Intercura 113, Frühling 2011, Sonderheft PPD

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Intercura 113, Frühling 2011, Sonderheft PPD
2
Stadtