren und immer so bleiben müssen, sondern, dass es nur von dem allgemeinen Sieg der Vernunft innerhalb des Menschengeschlechts abhängt, dass all dies geändert werde. (Kanitz 1921a, 4) Dementsprechend ist der „neue Mensch“ nach den sozialistischen Erziehungsvorstellungen als der klar und kritisch denkende, sittlich freie und solidarisch handelnde Mensch zu definieren. In diese Vorstellung vom neuen Menschen sind zusätzlich noch die lebensreformatorischen Ansichten der Kinderfreundebewegung, die mit der Erziehung der Arbeiterkinder betraut wurde, zu integrieren. Diese beinhalten u. a. einen alkohol- und tabakabstinenten Lebensstil. Der Weg hin zum „neuen Menschen“: die Methodik der sozialistischen Erziehung An dieser Stelle werden noch in aller Kürze die Grundzüge der sozialistischen Erziehungsmethodik erläutert, weil diese in der literarischen Inszenierung des „neuen Menschen“ von Bedeutung ist, wie noch aufgezeigt werden wird. Peter Schneck fasst in seiner Dissertation bereits die wesentlichen Momente derselben zusammen: „Sozialistische Erziehung kennt keine bloßen Mittel der Erziehung, wohl hat sie aber Methode. Da sozialistische Erziehung immer Selbsterziehung ist, kann die Methode nur das Einleiten des Vorganges der Selbsterziehung sein.“ (Schneck 1975, 95) Die Forderung nach Selbsterziehung richtet sich aber nicht nur an die Heranwachsenden, sondern zuallererst an die Erwachsenen. Sie sollten durch Vorbildwirkung ein positives Beispiel abgeben: „Wer es 41 zustande bringt, den Kindern zu zeigen, dass er an sich selbst arbeitet, das heißt sich selbst erzieht, beweist seinen Kindern damit am stärksten, dass Erziehung notwendig ist (…).“ (Jalkotzy 1922b, 87) Die herkömmlichen Mittel der Erziehung, v. a. aber die Prügelstrafe, aber auch das schulische Belohnungssystem, wurden als Erziehungsmittel vehement abgelehnt. (vgl. u. a. Winter 1922a, 128; Glöckel 1927, 236; Kanitz 1921b, 4) Akzeptiert wurden nur Methoden, die als geeignet erschienen, um den Vorgang der Selbsterziehung einzuleiten. Als Königsweg hin zu einer Selbsterziehung galt es, wie der Soziologe und spätere Begründer der empirischen Sozialforschung, Paul Lazarsfeld, es formuliert, „sich selbst erziehende Gemeinschaften zu organisieren.“ (Lazarsfeld 1923, 191f.) Hierin knüpfte man wiederum an die Individualpsychologie an, die den Menschen als „Gemeinschaftswesen“ erkannte. Durch gemeinsames Spiel, Lernen und Arbeiten, durch das Übernehmen von Verantwortung und durch das gemeinsame Bestimmen von Regeln des Zusammenlebens würde die Gemeinschaft, nach dem Sekretariatsleiter der Österreichischen Kinderfreunde (1922-1934), Alois Jalkotzy, in das Bewusstsein der Beteiligten treten und so „zum erziehenden Faktor“ gemacht werden. (vgl. Jalkotzy 1922b, 84f.) Noch einer weiteren Methode wurde im Prozess der Selbsterziehung große Bedeutung zugemessen: dem aktiven Hinterfragen von bestimmten Vorgängen und Prozessen und dem Erfragen von Unbekanntem. Hierin knüpfte man beim natürlichen Fragetrieb des Kindes an (vgl. Kanitz 1929, 56) und versuchte so, einen von den Heranwachsenden selbst initiierten Aufklärungsprozess einzuleiten. Dabei maß man auch dem „guten Jugendbuch“ eine große Bedeutung zu, wie weiter unten noch näher erläutert werden wird. Karl Czernetz, der damalige Bildungsreferent der SAJ-Leopoldstadt, vergleicht schließlich die Methode des aktiven Fragenstellens auch mit der sokratischen Mäeutik. (vgl. Czernetz 1931, 176) Wie bereits weiter oben angedeutet wurde, kam dem Verein „ Kinderfreunde“ innerhalb der sozialistischen Erziehung eine wichtige Rolle zu. Auf der Reichskonferenz der Kinderfreunde im Dezember 1920 wurde diese Organisation zur Erziehungsorganisation des Proletariats ausgerufen. Sie sollte in Zukunft die Grundsätze, Ziele und die Methodik der sozialistischen Erziehung erarbeiten und die praktische Durchführung derselben übernehmen. (vgl. Lillich 2004, 61) Seit November 1919 gab es überdies eine Erzieherschule mit Internat im Schloss Schönbrunn, die sog. Kinderfreundeschule, unter der Leitung von Otto Felix Kanitz sowie ein Kinderheim, das von Anton Tesarek geführt wurde. (vgl. Weiss 2008, 12, 21-27) Im Zuge der schulreformerischen Bemühungen Otto Glöckels kam es im Jahre 1923 zur Vereinigung des Vereins „Freie Schule“ mit den Kinderfreunden zur Organisation „Freie Schule – Kinderfreunde“. Hierbei ging es um die Verknüpfung kindheits- und schulpolitischer Interessen. (vgl. Andresen 2006, 36f.) Das „gute Kinder- und Jugendbuch“ in der sozialistischen Erziehung Da in dieser Auseinandersetzung die Frage im Zentrum steht, inwiefern der Diskurs des „neuen Menschen“ in die proletarische Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik Eingang gefunden hat, wurde zunächst die sozialistische Erziehung in ihren Grundzügen dargestellt und der „neue Mensch“ als ihr Haupterziehungsziel klar definiert. Um dem Forschungsgegenstand weiterhin gerecht zu werden, stellt sich nunmehr die Frage, welche Rolle der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen innerhalb der sozialistischen Erziehung zugemessen wurde und inwiefern mit dieser Literatur auch die Absicht verbunden war, den „neuen Menschen“ zu erziehen. Erst im Anschluss daran ist es sinnvoll, die eingangs gestellte Fragestellung an konkreten Textbeispielen zu überprüfen. Das Buch: „unsere stärkste Waffe“ – die Errichtung von Arbeiter(kinder)büchereien Festgehalten kann an dieser Stelle werden, dass für die SDAPÖ die Errichtung und gute Führung von Arbeiterbüchereien innerhalb der sozialistischen Bildungsarbeit ein bedeutendes Anliegen war. Mit dem Ausbau der Arbeiterbüchereien, der am Ende des 19. Jahrhunderts 42 seinen Ausgang nahm und während der Ersten Republik seinen Höhepunkt erlebte, sollte der Arbeiterklasse das gesamte kulturelle und literarische Erbe zugänglich gemacht werden. (vgl. Pfoser 1980, 78f., 115 f., 143f.) Welche Wertschätzung man dem Buche beimaß, kommt insbesondere in den Worten Otto Glöckels, Schulreformer und damaliger Präsident des Wiener Stadtschulrates, bei der Eröffnung einer neuen Arbeiterbücherei im Jahre 1930 zum Ausdruck: Unsere stärkste Waffe (…) ist das Buch; es ist Inbegriff der Innerlichkeit, der Sammlung, es revolutioniert die Hirne. So unblutig diese Revolution auch ist, so ist sie dennoch oft schmerzlich, denn sie räumt mit den Lebenslügen auf. Leider wird das Wort Revolution nur zu oft missverstanden, ihm nur zerstörende Bedeutung unterlegt. Aber Straßenkampf kann nicht Dauerzustand sein. Kampf um die Seele ist dauernde geistige Revolution. Das Buch weckt in uns die ewige Frage nach dem Warum, und das Warum ist der Motor der geistigen Entwicklung, der Weg zur Erkenntnis. Wenn aber Menschen einmal den Mut der Erkenntnis haben, dann müssen sie Sozialisten werden. (Glöckel 1930, 8) Was auf dem Feld der Bildungsarbeit für Erwachsene zu verzeichnen ist, setzt sich auch hinsichtlich der Arbeiterkinder fort. So entstanden in Wien bereits vor dem Krieg (zwischen 1911 und 1914) 13 Arbeiterkinderbüchereien. Besonders die Kinderfreunde bemühten sich von Anbeginn ihrer Gründung im Jahre 1908 durch Anton Afritsch, das Führen einer kleinen Bücherei als Mindestanforderung für die zahlreichen Ortsgruppen durchzusetzen. Mit Aktionen, wie der Büchersparkarte, den Mühlsteinbibliotheken oder dem Werben für das „gute Jugendbuch“, versuchte man überdies das Bücherlesen als wichtiges Erziehungsmittel zu propagieren. (vgl. Uitz 1975, 489; Pfoser 1980, 78f., 115 f., 143f.; Afritsch 1921a, 16; Afritsch 1921b, 4) Auch die Gründung des Verlags „Jungbrunnen“ reiht sich in die Bildungsambitionen der SDAPÖ gegenüber den Arbeiterkindern ein. Dieser Verlag ging 1923 aus der Reichsbücherstelle der Kinderfreunde hervor und ermöglichte es dem Verein „Kinderfreunde“ einerseits, selbst Bücher zu publizieren, und andererseits konnte es damit für Mitglieder arrangiert werden, eine nach sozialistischen Kriterien überprüfte und ausgewählte Literatur zu günstigen Preisen zu erwerben. (vgl. Winter 1925b, 280f.; N.N. 1924b, 403; Uitz 1975, 488) Das „gute Jugendbuch“ als Erzieher: inhaltliche und künstlerische Kriterien Dieses Engagement für das Lesen der Kinder verdankte das Buch seiner erzieherischen Funktion, die man ihm zumaß, wie u. a. aus den Worten von Max Winter, Bundesobmann der Kinderfreunde von 1920 bis 1930, zu entnehmen ist: „Bücher sind Erzieher. Für die Proletarierkinder, deren Eltern so oft noch weniger als die Besitzenden imstande sind, ihre Kinder erzieherisch zu beeinflussen, für die Proletarierkinder, die so oft ganz auf sich selbst gestellt sind, sind Bücher oft die einzigen Erzieher.“ (Winter 1925a, 162) Nach Anton Afritsch sollte das „gute Jugendbuch“ „bildend und veredelnd“ auf die Arbeiterkinder wirken. (vgl. Afritsch 1921b, 4) Überdies maß man dem Lesen von Büchern eine entscheidende Funktion im Prozess der Selbsterziehung bei, wie der obigen Rede von Otto Glöckel zu entnehmen ist. Es sollte einerseits der Aufklärung dienen und andererseits dazu anleiten, die umgebenden Dinge (gleich welcher Art) kritisch zu hinterfragen. Kurz: Das „gute Jugendbuch“ sollte zum klaren und selbstständigen Denken anleiten. Auffallend ist, dass durchgehend vom „guten Jugendbuch“ die Rede ist und dass es nicht gleichgültig sei, welche Bücher die Heranwachsenden lesen würden (vgl. Winter 1921, 25; ders. 1925 a, 162f.) In diesem Lichte sind auch Max Winters Worte zu lesen: „Wir suchen vor allem künstlerisch Hochwertiges. Zur Kunst gehören Sprache und Bild. Beides muss zueinander in Einklang stehen. Ob der Form darf aber der Inhalt nicht übersehen werden.“ (Winter 1922b, 254) Nachdem es noch weitgehend an einer neuen, sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur mangelte, erfolgte schließlich im Jahre 1926 auf der Winterschule in 43 Neulengbach die Zusammenstellung eines Drei-Punkte-Auswahlprogramms aus den Beständen der bestehenden (bürgerlichen) Literatur: Die Auswahl ist durchzuführen: 1. Nach dem Gesichtspunkt der künstlerischen Form. 2. Nach psychologischen Grundsätzen. 3. Danach, ob Stoff oder Tendenz des Buches den sozialistischen Anschauungen widersprechen. In gewissen Fällen wird ein Hinweis im Buch der Ablehnung des ganzen Buches vorzuziehen sein. (N.N. 1927, 44) Diese Punkte finden innerhalb des Berichts über die Winterschule in Neulengbach keine weitere Erläuterung. Lässt sich durch eine Analyse der Buchbesprechungen in der Zeitschrift Die Sozialistische Erziehung (unter den Rubrik „Bücherschau“ und „Gute Bücher“) der Bedeutungsumfang des ersten und dritten Aspektes rekonstruieren, so bleibt es allerdings unklar, was im Speziellen unter „psychologische Grundsätze“ zu verstehen ist. Hinsichtlich der künstlerischen Bildgestaltung ist grundsätzlich festzuhalten, dass die sozialistischen Bildungstheoretiker insbesondere auf eine „realistische“ Darstellungsweise in der Form- und Farbgebung der Bilder Wert legten. Eine klare und einfache Linienführung sowie die entsprechende Farbwahl für das jeweils Abgebildete wurden bevorzugt. (s. u. a. Winter 1922b, 250) Ebenso wurden an die Vers- und Textgestaltung der Kinder- und Jugendbücher sehr hohe Ansprüche gestellt. Nicht nur, dass jede orthografische oder grammatikalische Ungenauigkeit nicht geduldet und angeprangert wurde, sondern auch bezüglich stilistischer Aspekte sollte den Heranwachsenden Hochwertiges geboten werden. So erwartete man den gekonnten Umgang mit Reimschemata und die Fähigkeit der AutorInnen, sich in die kindliche Vorstellungswelt hineinzuversetzen. (s. u. a. Jalkotzy 1925, 299) Der Inhalt der Kinder- und Jugendbücher steht schließlich primär bei der Buchauswahl im Zentrum, aber auch hinsichtlich dieses Aspekts finden sich keine klaren Richtlinien, wie ein „gutes Jugendbuch“ diesbezüglich beschaffen sein müsste, um den hohen Erwartung der sozialistischen Erziehungstheoretiker zu entsprechen. Vielmehr werden in den Rubriken „Bücherschau“ und „Gute Bücher“ der Sozialistischen Erziehung Kriterien deutlich, wie ein „gutes“ Kinder- und Jugendbuch nicht aussehen sollte. Zunächst wurden Werke, in denen klerikale Inhalte dominierten oder in denen die Monarchie verherrlicht wurde, grundsätzlich vom Vertrieb ausgeschieden. Schon 1922 entfernte man in den Schulbibliotheken unter Otto Glöckel, im sog. „Wiener Schulkampf“, all jene Bücher, die man unter die Rubriken „frömmelnde Schundware“, „habsburgische Schundliteratur“ oder „Kriegsliteratur“ einstufte. (vgl. Amann 1992, 63) Der Literaturwissenschaftler, Viktor Böhm, spricht diesbezüglich auch von der „ersten Säuberung“ der Kinder- und Jugendliteratur in der Ersten Republik.18 (vgl. Böhm 1997, 95) Daneben verurteilte man in der Literatur noch die Verherrlichung des Militarismus als Spielart der Kriegsliteratur, die Darstellung von Gewalt gegenüber Mensch und Tier, dabei stand die literarische und bildliche Inszenierung der Prügelstrafe allerdings besonders in der Kritik, und letztlich wurde auch die allgegenwärtige und verharmlosende Darstellung des Alkoholkonsums strikt zurückgewiesen. All diese Punkte sind u. a. der nachfolgenden Textpassage zu entnehmen: Bei der „zweiten Säuberung“, nach der Einrichtung des austrofaschistischen „Ständestaates“ im Jahre 1934, sind mehr als 100.000 Werke aus den Beständen der Kinderfreunde vernichtet worden. (vgl. Bindel 1958, 23) Ein drittes Mal wurde die Literatur schließlich nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland „gesäubert“. (vgl. Amann 1992, 60-62) 18 44 Unsere Bestrebungen sozialistischer Erziehung lassen uns gewisse Dinge selbstverständlich ablehnen. Wir verzichten auf Darstellungen, in denen Prügel als pädagogische Handlungen vorgeführt werden; Prügel, die Erwachsene ihren Kindern geben, um sie zu „erziehen“, erscheinen uns nicht nur als hoffnungslose Torheit, sondern auch als eine zu überwindende Barbarei vergangener Tage. Wir lehnen jede Verherrlichung des bürgerlichen Militarismus ab; wir erziehen nicht für „blinden Gehorsam“. Und ebenso selbstverständlich verzichten wir auf alle Alkoholfreudigkeit, auf alle so zahlreich lebendige Ideologie rund um den Alkohol herum. Wir wollen der Arbeiterschaft einen nüchternen Nachwuchs erziehen. (N.N. 1924a, 359) Das Engagement für das „gute Jugendbuch“ war unmittelbar mit dem Kampf gegen die „Schundliteratur“ verbunden (siehe Abb. 1). Als Schund bezeichnete man im Wesentlichen diejenigen Bücher, die die soeben beschrieben Elemente beinhalten. Abb. 1.: Das Schundbuch ist Gift! „Gebrauchsanweisungen“ Allerdings mussten die sozialistischen Erziehungstheoretiker auch zur Kenntnis nehmen, dass eine große Zahl von Werken zu verzeichnen ist, die zwar vom künstlerischen und literarischen Standpunkte als wertvoll zu erachten sind, aber einzelne Verse oder Textpassagen enthielten, die der sozialistischen Weltsicht widersprachen. Bei solchen Büchern wurde es entschieden abgelehnt, sie generell der Jugend vorzuenthalten oder sie aus dem Vertrieb auszuscheiden. Max Winter findet diesbezüglich klare Worte: „Kein Pädagoge wird dem [Ausscheiden dieser Werke] zustimmen. Wo kämen wir auch da hin? Da hätten wir bald fast gar keine Bücher für unsere Jugend oder nur unkünstlerisches Tendenzschrifttum.“ (Winter 1922b, 254f.) Stattdessen wurde bei solchen Texten ein Kompromiss angestrebt. Dieser sah wie folgt aus: Bei betroffenen Kinder- und Jugendbüchern wurde auf den ersten Umschlagsseiten eine Art „Warnung“, die als Gebrauchs- oder Leseanweisung für die Eltern und Kinder fungierte, angebracht. Beispielhaft hierfür steht die „Gebrauchsanweisung“ für das Bilderbuch Schweinchen schlachten, Würstchen machen, quiek, quiek, quiek! (illustriert von Else Wenz-Viëtor, hrsg. von Charles Dieck). Dieses Werk wird in der Sozialistischen Erziehung bereits wegen seiner verharmlosenden Darstellung des Tierschlachtens diskutiert, an dieser Stelle steht es jedoch wegen seiner Alkoholverse in der Kritik. Achtung, Eltern! Zu diesem prächtigen Bilderbuch, das ob der Bilder und Verse alle Kinder lieb gewinnen müssen, ist doch auch etwas zu sagen. Wir wollen unsere Kinder frei von Alkohol erziehen, weil Alkohol Gift ist. Nun ist aber in dem Buch dreimal vom Wein die Rede. Gleich der erste Vers erzählt den Kindern, dass sich so viele Erwachsene ein Fest noch nicht ohne Wein denken können. Das wäre also Erziehung zu feucht-fröhlichen Festen. Die wollen wir nicht leisten, aber doch auch das schöne Buch den Kindern nicht vorenthalten. So empfehlen wir also den Eltern anstatt der Zeile: „Roter Wein und weißer Wein“ zu lesen: „Reitersmann und Hündchen klein“. Das entspricht auch dem Bild. Der Reim wurde vom Volk früherer Tage gedichtet, das Volk hat heute ein Recht darauf, ihn seinen gewandelten Sitten entsprechend umzugestalten. Auf der nächsten Seite ist der rote Wein in Flasche und Glas abgebildet. Da gibt es also keine „Umdichtung“. Es wäre auch nicht in Ordnung, etwas aus der alten Sammlung „Des Knaben 45 Wunderhorn“ umdichten zu wollen. Erschwert wird die Sache noch, dass die „Kinderlein gerne trinken roten Wein“. Da empfehlen wir den Eltern also zu sagen, dass heute den Kindern kein roter Wein mehr gegeben wird, weil sie sonst krank werden und sogar sterben können. In der alten Zeit haben die Erwachsenen das nicht gewusst, weshalb sie auch solche Verse gemacht haben. Wein könnte höchstens als „Weinsuppe“ an kranke Kinder herankommen, auch diese nur dann, wenn sie der Arzt verschreibt, was also bei dem heutigen Stande der Erkenntnis immer seltener wird. Das könnte den Kindern gesagt werden, wenn ihnen der letzte Weinvers – er ist auf der vorletzten Seite des Buches – vorgelesen wird. Der Arbeiterverein „Kinderfreunde“. (In: Winter 1922b, 255) Der pädagogische Duktus, der schon fast bevormundend wirkt, ist unverkennbar. Fraglich ist die Reichweite solcher Beilagen, weil hier freilich von einem Idealbild ausgegangen wird: von Arbeitereltern, die ihren Kindern vorlesen und das Gelesene überdies mit den Heranwachsenden besprechen. Dass das eher die Ausnahme als die Regel war, braucht nicht betont zu werden. Der Mangel an einer sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur Die Frage, ob mithilfe einer den sozialistischen Vorstellungen entsprechenden Kinder- und Jugendliteratur auch der „neue Mensch“ erzogen werden sollte, ist mit den bisherigen Ausführungen noch nicht hinreichend beantwortet. Dass dem „guten Jugendbuch“ eine überaus bedeutsame Rolle im Erziehungsprozess zugestanden wurde, ist bereits zum Ausdruck gekommen, konkrete Hinweise darauf, dass diese auch der Heranbildung „neuer Menschen“ dienen sollte, finden sich, allerdings sehr wenige. Einer davon beispielsweise bei Erich Klupp, einem Mitarbeiter der Sozialistischen Erziehung, im Jahre 1928: „Neue, sozialistische Bücher werden die neuen Menschen schaffen. Die neuen Bücher sind Hilfe für das Befreiungswerk, das wir am proletarischen Kinde vollbringen wollen.“ (Klupp 1928, 309) Allerdings beklagten die sozialistischen Erziehungstheoretiker von Anfang an den Mangel an einer solchen Literatur. Anton Afritsch spricht diesbezüglich von einer „große[n] Lücke in unserer Jugendliteratur“ (Afritsch 1921b, 9) und Anton Tesarek, Leiter des Kinderheims in Schönbrunn und Gründer der Jugendorganisation „Rote Falken“, schreibt: „Es ist großer Hunger nach proletarischer Literatur.“ (Tesarek 1921b, 29) Wie eine solche Literatur aussehen sollte, bleibt jedoch unklar und wird an keiner Stelle definiert. Einig war man sich, dass die neuen Texte „die Klassengegensätze nicht verschleier[n]“ (Eichler 1924, 258) sollten, wie es Otto Eichler, Mitarbeiter der Sozialistischen Erziehung, formuliert. Aus den Buchkritiken geht auch hervor, dass man Werke wünschte, die das Leben und die Probleme der arbeitenden Menschen zum Thema machen. Stoffe und Motive sollten ebenso aus dem realen Leben entnommen sein. Hierdurch sollte dem konsequenten Ausschluss des Proletariats aus der literarischen Darstellung entgegengewirkt und den Arbeiterkindern mehr Identifikationsmöglichkeiten geboten werden, um sie so zu klassenbewussten Menschen heranzubilden. (vgl. u.a. Tesarek 1921b, 29f., Lohmann/Winter 1924, 457) Auf die bereits bestehende proletarische Kinder- und Jugendliteratur reagieren die sozialistischen Bildungstheoretiker eher zurückhaltend, wenngleich man sie lobend, allerdings nicht euphorisch, zur Kenntnis nahm. So bemerkt Anton Tesarek hinsichtlich Hermynia Zur Mühlens proletarischer Märchensammlung Was Peterchens Freunde erzählen (1921) folgendes: „Es gibt fast noch gar keine sozialistischen Kinderbücher. Nun ist da dieses Büchlein erschienen und es ist ein guter Anfang.“ (Tesarek 1921a, 23) Als „guter Anfang“ wird dieses Kinderbuch bezeichnet, aber noch nicht als das Optimum eines sozialistischen Schrifttums. Tesarek schließt seine Kritik mit den Worten: Wir haben den Wunsch, recht bald viele ähnliche Bücher im Verlag der „Kinderfreunde“ erscheinen zu sehen. Das Proletariat muss endlich beginnen, die Flut der bürgerlichnationalistischen Kinderliteratur mit guten, sozialistischen Büchern aufzuhalten und zu verdrängen. (ebda., 23) 46 Dann findet sich erst wieder im Jahre 1924 zu Robert Grötzsch’ Muz der Riese und Der Zauberer Burufu eine ähnlich lobende Kritik, (vgl. Lohmann/Winter 1924, 457) aber auch hier bleibt die Euphorie, endlich eine angemessene Form der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur gefunden zu haben, im Wesentlichen aus. Prompt folgt im Jahr 1925 eine vernichtende Kritik von Seiten der Horterzieherin, Gisa Stingl, zu den sozialistischen Märchen im Sinne von Hermynia Zur Mühlen und Robert Grötzsch. Stingl findet diesbezüglich in der Sozialistische Erziehung deutliche Worte: „Ich kann mich des Eindruckes nie erwehren, dass diese Art der Literatur eine Vergewaltigung des kindlichen Lesers bedeutet, weil ‚die Moral von der Geschichte’ in allzu aufdringlicher Form herausgearbeitet ist.“ (Stingl 1925, 296) Die Redaktion der Zeitschrift Die Sozialistische Erziehung kommentiert zwar Stingls Artikel wie folgt: dass sie „mit der Verurteilung der sozialistischen Märchen nicht einverstanden“ ist, aber eine Diskussion rund um dieses Thema durchaus begrüße. (ebda., 298) Diese Debatte rund um die sozialistische Kinder- und Jugendliteratur und das Zulassen einer Kritik an derselben ist m. E. ein Indikator dafür, dass es den sozialistischen Bildungstheoretikern nicht nur um das bloße Vorhandensein eines proletarischen Jugendschrifttums ankam, das dann unhinterfragt den Heranwachsenden vermittelt werden sollte, sondern dass diese speziellen Texte ebenso an den Vorstellungen einer qualitativ hochwertigen Literatur gemessen werden mussten. Zuvor jedoch musste erst eine derartige Kinder- und Jugendliteratur in entsprechendem Umfang geschaffen werden. Dabei mangelte es an allen Ecken und Enden: Im Vergleich zu denjenigen Büchern, die aufgrund ihrer kriegs- oder monarchieverherrlichenden Tendenz ausgesondert wurden, bemerkt Jalkotzy durchaus selbstkritisch, wurde „zu wenig Ersatz geboten.“ (Jalkotzy 1924, 449) „Voraussetzung zu einem neuen Schriftentum für unsere Jugend ist“, stellt Winter im Jahre 1923 überdies fest, „dass wir die Menschen haben, die es schaffen, also Künstler, in deren Seele sich die Welt im Lichte der sozialistischen Weltanschauung widerspiegelt.“ (Winter 1923, 110) An genau diesen Menschen schien es allerdings lange Zeit zu fehlen. Denn noch im Jahre 1926 heißt es im Protokoll der Winterschule in Neulengbach unter II b. folgendermaßen: „Der Reichsverein wird ersucht, sozialistische Jugendbücher zu verlegen. Die Schaffung sozialistischer Kinderbücher (Geschichtsbücher, Theaterstücke, sozialistische Utopien) ist durch ein Preisausschreiben zu fördern.“19 (N.N. 1927, 43) Dieser Protokollpunkt zeigt sehr deutlich, dass erstens Mitte der 20er Jahre der Bedarf an sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur noch immer nicht gedeckt war und weiterhin nach geeigneten Formen gesucht wurde, die sozialistische Weltanschauung zu vermitteln, und es zweitens ganz entscheidend an AutorInnen fehlte, die dieses Werk, ein sozialistisches Kinder- und Jugendschrifttum zu entwickeln, vollbringen konnten. Erst im Jahre 1931 (!) sollte schließlich euphorische Stimmung aufkommen. So heißt es von Otto Felix Kanitz in der „Bücherschau“ der Sozialistische Erziehung wie folgt: Endlich ein sozialistisches Märchenbuch! Seit einer Reihe von Jahren führen wir in dieser Zeitschrift und auch anderswo darüber Klage, dass es bisher noch nicht gelungen ist, ein Kinderbuch zu schreiben, das Märchenwelt und Abenteuerlust glücklich mit sozialistischer Weltanschauung verbindet. (…) Aber nun hat uns Fritz Rosenfeld ein Märchenbuch geschrieben, das ich bis auf weiteres das sozialistische Märchenbuch nennen möchte. Es heißt „Tirilin reist um die Welt“ (…). (Kanitz 1931, 282) 19 Leider konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, ob ein solches Preisausschreiben tatsächlich stattgefunden hat und wer – sofern eines veranstaltet wurde – es gewann. 47 Festzuhalten ist an dieser Stelle hinsichtlich der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur im Österreich der Ersten Republik, dass der Zeitraum, in welchem sich die sozialistischen Erziehungsvorstellungen vollständig ausformten und sich in Folge in entsprechenden kinderund jugendliterarischen Texten manifestieren hätten können, zu kurz war, um tatsächlich Gestalt anzunehmen. Trotzdem lassen sich einige Werke in diesem Kontext ausmachen, auch wenn die repräsentative Literatur, zu welcher auch das soeben genannte Werk von Friedrich Feld zu zählen ist, erst relativ spät – Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre – zu verzeichnen ist. Die sozialistischen Erziehungsvorstellungen in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik Nachdem einerseits aufgezeigt werden konnte, welche Bedeutung man der erzieherischen Funktion dem „guten Jugendbuch“ beimaß, und andererseits der Nachweis erbracht wurde, dass man ein sozialistisches Jugendschrifttum, mit welchem man überdies das Ziel verknüpfte, den „neuen Menschen“ hervorzubringen, nicht nur wünschte, sondern auch förderte, ist an dieser Stelle eine Textanalyse von entsprechenden Werken hinsichtlich des Einfließens der sozialistischen Erziehungsvorstellungen vorgesehen. Dazu wurden sechs Texte unterschiedlicher Art (Erzählungen, Bilderbücher, Märchen, Theatertexte) ausgewählt, die im näheren Umfeld der SDAPÖ im Zeitraum der Entwicklung des sozialistischen Erziehungskonzepts, etwa zwischen 1920 und 1934, entstanden sind. Das Textkorpus umfasst folgende Werke: Anton Afritsch (1920): Ins neue Leben und andere ernste Erzählungen für die reifere Jugend. Josef Pazelt (1924): Zizibe. Ein Wintermärchen für blonde und graue Kinder. Otto Felix Kanitz (1925): Nazi und der Bücherwurm. Anton Tesarek (1927): Kasperl sucht den Weihnachtsmann. Alois Jalkotzy (ca. 1930): Die verwünschte Fabrik. Friedrich Feld (1931): Tirilin reist um die Welt. Eine Erzählung für denkende Kinder. Angemerkt muss nochmals werden, dass der Anteil am Büchermarkt an dezidiert sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur, die in Österreich der Ersten Republik entstanden ist, verschwindend klein ist und dementsprechend als Randerscheinung zu werten ist. Möglicherweise ist hierin auch einer der Gründe zu suchen, warum es bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine umfassende Darstellung zu diesem Thema gibt. Bislang ist einzig der Artikel Der brave Maschinenknabe. Proletarische Kinder- und Jugendliteratur in Österreich (18951938) von Bernd Dolle-Weinkauff, einem renommierten Kinder- und Jugendliteraturwissenschafter, zum konkreten Thema erschienen. Im Untertitel dieses Aufsatzes wird bereits ersichtlich, dass die Wurzeln dieser Literaturgattung bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichen. Als frühestes Zeugnis einer proletarischen Literatur im Raum Österreich nennt Dolle-Weinkauff das Buch der Jugend (1895) von Emma Adler, Gattin von Viktor Adler. Als ebenso bedeutend gilt in diesem Zusammenhang die im Jahre 1909 zunächst anonym erschienene Autobiografie Jugendgeschichte einer Arbeiterin von Adelheid Popp, Begründerin der proletarischen Frauenbewegung in Österreich. Auch Ferdinand Hanusch, sozialdemokratischer Abgeordneter in der Monarchie und Gründer der Wiener Arbeiterkammer in der Ersten Republik, verfasste einige Erzählungen: u. a. Lazarus. Jugendgeschichte (1912). (vgl. Dolle-Weinkauff 1997, 98f.; ders. 1988, 69) Anton Afritsch, Otto Felix Kanitz und Friedrich Feld kommen bei Dolle-Weinkauff auch als Schriftsteller in diesem Zusammenhang in den Blick. Keine Erwähnung finden allerdings Anton Tesarek, der sich im Bereich des Roten Kasperltheaters verdient gemacht hat, Alois Jalkotzy, welcher sich intensiv mit der Märchentradition im sozialistischen Kontext auseinandergesetzt hat, und überraschenderweise 48 ebenso wenig Josef Pazelt, der mit seinen Erzählungen zur damaligen Zeit doch einigen Bekanntheitsgrad erlangte. Terminologische Bemerkungen Zunächst jedoch, vor den textanalytischen Erörterungen, sollen terminologische Überlegungen hinsichtlich der hier im Zentrum stehenden Literaturgattung angestrengt werden. Wie bereits erläutert wurde, ist seitens der sozialistischen Erziehungstheoretiker keine genauere Definition vorgenommen worden bezüglich des von ihnen bevorzugten / gewünschten Literaturtypus’. Mehrheitlich ist aber vom sozialistischen Kinder- und / oder Jugendbuch die Rede, ohne diese Bezeichnung genauer zu erörtern. Ein Blick in die Forschungsliteratur verweist auf die sehr umfassende DDR-Forschung zu diesem Thema. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung etablierte sich für die zwischen 1918 und 1933 erschienene sozialistisch-kommunistische Literatur für Kinder und Jugendliche die Bezeichnung „proletarisch-revolutionäre Kinder- und Jugendliteratur“. (vgl. Dreher1975, 78) Angemerkt muss jedoch werden, dass in diesem Zusammenhang insbesondere die Werke von AutorInnen erfasst werden, die im Umfeld der Kommunistischen Partei Deutschlands während der Weimarer Republik (1918/19 – 1933) entstanden sind. Umfassenderer Studien zu den im Vergleichszeitraum entstandenen Werken österreichischer SchriftstellerInnen, die ihr Schaffen als Teil der austromarxistischen Kulturbewegung sahen, sind nicht vorhanden. Es stellt sich nun die Frage, ob man den Begriff „proletarischrevolutionäre Kinder- und Jugendliteratur“ ohne Einschränkung auf die sozialistische Literatur für Kinder und Jugendliche in Österreich übertragen kann? Es ist in dieser Auseinandersetzung nicht möglich, dieses als Forschungsdesiderat zu bezeichnende Thema genauer zu untersuchen. Deshalb wird in Folge die Terminologie Bernd Dolle-Weinkauffs, die er in seinem bereits erwähnten Aufsatz vorschlägt, übernommen. In diesem Essay wählt der Kinder- und Jugendliteraturwissenschafter den Begriff „proletarische Literatur“ für dieses spezielle Schrifttum und vernachlässigt dabei – ob beabsichtigt oder nicht, wird nicht näher präzisiert – das Adjektiv „revolutionär“. Die exakte Definition, die auch dem hier beschriebenen Textkorpus zugrunde liegen soll, lautet wie folgt: Der „proletarischen Literatur“ werden (…) solche fiktionalen Texte zugerechnet, auf die folgende drei Kriterien zutreffen: 1) Stoffe und Thematiken orientieren sich an Lebensweise, Bedingungen, Gegebenheiten und Problemen der lohnabhängig arbeitenden Bevölkerungsschichten; Handlungen, Protagonisten und Milieus sind als mimetischrealistische oder symbolisch-allegorische Figurationen des proletarischen Lebens zu verstehen. 2) Den Werken liegt als sozialökonomischer Bezugsrahmen die Vorstellung von einer in Arbeitende und Besitzende gespaltenen, d.h. auf der Trennung von Kapital und Arbeit beruhenden Klassengesellschaft zugrunde, deren Aufhebung durch Emanzipation des Proletariats angestrebt wird. 3) Die Autorinnen und Autoren verstehen ihre literarische Tätigkeit als Teil der politisch-kulturellen Praxis der Arbeiterbewegung. (Dolle-Weinkauff 1997, 98f.) Diese Definition ist sehr offen und breit angelegt, die Beifügung „revolutionär“ fehlt und überdies spricht Dolle-Weinkauff von „Literatur“, nicht ausschließlich von „Kinder- und Jugendliteratur“. Hiermit wird einer Haltung Rechnung getragen, die noch in der Wolgast’schen Tradition wurzelt und die besagt, dass sich ein „gutes“ Buch nicht nur an Kinder, Jugendliche oder Erwachsene wendet, sondern durchaus eine mehrfachadressierte Dimension aufweist. (vgl. Afritsch 1921b, 8f.) Letztlich vermeidet Dolle-Weinkauff auch eine Festschreibung der proletarischen Literatur auf eine bestimmte Form. Dies ist zu begrüßen, da sich ein vielfältiger Formenbestand abzeichnet: Erzählungen, Märchen, Reise- und 49 Abenteuergeschichten sowie Theaterstücke sind innerhalb der proletarischen Literatur durchwegs vertreten. Das Drei-Phasen-Modell Innerhalb des hier zu untersuchenden Textkorpus fällt auf, dass sich hinsichtlich der Manifestation des sozialistischen Erziehungsdiskurses in der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur im Untersuchungszeitraum eine Entwicklung abzeichnet. Um diese näher zu beschreiben, wird ein Drei-Phasen-Modell vorgeschlagen, welches sich nach folgenden Themen gliedert: (1) Lebensreform und Lebenshilfe (ca. 1920-1925), (2) das proletarische Märchen (ca. 1924-1930), (3) die märchenhaft-fantastischen Reiseerzählung (ca. 1927-1931). Erste Phase: Lebensreform und Lebenshilfe (ca. 1920-1925) Diese Phase in der Entwicklung einer proletarischen Literatur für Kinder und Jugendliche ist noch nicht – wie das bei den anderen beiden Phasen der Fall ist – auf ein bestimmtes Genre fixiert. Vielmehr spiegeln sich hier die lebensreformatorischen Ansichten der Kinderfreundebewegung wider, die auch Teil des Diskurses des „neuen Menschen“ sind, und sich folgendermaßen beschreiben lassen: Alkohol- und Tabakabstinenz als Teil eines neuen Lebensstils des Proletariats, Freundschaft und Solidarität als bewusste Kontrapunkte zu Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung jeglicher Art, die Ablehnung des Militarismus als ein Relikt vergangener Tage und der Erwerb von Wissen und Bildung als Zukunftsperspektive. Charakteristisch für beide hier zur Diskussion stehenden Texte ist überdies, dass einerseits noch nicht der Versuch unternommen wird, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu erklären und andererseits werden in beiden Büchern keine oder nur sehr subtil Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, die Klassengesellschaft zu überwinden. Am Beginn des Untersuchungszeitraums steht die Anthologie Ins neue Leben und andere ernste Erzählungen für die reifere Jugend (1920) von Anton Afritsch, der bereits als Gründer des Arbeitervereins „Kinderfreunde“ genannt wurde. Dieses Werk umfasst in der Erstauflage zwölf Erzählungen, welche teils stark autobiografisch geprägt sind. Der Schwerpunkt liegt in der Beschreibung der proletarischen Kindheit, wobei ein Wendepunkt der jeweiligen ProtagonistInnen im Zentrum des Geschehens steht, mit welchem ein lebensreformatorischer Wandel einher geht und ein positiver Zukunftsausblick erfolgt. Das Bilderbuch Nazi und der Bücherwurm, publiziert 1925, illustriert von Ernst Kutzer und mit den Versen von Otto Felix Kanitz versehen, der bereits als einer der wichtigsten sozialistischen Erziehungstheoretiker in Erscheinung getreten ist, wirkt beinahe wie eine Werbeschrift: Denn hier fließen in Vers und Bild beiläufig die sozialdemokratischen Vereine und Organisationen ein, die sich in jeder Situation als eine Art von Lebenshilfe präsentieren. Frei nach dem Motto „von der Wiege bis zur Bahre“ werden u. a. die „Schul- und Kinderfreunde“, die „Roten Falken“, die „Naturfreunde“, der Turnverein „ASKÖ“, die Konsum- und Siedlungsbaugenossenschaft, der Abstinenzverein, die Bildungsstelle sowie der Verlag Jungbrunnen direkt (in den Versen) oder indirekt (durch die Illustrationen) beworben (siehe Abb. 2). Die Botschaft lautet schließlich: Hier, innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit ihrem feingliedrigen Netz an Vereinen und Organisationen, findest du in jeder Lebenslage Hilfe und Unterstützung, Gemeinschaft und Solidarität. Daneben fehlen ebenso wenig die lebensreformatorischen Bestrebungen der Kinderfreundebewegung, die sich u. a. in Alkohol- und Tabakabstinenz ausdrücken (siehe Abb. 3 u. 4). Auf insgesamt 28 Seiten und neun Kapiteln wird der jugendlich wirkende Bibliothekar Nazi (wahrscheinlich Kurzform von Ignaz) vom Bücherwurm begleitet. Als Freund und Helfer in jeder Lebenssituation steht das Fabelwesen Nazi in den sehr lose miteinander verknüpften Geschichten treu zur Seite. In der Figur des Bücherwurms nimmt die Vorstellung der sozialistischen Erziehungstheoretiker 50 Gestalt an, nach welcher das Buch als Freund, Erzieher und guter Kamerad in allen Lebenssituationen zu verstehen ist. Auch in diesem Werk unternimmt der Autor nicht den Versuch, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu erklären. Der Grund hierfür liegt mit großer Wahrscheinlichkeit in Kanitz’ pädagogischen Überlegungen, zusammengefasst dargelegt in seiner Schrift Kämpfer der Zukunft (1929). Darin führt der Pädagoge aus, dass die sozialistische Kindererziehung bei der sozialistischen Gefühlsbildung beginnen müsse. Auf das hier zur Diskussion stehende Bilderbuch bezogen bedeutet das, dass sein Ziel darin besteht, die Kinder gefühlsmäßig mit der proletarischen Arbeiterbewegung und ihren sozialen Netzwerken in Verbindung zu bringen. Erst in späteren Jahren könne zum soziologischen Denken und damit mit der sozialistischen Verstandesbildung begonnen werden. (vgl. Kanitz 1929, 32-45) Zweite Phase: Das proletarische Märchen (ca. 1924-1930) Zeichnen sich die Werke der Frühphase zwar bereits durch das Einfließen sozialistischer Erziehungsinhalte und durch den Bezugspunkt auf das proletarische Leben aus, tritt ab Mitte der 20er-Jahre das Märchen als zentrale Erzählgattung in den Vordergrund. Dabei ist die Märchendiskussion innerhalb der Arbeiterbewegung schon in der Monarchie und insbesondere in der Vorkriegszeit anzusiedeln. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde – früher als in Österreich – in der Weimarer Republik wieder auf das Märchen als spezifische Gattung für die proletarische Kinder- und Jugendliteratur zurückgegriffen. Die Literaturwissenschafterin, Helga Karrenbrock, nennt als bedeutende Werke in diesem Zusammenhang u. a. Bruno H. Bürgels Werk Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle – Ein Buch für Junge und Alte, die jung geblieben sind (1920) und Hermynia Zur Mühlens Kinderbuch Was Peterchens Freunde erzählen (1921). (vgl. Karrenbrock 2008, 250f.) Auch die sozialistischen Erziehungstheoretiker innerhalb der SDAPÖ versuchten sehr früh, einen eigenen Standpunkt zum Märchen zu erarbeiten. Standen namhafte Philosophen, wie Rousseau und Kant, aber ebenso Maria Montessori als zentrale Vertreterin der Reformpädagogik, dem Märchen als Kinderlektüre sehr kritisch gegenüber, wenn nicht sogar ablehnend, war für die sozialistischen Erziehungstheoretiker bald klar, dass man auf das Märchen innerhalb der Kinderlektüre nicht verzichten wolle. Denn einerseits ging aus statistischen Erhebungen hervor, dass das Märchen bis zum zehnten Lebensjahr den gewichtigsten Teil der Gesamtlektüre ausmache (vgl. Jalkotzy 1952, 39, 42), und andererseits berief man sich in der Befürwortung des Märchens auch auf aktuelle psychologische Erkenntnisse und hier insbesondere auf die bedeutende Entwicklungspsychologin, Charlotte Bühler. Diese benennt sogar ein ganzes Entwicklungsstadium des Kindes als das Märchenalter. 51 (vgl. Bühler 1918, 5ff.) Dementsprechend fällt auch das Urteil von Alois Jalkotzy aus: „Kinder ohne Märchen aufwachsen zu lassen, wäre ein pädagogischer Irrtum.“ (Jalkotzy 1952, 39). Zu einem ähnlichen Schluss kommt Max Winter: „Jedenfalls birgt der Schatz, den uns die Brüder Grimm hinterlassen haben, soviel Ewigkeitswerte, daß um ihrerwillen eine besondere Pflege der Grimmschen Märchen in unseren Büchereien gerechtfertigt erscheint.“ (Winter 1922b, 250) An dieser Stelle klingt bereits die starke Affinität und Wertschätzung zu den Märchen der Brüder Grimm an, an der sich bis 1934 nichts ändern sollte und sich sogar darüber hinaus, in der Zweiten Republik, fortgesetzt hat. Trotzdem las man die alten Märchen kritisch und bemühte sich um eine Humanisierung derselben. Hierbei orientierte man sich im Wesentlichen an den Vorstellungen zum „guten Jugendbuch“, weshalb auch die Märchenneubearbeitungen im Zusammenhang mit den sozialistischen Erziehungsvorstellungen gesehen werden müssen. Zu verweisen ist diesbezüglich insbesondere auf die theoretische Auseinandersetzung zum Märchen von Alois Jalkotzy in Märchen und Gegenwart. Deutsche Volksmärchen und unsere Zeit (1930). In dieser Darstellung finden sich auch Beispiele von Märchen, die von Grausamkeiten, einem überkommenem Rechtsverständnis und von veralteten Motiven „bereinigt“ sind. Fortgesetzt hat der Pädagoge seine Arbeit in der Zweiten Republik: Hier sind u. a. die Werke Alte Märchen neu erzählt (1954) und Grimms Märchen ohne Grausamkeiten neu erzählt (1963) im Verlag Jungbrunnen erschienen. Darüber hinaus ist in der Ersten Republik auch der Versuch unternommen worden, selbst neue Märchen bzw. „proletarische Märchen“ zu schreiben. Bevor jedoch auf konkrete Beispiele näher eingegangen werden kann, ist in diesem Kontext der Märchenbegriff zu konkretisieren. Dolle-Weinkauff definiert diesen Begriff hinsichtlich des „proletarischen Märchens“ folgendermaßen: „Märchen“ ist hier kaum als eine streng festgelegte Gattungsbezeichnung zu verstehen, es finden sich darunter Fabeln, Parabeln, Tiergeschichten, visionäre Impressionen und Travestien z.B. von biblischen Erzählstoffen. Die Rubrizierung unter „Märchen“ zielt vielmehr auf einen im Angebot der zeitgenössischen Kunstmärchenliteratur allenthalben sich abbildenden Erwartungshorizont, der im Wesentlichen mit den Topoi formelhafte Sprache, anthropomorphe Tiere, Pflanzen und Gegenstände, wunderbare Requisiten, fantastische Handlungsvarianten zu umreißen ist. (Dolle-Weinkauff 1997, 99) Und weiter heißt es: Die proletarischen Märchen (…) verstehen sich dabei jedoch in gewisser Weise als chiffrierte Anti-Märchen. (…) [B]eabsichtigt ist (…) eine symbolisch-allegorische Instrumentalisierung des Wunderbaren zum Zwecke der Aufklärung über gesellschaftliche Verhältnisse. Indem das „märchenhafte“ Detail zum Verweis auf gesellschaftliche Wirklichkeit benutzt wird, hebt es sich als solches auf (…). (ebda. 1997, 99) Ein Beispiel für ein „proletarisches Märchen“ bzw. für ein „echte[s] Märchen unserer Zeit (…)“ (Jalkotzy 1952, 110) findet sich in Jalkotzys bereits genannter Abhandlung Märchen und Gegenwart. Von diesem Märchen mit dem Titel Die verwünschte Fabrik, das sich nur in der zweiten Auflage aus dem Jahre 1952 findet, heißt es, dass es von Wanderlehrern der Kinderfreunde zur Zeit der Ersten Republik, als große Arbeitslosigkeit herrschte, vor Kindern und Erwachsenen oftmals erzählt wurde. (vgl. Jalkotzy 1952, 110) Aus diesem Grund soll dieses Märchen hier berücksichtigt werden; Jalkotzy ist in diesem Zusammenhang nicht als Autor, sondern lediglich als ein nachträglich Aufzeichnender zu verstehen. Die verwünschte Fabrik weist im Allgemeinen große Parallelen zum Grimm’schen Märchen Hänsel und Gretel auf und funktioniert auch nach demselben Schema. Es werden lediglich die Motive und Themen anders gesetzt: So orientieren sich die Inhalte an der proletarischen Lebenswirklichkeit, Arbeitslosigkeit wird als Motiv neu aufgegriffen, Hunger und Not werden 52 als ständige Themen präsent gehalten. Eine Ruine, in der eine alte Frau mit ihren beiden Tieren haust, wird schlussendlich durch Hansls Hilfsbereitschaft und solidarischem Verhalten in eine Fabrik verwandelt, womit er den Fluch der Arbeitslosigkeit von seinem Dorf bannt. So heißt es: Hansl, du hast die verzauberte Fabrik durch deine gute Handlung erlöst. Sie war in eine Ruine verwandelt, weil ihr früherer Besitzer habsüchtig und gemein war. Du hast den Zauber gebrochen, weil du gut und hilfreich bist, selbst wenn es dir verboten wird. Die Fabrik gehört dir, solang du so bleibst. (118) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass dieses Märchen hier nicht nach sozialistischer Manier endet: Anstatt, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft wird, wird Hansl gerade wieder zum alleinigen Besitzer – und damit an den Produktionsmittel – der Fabrik ernannt. Folgerichtig hätte das Märchen geendet, wenn alle Arbeiter des Dorfes zu gleichem Anteil am Besitz an den Produktionsmitteln beteiligt worden wären. Generell ist festzuhalten, dass in diesem Märchen noch nicht zum soziologischen Denken angeleitet wird, d. h. es werden keine Versuche unternommen, das kapitalistische System zu erklären. Wie auch schon die beiden Texte zuvor, bewegt sich auch Die verwünschte Fabrik auf der Gefühlsebene. Anders gestaltet sich das proletarische Märchen Zizibe mit dem Untertitel Ein Wintermärchen für blonde und graue Kinder aus dem Jahre 1924 von Josef Pazelt, der ein glühender Verfechter der Glöckel’schen Schulreform war und u. a. das Amt als Bezirksschulinspektor in Wr. Neustadt (1923-1934) ausübte. (vgl. Lehrl 2007, 503) In diesem Text werden eine Menschen-, Tier- und Märchenwelt miteinander verwoben. Die Märchenwelt weist wieder deutliche Bezüge zum Grimm’schen Märchen auf: dieses Mal zu Jorinde und Joringel. Von besonderem Interesse ist allerdings die Tierwelt, da diese über symbolisch-allegorischen Charakter verfügt und zu Aufklärungszwecke über die menschliche Klassengesellschaft dient. Im Zentrum steht hier eine Mäusefamilie, die mit den Attributen „arm“, „hungrig“ und „ungebildet“ versehen als proletarisch stilisiert wird. Im Gegensatz dazu tritt der Hamster, der als reich und geizig gilt und sich gegenüber der notleidenden Familie gänzlich unsolidarisch verhält, als Bürgerlicher auf. Über ihn heißt es: „Er hat viele Vorräte und ist reich. Aber er hat kein Herz.“ (110) In die Rolle des großen Aufklärers schlüpft der flugunfähige Rabe, Silvester Aaser. Er klärt die existenzbedrohten Mäuse über ihre Lage auf, in welcher der Mensch der Hauptfeind ist. Die Mäuse schenken den Worten des Raben zunächst allerdings keinen Glauben, worauf dieser wie folgt entgegnet: „Da hat man’s ja“, greinte der Rabe. „Das ist wieder ein Beweis der Uneinigkeit unter uns Tieren. Wenn wir alle zusammenhielten, wir könnten den Menschen ausrotten. Aber wenn ich so einen Ochsen ansehe, wie der Kerl sich in einen Wagen spannen lässt und den ganzen lieben Tag zieht und zieht, nur damit der Mensch nichts zu tun hat! Oder die kleinen Vögel, die sich in einen Käfig sperren lassen und dem Menschen sogar noch schöne Lieder vorsingen dafür, dass er sie um ihre Freiheit gebracht hat, da muss man jede Hoffnung verlieren.“ (116) Silvester Aaser macht die Uneinigkeit innerhalb der Tierwelt für die bedrängte Lage der Tiere verantwortlich. Solidarität und Einigkeit nennt der Aufklärer als Schlüssel aus Unterdrückung und Versklavung. Der Mensch schlüpft im übertragenen Sinne in die Kapitalistenrolle, der die Tiere ausbeutet und unterjocht, er ist der „Peiniger aller Geschöpfe“ (115). Zusätzlich lassen sich in Zizibe, typisch für die sozialdemokratische Gesinnung, eine antimilitaristische und antimonarchistische Haltung ausmachen. So verwundert es nicht, dass die erlöste Prinzessin schließlich den Wandel ihres einstigen Königsreiches in eine Republik sogar begrüßt: „(…) Lieber lebe ich in der Republik frei, als in der Monarchie in einem Gurkenglas!“ (142) Festhalten lässt sich, dass in Zizibe der Versuch zur soziologischen Schulung auszumachen ist, indem Pazelt in symbolischer Allegorie die menschlichen Verhältnisse auf die Tierwelt 53 überträgt. So finden sich hier erste Ansätze zur Erklärung der Beschaffenheit der Gesellschaft und darüber hinaus werden Wege zur Überwindung von Unterdrückung und Ausbeutung aufgezeigt. Dritte Phase: Die märchenhaft-fantastischen Reiseerzählung (1927-1931) Trotz Überschneidungen mit der zweiten Phase, lassen sich ab 1927 markante Veränderungen in der literarischen Verarbeitung von Themen und Motiven ausmachen. Nun tritt der Bezug zum Grimm’schen Märchen fast gänzlich zurück. Märchenhafte Requisiten sind zwar auch hier vorhanden, dienen jedoch v. a. der Vermittlung von gesellschaftlichen Zusammenhängen, liegen aber den Texten nicht mehr als maßgebende Struktur zugrunde. Indes kommt dem Reisetopos eine zentrale Bedeutung zu: Durch das Motiv der Reise wird ein Desillusionierungsprozess über den Weg der Selbsterkenntnis in Gang gesetzt. Anstoß für die Reise bildet eine existenziell wichtige Frage der Protagonisten, deren Beantwortung fortan angestrebt wird. Hieraus ergibt sich eine gewisse Nähe zum Detektivroman, da jeder noch so kleine Hinweis zur Lösung des Rätsels verfolgt wird. Am Ende der Reise steht ein anderer, ein desillusionierter, aber auch selbstbewusster und klassenbewusster Mensch, der über die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge aufgeklärt ist und neue Ziele und Handlungsmöglichkeiten erkennt. Dolle-Weinkauff bezeichnet diese literarische Grundstruktur als die „märchenhaftfantastische Reiseerzählung“ und bezieht sich hier im Speziellen auf Friedrich Felds Tirilin reist um die Welt (1931). (vgl. Dolle-Weinkauff 1997, 102f.) Diese Bezeichnung soll auch hier Verwendung finden. Neben Friedrich Feld gibt es allerdings auch noch andere Autoren, die den Aufbau ihrer Erzählung ähnlich gestalten und sich dem soeben beschriebenen Schema bedienen: Zu nennen sind hier Anton Tesarek mit seinem Kasperlstück Kasperl sucht den Weihnachtsmann (1927) und Josef Pazelt mit dem Heimatbuch Lambert Löffelmann und Silvester Aaser (1931). Letzteres Werk soll hier aus Platzgründen allerdings nicht näher analysiert werden. Festzuhalten ist, dass das Schema der „märchenhaft-fantastische Reiseerzählung“ im Kontext der proletarischen Literatur nicht neu ist, sondern bereits in Paul Vaillant-Couturiers Jean sans pain, histoire pour tous les enfants im Jahre 1921 Anwendung findet. Diese Erzählung erscheint 1928 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Hans-ohne-Brot. Die bekannte Schriftstellerin, Lisa Tetzner, greift diesen Stoff 1929 für das Märchentheaterstück Hans Urian geht nach Brot auf, dessen Inszenierung der (Drehbuch-)Autor, Filmkritiker und Regisseur, Béla Balázs, übernimmt. 1931 erscheint schließlich der Kinderroman Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise ebenfalls aus der Feder Lisa Tetzners. (vgl. Dolle-Weinkauff 1984, 30, 37, 99) Die Kinder- und Jugendliteraturwissenschafterin, Gina Weinkauff, weist in diesem Zusammenhang nach, dass der Theatertext Hans Urian geht nach Brot, den Tetzner und Balázs in Zusammenarbeit zur Aufführung brachten, als Prätext für Felds Erzählung gelten muss. (vgl. Weinkauff 2011) Auch Selma Lagerlöfs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (1906/07) muss in diesem Kontext als richtungsweisend betrachtet werden. Tetzner hält sogar fest, ihr habe ein „Grundentwurf der Reise um die Welt, bei der das Kind die Welt sehen soll (…) in Form eines Niels Holgersonbuches [sic!]“ vorgeschwebt. (Tetzner zit. n. Dolle-Weinkauff 1984, 180 Anmerkungen zu Kap. 4) Gina Weinkauff weist ebenso für die Texte von Vaillant-Couturier, Tetzner und Feld auf die Nähe zu Selma Lagerlöfs Werk hin und bezeichnet die jeweiligen Protagonisten als einen „proletarischen Nils Holgersson“. (Weinkauff 2011) Hinsichtlich des Kasperltheatertextes von Anton Tesarek ist Vaillant-Couturiers Jean sans pain allerdings nicht als Prätext anzunehmen, da die deutsche Übersetzung erst 1928 erscheint und Kasperl sucht den Weihnachtsmann bereits 1927 publiziert wird. Selma Lagerlöfs Werk ist dem Gründer der „Roten Falken“ jedoch hinreichend bekannt. Auch ist anzunehmen, dass Tesarek hinsichtlich des stark ausgeprägten Reisemotivs auf die alte Tradition der 54 Kasperlreise zurückgreift, die Franz Graf von Pocci bereits im 19. Jahrhundert für seine Kasperl- und Marionettentheater entwickelt hat. (vgl. Weinkauff 2011; dies. 1986, 216) Bezüglich der Figur des „roten Kasperls“ erfolgt eine Verortung „in der Tradition plebejischer Clowns früherer Jahrhunderte“. (Bundschuh 1998, 80) An dieser Stelle ist die eingangs genannte Forschungsfrage zu überprüfen, inwiefern sich die Vorstellung des „neuen Menschen“ in den Protagonisten von Friedrich Felds Erzählung Tirilin reist um die Welt und Anton Tesareks Kasperltheater Kasperl sucht den Weihnachtsmann widerspiegelt. Hierbei ist der „neue Mensch“ nach den sozialistischen Erziehungsvorstellungen als der klar und kritisch denkende, sittlich freie und solidarisch handelnde Mensch zu bestimmen, der sich mit der Aufgabe des Erbauers der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft auf gewaltfreien Wege identifiziert. Dabei gestaltet sich der Weg hin zum „neuen Menschen“ als Selbsterziehungs- und Selbsterkenntnisprozess. Wie bereits erläutert, bildet den Anstoß für Tirilins und Kasperls Reise die unmittelbare Erfahrung von Leid, Hunger und Armut in der werktätigen Bevölkerung. So beschließt Kasperl: Und ich werd ihn [= den Weihnachtsmann] suchen (…) und sage [zu ihm]: Herr Weihnachtsmann, schauen Sie. Da ist ein Bauer und eine Bäuerin. Die zwei haben das ganze Jahr fleißig gearbeitet. Sie haben gearbeitet, gearbeitet, nix wie gearbeitet. Und jetzt geht es ihnen so schlecht. Der reiche Herr Gutsbesitzer, der hat nix gearbeitet und wieder nix gearbeitet und ein drittes Mal nix gearbeitet und dem geht es gut, der hat ein Weihnachtsbaum. Aus diesem Grunde fordere ich Sie auf, mache ich Sie aufmerksam, stelle ich an Sie das Ersuchen, habe ich an Sie die Bitte und sage Ihnen: „Wenn Sie ein anständiger Weihnachtsmann sind, dann rennen Sie, so viel Sie können und bringen denen zwei braven Leuten einen Baum“… (AT, 8) Ähnlich gestaltet sich die Situation für Tirilin: „Vater, muss man im Märchenland auch alles bezahlen? Oder bekommt man dort Kleider und Essen ohne Geld?“ Der Vater lacht. „Im Märchenland bezahlt man nichts. Dort gehören alle Dinge allen Menschen.“ „Warum wandern dann die armen Leute nicht ins Märchenland?“ „Weil sie den Weg nicht wissen, Tirilin.“ „Ich werde ihn finden“, sagte Tirilin. „Und ich werde ihn allen armen Leuten zeigen.“ (FF, 17-18) Bereits zu eingangs deutet sich in der Charakterstruktur der Protagonisten ihre Fähigkeit zum klaren Denken an, da sie die ungerechte Verteilung der Güter wahrnehmen und hinterfragen. Dieser Charakterzug wird in Folge zum Motor in der Erforschung der gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge und steigert sich bis hin zum kritischen Denken. Dabei spielt die Methode des Fragen-Stellens, die für die sozialistische Erziehung weiter oben als zentral dargestellt wurde, eine entscheidende Rolle. Das kindliche Wahrnehmen und Erfahren bildet in diesem Zusammenhang immer den Ausgangspunkt. Das Erfragen, Hinterfragen und InFrageStellen von gesellschaftlich akzeptierten Verhältnissen bilden auch in Felds und Tesareks Texten einen festen Bestandteil in der Erzählstruktur. So stellt der rote Kasperl u. a. keck und frech die Daseinsberechtigung eines Königs in Frage, worin sich ein weiteres Mal die antimonarchistische Haltung der SDAPÖ ausdrückt: Also, Sie Herr König, ich möcht mich einmal vorstellen. Für Sie bin ich der Herr Kasperl. Sie, ich bin ein ehrlicher Arbeiter. Hab mich das ganze Jahr fleißig geplagt. Was haben denn eigentlich Sie gemacht? Sie, Sie, Sie. Glauben Sie denn wirklich, dass König auch ein Geschäft ist? (AT, 14) 55 Kämpferisch muten dagegen bereits Tirilins Fragen an, als er während der Überfahrt auf einem herrlichen Schiff nach Amerika erkennen muss, dass es auch auf der Yacht ein „Unten“ und „Oben“ gibt. Die folgenden Fragen wirft der Holzfällerbub dem Inhaber des Schiffes, einem reichen Industriellen, an den Kopf: „Ist es denn in Ordnung, dass die einen arbeiten und schwitzen und zusammenbrechen, während die anderen nichts tun und in der frischen Luft spazieren gehen? Ist es in der Ordnung, dass die einen sich in der heißen Küche plagen und die anderen, die nichts gearbeitet haben, die besten Speisen aufessen?“ (FF, 64) Sittlich freies und solidarisches Handeln gehen dagegen oftmals miteinander konform: Indem sich der rote Kasperl und Tirilin mit den arbeitenden Menschen solidarisch erklären und sich ohne äußeren Zwang für sie einsetzen, handeln sie gleichzeitig sittlich frei. Dies ist beispielsweise bei einer Begegnung Tirilins mit einem reichen Bauern und seinem Knecht ersichtlich: Tirilin aber drehte sich um und sah den Knecht müde durch den Staub der steinigen Straße stolpern. „Warum darf dein Knecht nicht reiten?“ fragte er den Bauer. „Er ist ein Knecht“, sagte der Bauer. „Er soll sehen, dass ein Unterschied ist zwischen mir und ihm. Mir gehört das Land, auf dem er arbeitet, er hat nichts, und wenn ich ihn heute wegschicke, muss er hungern. Er ist nicht meinesgleichen. Die Esel gehören mir. Der Knecht hat seine Füße. Für ihn füttere ich meine Esel nicht.“ „Es ist aber gar nicht schön von dir“, sagte Tirilin, „dass du deinen Knecht zu Fuß laufen lässt. Er soll auf meinem Esel reiten und ich gehe wieder ein Stück zu Fuß. Dein Knecht wird müde sein.“ (FF, 33-34) Ähnliche Handlungsabläufe finden sich in Tirilin reist um die Welt auch an anderen Stellen. So tauscht der Protagonist mit dem armen Balljungen für einige Stunden die Rollen und setzt sich für Omar, dem betrogenen Kupferschmied, – ungeachtet dessen, dass er sein eigenes Leben damit aufs Spiel setzt – ein. Auch bei Li-Hung, dem ausgezehrten Chinesenjungen, zögert Tirilin keine Sekunde, ihm zu Hilfe zu eilen. Im Laufe seiner Reise erfährt Tirilin, wie die Armut der Vielen und der Reichtum der Wenigen mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln zusammenhängt, wie das kapitalistische Handel mit Waffen zum Anlass von Kriegen werden kann und wie menschliche Laster (Geiz, Gier, Egoismus, Machtstreben) zur Bürde der werktätigen Menschen werden. Letztlich kehrt Tirilin geläutert, aber seine Handlungsoptionen klar sehend in sein Dorf zurück, wie aus der Unterhaltung mit Purzelmann, dem Briefträger, hervorgeht: „Ich will ein Holzfäller sein wie mein Vater. Aber ich will die anderen Holzfäller lehren, Bäume zu schlagen und Bretter zu schneiden für Häuser, die allen Menschen gehören. Sie werden mich verstehen, denn sie sind arm wie ich. Und wenn wir so viel Holz beisammen haben, dass wir eine ganze Stadt daraus bauen können und viele Städte, ein ganzes Land, dann wollen wir an die Arbeit gehen. In diesem Land wird niemand hungern und niemand vor Not sterben. Die anderen Menschen werden von uns lernen und es machen wie wir. Dann endet auf der ganzen Erde das Elend und die Verzweiflung. Dann ist überall das Märchenland, das jetzt nirgends ist.“ „Du willst also das Märchenland erst erschaffen?“ fragte Purzelmann und schüttelte den Kopf. „Ja, Purzelmann“, sagte Tirilin und umspannte mit der Hand fest den Schaft seiner Axt. „Das weiß ich jetzt: wir müssen uns das Märchenland erst erschaffen.“ (FF, 139) 56 Hervorzuheben ist, dass das „Märchenland“, d. h. die klassenlose Gesellschaft, nicht durch Klassenkampf und Revolution erzwungen, sondern durch genossenschaftliche Arbeit, Vernunft und Vorbildwirkung, ganz im Sinne der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit, errichtet werden soll. In Kasperl sucht den Weihnachtsmann hingegen werden soziologische Erkenntnisse über das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft kaum oder nur oberflächlich vermittelt. Trotzdem muss der rote Kasperl erkennen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und dass die arbeitende Bevölkerung nur in der internationalen Klassensolidarität wechselseitige Versicherung und gegenseitige Hilfeleistung finden kann. Dies erklärt der rote Kasperl ernüchtert den Pächtern folgendermaßen: Nix, nix, Weihnachtsmann. Setzt euch einmal her und lasst euch erzählen. Den Weihnachtsmann, den hab ich net gefunden. (…) Da hab ich mir gedacht, jetzt werd ich selber Weihnachtsmann sein. Und wo ich dann hingekommen bin, zu unseren Genossen – alle haben mir geholfen. Die Holzknechte haben mir den Baum gegeben. Die Leute in der Kerzenfabrik die Kerzeln, die Bäcker und Zuckerbäcker die Wuchteln und Strudeln, die chinesischen Genossen haben gar einen Tee geschickt. Die Weber haben das Kopftüchel hergegeben und so können wir jetzt fein Weihnachten feiern. Ja, ja, die Leut, die Freundschaft sagen, die halten auch gut zusammen. (AT, 27) Resümee Innerhalb dieser Auseinandersetzung konnte aufgezeigt werden, dass auch die sozialistischen Erziehungsvorstellungen der Ersten Republik, obgleich ihres geringen Wirkungszeitraumes von ca. 1920 bis 1934, ihren literarischen Ausdruck in Kinder- und Bilderbüchern, Jugenderzählungen und Theatertexten fanden. Dabei zeichnet sich eine Entwicklung ab, die sich zuerst thematisch an den lebensreformatorischen Bestrebungen der Kinderfreundebewegung orientiert und sich dann zusehends an der Frage nach der entsprechenden Form hinsichtlich der Vermittlung sozialistischer Erziehungsinhalte misst. Dabei steht zunächst das proletarische Märchen zur Diskussion und gegen Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre die märchenhaft-fantastische Reiseerzählung. Das Bild des „neuen Menschen“ konnte schließlich nur innerhalb der märchenhaft-fantastischen Reiseerzählung ausgemacht werden. Sowohl in Tirilin in Tirilin reist um die Welt als auch im roten Kasperl in Kasperl sucht den Weihnachtsmann spiegeln sich die Fähigkeiten zum klaren und kritischen Denken und zum sittlich freien und solidarischem Handeln wider. Letztlich erkennt sich aber nur Tirilin auch als Erbauer der klassenlosen Gesellschaft, weshalb strenggenommen einzig dieser als „neuer Mensch“ nach den sozialistischen Vorstellungen bezeichnet werden kann. 8. Ludwig Breuer – Stille Rebellion. Das Medium Comic 8.1 Form Zeichen Zum Beispiel die ausgestreckte Hand mit den ausgestreckten drei Fingern bei „The Hunger Games. Catching Fire“ bzw. bei den Thai-Protesten. Ziele und Wege Comic als Medium o Semiose von Inhalt o Form getrennt von Inhalt betrachten o Comic als konventionalisiertes Zeichensystem o Eigene Art „Geschichten“ zu erzählen (Inhalte zu vermitteln) 57 o o o o Semiotische Herangehensweise In Abgrenzung zu anderen Medien zu betrachten Zeichnhaftigkeit „intern“ und „extern“ betrachten Spezifische Rezeptionserfordernisse o Sprachliche Zeichen o Strukturalistische Semiotik o Beziehung zur Realität o Referenz über Gedanken o Konventionalität o Comic kein Lautereignis „Selbst im entferntesten Winkel seines Bilderuniversums bietet der comic immer auch einen Appell an die menschliche Imagination und Fantasie“ Comic und Jugend o Handlungs- und Symbolsystem Abgrenzung Sequenzielle Kunst Begriff Comic nach McCloud (2001) „Zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen.“ Sequenzierung (<-> Einzelbild) Räumliche Sequenzierung (<-> Film) Bildliche Zeichen (<-> Texte / Bücher) Intentionale sequenzielle Informationsvermittlung (<-> Bildergalerie) Probleme „andere Zeichen“ Nicht alle Zeichen „bildlich“ (ikonisch) Auch konventionalisierte Zeichen (symbolisch) Unterschiedliche Abstraktionsgrade Konventionalisierte „Comic“-Symbole 58 Zeichensystematisches Medium „Danach sind Medien als Zeichensysteme zu verstehen, die Geistiges vermitteln. Die Zeichenhaftigkeit macht Medien zu Medien. Zeichensysteme sind demnach Medien, ungeachtet ihrer technischen Realisierung.“ Comic als hybrides medium: Bild & andere Zeichen Zeichen operieren auf unterschiedlichen Ebenen miteinander: o Mehrere Panels Sequenzen o In Panels Verbindung verschiedener Zeichen o Panelrahmen Verbindung zu Objekten im Panel o Kombination von Schrift- & Bildebene Zeichensystematisches medium vs. Technische Realisierung Definition „Der comic ist ein zeichensystematisches Medium, das Informationen und ästhetische Wirkung vermittelt. Die Vermittlung geschieht durch in räumliche Sequenzen angeordnete bildliche und/oder andere Zeichen, die in einer (hybriden) Verbindung zueinander stehen. Typischerweise findet eine solche Verbindung zwischen bildlichen und schriftlichen Zeichen statt. Dem Medium steht ein typisches Forminventar zu Verfügung (Panels, Gutter, Sprechblasen etc.) welches zur Verbindung der Zeichen eingesetzt werden kann, aber nicht muss.“ (Breuer 2010) Prototypische Defintion Sequenzielle Informationsvermittlung (hybride) Verbindung von Einzelzeichen Oft Bild und Text Typisches Forminventar Strukturalistische Semiotik Beziehung Zeichen zur Realität Ikon: Ähnlichkeitsrelation zB Bilder, Fotos, Piktogramme Symbol: konventionalisierte Relation zB Wörter, Schriftzüge, Signale Index/Symptom: kausale Relation zB Rauch, Dialekt, Kleidung Abstraktionsgrade des Comics „Sprache des Comics“ Steigender Abstraktionsgrad Auf Darstellungsebene o Konventionalisierung 59 o Steigende Symbolhaftigkeit o Sinkende Ikonizität Auf bildebene o Kausalität des Zeichens o Steigende Indexikalität o Sinkende Ikonizität Grundannahmen zum Zeichensystem Comic Jedes Zeichen ist optisch Jedes Zeichen ist intentional Jedes Zeichen kann gleichzeitig alle drei Beziehungstypen realisieren Comics „lesen“ ist eine Kommunikationssituation Comics simulieren Kommunikationsereignisse Der Comic ist ein „hybrides“ Medium Das Medium hat ein konventionalisiertes Forminventar Raum & Rezeption „Grammatik“ des Comics Sequenzielle Raumordnung vermittelt bestimmte Information Immer gleichzeitige Rezeption Selbst indexikalisches Zeichen Rezipierende ergänzen, was im „leeren Raum“ (Gutter) passiert 60 Verweis der Panels aufeinander zB Vorzeitigkeit Nachzeitigkeit unterschiedliche „Übergänge“ gleichzeitig mehrere Übergänge minimalster Zusammenhang: Zeichen stehen nebeneinander Übergänge zwischen Panels 1. 2. 3. 4. 5. 6. von Augenblick zu Augenblick von Handlung zu Handlung von Gegenstand zu Gegenstand von Szene zu Szene von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt Paralogie – Panels haben im ersten Betrachten keinen Zusammenhang Abstraktion & Induktion „Bestimmte Zeichen tauchen in spezifischen Zusammenhängen auf, werden in diesen verwendet und stehen als isolierte Zeichen für diese gesamten Zusammenhänge, mit denen sie assoziiert werden.“ Semiose (vereinfacht) Zeichenprozess (Zuschreibung von Bedeutung) Abhängig von Zeichen, Bezugsobjekt, Interpretierenden Induktion Aus verschiedenen Einzelteilen (Zeichen) einen Gedankten erkennen Entspricht indexikalischer Funktion von Zeichen „Diese Kombination und Assoziation sind auf kulturelles Vorwissen angewiesen. Der Leser [sic!] muss die Zeichen lesen und begreifen können, um die Aussage der Geschite zu verstehen.“ Wichtige kulturelle Aspekte Leserichtung (vgl. Mangas) Medienerfahrung (zB aus Film: Zoom) Wissen über Handlungsabläufe Wissen über lebensweltliche Realität Wissen über soziale Konventionen Grenzen Panels sind Bedeutungsausschnitte Schritte der Narration Reduktion auf „wichtige“ Aspekte (Abstraktion) Können einen Rahmen haben Können verschiedene Zeichen enthalten Alles kann Panelbegrenzung sein (auch Seite selbst) Raum & Zeit Sequenzierung indiziert Verläufe Häufig: räumliche = zeitliche Veränderung Zeitliche Veränderung auch innerhalb eines Panels Panelstruktur Ortswechsel 61 Durch Schrift zB „NOW“ Durch Szenenwechsel Durch Ortsangabe (Text) Leserichtung: oben unten Panelintern Durch Sprechblasen Durch Bewegungsdarstellung Leserichtung: links rechts Bild & Text Unterschiedliche Textverweise Verweise Panelintern & -extern Text als Symbol (beschreibend) Text aber auch ikonisch (zeigend) Verweise zur Außenwelt (auditiv) Soundword (ikonisch) o Verweist auf Geräusch Schriftart (indexikalisch) o Verweist auf Lautstärke/Klang Sprechblase (ikonisch) o Verweist auf Sprecher o Verweist auf Verlauf o Verweist auf Lautstärke/Klang Text (symbolisch) o Gibt Inhalte wieder o Verweist auf Textsorte Schriftart (indexikalisch) o Verweist auf Erzählebene Forminventar Typisches Forminventar o Zeichenstil o Panels o Verbindung Bild & Text o Sprechblasen o Speedlines o Soundwords Indexikalische Nutzung des Forminventar als Verweis auf Comic 8.2 Inhalt Handlungssystem „Als ich klein war, wusste ich ganz genau, was Comics sind. Comics waren diese knallbunten hefte mit schlechten Zeichnungen, blöden Geschichten und Typen in Strumpfhosen. Ich las natürlich richtige Bücher. Ich war längst zu alt für Comics.“ Konventionalisierung „bunte Bilder“ Nicht für Leser_innen 62 Superhelden-Klischee Gewalt verherrlichend Als „nicht erwachsen“ markiert Als „Jugendkultur“ markiert Comics vs. Graphic Novel Altersausrichtung ist abhängig von Komplexität der Form Komplexität der Handlung Prinzipieller Thematik Beginn: Comics für Erwachsene Anfänge des modernen Comics im späten 19 Jhd. Erste comic-Strips in Zeitungen aus New York Bedürfnis des allgemeinen Verstehens einer Geschichte Zielgruppe: Erwachsene aus verschiedenen Kulturkreisen Standardisierungs- / Konventionalisierungsprozess „Im ethnischen Gemisch Greater Ne Yorks, in dem siebzig Sprachen geläufig waren, wurde der gezeichnete Witz der neuartigen Bilderzählung von jedermann [sic!] verstanden und erzeugte das Gefühl einer gemeinsamen Identität: Iren, Deutsche, Italiener und Russen konnten nun über die gleichen Kalauer lachen.“ Rebellion: Jugendkultur Ab 1933 Loslösung von Zeitung: Nachrucke und Reihen Comicreihen vorwiegend von Jugendlichen verfasst Erstes eigenständiges Comic-Heft: 1939 Siegels / Shusters: Superman (Kriegszeit!) Anschließend Superheld(innen)flut Nach dem Krieg: Rückbesinnung auf „erwachsene“ Themen „Jugendgefährdung“ angenommen Schaffung des Comic Code (Normierung der Darstellung für (Kinder und) Jugendliche) „Das Comic-Heft wurde zu einer Jugendkultur, die von Heranwachsenden für Heranwachsende geformt wurde.“ Comic als „Jugendkultur“: Anfänge eigentlich als „erwachsenes“ Medium Starke Assoziation mit „Jugend“ Produktion / Rezeption Konventionalisierung als „jugendliches“ Medium Comic Code = Normierung zum jugendgerechten Medium Vermarktung und Rezeption greift das bis heute auf Begriff „Jugend“ allerdings weiter Heutzutage Produktion von und für alle Altersgruppen Begriff „Graphic Novel“ zeigt: o Starke Verbindung von „Jugend“ und „Comic“ o „erwachsene“ Themen und Formen allerdings häufig Komplexität der Form, inhaltliche Themen entscheidend Symbolsystem: Darstellung 63 Ist ein Comic eher für Kinder, Jugendliche, Erwachsene? Ergibt sich aus Darstellungskomplexität Beeinflusst durch o Komplexität des Verweissystems (Panelübergänge) o Grad der Abstraktion (Grad der Indexikalität / Ikonizität) o Stil der Darstellung Symbolsystem: Themen Ebenso inhaltlicher Aspekt entscheidend Themen(gebiete), dir für Jugendliche „relevant“ sind Themen(gebiete), die „Jugendkulturen“ ansprechen Kulturcharakter von Figuren ( Superhelden) (siehe Lexe VO) Multimedialität ( Comic ist multimedial) (siehe Lexe VO) Biografische neu-Erprobungen und –Erfindungen (siehe Lexe VO) Pop-Kultur (siehe Lexe VO) Pubertät, Adoleszenz, jug. Alltagswelt als Thema (siehe Lexe VO) Normopathie (Großegger VO) Suche nach Abgrenzung zu Altersgleichen (Großegger VO) Symbole als Mittel der Identitätsartikulation (Großegger VO) „Maske“ als wahre Seite der Menschen (Großegger VO) Kultcharaktere: Alice Pubertät, Adoleszenz, Alltagswelt: Vakuum Comic von Jüliger 2012 Normopathie, Masken, biografisches Neuerfinden, Generationenkonflikt: Maus, Infinite Crisis Pupertät, Adoleszenz, Suche nach Abgrenzung, Popkultur: Persepolis Resüme: Comic ist als Medium identifizierbar Komplexes Zeichensystem o Ikonische Zeichen o Symbolische Zeichen o Indexikalische Zeichen Comic als hybrides Medium Spezifisches Forminventar stark konventionalisiert Zitierbarkeit Im soziosemiotischen Prozess selbst als Zeichen für „Jugendkultur“ Dadurch auch als an „Jugendliche“ gerichtet assoziiert, bedingt durch: o Historische Faktoren o Handlungssystem o Spezifische Symbolsystem-Aspekte „Stille Rebellion“ o Hybridität = Multimedialität (Zeitgeist) o Unklare Grenzverläufe fordert zur Überschreitung von Grenzen auf o Hohe Zeichenhaftigkeit deckt Zeichensysteme auf, hinterfragt sie 9. Sonja Loidl – „If the author is dead, who´s updating her website?” Kommunikationsprozesse zwischen Autor_innen und Leser_innen 64 „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ 20 So lautet das Resümee von Roland Barthes Aufsatz Der Tod des Autors. Ich möchte diesem radikalen Statement im heutigen Vortrag mit einer Frage begegnen: “If the Author is Dead, who’s updating her Website?“ Dieses Zitat ist vom Titel eines Aufsatzes von Angua auf der Essay-Plattform der Harry PotterFansite The Leaky Cauldron entlehnt.21 FOLIE 2 Wenn wir hinunterscrollen sehen wir eine ausführliche Bibliographie, in der als vierter Punkt Barthes Aufsatz aufscheint. D.h. zu der Fanaktivität des Schreibens von Fanfiction, von der wir in der Einheit von Sébastien François gehört haben, kann man, neben vielen anderem, auch das Schreiben von literaturwissenschaftlichen Aufsätzen hinzufügen. Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Kommunikation von J.K. Rowling mit Fans und kategorisiert dabei öffentliche Stellungnahmen der Autorin wie folgt: praktische Motive zu Werbezwecken Wunsch der Autorin ihrem Lesepublikum Freude zu bereiten Wunsch zu beeinflussen, wie sie als Person und ihre Texte aufgenommen werden Punkt 1 verweist auf das Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur, auf die Praxis von Textvermarktung und- vermittlung. Punkt 2 und 3 zielen auf den Kommunikationsprozess ab. Punkt 2 stellt dabei die These auf, dass im Autorschaftskonzept der Wunsch zu unterhalten enthalten ist: Der Wunsch eine Botschaft zu senden, die beim Empfänger positive Gefühle hervorruft. Punkt 3 schließt die Fragen danach ein, wer die Kommunikation lenkt und wessen Aussagen über einen literarischen Text bindend sind. Wir greifen in diesem Zusammenhang auf ein Kommunikationsmodell Umberto Ecos zum Dekodierungsprozess einer poetischen Botschaft zurück: 20 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis, Gerhard Lauer u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Reclam: Stuttgart 2000, S. 193. 21 Angua: If the Author is Dead, who’s updating her Website?“. J.K. Rowling and the Battle for the Books. http://www.the-leaky-cauldron.org/features/essays/issue9/authordead/ (1.12.2014). 65 Dieses umfangreiche Modell bezieht z.B. diverse Codes und Subcodes mit ein, auf die Sender und Empfänger zurückgreifen. Termini wie Signal (= hier: graphische Symbole) oder Kanal (= hier: Sehsinn) sind dadurch mitbestimmt, dass Eco sein Modell von einem Kommunikationsprozess zwischen Maschinen ableitet. Wir beziehen uns hier konkret auf einen Bruchteil des Modells, und zwar auf den kleinen Pfeil rechts außen: „Interpretierte Botschaft als Signifikat als System von gewählten Signifikaten (das seinerseits Quelle für andere Empfänger werden kann).“ Damit stellt Eco einen Kommunikationsprozess als offenen Prozess dar, der als Endlosschleife funktionieren kann. Was in diesem Modell fehlt, ist der Bezug zum literarischen Markt und seinen Bedingungen, der im Punkt 1 nach Angua angelegt ist und auf den wir noch zurückkommen. AUTORSCHAFT FOLIE 4 Auf der linken Seite des Modells sehen Sie den Bereich des Senders, der im literaturwissenschaftlichen Kontext überwiegend mit der Rolle von Autor_innen gleichgesetzt wird. In literaturtheoretischen Auseinandersetzungen können Sie zum Konzept Autorschaft zwei Pole ausmachen: Zum einen „Autorschaft als Werkherrschaft“ und zum anderen den „Tod des Autors“. Autorschaft als Werkherrschaft steht in Zusammenhang mit dem Urheberrechtsgedanken. Dieses Recht hat sich im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert entwickelt. Ursprünglich war die begünstigte Person der Verleger und es gab sehr unterschiedliche Fristen, von 14 über 30 bis zu den heute geregelten 70 Jahren. Das Urheberrecht hat einen vermögensrechtlichen und einen personenrechtlichen Aspekt. Auf der einen Seite geht es darum, dafür zu sorgen, dass Verfasser_innen ihre Arbeit fortgesetzt entgolten wird und dass kein anderer Anspruch erheben kann. Auf der anderen Seite geht es darum, dass Kunst – und das gilt nicht nur für Literatur – als Ausdruck der Individualität ihrer Schöpfer_innen betrachtet werden kann. Das führt uns weiter zum Genie-Gendanken und zur Vorstellung vom Original. Die Genieästhetik bezieht sich, verknappt ausgedrückt, darauf, dass ein einzigartiges, originales Werk aus der Schöpferkraft eines Künstlers oder einer Künstlerin entsteht, der/die damit auch Kontrolle, also Autorität, über das Erschaffene hat. Dieses Verständnis prägt spätestens seit der Weimarer Klassik und der deutschen Romantik Autorschaftskonzepte dominant mit und hat sich im Bereich der Rechtsprechung nachhaltig etabliert: „Nirgends ist daher die Genie-Periode so nachhaltig rezipiert und aufbewahrt worden wie in der Jurisprudenz.“ Man kann die These aufstellen, dass die Popliteratur, wie Heidi Lexe sie in unserer ersten Einheit anhand von Alexa Henning von Lange und Benjamin von Stuckrad-Barre vorgestellt hat, eine Transponierung eines Aspekts der Genieästhetik darstellt. Dieser Strömung zugerechnete Künstler_innen inszenieren zwar nicht ihr Genie, sehr wohl aber sich selbst und ihr Schreiben als authentische „Originale“. FOLIE 5 Als ein Beispiel für erzählerische Umsetzung einer Diskussion um Werkherrschaft möchte ich Ihnen eine Sequenz aus dem Hörbuch zu Andreas Steinhöfels Der mechanische Prinz vorspielen. Dieser Auszug besteht aus dem Prolog der Erzählung, wo in einer Rahmenhandlung der fiktionale Autors der Erzählung und Max, der „Eigentümer“ der Geschichte, die Weitergabe eben jener thematisieren. Die Frage, wem die Geschichte gehört, wird anhand des Namens verhandelt, den der Protagonist der Binnenhandlung tragen soll. Als „Sieger“ geht Max hervor, was sich einerseits darin spiegelt, dass die Hauptfigur – gegen die Einwände des fiktionalen Autors – Max heißen wird („Hey, ich heiße aber nun mal so!“) und andererseits an den 66 angedeuteten Besitzverhältnissen („Aber was hältst du davon, wenn ich die Geschichte einem anderen Schriftsteller schenke?“). 22 Die Tatsache, dass Andreas Steinhöfel selbst das Hörbuch spricht und damit die Interpretationsleistung des Sprechers bei der Adaption seines Textes erbringt, ist hier insofern interessant, als er damit den Kommunikationsprozess einer stärkeren Steuerung durch die Seite des Produzenten unterwirft, als das der Fall wäre, wenn ein anderer Sprecher oder eine Sprecherin eingesetzt würde. Wenn Literatur im juristischen Kontext von Urheberschaft diskutiert wird, wird u.a. im Zusammenhang mit kollektiver Autorschaft oder im Umgang mit literarischen Verfahren, wie postmodernem Spiel mit Versatzstücken, klar, dass Rechtsprechung und Kunst mit anderen Parametern arbeiten. Von literaturtheoretischer Seite wird die Eigentumsbeziehung, die im Autorschaftsbegriff inhärent ist, u.a. von Michel Foucault als eines von vier Merkmalen herausgestellt. In seinem Aufsatz Was ist ein Autor? hält er noch drei andere fest: (2) Der Autorschaftsdiskurs ist historisch nicht durchgehend und nicht in allen Disziplinen (z.B. in den Naturwissenschaften) gleich relevant. (3) Autorschaft ist immer eine Projektionsfläche für Arten, mit Text umzugehen. Und letztendlich steht die (4) Autorfunktion für eine Aufsplittung des Sprecher-Ichs: Das „Ich“ ist weder eindeutig dem Autor, noch der Figur zuzuordnen. Foucault leitet seine Untersuchung ein mit „Wen kümmerts wer spricht?“ und gibt damit bereits seine Position preis. Sicher eine der radikalsten Absagen an Autorschaft als Werkherrschaft stammt aber von Roland Barthes. Diese hat sich in seinem Aufsatz Der Tod des Autors niedergeschlagen, welcher aus dem Jahr 1968 stammt und im Licht der literaturanalytischen Methode „explication du texte“ zu sehen ist: Dieser, zur Zeit der Veröffentlichung dominante, Methode, Texte unter Berücksichtigung der Biographie der Produzierenden zu analysieren, wurde von ihm mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Verabschiedung von Autor- oder Autorinnenbezug aus der Interpretation, begegnet. Barthes bezieht sich, wie Foucault, auf den Erzähler als Vermittler, vergleichbar u.a. mit mittelalterlichen Erzähltraditionen. Er stellt heraus, dass „nicht ‚ich’, sondern nur die Sprache ‚handelt’.“ Er spricht vom Textmonteur, der „Gewebe von Zitaten“ erstellt und dessen „einzige Macht [darin besteht] die Schriften zu vermischen“, der sich also durch einen Zufallsgenerator vertreten lassen könnte. Autorschaft ist für Barthes eine Leerstelle. In einer Auseinandersetzung mit Kommunikationsprozessen zwischen textproduzierenden und textrezipierenden Personen ist es allerdings schwer möglich von der Irrelevanz von Autor_innen zu sprechen. Wir fragen vielmehr nach dem Potenzial der Barthschen Leerstelle und nach der Geburt des Lesers23. LESEPUBLIKUM Dementsprechend ist es an dieser Stelle nur passend, auf rezeptionsästhetische Zugangsweisen zurückzugreifen. FOLIE 6 Roman Ingarden stellt in Konkretisation und Rekonstruktion fest: „Das literarische Kunstwerk […] ist seinen Konkretisationen gegenüberzustellen, welche bei den einzelnen Lesungen des Werkes […] entstehen.“ Er spricht von „Unbestimmtheitsstellen“, die bei jeder Konkretisation anders aufgefüllt werden könnten. 22 Andreas Steinhöfel: Der mechanische Prinz. Hamburg: Carlsen 2004, S. 8. 23 Wo es sich um einen geprägten Terminus bzw. eine Wendung handelt, wird auf die Nennung beider Geschlechter verzichtet. 67 Der Begriff der Unbestimmtheitsstellen wird von Wolfgang Iser durch den der „Leerstelle“ ersetzt. Er hält fest, dass „Bedeutungen literarischer Texte […] überhaupt erst im Lesevorgang generiert [werden].“ Darüber hinaus sagt er, dass das Lesepublikum in Textstrukturen als „implizite Leser“ im literarischen Kommunikationsprozess „mitgedacht“ ist. Texte sind also als Kommunikationsangebote zu verstehen, die sozusagen erst durch die rechte Seite im Kommunikationsmodell, die der Empfänger_innen, endgültig realisiert werden. Textinterpretation eröffnet einen Kommunikationsraum. Aber auch jenseits des Konstrukts des impliziten Lesers hat Kommunikation zwischen empirischen Autor_innen und Leser_innen Einfluss auf die Entstehung, die Gestalt und verschiedene Veränderungen eines Textes oder Textkorpus. KOMMUNIKATION FOLIE 7 Umberto Eco (dessen Kommunikationsmodell aus den 1960er Jahren wir uns kurz angesehen haben) spricht in Das offene Kunstwerk, vom Interpretationsprozess als nie abgeschlossenen Vorgang. Diesen Zugang schränkt er, fast 30 Jahre später, also als er bereits selbst mehrfach erzählende Texte veröffentlicht hat, in Die Grenzen der Interpretation dahingehend ein, dass der Text bzw. die Textintention während der Lektüre entsteht, nicht an die Intention des empirischen Autors gebunden ist und durch Ökonomie, also durch die am meisten einleuchtende Interpretation, sinnvoll eingrenzbar ist. Im Essay Zwischen Autor und Text, der etwa zeitgleich zu Die Grenzen der Interpretation entsteht, heißt es auch: „Wenn sich ein Text […] selbstständig macht, wenn er also nicht einen, sondern viele Leser erreichen soll, weiß der Autor, dass die Interpretation weniger seine persönlichen Absichten als vielmehr eine komplexe Interpretationsstrategie betreffen wird, die auch den Leser mit seiner Sprachkompetenz, einem sozialen Schatz, einbezieht.“ Vermutlich aus seiner Position als Autor heraus, lässt Eco sich aber auch ein Hintertürchen offen: „Manchmal kann es jedoch interessant sein, auf die Absichten des empirischen Autors zurückzugreifen, etwa wenn der Autor noch lebt und die Kritiker seinen Text gedeutet haben.“ Er schränkt aber ein: „Allerdings darf seine Antwort kein Urteil über die Interpretationen seines Textes rechtfertigen. […] Schließlich kann der Autor zugleich auch Literaturwissenschaftler sein.“ Text als Medium muss keineswegs auf Text beschränkt sein, der in einer bestimmten Ausgabe belegt und somit als Quelle gesichert ist. FOLIE 8 Dem trägt Foucault Rechnung, wenn er in „Was ist ein Autor?“ den Begriff „Werk“ kritisiert: Er fragt, „ob Werk nicht das [ist], was der geschrieben hat, der Autor ist? […] Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendevous oder eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk oder nicht Werk?“ Auch wenn eine Wäschereirechnung sicherlich kaum zum Werk gezählt werden sollte, ist es wichtig im Gedächtnis zu behalten, dass „Werk“ eine variable Größe ist, die sich auch nach dem biologischen Tod empirischer Autor_innen verändern kann. Das kann beispielsweise durch Nachlassaufarbeitung oder posthum Publiziertes geschehen, wie bei Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner große Liebe, von dem in Heidi Lexes Einführung die Rede war. Hier soll allerdings auf Publikationen zu Lebzeiten von Autor_innen eingegangen und dafür auf einen weiteren Theoretiker zurückgegriffen werden: Auf Gérard Genette und sein Schema der Transtextualität. FOLIE 9 68 Transtextualität beinhaltet „alles, was [Text] in eine geheime oder manifeste Beziehung zu anderen Texten bringt“. Unter diesem Überbegriff fasst Genette Metatextualität24, Architextualitat25, Hypertextualität26, Intertextualität und Paratextualität zusammen. Für den Kontext des Kommunikationsprozesses zwischen Autor_innen und Leser_innen ist vor allem die Paratextualität relevant, die sich auf Begleiterscheinungen des publizierten Textes bezieht. Paratext kann untergliedert werden in Peritext, der sich innerhalb des publizierten Buches befindet, und Epitext, der außerhalb eines literarischen Werkes angesiedelt ist. Beispiele für Peritext sind etwa Motto, Titel, Vorwort und Widmung. Letztere stellt, zusammen mit der oft aber nicht immer synonym zu verstehenden Danksagung, ganz klar eine Manifestation von Autor_in-Leser_in-Kommunikation dar. Beide können individuell ausgerichtet sein oder sich an implizite Leser richten. Damit ist in diesem Zusammenhang ein Konstrukt des Lesepublikums gemeint, das einer Vorstellung vom Ausfüllen dieser Rolle analog zum impliziten Autor, gleichkommt. FOLIE 10 Als Beispiele sehen Sie hier die Widmungen aus dem letzten Band der Harry Potter-Serie von J.K. Rowling und dem letzten Band der Chroniken der Unterwelt-Serie von Cassandra Clare, die beide (zumindest u.a.) hier ihren impliziten Lesern als Fans begegnen und – wohl nicht zu Unrecht – davon ausgehen, dass auch die früheren Bände der jeweiligen Serie rezipiert wurden. FOLIE 11 Als Epitext definiert Gérard Genette Elemente „im Umfeld eines literarischen Werkes, mit denen ein Autor, beispielsweise ein Werk aus seiner Sicht erläutert“, wie Pläne, Briefe, Tagebücher, Interviews oder Gespräche bei Lesungen. In vielen Epitextvarianten findet man Vortexte oder unveröffentlichtes Material, das unter gewissen Umständen zu Haupttext werden kann. Dieser Prozess ist einerseits stark mit ökonomischen Aspekten des Handlungssystems Literatur verknüpft und andererseits mit Kommunikationsprozessen von Autor_innen und Leser_innen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Umberto Eco, diesmal nicht in seiner Rolle als Semiotiker, sondern als Autor von Der Name der Rose: 1983, drei Jahre nach dem Erscheinen von Der Name der Rose, seinem ersten Roman, erschien Nachschrift zum »Namen der Rose«. Dieses Buch beinhaltet Informationen zu verschiedenen Zitaten und Direkte Bezugnahme auf andere Texte, Präsenz eines Textes in einem anderen, z.B. durch ein wörtliches Zitat. Anspielungen in Ecos Roman. Ausgehend von der Annahme, dass Vortexte, Notizen, Interviewfragen etc. in diese Publikation eingegangen sind, ist es berechtigt hier von einer Migration bzw. Transformation von Epitext in Kerntext zu sprechen. Darüber hinaus heißt es in Nachschrift zum »Namen der Rose«: „Seit ich den Namen der Rose geschrieben habe, bekomme ich häufig Briefe von Lesern, die wissen möchten […]“. Natürlich kann es sich hier um fingierte Kommunikation handeln, aber die grundsätzliche Möglichkeit des Leser_innenbriefes als tatsächliche Kommunikationsform zwischen Autor_in und Leser_in kann nicht bestritten werden. Ausgehend von der Annahme, dass zumindest ein Teil dieser Briefe existiert hat, liegt hier eine Vielzahl von reellen Einzelkontaktaufnahmen vor. Der Leser_innenbriefe kann als individuelles Kommunikationsmittel und das publizierte Buch, das Zusatzmaterial enthält, als Massenkommunikationsmittel verstanden werden. Selbst wenn es keine Briefe gegeben hat, liegt nichtsdestotrotz eine spezielle Form von Kommunikation vor: Zwischen dem biologischen Autor Umberto Eco und einem potenziellen Lesepublikum von 24 Eine Kommentarbeziehung zweier Texte, etwa in Form einer literaturwissenschaftlich Arbeit oder Literaturkritik. 25 Ein Verweis auf frühere Texte derselben Gattungszuordnung oder desselben Gattungsstils. 26 Ein Hypertext bezieht sich in seiner Gesamtheit auf einen Hypotext ohne ein Kommentar zu sein, etwa im Fall einer Umarbeitung, Satire, Fortsetzung oder Parodie. 69 Nachschrift zum »Namen der Rose, dessen Publikation mit der Intention der Lenkung des Lesepublkiums und Einschränkung von Leerstellen verbunden ist, und klar auf implizite Leser baut, die dieses Spiel auch mitzuspielen gewillt ist. Auch hier bezieht sich der Begriff implizit vor allem auf die Konstruktion einer Rolle als Autor_in/Leser_in im literarischen Kommunikationsprozess, die mit gewissen Annahmen des Kommunikationspartners verbunden ist: Umberto Eco (und Vertreter_innen seines Verlages) gehen davon aus, dass es ein interessiertes Publikum für Zusatzmaterial zu Der Name der Rose gibt. Zusatzmaterial in dieser, ähnlicher oder anderer, nicht-kommentarischer Form stellt eine wesentliche Form von Epitexttransformation dar, die besonders im Kontext nichtrealistischer Jugendliteratur floriert. FOLIE 12 Als Beispiel sehen Sie hier Quidditch im Wandel der Zeiten, Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind und Die Märchen von Beedle dem Barden als Bonusbücher im Umkreis von J.K. Rowlings Harry Potter-Serie. In allen drei Fällen handelte es sich (vor der Publikation der gerade gezeigten Texte) um ein Buch-im-Buch. Die ersten beiden Beispiele sind en passant als Schulbücher in der Zauberschule Hogwarts erwähnt, während das dritte eine wichtige Rolle in der Hinweiskette des Rätsels um die so genannten Heiligtümer des Todes im letzten Band der Serie darstellt. Alle drei Texte beinhalten neuen Erzählinhalt und tragen so zur Erweiterung der Kernnarration bei. Hier wird eines der sieben Prinzipien des medienübergreifenden Erzählens nach Henry Jenkins bedient: Das Prinzip des Worldbuilding, des Weltenbaus, demzufolge phantastische Welten offen gestaltet sind, sodass sie nach einer inneren Logik aufgebaut sind, die potenziell unendlichen Raum für mehr Material bietet, was Institutionen, Funktionsweise der erzählten Welten, Gegenden etc. angeht. FOLIE 13 Ein Beispiel für Bonusbücher, durch die kaum neues Material zur Verfügung stellt wird, ist Stephenie Meyers Biss-Handbuch. Es beinhaltet zwar, u.a., zahlreiche Kurzbiographien von Figuren, bietet aber dennoch relativ wenig narrativen Inhalt, der nicht entweder aus der BissSerie bekannt ist oder bereits lange vor der Publikation des Handbuchs auf Stephenie Meyers Website zu finden war. Damit gelangen wir zu einer Kommunikationsstrategie, die wesentlich offenkundiger als Zusatzmaterial in Form von Bonusbüchern dem Handlungssystem zuzuordnen ist: Der Autorenwebsite. Alicia Wajs geht in ihren Überlegungen zum Internet als Raum der literarischen Kommunikation neben Werk-Vermittler-Leser-Kommunikation, und einer LeserLeserKommunikation auch auf Autor-Leser-Kommunikation ein und führt die Websites hier als treibende Kraft an. Dieses Medium dient der Information, dem Aufbau eines Kontaktes und natürlich der Vermarktung. Um offenkundig einseitige Kommunikation handelt es sich dann, wenn etwa kein Forum Teil des Konzepts ist. Mit dem zur Verfügung stellen von epitextuellem Material wie Informationen, die über das in den Texten erzählte hinausgehen, im Lektoratsprozess Entferntes oder vortextuelle Skizzen findet gleichzeitig der Versuch einer Steuerung von Rezeption und Dominanz im Kommunikationsprozess statt. Steuerung kann insofern durch das Umwandeln von Epitext in Haupttext unterstützt werden als Leerstellen des Textes von Autor_innen dadurch scheinbar verbindlich gefüllt werden. Es lässt sich eine Verbindung zu Beobachtungen Lothar Müllers in seiner Analyse zur Geschichte und dem breiten Einfluss des Papiers herstellen: „Weil Publizieren mit Drucken identisch war, war 70 das Unpublizierte optional, das Publizierte definitiv.“ Durch die Transformation von Epitextes zum Kerntext wird er definitiv. Durch seine Publikation wird Licht auf bislang unausgeleuchtete Bestandteile erzählter Welten geworfen und der Interpretationsspielraum des Lesepublikums damit einerseits eingeschränkt, aber natürlich gleichzeitig mit neuem Material versorgt, das seinerseits im Rezeptionsprozess Potenzial für neue Ansätze bietet. ROLLENWECHSEL Wie anfangs durch den Verweis auf Umberto Ecos Modell bereits erwähnt, ist in Kommunikationsprozessen grundsätzlich ein Rollenwechsel angelegt: Empfänger_innen können zu/r Sender_innnen werden. Das Internet ermöglicht Unpubliziertem den Zustand des Definitiven: „Mit der Entwicklung der besonders benutzerfreundlichen Anwendung des Internets, der Hypermedia-Technologie Word Wide Web, die neben Bildern, Animationen und Tönen vor allem auf der geschriebenen Sprache beruht, wurde jeder Benutzer zwangsläufig zum Leser und auch jeder schreibwillige User zum Schreiber.“ FOLIE 14 Eine diesbezügliche Möglichkeit stellt Fanfiction dar, wie sie von Sebastién Francois in seiner Einheit der Ringvorlesung näher besprochen wurde. Daneben gibt es eine scheinbar unendliche Auswahl an Schreibportalen und Literaturtreffpunkten, wo Texte eingestellt und von den Mitgliedern auch gelesen und kommentiert werden können. Ein derartiges Projekt finden Sie beispielsweise unter www.keinverlag.de. Eine Aktion, die zum Ziel hat, eine große Menge an Ausgangstext (50 000 Wörter), mit dem weitergearbeitet werden kann, zu produzieren, ist der National Novel Writing Month (www.nanowrimo.org), der mittlerweile auf internationaler Basis jeden November stattfindet. Ziel zahlreicher Teilnehmer_innen solcher Aktionen ist das Eintreten in den Buchmarkt über die reguläre Publikation in einem Verlag. Ein bekanntes Beispiel dafür, wie die Transformation von privatem zu öffentlichen Schreiben stattfinden kann, ist der Weg von Fifty Shades of Grey von einer Fanfiction zu einem selbstpublizierten Buch zu einem im klassischen Sinn publizierten und auch übersetzten Buch. Als literaturästhetisches Kontrastbeispiel möchte ich hier die Luna-Chroniken von Marissa Meyer anführen, die aus einem National Novel Writing Month hervorgegangen sind – Wie man auf der Website der Autorin erfährt. ZUSAMMENFASSUNG Ausgehend von kulturtheoretischen Positionen zur Bedeutung der Autor_inneninstanz ist zu sagen, dass Überlegungen zu Autorschaftskonzepten direkt oder indirekt auf Fragen nach einer dominanten Position im literarischen Kommunikationsprozess kreisen. Als rudimentäre Kategorisierungsmöglichkeiten von Kommunikation zwischen Auto_innen und Leser_innen lassen sich die Oppositionspaare individuell-kollektiv und implizit-explizit vorschlagen. Damit ist gemeint, dass literarische Kommunikation einerseits auf persönlichem Level zwischen empirischen Leser_innen und Autor_innen stattfinden kann, was beispielsweise in Widmungen oder Leser_innenbriefen zu Tage tritt, oder kollektiv wie über eine Sammlung von Briefen, online Foren oder (von der Seite der Produktion ausgehend) Autor_innenwebsites . Daneben findet Kommunikation auf Basis gewisser Erwartungshaltungen an die Rolle des Kommunikationspartners, des impliziten Autors oder impliziten Lesers statt. Als Ergebnis und Spiegel der literarischen Kommunikation hat eine einführende Auseinandersetzung mit der Transformation von epitextuellen Varianten zu Kerntext stattgefunden. Am Ende bietet es sich an, die Brücke zurück zu Angua zu schlagen, die in Ihrem Essay If the 71 Author is Dead, who’s updating her Website? sagt: „The writer's contribution is frozen at the point of time that he or she finished writing. But it seems that nobody has informed the authors of that.” Wie auch immer sie aussieht, Kommunikation zwischen Autor_innen und Leser_innen ist ein essentieller Bestandteil im lebendigen Literaturbetrieb. 10. Ernst Seibert – Geschichte der Jugendliteratur Als Spiegel der Jugend-Kultur-Geschichte Pars pro toto Locus amoenus (Klassiker), der gute Ort Locus terribilis (Schwarze Pädagogik), der schlechte Ort Intermezzo Genre und Metier Poetik und Metapoetik Klasseiker-Diskurs Neulandvermessung Mythologie o Metamorphosen o Ganymed o Ikarus o Telemach und Robinson Poetik o Bürgerliches Trauerspiel o Entwicklungsroman Eine der wichtigsten Entwicklungsroma von Marie Eschenbach war das Gemeindekind, in Hellers Forschung hat sie aber keinen Eingang gefunden, da er sich ausschließlich mit Illustrationen und Bildern auseinandersetz und das Gemeindekind ist nicht illustiert. o Generationenroman o Nonsense Prinz Eugen der edle Ritter (1915) • • Vergleich Mütter von Eugen und Jedermann Mitteleuropagedanke Kinder Kalender 1936 Würde er eher als locus terribiles bezeichnen, obwohl versucht wird locus amoebus zu illustrieren. War als Massenliteraturgedacht. Darin enthalten, das Dolfußlied, infantiler Einfalt vs. Bürgerkriegspropaganda: Das Lied wurde nach der Bundeshymne gesungen und kann als schwarze Pädagogik angesehen werden. Der vitruvianische Mensch „Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgetreckten Hände an, so wird sich die 72 gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.“ anno 1591 wurde das von Giordano Bruno „Über die Monas, die Zahl und die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik) und später von der Pädagogik – Struwwelpeter. Der Struwwelpeter ist keine Geschichte, er wird nur beschrieben. Metier und Genre Jugendkultur Literarisiert Inszeniert Außerliterarische Wirklichkeit Metier Genre (Handlungssystem (Symbolsystem) Unmittelbare Mittelbare Rezeption Rezeption Sparten Kinderbuch (-literatur) „Buch“ im Sinne von Buchkunst verstanden Jugendbuch Jugendliteratur „Buch“ als nüchterner Medienbegriff Das Handlungssystem ist eingebettet in Institutionen. Präpubertär Postpubertär, adoleszent Außerliterarische Wirklichkeit meint die Wirklichkeit, wo Jugendkultur stattfindet neben Jugendliteratur Metapoetologisches Gattungsmodell Inhalt Irreal Real Formen Magisch Mythogen (1) Rational Märchen Sage „einfache Formen“ Mythologische Erzählung Antilogozentrisch (4) Science fiction Gruselgeschichten Horrorgeschichten Fantasy Antimythogen (2) Phantastische Erzählung Lügengeschichten Logozentrisch (3) Robinsonade Realistische Erzählung Historische Erzählung Abenteuererzählung Kriterium der Irrealität fehlt in österreichischer Literatur. „die Klassiker“ 73 Klassiker-Kriterien-Systematik Metaebene - Zeitlosigkeit Autorenebene - Singularität, Intentionalität Form - Werkebene - Aventuire, Irrationalität, Reiseliteratur Reduktion auf Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung Rezeptionsebene Inhalt - Elternferne, Fremdes Kind, Lebensbedrohung, Rebellenmotiv Inselmotiv, - Programmatik der Titelfigur, Internationalität Seiner Meinung nach überdauern die Klassiker der Kinderliteratur, da sie Ideologien überdauern und nicht Ideologien vermittelt werden. Besonders markant ist die Elternferne. Auch interessant: Moment der Herkunft, viele Autor_innen sind aus den Kronländern. Mit der postkolonialen Theorie wird die Herkunft erklärt, es bestand eine Spannung der Randgebiete gegenüber Wien. Literatur ist auch geprägt durch Konjunkturen, aufgrund von zB jahrestagen werden bestimmte Autoren oder Werke wieder aktuell. Periodisierung 74 Die Jungen von der Paulstraße Drama mit Mario Adorf. Budapest 1910. Nemecsek ist der Sohn des Schneiders Nicolaus. Als Nicolaus eines Tages von der Affäre seiner Frau mit dem reichen Kaufmann Kovacs erfährt, wirft er sie kurzerhand aus dem Haus. Die Trennung von der Mutter ist für Nemecsek, aber auch für seine Mutter eine Katastrophe. Nemecsek ist kleiner als seine Klassenkameraden, aber er hat Mut wie ein Löwe. Kaum einer Rauferei geht er aus dem Weg, und sein größter Wunsch ist es, zu einer der Cliquen in seiner Schule zu gehören. Psychoanalytisches Kindheitsbild Ödipus „ephemere Kinderliteratur“ Österreichische Literatur ist geprägt durch ironische Bilderbücher bzw. Satire getarnt als Kinderbücher. • • • • • • Viktor Halbnarr, Maus im Haus, Gutenachtgeschichte für Maria Carolina, Rosie und der Urgroßvater, Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft. Jörgi, der Drachentöter 75 Conclusio: Letzte „Bastion“, gleichzeitig Höhepunkt der Kinderliteratur vor dem Paradigmenwechsel: Ich Bin Ich. Danach: • • • (Kinder-) Jugendliteratur nähert sich immer mehr der Allgemeinliteratur (Pop-Literatur) Autor_innen der Allgemeinliteratur schreiben immer mehr (Kinder-) Jugendliteratur Kindheitsliteratur tritt an die Stelle von (Kinder-) Jugendliteratur 11. Manuela Kalbermatten – „The world may need you, one day” Kulturkritik, Identität und Geschlecht in aktueller Future Fiction für Jugendliche I. „It is in conflict that our values are exposed“ „Viele Wissenschaftler kritisieren unsere Neigung, Geschichte nur anhand von Konflikten zu beschreiben, aber ich glaube, sie täuschen sich“, sagt Anaximander, Protagonistin von Bernard Becketts Jugendroman Das neue Buch Genesis. Und begründet: „In Konflikten manifestieren sich unsere Werte“ ; im Englischen Original: „It is in conflict that our values are exposed.“ Wenn wir einmal annehmen, dass Anaximander, kurz Anax genannt, mit dieser Behauptung Recht hat, dann ist die Future Fiction geradezu prädestiniert dafür, Aufschluss über kulturelle Werte, Normen und Diskurse zu geben: Konflikte individueller, vor allem aber gesellschaftlicher und nicht selten gar globaler Art und Tragweite sind der zentrale Handlungsmotor dieser auf dem jugendliterarischen Markt seit einigen Jahren höchst erfolgreichen Gattung. Genesis, 2006 erstmals erschienen, ist zum einen selbst ein spannender Future Fiction-Text; tatsächlich liest sich der kurze, grösstenteils in Dialogform verfasste Roman des neuseeländischen Autors Bernard Beckett aber darüber hinaus wie ein MetaKommentar auf deren Themen, Diskurse und Gattungstraditionen. Ich leihe mir die junge Nachwuchshistorikerin Anax deshalb als Assistentin für einige einführende Bemerkungen zu dieser jugendliterarischen Trend-Gattung, ihrer Themen, Konflikte und Spielarten aus und mache gleichzeitig von der Vielfalt der Cover-Illustrationen für die unterschiedlichen Ausgaben und Auflagen von Genesis Gebrauch. Die Handlung von Genesis ist ganz auf die minutiöse Schilderung einer vierstündigen mündlichen Aufnahmeprüfung fokussiert, die Anax mit drei Vertretern der Akademie führt, der geistigen Elite ihres vermeintlich utopischen Inselstaats. Seit einer Weile schon strebt die begabte Schülerin eine Karriere als Mitglied der Akademie an, und sie begründet diesen Wunsch damit, dass „die Akademie das erreicht hatte, was keiner anderen Gruppe bisher gelungen war“ (135); dass die Bürger nämlich nach dem letzten grossen Krieg (Zitat) „einen tiefen und dauerhaften Frieden“ (134) erlebten. Anax reflektiert ihren Zukunftswunsch so: „Der Akademie beizutreten, hiess, der Gesellschaft zu dienen. Der Gesellschaft, die sie liebte. Der besten Gesellschaft, die der Planet je gesehen hatte. Der Akademie beizutreten, hiess, Verantwortung für den Frieden zu übernehmen, der sich über die Unterkünfte gelegt hatte, und für das Lachen auf den Strassen. Die Akademie legte das Ausbildungsprogramm fest. Die Akademie kontrollierte die technologische Entwicklung. Die Akademie brütete über den Einzelheiten der Vergangenheit und lernte aus jedem Fortschritt und jedem Fehler. Die Akademie war der Idee entgegengetreten und hatte mit ihr einen dauerhaften Frieden geschlossen.“ (135f.) Bereits die klassische Utopie, wie sie von Thomas Morus’ gattungskonstituierendem Text Utopia (1516) massgeblich geprägt wurde, stellte der als mangelhaft kritisierten Gegenwart des Lesers, der Leserin einen fiktiven, als ideal inszenierten Staat gegenüber. Sie lieferte, um mit Thomas Schölderle zu sprechen, „konstruktive Gegenbilder zur historischen Wirklichkeit“ mit der Absicht, sowohl neue Idealbilder und Reformziele zu etablieren als auch Kritik an der eigenen Gegenwart zu generieren. In der Utopie erfolgt die detaillierte Beschreibung der 76 alternativen, besseren Gesellschaft in der Regel durch die Figur eines Reisenden, der von einem „Einheimischen“ eine „guided tour“ erhält. Die Gefühle des Besuchers steigern sich von anfänglicher Ablehnung und Distanz zur allmählichen Akzeptanz und schliesslich Idealisierung des zumeist räumlich isolierten eu topos – besseren Ortes. Genesis übernimmt zwar die Inselmetapher und die enthusiastische Lobpreisung der neuen Welt, diesmal durch die Hauptfigur selbst; in der Struktur der Narration vollzieht sich aber eine Gegenbewegung. Dies geschieht zunächst, indem der Text in Form fiktiver Geschichtsschreibung nicht den erreichten Idealzustand, sondern den Konflikt ins Zentrum stellt; den von ideologischen Auseinandersetzungen und gewalttätigen Ausschreitungen geprägten Prozess, der zur Entstehung der „besten Gesellschaft“, führt. In einer langen Rückblende spricht Anax über das apokalyptische Ende der Welt, wie wir sie kannten, um die Mitte des 21. Jh. herum. Sie gibt Auskunft über parallel ablaufende politische Gedankenexperimente und Platos daraus hervorgehende Republik, die als klassisch-isolierte utopische Inselgemeinschaft konzipiert war; als Versuch, „einen idealen Staat zu schaffen, in dem das Volk und die Gesellschaft ihr Potenzial am besten verwirklichen konnten“ (23). Genau wie die klassische Utopie entspricht Platos Republik der Vision einer konfliktfreien, stabilen, ja statischen Gesellschaft mit verstaatlichtem Eigentum, klarer Arbeitsteilung und eindeutig zugewiesenen Rollen – hier mit einer an Platons „Politeia“ angelehnten Polisgesellschaft und ihren Trägerschichten. Paarbeziehungen, Eltern-Kind-Familien und Individualität wurden, so Anax, zugunsten der Identifikation mit dem Kollektiv unterbunden – ein Konzept, dem die in der ersten Hälfte des 20. Jh. aufkommende Dystopie eine vehemente Absage erteilt. Die Gesellschaften, die Utopie und Dystopie entwerfen, sind sich in ihrer Konzeption zwar oft sehr ähnlich; ihre Wertung, die auch bei den RezipientInnen antizipiert wird, ist allerdings eine grundsätzlich andere. Die Dystopie entwirft ihre Gesellschaft, so Simon Spiegel, als „die schrecklichste aller möglichen Welten (...), indem sie als negativ empfundene Entwicklungen ins Monströse steigert“ . Als Anti-Utopie warnt sie zugleich sehr direkt vor einer politischideologischen Umsetzung kollektiver Glücksversprechen. „Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester“, so Spiegel, „ist die Dystopie eine individualistische Gattung; wofür sie in der Regel einsteht, ist das Recht des Einzelnen, sich von der Masse zu unterscheiden.“6 Im Zentrum der Dystopie steht denn auch nicht ein abgeschlossener, stabiler Gesellschaftszustand, sondern der Widerstand gegen die beschriebene Ordnung; nicht das rational geplante Gemeinwesen, sondern die Abweichung von der Norm, nicht Deskription, sondern Rebellion. So reflektiert auch Anax’ Platos Bemühungen eines sicheren, stabilen, weil starr geordneten und entindividualisierenden Kollektivismus im Rückblick kritisch und im Vornherein zum Scheitern verurteilt, indem sie Individualismus und unabhängiges Denken hochhält: „Die Gründer der Republik versuchten, den Einzelnen zu verleugnen, und haben dabei eine schlichte Wahrheit ignoriert. Das Einzige, was Individuen miteinander verbindet, sind Ideen. Ideen verändern und verbreiten sich. Sie verändern ihre Wirte genauso, wie ihre Wirte sie verändern. (...) Obwohl die Republik die Informationen, die in die Kommunen gelangten, kontrollieren konnte, konnte sie nicht kontrollieren, wie sich die Informationen in den Köpfen der Männer und Frauen veränderten.“ (61) Aus der Perspektive einzelner und dann einer zunehmenden Anzahl von Bürgern, so Anax, habe sich Platos Republik deshalb in einen dystopischen Überwachungsstaat verwandelt. In der Folge erzählt sie von nonkonformen Individuen, die sich der Kontrolle des Staates entzogen, um ihr Recht auf Individualismus einzufordern – allen voran der als Held gefeierte Rebell Adam Forde, der die Überwindung der alten und die Entstehung der neuen Ordnung massgeblich geprägt hat. Sie reflektiert die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Maschine, die zwischen dem inhaftierten Adam und dem lernfähigen Androiden Art im Rahmen eines Experimentes ausdiskutiert wird; sie berichtet von Grenzgefechten an der Schwelle zum posthumanistischen Zeitalter und stellt sich immer wieder die Frage, was einen Menschen 77 ausmacht, und wie Identität und Bewusstsein letztlich beschaffen sind; eine Frage, die sich als roter Faden durch die Future Fiction der Gegenwart zieht. Mit ihrer Erzählung steckt Anax die Karte der (post)apokalyptischen Landschaften ab, auf denen die Konflikte aktueller Future Fiction ausgetragen werden. Dazu einige Bemerkungen. Wie Gabriele von Glasenapp (2012) verwende ich den Begriff Future Fiction für Romane, die eine zukünftige Welt imaginieren; in aller Regel ist diese Darstellung von dystopischen Szenarien geprägt. Innerhalb des deutschsprachigen jugendliterarischen Marktes hat sich, wie anhand der Verlagsprogramme gut zu beobachten ist, der Begriff Dystopie durchgesetzt; ich möchte aber anhand meiner provisorischen Kartierung des Geländes zeigen, dass die Future Fiction in Themenvielfalt, Motivik, Erzählstruktur und Genre-Hybridität sehr viel breiter ist. Schema: Manuela Kalbermatten, November 2013 / Januar 2015 Future Fiction nährt sich von der Apokalypse oder Katastrophenerzählung, wobei die modernen Vernichtungsszenarien populärer Unterhaltungsmedien die soziokulturell und historisch geprägten Ängste einer Gesellschaft spiegeln. Anax führt das Ende der „alten Welt“ auf Klimawandel und Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, schwindende Rohstoffe, ausser Kontrolle geratene gentechnische Versuche, die destruktive Macht der Medien und v.a. auf politische Instabilität aufgrund von Terrorismus und Fundamentalismus zurück; ausschlaggebend aber sei ein Klima von Pessimismus, Bedrohung und Misstrauen gewesen (14-17). In der aktuellen Future Fiction sind apokalyptische und postapokalyptische Elemente v.a. in Texten anzutreffen, die man als Öko-Dystopien und Survivor-Texte bezeichnen könnte: Sie nehmen die didaktisch-aufklärerische Erkenntnis-, Warn- und Erziehungsfunktion des Umweltromans auf, wie er sich v.a. in den 1980er-Jahren (prototypisch mit Gudrun Pausewangs Roman Die Wolke) heraus78 gebildet hat, und werden von Gabriele von Glasenapp deshalb auch als problemorientierte Jugendliteratur der Gegenwart bezeichnet . Darüber hinaus fokussieren sie, ähnlich wie Susan Sontag dies für den Katastrophenfilm festgehalten hat, auf die „Ästhetik der Destruktion“ , projizieren diese aber hauptsächlich auf einzelne Individuen, deren Überlebensstrategien sie ins Zentrum stellen. Ein zentraler Fokus dieser Erzählungen liegt trotz der Makro-Ebene, auf der die Katastrophe angesiedelt ist, auf dem Individuum, genauer: auf der Auslotung von Tugenden, die sein Überleben sichern. der bereits erwähnten klassischen Dystopie oder auch Gesellschaftsdystopie, in der als negativ empfundene Entwicklungen der Gegenwart in die Zukunft extrapoliert werden, wobei die Beziehung zwischen der zumeist hoch-technologischen, totalitären Überwachungsgesellschaft und dem Individuum ins Zentrum gestellt wird und die Rebellion die Handlung bestimmt einer dritten Spielart, die ich vorläufig als Cyborg-Romane bezeichnen würde. Hierunter fasse ich Texte, die man als Science Fiction im engeren Sinn bezeichnen kann; Texte, welche die Auswirkungen neuster Technowissenschaften auf das Soziale, das Bild des Menschen und die Identität des Einzelnen ins Zentrum stellen . Ausgelotet wird die Stellung des Menschen in einer zunehmend virtuell geprägten Gesellschaft, seine Vernetzung mit neusten Technologien und der damit einhergehende Zusammenbruch klassischer Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier und Maschine, wie er bereits 1985 von Donna Haraway in ihrem Manifest für Cyborgs beschrieben wurde. Sichtbar wird, dass das Utopische Gebiet, zumindest in der Jugendliteratur, unbesiedelt bleibt. Genau wie die aktuelle Erwachsenenliteratur kennt die FF keine Utopien im Sinne von Texten, die den perfekten Staat, die bestmögliche Gesellschaftsordnung inszenieren – darin spiegelt sich die anti-utopische Haltung des 20. und 21. Jahrhunderts, das aus politischer Erfahrung gespeiste Misstrauen gegenüber kollektiven Stabilitäts-, Ordnungs und Glücksversprechen. Staats-Utopien tragen in der Gegenwart immer negativ behaftete Züge, die sich nicht unbedingt der Figur, wohl aber den Lesenden auf Anhieb erschliessen sollen. So verwundert es auch nicht, dass in Genesis am Ende auch Anax’ eigene Gesellschaft, die sie ihr Leben lang als Endpunkt einer Progression hin zum idealen Staat aufgefasst hat, als dystopische entlarvt wird. Wir können uns von dieser utopischen Gesellschaft lange Zeit kein genaues Bild machen, weil Anax eine unzuverlässige Erzählerin ist – erst im Lauf des Gesprächs entwickelt sie eine Vorstellung davon, wie das System tatsächlich beschaffen ist und welchen Preis die Akademie für dessen Stabilität bezahlt: Sie ortet mithilfe eines perfiden Beobachtungssystems unkonventionell denkende, wissbegierige Subjekte, lädt sie zum Aufnahmegespräch ein, lässt sie ihre Ideen äussern, um auf dem neusten Stand zu bleiben, und schreitet endlich zur Exekution. Ironischerweise büsst Anax ihr Leben nicht im Kampf für ihre Individualität ein, wie das bei den rebellischen Subjekten klassischer Dystopien der Fall ist, sondern im Versuch, ihre Fähigkeiten in den Dienst des Kollektivs zu stellen. Anders als ihre klassischen Vorgänger begnügen sich Dystopien für Jugendliche aber selten damit, Zeitkritik durch Extrapolation, also Weiterentwicklung negativer Gegenwartstendenzen in die Zukunft zu üben und, wie Peter Werder schreibt, „den Teufel an die Wand zu malen“ . Zwar ist die Warnfunktion auch in der Jugendliteratur enthalten. Dennoch finden sich stets auch utopische Ansätze bzw. Impulse, die im Sinne dezidierter Gegenwerte oft explizit formuliert und direkt in der Figur des rebellischen Individuums verortet werden. Das ist auch in Genesis nicht anders. Ohne die Schlusspointe des Romans zu verraten, lässt sich sagen, dass der utopische Impuls hier darin besteht, dass Adam Fordes unkonventioneller Geist in und dann über Anax hinaus weiterlebt. Das aber knüpft an eine traditionelle binäre Geschlechterordnung an, die Männlichkeit mit Geist und Intellekt, Weiblichkeit hingegen mit Körper und Emotionalität verknüpft. Anax hat, wie ihr Mentor Perikles einmal zu ihr sagt, ein „Gespür“ für 79 Adam, das ihr weit über das rationale Verarbeiten der Quellen hinweg zu einem tiefen Verständnis seines „Wesens“ verhilft (23). Und obwohl diese intuitive, verstehende Komponente als positiver Gegenwert zu dem kalten Rationalismus des Systems gesetzt wird, ist es letztlich doch der männliche Intellekt, der Zeit und Evolution überdauert. Wenn Anax also recht damit hat, dass sich im Konflikt die Werte einer Gesellschaft zeigen, und sich die Kontinuität des männlich geprägten Geistes über die Zeit als eigentlich utopischer Impuls des Textes erweist, dann ist das nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass die Frau als Verliererin aus dem zentralen Wertekonflikt hervorgeht. II. The Match that light’s the Fire „Jeder historisch-soziale Kontext hat eigene künstliche Wesen hervorgebracht“, schreibt Silke Bellanger in ihren Begegnungen mit den Cyborgs. Ich stelle analog dazu die These auf, dass auch die unterschiedlichen kulturkritischen Praktiken und utopischen Impulse der Future Fiction ihre eigenen, künstlichen Wesen hervorbringen – weibliche Kunstfiguren, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde. Werfen wir, ehe wir uns endgültig von ihr verabschieden, einen letzten Blick auf Anaximander. Zu Beginn ihrer Ausführungen hält sie fest, dass Adam Forde gegenwärtig nicht mehr derselbe ausserordentliche Status zugeschrieben werde wie noch vor einigen Jahren. 'There need to be nothing special about the match that lights the fire,' laute das Motto der neuen Geschichtsphilosophie, 'save that it is the match that lights the fire.' Auch Anax selbst erliegt trotz ihrer Faszination für Adam nicht der Versuchung, ihn zu idealisieren oder zu heroisieren, sondern stellt klar, dass es nicht einzelne Helden sind, die grosse Umwälzungen bewirken, sondern bestimmte Verknüpfungen von Diskursen, Ereignissen und Interessenskonflikten, die ein Individuum als Symbol des Widerstands hervorbringen. Selbstverständlich geht mit diesem Prozess eine Reduktion des Individuums einher. Wenn am Streichholz weiter nichts zählt, als dass es das Feuer entzündet, sprich: zum Symbol des Widerstands und der Revolution wird; wenn die Idee und nicht das konkrete Individuum zur entscheidenden Instanz erhoben wird, dann erfolgt eine Auslöschung dieses Individuums mitsamt seiner persönlichen Biografie, seinem Körper, seinen Beziehungen, Erfahrungen, Verletzungen und Vernetzungen. Die Frauenbildforschung hat diesen Prozess vor allem im Rahmen traditioneller Geschichtsschreibung wiederholt beklagt, weil er ganz besonders oft zu Lasten der Erfahrungen und des Leidens realer Frauen ging und universalisierte, ja essentialisierte Frauenbilder generiert und zementiert hat. Versuche feministischer Autorinnen, Frauen aus ihrer Zeichenhaftigkeit zu befreien, hat es einige gegeben, auch im Zukunftsroman für Erwachsene. In Die Republik der Frauen von 2010 beschreibt die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli den mühsamen Weg hin zu einem wenn nicht utopischen, so doch besseren Staat, der fiktiven Republik Faguas, die für eine Weile ausschliesslich von Frauen regiert wird. Durch ein sich vom patriarchalen Führungsstil des Präsidenten massiv abhebendes Programm gelingt der „Partei der erotischen Linken“ unter der Führung der Fernsehmoderatorin Vivica Sanson bei den Wahlen ein Erdrutschsieg. Doch weil sich die Regierungsgeschäfte aufgrund massiven männlichen Widerstands schwierig gestalten, entlassen Vivica und ihr Stab für eine Weile sämtliche Männer aus dem Staatsdienst – mit folgendem Resultat: „Die Frauen allein regieren zu lassen bestätigte, was sie schon lange gespürt hatte: Wenn die Frauen unbehelligt waren, nicht von den Machos argwöhnisch beobachtet und beurteilt wurden, dann legten sie sehr schnell ihre nachgiebige Art ab, liessen die Legende hinter sich, dass Frauen nicht gern das Kommando führen, dass es ihnen nicht liegt, Herausforderungen anzunehmen. Doch dazu mussten sie auch den verinnerlichten Richter abschütteln, das Männchen, das mit erhobenem Zeigefinger und dem Gesicht des Vaters oder des Priesters oder Onkels oder Bruders wie eine ehrwürdige Büste im dunklen Park ihrer weiblichen Hirne stand und sie daran erinnerte, dass sie 80 Töchter Evas waren: Sünderinnen; ungeratene Töchter: Huren; Barbie-Töchter: Dummchen; Töchter der Jungfrau Maria: brave Mädchen, Frauen, die wohlerzogen schwiegen ... Die endlose Reihe verehrter oder verachteter weiblicher Vorbilder bestand aus eindimensionalen Schwarzweissporträts: entweder so oder so; ausnahmslos verneinten sie die Gesamtheit all dessen, was es bedeutete, Frau zu sein.“ Aktuelle feministisch-politische Literatur prangert also auf sehr explizite Weise die Prozesse und Diskurse an, in denen Frauen auf starre Bilder und Symbole reduziert werden, um sie dann aus ihrer Zeichenhaftigkeit, ihren „eindimensionalen Schwarzweissportraits“ herauszuholen und sich der Gesamtheit ihrer Erfahrungen zuzuwenden. Auch in der Future Fiction werden junge Frauen im Dienste kultur- und machtkritischer Diskurse zu Zeichen gemacht. Die Streichholzmetapher, die Anax benutzt, sticht im Vergleich mit Katniss Everdeen, dem „girl on fire“, sofort ins Auge. Die Protagonistin von Suzanne Collins’ Hunger Games-Trilogie und ihren Verfilmungen ist eine eigenwillige, zuweilen egozentrische Heldin mit Ecken und Kanten, eine Kämpferin in eigener Sache, denn ihre Überlebensstrategien zielen zunächst nur darauf ab, sich selbst und die ihr nahe stehenden Menschen zu retten. Dass sie aus einer Verkettung zufälliger Ereignisse und geschickter Manipulationen zu einem Symbol des Widerstands in der aufkeimenden Revolution gemacht wird, das sich im zweiten Teil, Catching Fire, zunehmend verselbständigt, entsetzt sie zunächst zutiefst. Weil aber all ihre Bemühungen, diesem Ikonisierungsprozess zu entgehen, scheitern, distanziert sie sich schliesslich freiwillig von der eigenen Biografie und Leidensgeschichte und beschliesst, ihre Verwandlung in ein Symbol aktiv mitzubetreiben und sich selbst dabei auszulöschen: „And for the first time, I distance myself from the personal tragedy that has consumed me since they announced the Quell. (...) everyone in the Districts will be watching me to see how I handle this death sentence, this final act of president Snow's dominance. They will be looking for some sign that their battles have not been in vain. If I can make it clear that I'm still defying the Capitol right 'till the end, the Capitol will have killed me, but not my spirit. What better way to give hope to the rebels! The Beauty of this Idea is that my decision to keep Peeta alive, at the expense of my own Life, is itself an act of defiance. A refusal to play the Hunger Games by the Capitols rules. My private Agenda dovetails completely with my public one. And if I really could save Peeta, in terms of a revolution, this would be ideal. Because I will be more valuable dead. They can turn me into some kind of martyr for the cause, and paint my face on banners, and it would do more to rallye people than anything I could do if I was living. But Peeta would be more valuable alive, and tragic, because he will be able to turn his pain into words that will transform people."16 Katniss ist hier also bereit, sich auf ein stummes Zeichen reduzieren und die Männer sprechen zu lassen, denen sie die Fähigkeit zuschreibt, als Subjekte zu agieren, während sie von ihnen zum Objekt stilisiert wird. Damit reiht sie sich ein in eine lange Tradition. Man könnte die Geschichte dieser zeichenhaften Wesen, dieser Streichhölzer, die den utopischen Impuls zünden und dabei verbrennen, damit beginnen, dass man an die vielen toten Frauen in der dystopischen Literatur erinnert – oder besser: an jenen Typ Frau, die als „disruptive force“, als zerreissende Kraft, wie Chris Ferns es in seiner Studie „Narrating Utopia“ nennt, den männlichen Protagonisten zum Widerstand gegen das totalitäre System aufstachelt, diesem System am Ende aber auf spektakuläre Weise unterliegen muss, damit seine Kontinuität gewährleistet bleibt. Nehmen wir Jewgenij Samjatins I-330 in dem dystopischen Roman „Wir“ von 1920. Sie verführt den überzeugten Utopisten D-503, Konstrukteur des Raumschiffes Integral, das bald ins All fliegen und das gesamte Universum der Ideologie des – deutlich stalinistischen – Einen Staates unterwerfen soll, mit Insignien klassischer Weiblichkeit: mit femininen Kleidern und Make-Up, das sie gegen die asexuelle Uniformität der Masse setzt, und einer üppigen, ausufernden Sexualität, die den Rahmen des gesellschaftlich Tolerierten sprengt. Genau wie in 81 der bei Beckett inszenierten geschlechtersegregierten Polis werden Intimität, Weiblichkeit, heterosexuelle Zweisamkeit und die klassische Familie als in sich individualisierend wirkende Kräfte, ja geradezu als Keimzellen des Widerstands inszeniert und vom Text als Gegenwerte zum dystopischen System gesetzt. Mehr noch: der Protagonist entwickelt seine Individualität, Aktivität und Männlichkeit erst dann, als ihm eine Frau diese Männlichkeit kraft ihrer dezidierten Weiblichkeit spiegelt und ihn dadurch aus seinem infantilen Status „reisst“. I-330s später Versuch, gemeinsam mit einer Gruppe von Rebellinnen ein symbolisch befrachtetes, phallisches und noch dazu imperialistisches Objekt wie das Raumschiff Integral zu erobern, geht im Vergleich zu den üblichen Waffen der Frauen sehr weit und wird mit einer deutlich sexualisierten öffentlichen Exekution bestraft. Im Fall von George Orwells Julia in 1984 und der gleichnamigen Verfilmung beschränkt sich die Rebellion hingegen darauf, dass sie mit dem Mann ihrer Wahl kurzfristig ein traditionelles Idyll heterosexueller Zweisamkeit feiert. Die klassische Dystopie zeigt damit eine deutliche Tendenz, Widerstand in einem sehr traditionellen Wertesystem zu verorten und vom Politischen ins Private zu verlagern: „For the most part, resistance manifests itself more in the sexual than the political realm – and then most often in the form of the reassertion of more traditional sexual values.“ Ferns geht sogar so weit, der Dystopie allgemein eine Tendenz zum Konservatismus und zur nostalgischen Idealisierung der Vergangenheit zu bescheinigen.21 Doch während der männliche Protagonist auch andere Wege findet, seine Identität zu festigen; das Schreiben eines Tagebuchs etwa, die Beschäftigung mit der Vergangenheit oder anderem verbotenem Wissen, fungiert die Frau meist lediglich als Symbol für Sexualität, Liebe und den verlorenen, als erstrebenswert inszenierten „Naturzustand“. Die heutigen Protagonistinnen wirken demgegenüber weitaus emanzipierter, zumindest im Umgang mit ihren männlichen Antagonisten und Verbündeten. Sie treten der diktatorischen „Vaterfigur“ nun direkt gegenüber, entwickeln sich vom hilflosen Objekt patriarchaler Zurichtung zum Subjekt, das nicht nur angeschaut wird, sondern zurück-schaut, dem Machthaber direkt in die Augen blickt – und nicht selten auch vorübergehende Siege davonträgt. So richtet Katniss in Catching Fire ihren Pfeil direkt auf die Kuppel der Arena, die das propagandistische Universum das Übervaters Snow bildet. Die Umkehrung von schauendem Subjekt und betrachtetem Objekt wird in Francis Lawrences Verfilmung noch forciert, indem die Leinwand, auf der Katniss’ Aktion zu sehen ist, plötzlich durchlässig und Snow selbst dem Blick der jungen Frau ausgesetzt scheint. Das Schlussbild zeigt Katniss’ Gesicht in extreme Close Up und zeichnet dabei eine ganze Bandbreite von Emotionen nach, die mit Verzweiflung beginnen, aber bei unverhohlener Aggressivität enden. Figuren wie Katniss nehmen nicht länger nur die Rolle der verführerischen Gegenkraft ein, sie setzen selber Zeichen . Die Zeichen, die Katniss setzt, erweisen sich oft als besonders aggressiv und gewalttätig: Während ihr Verbündeter Peeta beim Einzeltraining vor den Jubiläumsspielen einem in den letztjährigen Spielen gefallenen Mädchen ein Denkmal setzt und der Monstrosität des Capitols damit einen Akt liebevoller Erinnerung entgegen setzt, ist Katniss’ Installation des an ihren rebellischen Akten gescheiterten und in der Folge getöteten Spielemachers Seneca Crane eine direkte Kampfansage. Doch wenn junge Frauen wie Katniss heute auch aktiv gegen das dystopische Regime antreten und es nicht selten sanfte männliche Figuren wie Peeta sind, die als „disruptive force“ zu ihrer Politisierung beitragen, möchte ich die These aufstellen, dass der kulturkritische Impuls aktueller Texte die Frau nach wie vor als Symbol und als „disruptive force“ benötigt. Allen emanzipatorischen Gesten zum Trotz muss die individuelle Frau erneut und wiederholt geopfert und auf ein Zeichen reduziert werden, damit die Botschaft greifen kann. Nun ist zu fragen, aus welchen skeptisch beäugten Tendenzen der Gegenwart sich die Kulturkritik aktueller Future Fiction denn überhaupt speist. Gemeinsam ist sowohl den Klassikern als auch den aktuellen Texten, dass sie wenig über die Zukunft und umso mehr über die Gegenwart aussagen : über 82 ihre Denkmodelle, Ideale und Konzepte, über Ängste und Hoffnungen. Diskutiert werden die Folgen von Globalisierungsprozessen, Machtkonzentration und Ausbeutung, die Effekte neuer Datenerhebungs- und Überwachungsinstrumente, der Bedeutungsverlust der Buch- und Schriftkultur und der klassischen Familie, die Aufweichung traditioneller Geschlechterrollen und Beziehungen. Klimawandel und Artensterben sind ebenso Thema wie die Auswirkungen Neuer Medien, virtueller Welten und Körpertechnologien auf unser Menschenbild und unser Verständnis von Identität. Was den kritisch-politischen Gehalt der Future Fiction betrifft, gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Während klassische Dystopien wie 1984 oder Brave New World oft sehr explizit auf politische Tendenzen und ganz speziell auf totalitäre Systeme ihrer eigenen Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit Bezug nehmen, kritisiert Ralf Schweikart, dass sich in der Dystopie als jugendliterarischem Trendthema selten ein „deutlicher, gesellschaftspolitisch motivierter Erzählansatz“ zeige – im Zentrum stünden vielmehr „zeitlose Elemente der Abenteuer- und Liebesgeschichte“, der Kampf zwischen Gut und Böse, die Heldengeschichte. Die Herrschaftsform spiele eine untergeordnete Rolle: „Stattdessen verschiebt sich die Katastrophe ins Private, in das Miteinander der Protagonisten (...).“25 Dazu drei Bemerkungen. 1. Ich stimme Schweikart in der Beobachtung zu, dass die Herrschaftsformen in vielen Texten zur Folie werden, auf der sich „private“ Konflikte abspielen. Meines Erachtens mindert das aber gerade nicht den gesellschaftspolitischen Gehalt der Texte: Ich möchte im Gegenteil dafür plädieren, Liebe, Sexualität und Geschlechterverhältnis als zentrale, wenn nicht in bestimmten Fällen sogar als eigentliche gesellschaftspolitische und kulturkritische Themen dieser Texte zu betrachten. Der Sprengstoff liegt in der Verknüpfung der dystopischen Vision mit aktuellen Geschlechterdebatten und ist lesbar als Teil eines Diskurses, in dem Konzepte und Ideale von Identität, Geschlecht und Weiblichkeit verhandelt werden. Ausgehandelt werden zeitgenössische Werte, die auf den ersten Blick nicht unbedingt als politische erscheinen müssen, wohl aber unsere politisch-sozialen Strukturen rahmen: Welche Beziehungs- und Lebensformen sind erwünscht und welche nicht? Welcher Umgang mit Identität und Körper gilt als erstrebenswert? Wie sollen sich die Beziehungen und Hierarchien zwischen den Geschlechtern gestalten? Wie ist mit Multikulturalität und Differenz umzugehen? 2. Betrachtet man die Flut der in den vergangenen 7-8 Jahren erschienenen Texte, wird ausserdem deutlich, dass viele von ihnen junge Frauen als die am stärksten bedrohten Subjekte dystopischer Szenarien imaginieren. Insbesondere die Zukunft des Geschlechterverhältnisses und des weiblichen Handlungs- und Identitätsspielraums werden oft als prekär inszeniert. Frauenrechte erweisen sich angesichts der Katastrophe als besonders fragil, und nicht selten wird der weibliche Körper zum eigentlichen Kampfschauplatz. 3. Wie die klassische Dystopie oder Katastrophenerzählung nimmt auch die Future Fiction Bezug auf den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sie entsteht. In Bezug auf die in ihr verhandelten Geschlechterdiskurse möchte ich diesen gesellschaftlichen Hintergrund mit der britischen Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie als „postfeministisch“ charakterisieren: als seit den 1990er-Jahren ablaufender „Prozess der fortgesetzten aktiven Unterminierung der Erfolge des Feminismus in den 1970er und 1980er Jahren“, der sich zugleich den Anschein gibt, „eine fundierte und sogar gut gemeinte Reaktion auf die Forderungen feministischer Bewegungen und der Kritiken innerhalb der feministischen Theorie zu sein“. McRobbie stellt in ihrer Studie Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes (2010708) eine „doppelte Verwicklung“ fest, die sich in einem zeitgenössischen Nebeneinander von neokonservativen familienpolitischen Werten 83 einerseits und Prozessen der Liberalisierung in Partnerwahl, Familien- und Lebensgestaltung andererseits äussert. Die postfeministische Bewegung, die sie v.a. in Bezug auf Grossbritannien untersucht, integriert laut McRobbie liberale feministische Werte als Teil des „Alltagsverstandes“ und lehnt den (radikalen) Feminismus & seine Reaktivierung zugleich vehement ab. In dieser Form des „undoing“ von Feminismus beruft sich der Postfeminismus auf den Feminismus, indem er seine Aufgaben als erfüllt, d.h. Gleichberechtigung als erreicht inszeniert und den Feminismus mit dieser Bewegung verabschiedet und „historisiert“. Feministische Positionen und Kritik werden zugunsten einer Rhetorik der Freiheit und der Wahl als überholt dargestellt – der Imperativ weiblicher Individualisierung tritt an die Stelle einer aktiven und sozialkritischen Bündnispolitik. Im Zentrum dieses Diskurses stehen erfolgreiche junge Frauen, die als „Metapher für sozialen Wandel“ und als „Subjekte der Exzellenz“ bzw. „Symbole der Meritokratie“, also der Leistungsgesellschaft, inszeniert werden; sie sollen sich unter dem Versprechen der Teilhabe und Lusterfüllung vom Feminismus als politischer Bewegung distanzieren. McRobbie spricht in diesem Zusammenhang von einer Politik der „Desidentifizierung“, in der sich junge Frauen zunehmend vom Feminismus abwenden. Zugleich erfährt traditionelle Weiblichkeit eine – wenn auch zuweilen ironisch und nostalgisch gebrochene – Wiederaufwertung in Popkultur und Arbeitsalltag. Insbesondere der an Frauen gerichteten Popukultur wirft McRobbie vor, als „Multiplikator für den neuen Traditionalismus zu fungieren“. Kann man, so stellt sich die Frage, diesen Vorwurf auch der Future Fiction machen? Welche Subjekte werden in ihren krisenhaften Geschlechterdiskursen und Ermächtigungsfantasien hervorgebracht? Zu welchem Preis wird diesen jungen Frauen, die nun in aller Regel als rebellische Individuen auftreten, Teilhabe und individualisierte Handlungsmacht verwehrt – oder gerade in Aussicht gestellt? Und welche Diskurse und politischen Bewegungen werden im Gegenzug desartikuliert? III. "More than a piece in their Games“ ? Ich fokussiere zunächst auf Texte, in denen Figuren entworfen werden, deren Identität als soziales, aber auch persönliches Konstrukt oder Projekt thematisiert wird. Beginnen möchte ich, indem ich auf Katniss zurückkomme. Intensiver, detaillierter und in gewisser Hinsicht auch analytischer als Vorgänger und Nachfolger fokussiert Catching Fire auf den Kampf um Bedeutung, der im vor-revolutionären Panem entbrennt. Nun lebt Katniss in einer Gesellschaft, in der die Differenzen zwischen den Geschlechtern weniger ausgeprägt erscheinen als in unserer; Frauen kommen prinzipiell dieselben Rechte und Pflichten zu wie Männern. Während die Männer des reichen Capitols sowohl in den Romanen als auch in den Verfilmungen als effeminiert inszeniert werden, wird die Aufhebung der Geschlechtergrenzen in der vollkommenen Gleichstellung von männlichen und weiblichen Tributen in der Arena auf die Spitze getrieben, auch wenn die Binarität erhalten bleibt – sind es doch dezidiert jeweils ein Junge und ein Mädchen, die unter den minderjährigen Tributen ausgelost werden. Im scharfen Kontrast zu der Uniformierung der Spiele stehen die Shows, die ihnen vorangehen: Sie kreieren ein individualisiertes und zugleich hochgradig zeichenhaftes „Image“ der Tribute und animieren das Publikum damit zur Identifikation mit bestimmten Tributen. Dazu werden die Tribute entsprechend männlicher und weiblicher Geschlechtercodes inszeniert. Als Teil ihrer Strategie, Katniss zu retten, versuchen Cinna, Haymitch und Peeta bereits im ersten Teil, sie in der heterosexuellen Matrix zu lokalisieren, jener von Judith Butler beschriebenen binären Ordnung, die sicherstellt, dass sexuelles Begehren, körperliches Geschlecht, Geschlechtsidentität und -ausdruck mit der Zwangsordnung der Heteronormativität übereinstimmen. Das heisst: Katniss’ auf der Bühne „aufgeführte“ Identität muss dahingehend getrimmt werden, dass Weiblichkeit und heterosexuelles Verlangen suggeriert und aufeinander 84 abgestimmt werden. Cinna erreicht dies durch ihre „Maskierung“ mit einem besonders feminin erscheinenden Kleid und entsprechendem Make-Up; Haymitch und Peeta, indem sie Katniss’ als Peetas Objekt des Begehrens inszenieren. Die Strategie funktioniert beim MainstreamPublikum tatsächlich und wird von Katniss als Überlebenstaktik akzeptiert, auch wenn insbesondere im Text wiederholt auf die Verletzungen verwiesen wird, die sie aufgrund dieser Maskierung erleidet. So streichelt sie etwa in einer Geste des Bedauerns über ihre Beinbehaarung, ehe ihr Prep-Team sich mit Wachs darüber hermacht. Die „Maskerade“ wird hier, um mit der von Angela McRobbie zitierten Joan Riviere zu sprechen, als eine Art der „Weiblichkeitsproduktion“ eingeführt, die Katniss’ Zorn in „Verführung und Koketterie“ verwandelt. Katniss wird gezwungen, sich mittels dieser postfeministischen Maskerade wieder ins Feld des „beruhigend Weiblichen“ einzuschreiben und ihre männlich-aggressiv konnotierten Identitätsaspekte zu verschleiern. Der Text kritisiert damit meines Erachtens gezielt eine neue Form „regulierender, vergeschlechtlichter Machtverhältnisse“, wie sie McRobbie beschreibt. Diese auf die weibliche Identität und den weiblichen Körper zielenden Machtverhältnisse verschärfen sich im Zuge der zunehmenden sozialen Spannungen markant. Erneut wird Katniss medial im heteronormativen Schema verortet, um mit der Demonstration traditioneller Liebe von den politischen Konflikten abzulenken. Katniss’ Körper wird hier im wahrsten Sinne des Wortes zum Kampfschauplatz divergierender Konfliktstrategien. Ich möchte das anhand eines Filmausschnitts aus Francis Lawrences Catching Fire und der entsprechenden Passage in Collins Roman37 zeigen. Beide zeigen die „Opening Ceremonies“ der Jubiläumsspiele, in denen die bereits zum Symbol des Widerstands gekürte Katniss endgültig vernichtet werden soll. Der Ausschnitt zeigt, wie Katniss’ Körper von drei männlichen Figuren im Kampf um die jeweils angestrebte Gesellschaftsordnung imaginiert wird als „passiver Leib, der ihren Bezeichnungspraktiken beliebig unterworfen werden kann“ . Sowohl Präsident Snow als Kopf des unterdrückerischen Capitols als auch Katniss’ Stylist Cinna als Mitglied der Untergrundorganisation und ihre Verbündeten Peeta und Haymitch eignen sich Katniss’ Körper als „Resonanzraum für ihre rhetorischen Strategien“ an. Katniss kann nur überleben, indem sie diese Rollen übernimmt. Dass die damit verbundenen Akte auch bei ihr jeweils die Illusion einer bestimmten Identität generieren, kommt insbesondere im Roman zum Ausdruck, indem sie die jeweiligen regulierenden Verfahren reflektiert: „It's so barbaric, the president turning my bridal gown into my shroud, that the blow strikes home, leaving me with a dull ache inside“ (298), lautet ihre Reaktion auf Snows Versuch, sie auf ein besonders weibliches Bild, das der Braut, zu reduzieren. „Cinna has turned me into a mockingjay“ (304); staunt sie wenig später über ihre Metamorphose in das Symbol der Revolution, von der sie im Roman, anders als dies der Film suggeriert, vorgängig keine Ahnung hatte. Peetas Deklaration ihrer vorgängigen Verheiratung und Katniss’ Schwangerschaft schliesslich trifft einen wunden Punkt in ihrer persönlichen Biografie: „Because for a moment, even I am working through what Peeta has said. Isn’t it the thing I dreaded most about the wedding, about the future – the loss of my children to the Games?“ (310) Zugleich wird hier die Bedeutung deutlich, die dem Bild der traditionellen Familie nach wie vor zugemessen wird – es dient in den Hunger Games sowohl auf Handlungs- wie auch auf der normativen Ebene immer wieder als Gegenbild zum dystopischen System. Zentral erscheint mir hier allerdings der männerbündlerische Blick, den Peeta und Haymitch tauschen. Nachdem sie sie gemeinsam zu einem Objekt des Begehrens stilisiert haben, haben sie als raffinierte Denker der ahnungslosen Frau als passiver Empfängerin nun auch noch ein Kind auf den Leib geschrieben und ihr damit das Bild der Mutter übergestülpt. 85 Katniss kann diesen illusorischen Identitäten zwar keine kohärente, ‚wahre’ Identität entgegensetzen; Text und Verfilmungen stellen Identität und Geschlecht im Sinne Judith Butlers als performativ, als durch Handeln, durch die ständige Repetition kulturell geprägter Akte, Gesten und Codes erzeugt dar. Zugleich aber ist das Individuum nie nur passives, formbares Objekt oder „Leinwand“. Katniss ist der Aneignung durch mächtigere Subjekte, ihren Bezeichnungspraktiken und Projekten zwar ausgesetzt, aber nicht vollkommen hilflos ausgeliefert. Immer wieder tritt sie mithilfe kleiner subversiver Akte selbst als Akteurin auf, wobei sie die ihr zugeschriebenen Bedeutungen zwar nicht aufheben, aber zuweilen unterlaufen kann, um „more than a piece in their games“ (292) zu sein. Als sie in der Show spontan die Hände der anderen Tribute ergreift, geht dieser Akt sofort in bewusste Reflexion um seine Wirkung über: „the first public show of unity among the districts“ (311). The Hunger Games lässt sich, um den Definitionen Andreas Mahlers zu folgen, durchaus als „Diskursdystopie“ lesen, in der die Sprache der usurpatorischen Macht den Diskurs bestimmt und die Unterdrückten innerhalb dieses hegemonialen Systems des Denkens und Argumentierens verdammt sind, die ‚fremde Sprache’ zu übernehmen oder zu schweigen. Doch während sich Joanna Mason im Film die ihr aufgezwungenen zeichenhaften Einschreibungen in einer amüsanten Szene im Lift einfach vom Leib reisst und später nur mit offenkundiger Zensur zum Schweigen gebracht werden kann, finden die anderen Tribute Möglichkeiten, die ihnen vom System aufgezwungene Zeichenhaftigkeit direkt gegen dieses System selbst zu richten. Junge Frauen werden laut McRobbie im postfeministischen neoliberalen Geschlechtervertrag dazu gezwungen, eine „illusorische Identität aufzubauen, die entsprechend einer rigide durchgesetzten Skala weiblicher Eigenschaften definiert ist“ und der mit Hilfe unzähliger Optimierungs- und Beratungsangebote zum Erfolg verholfen wird. Eine Möglichkeit aus diesem Eingesperrt-Sein könnte ihr zufolge eine Subkultur sein, in der gegenseitige Abhängigkeit und intensive Sozialität gefeiert wird. Wenn die Art und Weise, wie Katniss im Zuge diskursiv ausgetragener Konflikte auf ein vergeschlechtlichtes Symbol reduziert wird, von Text wie Film als Kritik an der Zurichtung weiblicher Identität inszeniert wird, dann liegt der utopische Impuls in der zunehmenden politische Sozialisierung ihrer Figur. So arbeitet sich Katniss an unterschiedlichsten politischen Vor- und Schreckbildern ab, entzieht sich immer wieder dem Imperativ der Selbstoptimierung und knüpft stattdessen Bündnisse mit jenen Subjekten, die im Wettbewerb, den das Capitol erzwingt, rücksichtslos zur Seite geschaufelt werden. Gerade das aber ist ein klassisches feministisches Anliegen einer klassen-, geschlechter- und „rassen“-übergreifenden Bündnispolitik und Sozialkritik. In einer klassenübergreifenden Bündnispolitik scheint auf den ersten Blick auch der utopische Impuls von Divergent (2011) zu bestehen. Der Auftakt von Veronica Roths Roman-Trilogie, deren erster Teil von Neil Burger verfilmt wurde, folgt einem Musterschema dystopischer Future Fiction: Die jugendliche Hauptfigur, die vom entsprechenden System sozialisiert wurde und die LeserInnen in seine Strukturen einführt, betrachtet es zunächst als sinnvoll. Das Erzählschema fokussiert sodann auf den Erkenntnisprozess, der das „nonkonforme“ Individuum von der Systemtreue über die kritische Hinterfragung zur offenen Rebellion führt, wobei eine Liebesbeziehung oft als Katalysator fungiert. An Beatrice – Tris’ – Priors Werdegang lässt sich das nachvollziehen. Gezeigt wird eine „Kastengesellschaft“, in der die Individuen in ihrer jeweiligen Fraktion als Wächter, Politikerinnen oder Philosophen ihren Beitrag für das Kollektiv leisten. Die von Kate Winslet als kühle, skrupellose Frau verkörperte Jeanine Matthews, Kopf der Denkerfraktion, tritt als eine Art Neo-Platon auf: Sie hält die Kernfamilie für überholt, ja hinderlich für ein rational durchstrukturiertes System. Als Folge dieser Weltanschauungen trennen sich die Jugendlichen mit 16 Jahren von ihrer Familie, um in den ihnen nach einem Test empfohlenen 86 Fraktionen zu leben. Jeanines Kontrastfigur ist Tris, die sich als "Unbestimmte" weder auf eine Kaste festlegen lässt noch dazu bereit ist, die Beziehung zu Eltern und Bruder zu kappen, als sie aus der Kaste der Selbstlosen in die Kaste der Furchtlosen übertritt. Das System dient im ersten Teil von Roman und Film als Folie für eine als positiv inszenierte Identitätsfindung. Tris wird dargestellt als ‚Top Girl’ – als eine der weiblichen Vorbildfiguren des neuen Geschlechterregimes, wie es McRobbie beschreibt. Der im Rahmen dieses Regimes ausgehandelte Geschlechtervertrag macht jungen Frauen aus westlichen Ländern das Angebot, „öffentlich sichtbar zu werden, die Möglichkeiten des Arbeitsmarktes zu nutzen, sich weiterzubilden, reproduktive Selbstbestimmung zu praktizieren und genug Geld zu verdienen, um an der Konsumkultur teilzuhaben, die sich ihrerseits gerade zu einem der bestimmenden Züge zeitgenössischer Modelle weiblicher Staatsbürgerschaft entwickelt.“ Der Preis, den Frauen dafür zahlen, ökonomisch wertvolle, öffentlich sichtbare Subjekte zu sein, ist, dass sie nach den grundlegenden Regeln des neoliberalen Geschlechtervertrags spielen. Chancengleichheit erfolgt nicht mehr aufgrund radikal formulierter Sozialkritik, sondern in Form einer weiblichen Individualisierung. Als vielversprechende künftige Arbeitskräfte werden junge Frauen zu Vorbildsubjekten ausgerufen, die ihre Karriere verantwortungsbewusst, autonom und mit dem Ziel sozialer Mobilität planen (Abb. 1); die aktiv an ihrem Körper arbeiten (Abb 2), ihn laufend optimieren, fit halten und zugleich dafür sorgen, dass er dem Ideal weiblicher Schönheit bei aller Angleichung an männliche Kompetenz gerecht bleibt (Abb 3). Im Film betont die Kamera immer wieder Tris’ wallendes Haar und ihre weiblich-weichen Linien, die auch gern in Kontrast zu den markanten Zügen des von ihr begehrten Four gerückt werden. Gefragt sind Frauen, die viel Zeit und Energie in ihre lebenslange Weiterbildung stecken; die wie Tris (Abb 4) ihre Position in den sozialen Rankings sorgfältig überwachen und eventuelles Versagen auf mangelnde eigene Leistungsfähigkeit, nicht auf systemische Schranken und Ausschlussmechanismen zurückführen. Frauen, die sexuell befreit auftreten, sich aber rechtzeitig für ein heterosexuelles Beziehungsmodell entscheiden, um später Berufstätigkeit und Mutterrolle kompetent zu managen. Bilder aus: Neil Burger: Divergent (2014) 87 Ironischerweise ist es gerade das nicht eben auf Individualismus ausgerichtete Klassensystem, in dem Tris sich zum vorbildhaften liberalen Leistungssubjekt entwickelt: Als „Unbestimmte“ verkörpert sie diesem als dystopisch markierten System gegenüber den Gegenwert: den Aufruf, sich nicht etwa im Gewohnten einzurichten, sondern sämtliche Fähigkeiten aktiv auszubilden. Aus der Kaste der Selbstlosen kommend, die sich u.a. durch fehlenden Stolz auszeichnet, lernt sie zunächst die Freude an der aktiven Gestaltung des eigenen Körpers kennen; sie beklagt zwar die dem Leistungsdruck nicht gewachsenen und daher aus der Fraktion ausgeschlossenen KollegInnen, nimmt selbst aber bereitwillig und mit grossem Einsatz am Wettbewerb teil, indem sie wie eine Raubkatze um ihren Rang im Punktesystem kämpft und sich beweist, anstatt gegen das Leistungssystem anzutreten. Und während Tris sich schliesslich mit ihrer Ursprungsfamilie vereinigt, kann die fehlgeleitete Präsidentin (Abb 5) als das Schreckgespenst feministischer Politik gelesen werden, die traditionelle Verhältnisse zu Gunsten anderer Lebensmodelle radikal hinterfragt: „Der Roman und seine Verfilmung zielen damit nicht auf Transformation, (Abb 6&7) sondern auf die Stabilisierung aktueller Verhältnisse und neoliberaler Werte wie Selbstoptimierung, Leistungssteigerung und Konkurrenz.“ Bei einer Bekräftigung stabiler Geschlechterbeziehungen erfolgt zugleich eine Aufwertung der Frau als ökonomisch wertvoller und sozial kompetenter Ressource. Tris’ kompetente Teilhabe in einem durch Wettbewerb und Leistung geprägten Umfeld mag emanzipatorisch erscheinen, gliedert sich aber, wenn man die Geschichte mit McRobbie liest, nahtlos ein in eine neoliberale Geschlechterpolitik, in der junge, leistungsstarke Frauen aufgefordert werden, Sichtbarkeit zu erlangen und nach „glamouröser Identität“ zu streben – gerade auch auf Kosten weniger leistungsstarker und privilegierter Geschlechtsgenossinnen. Dystopische Texte, welche auf die soziale Konstruiertheit von Identität fokussieren und dabei eine radikal gefährdete junge Frau ins Zentrum stellen, können also mit ganz unterschiedlichen Aussagen verbunden sein. Sie können Räume für eine Reflexion und Dekonstruktion von Geschlechterregimes, Zuschreibungspraktiken und Weiblichkeitsbildern öffnen. Sie können aber auch in Diskurse einstimmen, in denen junge Frauen jenseits sozialkritischer Analysen als Leistungssubjekte angerufen und aufgefordert werden, sich ihre Teilhabe in bestehenden Geschlechterregimes mittels spezifischer Individualisierungstechnologien zu sichern. IV. „Céleste duftete nach warmer Erde“ Ich wende mich nun Texten zu, die nicht die Konstruktionsprozesse weiblicher Identität thematisieren, sondern die Imagination prekärer weiblicher Zukunft mit einer Essentialisierung von Identität und Geschlecht verbinden. Als aussagekräftiges Beispiel möchte ich Céleste vorstellen. Es handelt sich um die Titelfigur eines an jüngere Jugendliche gerichteten Romans des französischen Autors Timothée de Fombelle, der von Julie Ricossé illustriert wurde. 88 Illustrationen: Julie Ricossé in: Céleste (2010/09) Erzählt wird die Geschichte nicht von der Titelfigur selbst, sondern von einem männlichen IchErzähler. Dieser hat zwar keinen Namen – dafür aber einen ausgeprägten Charakter und individuelle Eigenschaften. Mehr noch: Er ist nicht nur der aktiv Handelnde, sondern auch der Chronist und Berichterstatter, wenn er rückblickend und handschriftlich die Ereignisse schildert, in deren Verlauf er Céleste kennen und lieben gelernt hat. Céleste hingegen, deren Herkunft unbekannt bleibt, hat einen Namen und einen Körper, der vom Erzähler am markantesten mit den Worten „Céleste duftete nach warmer Erde“ beschrieben wird. Ansonsten werden ihr keine persönlichen Eigenschaften zugeschrieben; sie kann so beliebig mit Attributen traditioneller Weiblichkeit versehen werden. Célestes Körper ist nicht nur das Objekt der Beobachtung, Beschreibung und des Begehrens des Ich-Erzählers; sie personifiziert "Mutter Natur", verkörpert ihr Leiden an der zerstörerischen – und sehr phallischen – gläsernen Zukunftsgesellschaft: Alle Umweltkatastrophen zeichnen sich direkt auf ihrem Körper ab. „Céleste litt an nichts anderem als an der Krankheit unseres Planeten.”52 Célestes Leib dient damit als Zeichen, das für die LeserInnen Warnfunktion übernimmt. So folgert der Ich-Erzähler: „Wenn jemand erfuhr, dass ein vierzehnjähriges Mädchen in jeder Sekunde am eigenen Körper erlebte, was wir unserem Planeten antun, (...) wenn die Welt darüber Bescheid wüsste, wäre nichts mehr wie vorher.“ Mit ihrer Krankheit verkörpert Céleste aber auch die ohnmächtige, leidende Frau. Es ist die Ausstrahlungskraft ihres Leidens, die sie zu einer kollektiven Mahnfigur und zu einer "disruptive force" macht, indem sie den noch kindlichen Ich-Erzähler ausschliesslich durch ihre Körperlichkeit zum Widerstand gegen ein ökologisch desaströses Wirtschaftsimperium bewegt. Folgt man den Arbeiten von Ralf Konersmann und Georg Bollenbeck zu Formen und Funktionen moderner Kulturkritik, dann ist die in "Céleste" geübte Kritik trotz humorvoller Elemente und Ironisierungen klar als restitutiv erkennbar: Die Entwicklung der Menschheit wird als Abkehr von einem imaginierten Naturzustand, einem „ursprünglichen Sinn“ erzählt, den es wiederherzustellen gilt; der Zustand der Gegenwart wird mittels stark normativer „Pathologiebefunde“ in eine „Verlustgeschichte eingeordnet“. Das Kind, insbesondere das romantisch aufgeladene weibliche Kind, fungiert dabei als „kulturkritische Projektion“, als „Versprechen des ganz Anderen“, des paradiesischen Naturzustandes. Céleste wird die Mutter des Ich-Erzählers als Kontrastfigur entgegen gestellt, die rund um die Uhr berufstätig und auch visuell in die phallische Ordnung der Türme integriert ist, anstatt ihre „natürliche“ Mutterrolle zu erfüllen. In dieser Kontrastierung wird Weiblichkeit schematisch ab- oder aufgewertet und auf die von Gioconda Belli beanstandeten „eindimensionalen Schwarzweissporträts“ reduziert. Zugleich werden traditionelle Geschlechterdualismen und -rollen, deren Allgemeingültigkeit irrtümlicherweise als revidiert gelten, restauriert. Am Ende erfahren wir, dass es der Welt „viel besser“ geht, weil die online verbreiteten Bilder von Célestes versehrtem Körper ihre Warnfunktion erfüllt hätten. Welche konkreten strukturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen eines globalen Ultra-Kapitalismus dazu nötig waren, erfahren wir nicht: Stattdessen wird suggeriert, dass das in trauter Zweisamkeit und im Schoss der Natur vereinte Paar für diese Besserung zuständig ist. Anstatt die eigene Gesellschaft durch Extrapolation kritisch zu reflektieren, werden der dystopischen Welt also auch in Céleste liebevoll ausgemalte traditionelle Werte entgegen gehalten, wie Spiegel dies für die klassische Dystopie konstatiert. Die konkrete weibliche Figur wird zu diesem Zweck idealisierend überhöht, zugleich aber auf eine Allegorie reduziert, die mit einer einzigen Deutungsmöglichkeit oder doch zumindest starken Vorzugslesart aufgeladen wird. Und die Kulturkritik, die sich als Besorgnis um eine fragile Umwelt ausgibt, zielt letztlich mehr auf eine Wiederherstellung traditioneller Geschlechterbilder und -verhältnisse. 89 Mit diesem Konservatismus ist Céleste nicht allein. Zahlreiche Öko-Dystopien und SurvivorTexte propagieren, wie Eva Horn dies für die Katastrophenfantasie der Moderne festhält, angesichts der Katastrophe die Besinnung des Menschen auf die „wirklich wichtigen Werte“ und das Erlernen von Verhalten, das sein Überleben wie seine Humanität sichert. So wird die klassische Kernfamilie im Bild der Arche wiederholt als Symbol des Lebens und des Widerstandes gegen eine anarchische Gesellschaft beschworen und der Frau dabei die Funktion der utopischen Ressource zugewiesen. Etwa, wenn im 3. Band von Susan Beth Pfeffers Last Survivors-Trilogie ein Freund der Familie sagt: „Our future is in this house right now. The children Syl will bear. Miranda and Julie, too. Their babies, born and unborn, are God’s gift to the future, just as the ark was.” Die Beispiele zeigen, dass die Imagination der Zukunft mit einer narrativen Restauration traditioneller Geschlechterverhältnisse und -rollen einhergehen kann, wobei die Protagonistin als kulturkritische Projektion fungiert, während ihr Handlungsund Identitätsspielraum dramatisch eingeschränkt und wieder auf klassische Rolle und Räume begrenzt wird. Die Kritikfunktion in Bezug auf ökologische Fragen ist dabei gering; in ihrem Ursprung oft diffus, wird die Katastrophe als Gefährdung humanistischer Werte inszeniert, die nur in klassischen Geschlechterstrukturen verteidigt werden können. V. Of „techno-semantic marvel(s)“ Zum Abschluss komme ich auf eine Figur zu sprechen, die dezidiert zur Reflexion traditioneller Identitäts- und Geschlechterkonzepte einlädt. Wir lernen Rose aus John M. Cusicks Girl Parts im Moment ihrer Geburt kennen. „The Sakora logo protruded from the surface of the case like a button. David pressed it. Something hissed inside, and the panels of the box began to slide away. Steam rose from within, machinery turned and whirred, and the panels tipped outward so that now the egg was a padded pink flower blossom. The mist cleared, and she was standing there, eyes open.“ Mit Rose gesellt sich im Rahmen einer Science Fiction-Erzählung eine Kunstfigur ganz anderer Art zu den bisher vorgestellten Wesen. Rose ist wohl kulturkritische Projektion, aber keine, die auf Restauration pocht. "Geboren" wird sie aus einem „Ei“, Symbol von Fruchtbarkeit, Leben und Geburt; entstanden aber ist sie im Hightech-Labor, produziert vom fiktiven japanischen Techno-Konzern Sakora Solutions. Ihr Gehirn, ein Prozessor, der aufgrund von einprogrammierten Befehlen hochkomplexe Datenverarbeitung leistet, ist über Satellitenlink mit der Datenbank von Sakora verbunden. Eine eingebaute Intimacy Clock erlaubt oder versagt ihr sexuelle Kontakte mit David: Vorzeitig von ihm berührt, versetzt sie ihm einen Elektroschock von 250 Volt. Trotz ihres Hightech-Körpers aber zeigt Rose Eigenschaften, die mit Menschlichkeit assoziiert werden: Sie ist lernfähig, kreativ, entwickelt eigene Interessen, Ansichten und sogar eine eigene Ethik, die sich nicht mit Davids deckt. Kurz: Rose, dieses „Mädchen“, dessen „Ursprung“ und Blumenname „Natürlichkeit“ suggerieren, während ihr Körper ein technowissenschaftliches Konstrukt ist, gehört zur „Spezies“ der Cyborgs. Als "kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion" hat Donna Haraway die Cyborgs in ihrem (nicht nur) in den Kulturwissenschaften kontrovers diskutierten Manifest für Cyborgs beschrieben. Ausgehend von den Cyborgs der feministischen Science Fiction konzipiert Haraway die Cyborg als „eine Fiktion [...], an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt“, als „verdichtetes Bild unserer imaginären und materiellen Realität, den beiden miteinander verbundenen Zentren, die jede Möglichkeit historischer Transformation bestimmen“. Hier stellt sich nun die Frage, ob ein in den 1990er-Jahren mit grosser Hoffnung in den feministischen und kulturwissenschaftlichen Geschlechterdiskurs eingebrachtes Wesen auch in aktuellen Texten einen Beitrag zur Kulturkritik leisten kann. Ich würde behaupten, dass auch Rose als „verdichtetes Bild“ und als konkreter Ausdruck gegenwärtiger körperlicher und sozialer Erfahrungen gelesen werden. 90 Auch ihr ist nebst ihrem kulturkritischen Potenzial ein durchaus utopischer Impuls eingeschrieben. Bildhaftigkeit, Ausdruck konkreter Erfahrung und Möglichkeiten der Transformation verschränken sich in ihr auf ironisch-kritische Weise. Cyborgs werden nach Haraway, „im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse hervorgebracht“. So zeugt Rose als „verdichtetes Bild“ ganz konkret von dem, was „als Erfahrung der Frauen“ in einem spezifischen soziokulturellen Kontext zu betrachten ist. Cusick siedelt ihre Hervorbringung im Kontext einer hochtechnologischen, materialistischen und dezidiert westlichen Konsum- und Informationsgesellschaft mit ausgeprägter Konzernmacht und einem prekären Geschlechterverhältnis an; in einer "Hyperkultur kommerzialisierter Sexualität" , wie McRobbie sie wohl bezeichnen würde. In dieser postfeministischen Kultur sind junge Frauen rechtlich zwar gleichgestellt, im Alltag aber in Bezug auf ihren Körper nicht nur einem ständigen „Optimierungsgebot“ unterstellt, Von Interesse ist hier, wie Weiblichkeit und Heteronormativität produziert werden, und zwar konkret in Konsumgesellschaften, die in sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht davon profitieren. Die Thematisierung dieses Konstruktionsprozesses in einer von der Kybernetik inspirierten Rhetorik, wie sie für sie SF konstitutiv ist, hat also nicht allein den Zweck, die Figur für die LeserInnen plausibler bzw. „wissenschaftlicher“ zu gestalten. Nur als materielles Symbol vermag Rose Auskunft zu geben über Sexualität, Produktion, Reproduktion, Arbeit, Kommunikation und Vernetzung in einer Cyborgkultur, in der Maschine und Organismus machtvoll verkoppelt sind und diese Verkopplung sowohl Albträume als auch utopische Visionen generiert. Das lässt sich anhand ihres ersten Auftritts im Roman demonstrieren. Produziert wird sie als Companion im Rahmen eines neuen „Therapieprogrammes“ für männliche Teenager, bei denen eine Entfremdung von der Realität durch zu viel Online-Zeit und, damit einhergehend, fehlende Empathie und Bindungsfähigkeit diagnostiziert wurden. Auch David Sun wird mit diesem – im Roman ironisierten - Pathologiebefund ins Companion-Programm aufgenommen und mit einer entsprechend auf ihn programmierten Begleiterin beliefert. Begeben wir uns also in die Auffahrt seiner Villa am Seeufer, wo Sakora Solutions Roses Ei abgesetzt hat und die Cyborg „zum Leben erwacht“ ist. „She was unbelievably, unspeakably hot. David had taken Sakora’s online personality test – favorite movie, most embarassing memory, even really private stuff like ‚How many times a day do you masturbate (on average)?’ But there’d been no ‚Do you prefer redheads?’ or ‚Are you a tits man or an ass man?’ The Companion wasn’t just beautiful; she was his kind of beautiful. Tumbling red hair, pouty mouth, emerald eyes, and that small, soft body he liked. With his crew, David hollered after spindly supermodel types. But privately he liked girls round in all the right places. And this girl was round in all the right places. This ‚girl.’ There was a fiberglass skeleton under that creamy skin, and a CPU behind those eyes. But she stared back at him, eyes fixed to his, lips slightly parted, as if he was the miracle of science. David was speechless. (...) He never felt awkward in front of girls, but this was somehow different. Say something! David’s mind, faced with unfamiliar territory, became a feedback loop, asking itself over and over again what to do. None of his trusty icebreakers seemed right, and so David resorted to a default, the lamest thing imaginable: a handshake. Meanwhile, in Rose’s brain, nothing was that complicated. If David’s mind was a loop, Rose’s mind was an arrow. It pointed to David. The rest of reality, whatever didn’t fall along the length of the arrow, was insignificant. A satellite link connected Rose to a data bank at Sakora HQ in Japan. As her emerald eyes passed over the lawn, information queued for access. Grass. Flower pot. Stairs. Driveway. Tree. Each node was the center of its own web. Tree connecting to Green, Poplar, Seasons, Paper... 91 This complex veil, pierced by Rose’s unwavering arrow, was a techno-semantic marvel. And yet at three minutes old, her thoughts were as simple as Dr. Roger’s red wooden bird dipping its beak into a glass of water over and over and over. David extended his hand. Without hesitation Rose shook it, and as she did, spoke a message: „Hello, David. My name is Rose. It is a pleasure to meet you. We are now entering minute two of our friendship. According to my Intimacy Clock, a handshake is now appropriate.’ ‚Oh! Uh, OK. I...’ ‚As we get to know each other, we’ll have access to more intimate forms of expression.’ Here Rose cocked her hip and winked. ‚And I am looking forward to getting to know you better.’ Inside Rose’s brain, *mmonroe.exe registered complete. Bereits in diesem Abschnitt wird Cusicks Spiel mit der Bild- und Zeichenhaftigkeit der Cyborg deutlich. Im Alter von drei Minuten besitzt Rose den Status eines Zeichens, das lediglich auf einen imaginären Referenten verweist: den männlichen Traum von der perfekten Gefährtin, die all „seine“ Wünsche und Sehnsüchte ausdrückt. Indem sie „his kind of beautiful" personifiziert, repräsentiert Rose auf der Handlungsebene Davids erotische Imagination, die aber keine heimliche, private ist, wie er glaubt: Die ihr einprogrammierten Verhaltensmuster reproduzieren hegemoniale Bilder von Weiblichkeit und stelle diese zugleich performativ her. Mehr noch: Geschlechtsidentität selbst erweist sich im Sinne Butlers als "eine Art ständiger Nachahmung [...], die als das Reale gilt". Was Rose betrifft, so haben popkulturelle Ikonen wie Marilyn Monroe und die personifizierte Koch-Marke Betty Crocker bei der Konstruktion der „idealen“ Frau, ihrer Schönheit, Tugenden und Fähigkeiten Patin gestanden. Durch die „Aufführung“ der ihr einprogrammierten Geschlechtersprache und entsprechender Verhaltensmodelle, die sie bis in die kleinsten Gesten hinein beherrscht, ordnet sich Rose zunächst brav in die ihr zugedachte Position im Geschlechter-Zeichensystem ein. Die Parodie des weiblichen „Geschlechtscharakters“ durch eine ihn imitierende Cyborg spiegelt bei Cusick also zuallererst das hegemoniale Frauenbild, in dem die Frau durch das Begehren des Mannes konstituiert wird, und verweist zugleich auf den zeichenhaften und performativen Charakter von Geschlecht. Mit ihrer Performanz verkörpert Rose zwar den Inbegriff von Weiblichkeit; diese aber besitzt, wie an ihrem Cyborgkörper bereits an dieser Stelle deutlich gemacht wird, keine Essenz im Sinne eines biologischen, wahren Kerns (mehr), sondern stellt wie der weibliche „Geschlechtscharakter“ eine kulturelle Konstruktion dar . Mit derlei Konstruktionen des Subjekts „Frau“ aber geht auch eine „unvermeidliche Regulierung und Verdinglichung der Geschlechterbeziehungen“ einher, indem das weibliche Subjekt seine „Stabilität und Kohärenz nur im Rahmen der heterosexuellen Matrix“ gewinnt. In noch tiefer greifendem Mass als Katniss, die für das CapitolPublikum auch erst dann wirklich in Erscheinung tritt, als sie in Bezug zu Peeta gesetzt und als Objekt seines Begehrens konstruiert wird, wird Rose von Anfang an durch ihre Programmierung auf David definiert. Die Welt ausserhalb des Pfeils, der diese heterosexuelle Matrix absteckt, ist für die intendierte Konstitution ihrer Identität belanglos. Auch als Rose ihren Link zu Sakora im Verlauf der Geschichte kappt, bleibt ihre Fixierung auf David stabil; selbst die abtrünnige Sakora-„Mechanikerin“ May Poling kann ihr nicht helfen, zu tief eingeschrieben ist das regulierte Begehren. Doch schon ehe der Roman diesbezüglich so explizit wird, führt Rose als Symbol für die Macht von Geschlechternormen auf bereits jungen LeserInnen zugängliche Weise vor, wie Geschlecht und Geschlechterhierarchien produziert und reguliert werden und sich darüber hinaus oft in einem Besitzverhältnis manifestieren. Und darin liegt der kulturkritische Impuls des Textes – nicht in den futuristischen Technologien selbst, die es, um mit Haraway zu sprechen, im Hinblick sowohl auf ihr utopisches als auch auf ihr unterdrückerisches Potential durchaus im Auge zu behalten gilt . Cyborgs wie Rose tragen aber neben ihrem kritischen auch verheissungsvolles Potential. Ihre unabgeschlossene, fluide und hybride Identität ist besonders offen für Verbindungen, 92 Bündnisse und Allianzen, die nicht mehr auf sogenannt „natürlicher“ Verwandschaft, sondern auf Affinität und Solidarität beruhen. Sie überschreiten starre Grenzen und stellen traditionelle Geschlechterzuschreibungen zugunsten vielfältigerer und weniger hierarchischer Modelle in Frage. Nicht zuletzt entwickelt sich Rose im Lauf ihres Emanzipationsprozesses von einem Zeichen zu einer Akteurin, die ihren eigenen Weg findet. VI. «The world may need you, one day» - Fazit und Ausblick In der aktuellen Future Fiction sind junge Frauen so sichtbar wie noch nie; sie stehen im Zentrum des Geschehens und des Begehrens. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit, die Besorgnis, die Bewunderung. In vielen Arbeiten und Rezensionen dominiert die Freude über ihre Sichtbarkeit und das Aufbrechen traditioneller Rollenzuschreibungen. Betont werden ihre emanzipatorischen Aspekte, manche von ihnen werden gar zu feministischen Ikonen stilisiert. Für die Jugendliteraturforschung stellen diese jungen Frauen ein äusserst interessantes Feld dar, und aus Sicht einer feministischen Kulturwissenschaft bieten sie auch tatsächlich viel emanzipatorisches Potential. Dennoch verbergen sich hinter den auf den ersten Blick progressiven Weiblichkeitsentwürfen nicht selten traditionelle Geschlechterbilder, die als Gegenmodelle gegen ein dystopisches System ausgespielt und restauriert werden. Mit Blick auf die feministische Theorie möchte ich ausserdem dafür plädieren, die neue, starke Weiblichkeit, wie sie in einigen dieser Texte ins Licht tritt, auch vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung der Ressource Frau zu sehen – und nicht einfach als Merkmal solidarischer Gleichberechtigung oder gar einer sozialeren Gesellschaft. Tally Youngblood, die Heldin aus Scott Westerfelds UgliesSerie brilliert als ständig an sich arbeitende Figur zwar am Ende mit ihrer unübertrefflichen Leistungsstärke; sie ist, wie es auf dem Cover der englischen Ausgabe heisst, „Frighteningly beautiful. Dangerously strong. Breathtakingly fast.“ Ihre Schöpferin, von der sie sich emanzipiert hat, entlässt sie mit den Worten: „Leave, and for my sake, keep yourself special. The world may need you, one day“ in die Freiheit. Aber selbst wenn Tally zur totalen Figur erhoben wird, von der nicht weniger als die Rettung der Welt verlangt wird, halte ich die Ermächtigungsphantasie, die Rose ausdrückt, letztlich für mindestens genauso wichtig. Die findet im Lauf der Erzählung nicht zuletzt mithilfe einer intensiv gelebten weiblichen Solidarität zu ihrer ganz eigenen, aus männlichen Besitzansprüchen befreiten Sexualität – und sie entwickelt sich von einer Karikatur des patriarchalen Traums von der perfekten Gefährtin zu einer jungen Frau, die ihren männlichen Gefährten diesen Traum regelrecht um die Ohren haut. 12. Ulrike Eder – Vielerlei Deutsch Eder behandelt heute die Varietäten der deutschen Sprache, spricht somit ein sprachwissenschaftliches Thema an, obwohl sie normalerweise im Bereich Daf/Daz tätig ist. Varietäten gibt es in vielen Gebieten, sie nennt das Beispiel Jänner - Januar. Das ist ein Beispiel für eine Standardvariante. Laut „Varianten Wörterbuch der deutschen Standardsprache von Österreich, Deutschland, Schweiz, Liechtenstein, Ostbelgien und Südtirol“ ist Jänner ein Begriff der österreichischen Standardsprache und kein umgangssprachlicher Ausdruck. Sonst ist der Begriff im Süden Deutschlands verbreitet und wird auch in der Schweiz verwendet, dort jedoch eher als mundartlicher Begriff. In Österreich wird Januar eher in sehr formellen Kontexten verwendet. Unterscheidung: Varietät und Variante Varietät: Betrifft die gesamte Sprachgruppe Variante: Betrifft ein konkretes Wort 12.1 Grundlegende Sprachwissenschaftliche Informationen zu Variationslinguistik 93 Variationslinguistik: Spezialgebiet innerhalb der Sprachwissenschaft, das sich mit der Untersuchung und der theoretischen Modellierung von Varietäten innerhalb einer Sprache befasst. Seit 1960 Jahren in der Linguistik etabliert. Für die deutsche Sprache ist festzuhalten, dass sie einen großen inneren Variationsreichtum aufweist. Vielfalt bezieht sich nicht nur auf Varietäten der deutschen Sprache, sondern auch auf die Vielfalt der verschiedenen Sprachen, die im deutschsprachigen Raum gesprochen werden und die Einfluss auf die Varietäten haben. Variabilität ist ein besonderes Charakteristikum der deutschen Sprache. Deutsche Sprache ist eine ausgesprochen inhomogene Sprache. Sprachliche Ausdrucksformen unterscheiden sich auf verschiedenen Ebenen, sprechen von verschiedenen Sprachen und innerhalb dieser von verschiedenen Varietäten und wieder innerhalb von verschiedenen Registern/Stil. Klare Abgrenzungen sind oft schwer vorzunehmen. Begriffe sind stark diskutiert in der Variationslinguistik. Sprachen: ob Sprache als Sprache anerkannt wird hängt von der Normierung ab, also damit, ob und inwiefern die Sprache innerhalb eines Staatsgebiets zum Beispiel als Amtssprache Verbreitung findet. Varietäten: sind Subsysteme von Sprachen, als handelt sich um eigenständige Subcodes, sie haben systematische, lexikalische und grammatische Eigenschaften, die sie von anderen Varietäten unterscheidet. Einzelne konkrete Formen innerhalb der Varietät werden als Varianten bezeichnet. Diese treten auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen auf. 12.1.1 Dimensionen der Variation Es gibt auch unterschiedliche Dimensionen der Variation innerhalb von Sprache: Diachrone Variation: Wandel einer Sprache oder Varietät innerhalb von Zeit. (Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch) Diatopische Variation: Variation im Raum. In verschiedenen Regionen wird verschiedenes Deutsch gesprochen. Diastratische Variation: Steht in Verbindung mit Gruppenzugehörigkeit der Sprecher_innen. Diaphasische Variation: beschreibt unterschiedliche Register, die in verschiedenen Sprechsituationen gewählt werden. 12.1.1.1 Räumliche Variation - Diatopische Variation Man unterscheidet zwischen den verschiedenen Ländern und Regionen, in denen Deutsch gesprochen wird, und innerhalb dieser Länder zwischen Standardsprache, Umgangssprache, Regionalsprache und Dialekt. Unterschieden wird auf Basis der kommunikativen Reichweite. Standardsprache weist eine große kommunikative Reichweite auf, während Dialekte nur kleinräumig verwendet werden. Herausragender Charakteristikum der deutschen Standardvarietäten sind ihre Normierungen. Die deutsche Sprachgeschichte ist seit dem Ende des Mittelalters von starken Standardisierungen geprägt (zunächst im schriftlichen, dann auch im gesprochenen Deutsch). Seit der Mitte des 20. Jhd. zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Destandardisierung. Gleichzeitig gibt es etwa in weiten Teilen Nord- und Mitteldeutschlands einen deutlichen Dialektschwund. Der Übergang zwischen Standard und Dialekt ist im Grunde fließend. „Die eine Standardsprache“ ist eine idealisierte, im Alltag nicht realisierte variationsfreie und 94 überregional gültige sprachliche Ausdrucksform (= künstliches Konstrukt einer Sprache, die es nicht gibt Idealsprache). Dialekt (kleinräumliche Verbreitung, minimal an der Standardsprache angelehnt) Umgangssprachen/Regionalsprachen: alle Varietäten, die in dem Kontinuum zwischen Dialekt und Standard zu finden sind Deutsch ist in mehreren Ländern Amtssprache. Die Standardvarietäten in den Ländern unterscheiden sich zum Teil stärker, als man das auf den ersten Blick annehmen würde. Ulrich Ammon: Drei nationale Vollzentren: D, Ö, CH – deren jeweilige Varietäten kodifiziert sind Nationale Halbzentren: Liechtenstein, Luxemburg, Südtirol, Ostbelgien – orientieren sich an den nationalen Kodizes anderer Staaten und weisen keinen eigenen Kodex auf Unterschiede zwischen Standardvarietäten: in Bereich der Lexik, Lautung, Grammatik und Orthografie Variantenwörterbuch des Deutschen: Es wird an einer Neubearbeitung gearbeitet (Frau Prof. Lenz) wichtigstes Nachschlagewerk, herausgegeben von Ulrich Ammon (2004) zeigt die Unterschiede zw. Vollzentren und Halbzentren, zeigt auch die Verteilung der einzelnen Varianten innerhalb der großen Sprachräume (Österreich ist z.B. 4x unterteilt, Deutschland 6x). In Österreich gibt es alle verschiedenen Varietäten der deutschen Sprache: Umgangssprache, Gruppensprache, Standardsprache und Dialekte. Der Begriff österreichisches Deutsch = österreichische Standardsprache und seine Varianten der deutschen Sprache; Es ist nicht korrekt, von einer eigenen Sprache „Österreichisch“ zu sprechen. Es handelt sich um eine Standardvarietät der deutschen Sprache, die als österreichisches Deutsch bezeichnet wird. Ebener (2009) Unterschiede zwischen österreichisches Deutsch und deutschen Standardsprache in Deutschland beim Wortschatz ca. 3 % (8000 spezifische Wörter von ca. 220 000 Gesamtwortschatz). Verständigung deswegen sehr gut, gemeinsame Medienangebote fördern im rezeptiven Bereich die gegenseitige Verständlichkeit. Trotzdem kommt es auch zu Missverständnissen, zum Beispiel im Bereich der Syntax: „Ich habe gesessen, nachdem ich gestanden habe.“ Nachdem jemand ein Geständnis abgelegt hat, ist er ins Gefängnis gekommen (Ö). In D würde der Satz nur bedeuten, dass eine Person sich niedergesetzt hat, nachdem sie gestanden ist. In Deutschland wird das Perfekt von stehen mit haben gebildet, in Österreich mit sein. Wichtig im Hinblick auf literarische Texte sind die Unterschiede in der Erzählzeit im oberdeutschen Raum (Ö, Süd-D, CH): Perfekt statt Imperfekt. Nicht nur im mündlichen, sondern zunehmend auch im schriftlichen Bereich. 12.1.1.2 Diastratische Variation Soziolinguistik untersucht den Sprachgebrauch im sozialen Kontext. Soziolinguistische Variablen: Alter, Geschlecht, soziale Schicht, ethnische Herkunft… Soziolekt bzw. Gruppensprache: Sprechweisen unterschiedlicher sozialer Klassen, in Bezug auf die deutsche Sprache aber nicht ganz passend, denn der Gebrauch bestimmter Varietäten ist hier nur relativ schwach an soziale Unterschiede gebunden. Und die Varietäten werden über die sozialen Grenzen hinweg gebraucht. Soziolekte des Deutschen sind demnach schwer zu definieren. Dietmar definiert Soziolekte als Gruppensprache. 95 Bsp. für Gruppensprachen: Fachsprachen (Varietät für bestimmte berufliche Tätigkeiten oder bestimmte wissenschaftliche Bereiche), Genderlekte (Besonderheiten der Sprache von Männer und Frauen, seit 1970 Jahre wird intesiv in diesem Bereich geforscht, weibliche Register, auch von Männer verwendet, Mechanismen mit denen eigenen Aussagen abgeschwächt werden, oder Gültigkeit hinterfragt wird zB „es scheint, dass“, weibliche Register oder Stile werden in der Kommunikation, also im Austausch mit dem Gesprächspartner erzeugt, diese Aushandlungsverfahren werden als Doing-Gender bezeichnet), Ethnolekte, Jugendsprachen Jugendsprache Eine transitorische also vorübergehende Gruppensprache ist die Jugendsprachen, ist eine diastratische Variation. Jugendsprachforschung begann in Deutschland in den 1980er Jahren Jugendsprachen sind temporär begrenzt – Gerontolekt: sprachl. Ausdrucksform, deren SprecherInnen durch deren biologisches und soziales Alter erfasst werden können. Merkmale der Jugendsprachen: rhetorische Verfahren wie Sprachspiele (Verfremdung oder Ironisierung der Erwachsenenwelt) typische verbale Verfahren wie der Gebrauch verschiedener Partikel (ey,…) Steigerungs- und Wertungsbegriffe (voll, total…) Entlehnung von Medien (Comics, Computer, Musik, Fernsehen) Entlehnungen aus anderen Sprache (z.B. Englisch) Sprachliche Kreativität – Wortneuschöpfungen und semantische Umdeutungen Jugendsprache ist Aspekt der Jugendkultur und ist oft Bestandteil der Gruppenidentität von Jugendlichen. Jugendsprache in der Literatur zu simulieren ist sehr schwierig, da Jugendsprache ja sehr kurzlebig ist und Literatur möchte doch langlebiger sein und der Versuch als Erwachsenerer, wie ein Jugendlicher zu schreiben, kann schnell als Anbiederung interpretiert werden. Ethnolekt (besondere Form der Jugendsprache) Ethnolekt = Der spezifische Sprachgebrauch in multiethnischen Jugendgruppen. Entwicklung seit den 1980/90er-Jahren in städtischen Lebenswelten unter Jugendlichen der 2. und 3. Zuwanderergeneration unter Praktiken des Code-Switching und Code-Mixing. Beim erstmaligen Hinhören wirken Ethnolekte oft wie grammatikalisch falsches Deutsch, wo auch immer wieder z.B. türkische Wörter miteingebunden sind. Untersuchungen zeigen aber, dass diese Jugendlichen durchaus in der Lage sind, die deutsche Sprache auch normgerecht zu verwenden, Ethnolekte sind also KEINE Lernervarietäten. Ethnolekte sind also wie Jugendsprachen ein spezifisches Register, das in bestimmten Situationen, zB mit der PeerGroup verwendet wird. In Ethnolekten wechseln oft zwischen verschiedenen Varietäten. an keine ethnische oder sprachlichen Gruppen gebunden, auch von dt. Muttersprachlern gesprochen, kann deswegen auch den Begriff Multiethnolekt verwenden. mit multiethnischen Milieus assoziiert auffallendes Element: Rhythmus, bestimmt phonetische und syntaktische Strukturen mitbestimmt Oft mit mangelhaften Sprachkenntnissen verbunden (fälschlicherweise) 96 Unterscheidung von Auer (2003): Primärer Ethnolekt: neue Sprachform, die in der Großstadt-Ghettos unter Jugendlichen der 2. Und 3. Generation entsteht Sekundärer Ethnolekt: Formen der medialen Verarbeitung und Stilisierung des primären Ethnolekts Tertiärer Ethnolekt: von Jugendlichen aufgegriffene Formen des sekundären Ethnolekts (ohne „act of identity“ – sie identifizieren sich nicht mit den primären Sprechern) De-Ethnisierung des Ethnolekts: Übernahme des primären Ethnolekts von Jugendlichen jeglicher Erstsprachen als normale Ausdrucksweise (in multiethnischen Stadtgebieten) 12.1.1.3 Situationsabhängige Variation - Diasphasische Variation Unterscheidung: Mündlich – schriftlich (schriftlicher Sprachgebrauch meist sehr an der Norm orientiert, es gibt aber auch Ausnahmen, wissenschaftlicher Vortrag weist einen fachsprachlichen Wortschatz auf; E-Mail, SMS enthalten trotz ihrer Schriftform oft dialektale Elemente oder Elemente aus Jugendsprachen) Formell – informell (im formellen Bereich richtetet sich der Sprachgebrauch eher nach der Sprachnorm) 12.2 Rolle und Funktionen der Varietäten der deutschen Sprache in der Jugendliteratur 12.2.1 Dialekt „I hau alaweu zua“ (1974) von Christine Nöstlinger erschienen in „Iwa de gaunz oamen Kinda“ Literarische Funktion von Dialekt in dem Gedicht: Unmittelbarkeit (Kleinräumigkeit) – je dialektaler ein Ausdruck ist, desto kleinräumiger wird er verwendet, private Atmosphäre; dadurch auch. räumlich zuordenbar: Bub, der in Wien gelebt hat sozialer Kontext: Bub aus nicht so gutem Hause, kleinbürgerliche Verhältnisse, vielleicht proletarisch Klanggefühl der Wiener Mundart Nöstlinger war zu dem Zeitpunkt schon eine bekannte Kinderautorin. Nöstlinger bezeichnet die verwendete Sprache in diesem Band als ihre eigene Sprache der Kindheit. Daniela Striegl, identifiziert diese Gedichtband als einer der Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945, ist ein Paradoxon, denn Gedichtbuch hat gute Verkaufszahlen, das ist für Gedichte aber sehr unüblich. (Auflage von 20.000 Stück), 2009 Gesamtband „Iwa de gaunz oamen leit“ Parallelen zu H.C. Artmann „Med ana schwoazzn dintn“. Nöstlinger verwendet eine phonetisch authentische und damit fremdanmutende Transkription. Dargestellte Welt wirkt befremdlich, ist das kleinbürgerliche Milieu mit seinen seelischen Grausamkeiten und materiellen Not. Dialekt hatte auch politischen Hintergrund: Dialektwelle der 70er-Jahre machte die Sprache der Arbeiter literaturfähig, die Nicht-Privilegierten kamen zur Sprache. Gedichte sind aus der Sicht der Kinder formuliert. Nöstlinger hat konsequent die Sprache zum Thema gemacht und bewiesen, dass sich die Definition von Literarizität nicht nach der Zielgruppe richtet. Der spielerische Einsatz von Sprache hat gerade in der Kinderliteratur wiederum etwas mit der Ermächtigung zum Sprechen 97 und Schreiben zu tun: „Ich glaube dass meine Art zu schreiben Kindern Mut geben könnte, sich selbst ans Formulieren zu machen.“ „X-Mess – Die wahre Geschichte“ (Eva Lepold) Buch an Jugendliche und Erwachsene Rezipienten gerichtet. Literatursprache wieder der Wiener Dialekt, am Ende sogar ein Glossar der verwendeten wienerischen Ausdrücke. Knüpft damit an Glossar Tradition von Nöstlinger an. (Auszug): In ana stühn und heiligen Nocht … hot da Weihnochtsmau des Christkind umbrocht … sie haun sie alle auf a Packl „Santa go home“ Böse Ironie Unkonventionelle Sprache stört hier die herkömmliche Idylle Verweis auf unsere alltäglichen und weniger gesegneten Weihnachtsrituale (Punsch trinken, exzessives Einkaufen vor Weihnachten,…) 12.2.2 Umgangssprachen/regionale Standardvarietäten Allzu viel österreichische spezifische diatopische Variation ist in Christine Nöstlingers Texten eigentlich kaum festzustellen (überraschenderweise). Nur sehr vereinzelt finden sich diatopisch zuordenbare Varianten, z.B. im Gebiet der Lexik (zB Budl, die Theke). Insgesamt bewegt sich Nöstlinger oft an der Grenze des Standards und sie überschreitet diese Grenze auch immer wieder in umgangssprachlichen und zum Teil auch dialektal gefärbten Ausdrücken. Allerdings ist diese Umgangssprache nicht immer die österreichische. In ihrem Buch „Das Austauschkind“ finden sich einige Textstellen mit unterschiedlichen diatopischen Varianten. (z.B. Dödl oder spezifische Artikelgebrauch vor Eigennamen „der Pivonka (Herbert)“) Dödl wird laut Amman als Grenzfall des Standards definiert. Begriffe der verschiedenen Varietäten passen jedoch bei Nöstlinger narratologisch, da es zur Diegese – also dem spezifischen Wirklichkeitsraum des Buchs passt. Nöstlingers Literatursprache ist für die Präsenz spezifisch österreichischer Varianten der deutschen Sprache bekannt. Sie hat ihre eigene, unverwechselbare Literatursprache geschaffen, in der sie auf äußerst kunstvolle und humorvolle Weise mit diatopischer Variation spielt. Die verwendeten Varianten der deutschen Sprache haben dabei vielfach eine textgestaltende Funktion. Textstellen, in denen Sprachformen verschiedener Regionen aufeinandertreffen, sind in Nöstlingers Texten keine Seltenheit. Die Verwendung der unterschiedlichen Varietäten ist dabei aber leider nicht immer so passend realisiert. In D sind bei „Cola“ sowohl die Artikel „die“ als auch „das“ gebräuchlich, in Österreich heißt es nur „das Cola“. Warum wurde an dieser Stelle „die“ Cola ausgebessert, obwohl es sich da um einen kleinräumlicheren gebrauchte Variante handelt? Manchmal greifen deutsche LektorInnen „sprachverbessernd“ ein und einzelne Wörter werden in eine ihrer Umgebung übliche oder Standardvariante transferiert. Dadurch entstehen auch sprachliche Unstimmigkeiten. Bearbeitung von „Ilse Jander 14“ (1991): die Bearbeitung wurde von Christine Nöstlinger selbst durchgeführt, sie hat ihren Text verkürzt und vereinfacht und ihn mehr auf die Zielgruppe der DaF-Lerner zugeschnitten (manche Austriazismen sind deshalb weggefallen). In sehr vielen Fällen wurde die bundesdeutsche Sprachnorm bevorzugt (Abendbrot statt Abendessen, Abitur statt Matura, Diele statt Vorzimmer…) – dies findet man aber auch schon in der nicht bearbeiteten Version. Christine Nöstlinger hat diese Bearbeitung auch dazu genützt, um Varianten der deutschen Sprache neu einzufügen. Kanak Sprak Begriff wird in den Medien und auch in anderen Kontexten vielfach für einen türkischdeutschen Ethnolekt verwendet, allerdings handelt es sich dabei in Wirklichkeit um keinen 98 primären Ethnolekt, sondern um eine Sprache, die wir zunächst in einem literarischen Kontext kennen gelernt haben. „Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ von Feridun Zaimoğlu Erstlingswerk, erstmals 1995 erschienen, der Autor ist mit diesem Buch zum Literaturstar der Migrationsliteraturszene avanciert. Schon im Titel lenkt er die Aufmerksamkeit auf die besonders gestaltete Sprache dieses Textes und auch auf eine der Funktionen dieser Sprache. Seine Sprache will mit ihrem Ton unsere sprachlichen Hör- und Lesegewohnheiten stören. Zunächst formal ästhetische Funktionen: Titel: Hinweis auf die spezifische Vokalisierung (Perspektive, aus der erzählt wird), gleichzeitig auch eine sprachenpolitische Implikation. In postkolonialer Weise wird hier der erzählende Blick über die Sprache vom Zentrum an den Rand der Gesellschaft gelenkt. Jedes Kapitel hat einen anderen homodiegetischen Erzähler. Die einzelnen Erzähler erzählen ihre Geschichte und sind zugleich deren Hauptfigur, ihr Erzählen ist damit autodiegetisch. Innerhalb der Diegese ist dieses Erzählen gerahmt durch ein besonderes fiktionales Setting: Der Ich-Erzähler des 1. Kapitels erzählt, dass er die anderen Protagonisten interviewt hat und die weiteren Kapitel Ausschnitte dieser Interviews seien, die er auch speziell inszeniert hätte. Die Protagonisten sind durchwegs männlich, mit einer Ausnahme: Asis (transsexuell, war früher also auch ein Mann). Es handelt sich fast durchwegs um Figuren vom Rand der Gesellschaft. Viele sind arbeitslos oder Zuhälter, Prostituierte oder haben kriminelle Beschäftigungsfelder. Einige haben aber auch bürgerliche Berufe, z.B. KFZ-Mechaniker, Müllkutscher und es gibt sogar einen Soziologen. Auch Künstler sind dabei: ein Dichter und 2 Rapper. Die meisten Figuren sind junge Erwachsene, es gibt aber auch einige Jugendliche, den 13-jährigen Schüler und Streuner Hassan und zwei 18-jährige Jugendliche mit dem sprechenden Namen „Bracer“ und „Tucker“ und einen 19-jährigen Junkie, der sich soeben die Nadel gegeben hat. Körperliche Gewalt ist allgegenwärtig, dazu passt auch die Wortgewalt ihrer Sprache (schon in den Titeln der Kapitel erkennbar) Der Titel ist (mit Ausnahme des ersten Kapitels) immer ein Zitat des Protagonisten im O-Ton und findet sich auch im jeweiligen Kapitel so wieder, gibt zugleich aber auch einen Fokus auf dieses Kapitel vor, im Untertitel ist dann der Name, das Alter und die Berufsbezeichnung des jeweiligen Protagonisten zu sehen. Die Figur, die diesen Titel verfasst und den Interviewtext zu einer Ich-Erzählung zusammengeschnitten hat, ist zugleich der Ich-Erzähler im ersten Kapitel – Name des IchErzählers: Feridun Zaimoğlu. Wir dürfen den Ich-Erzähler aber nicht mit der Autorfigur gleichsetzen. Gleichsetzung wird als Deutungsmuster in den Text hineininszeniert und der IchErzähler als Autor des Buches ausgibt. Das erste Kapitel ist entsprechend der Textsorte „Vorwort“ gestaltet und entsprechend sogar mit einer Unterzeile „Kiel, im Sommer 1995, Feridun Zaimoğlu“ unterzeichnet. Trotzdem handelt es sich aber auch beim ersten Kapitel u m einen fiktionalen Text. Durch die Gestaltung des ersten Kapitels, das weitgehend wie die anderen Kapitel daherkommt, lenkt Zaimoğlu die Aufmerksamkeit auch deutlich auf diese Fiktionalität. Linguistische Metafiktion (Unterscheidung: linguistische und diegetische Metafiktion) Der Ich-Erzähler gibt sich als Autor des Werkes aus, dies gibt ihm die Möglichkeit, auch etwas über die Gestaltung des Textes selbst zu erzählen. Erzählen über den Text im Text: „Metafiktion“ (Literatur, die Literatur zum Thema macht) Metafiction als Begriff geprägt von Linda Hutcheon und Patricia Waugh. In der metafiktionalen Literatur weit verbreitet: ein Protagonist trägt den Namen des Autors (wie auch in „Kanak Sprak“) Häufig werden auch intertextuelle Bezüge mit Metafiktion in Beziehung gestellt. Es gibt Bezug im ersten Kapitel zu „Mutterzunge“ von Emine Sevgi Özdamar. 99 Wie zeigt sich die Linguistische Metafiktion in „Kanak Sprak“ Der Ich-Erzähler Zaimoğlu schreibt hier über die anderen Figuren der Erzählung, die er „Kanacken“ nennt. Ihre Identität beziehen sie nicht aus einer imaginierten kulturellen Verankerung, sondern ganz klar über Sprache. „Diese Sprache entscheidet über die Existenz.“ Diese Sprache ist es, die die Figuren in „Kanak Sprak“ ausmacht. Signifikant für diese spezifische Sprache, ist nicht nur die Pose, aus der heraus gesprochen wird, sondern auch ihre identitätsstiftende Wirkung. Jeder Protagonist verpasst ihr seine eigene Prägung. Sprache wird zum Mittel zur Selbstbestimmung, sie geben eine ganz und gar private Vorstellung in Worten. Eine Besonderheit dieser „Kanak Sprak“ ist der Rhythmus. Ihr Reden ist dem Freestyle im Rap verwandt. Auch Jugendsprache und Ethnolekt werden deutlich. Feridun Zaimoğlu gestaltet die besondere Unmittelbarkeit und Präsenz seiner Figuren. Wir bekommen jedoch keine authentische Probe der „Kanak Sprak“, im Buch begegnen wir dieser fiktionalen Sprache, nur in sekundärer Form, also in medial vermittelter Weise. Als homodiegetische Vermittlungsinstanz fungiert hier der Ich-Erzähler mit seiner spezifischen Veränderung der „Kanak-Sprak“. Zunächst handelt er sich hierbei um deutsche Übertragung. Alle türkischen Text-Elemente der „Kanak-Sprak“ werden also ins Deutsche übersetzt. Inhaltliche Unterschiede: die Figur Zaimoğlu kritisiert, dass „Kanak Sprak“ aufgrund ihres symbolischen Jargons häufig als blumige Orientalsprache missverstanden wird. Deshalb enthält die deutsche Übertragung nur die Anrede „Bruder“. Begründung: der Ich-Erzähler will nicht beschreiben, sondern von seinem Schreibtisch aus eine neue Realität konstruieren. Hassan: Ich bin der ich bin. (Ausschnitt) Verzicht auf Großschreibung. Wegfallen von Artikeln, ist nicht realisiert. Geprägt durch lokale Varietät. Ähnlichkeiten zwischen Zaimoğlus „Kanak Sprak“ und existierenden türkisch-deutschen Ethnolekten sind durchaus gegeben, jedoch handelt es sich in „Kanak Sprak“ um eine literarische Sprache und nicht um einen Ethnolekt. Funktionen der Sprache: Spezieller Klang, kein Zufall, dass zwei Protagonisten Rapper sind, der spezielle Klang von Ethnolekten wird aufgegriffen und künstlich umformt, Spiel mit Authentizität, sprachenpolitische Funktion, Spiel und hintergehen von Normativität. „Die häufigste Frage, die man mir stellt ist: Wie authentisch sind sie Herr Zaimoğlu? – Er: er denkt sich und sagt: gar nicht.“ 100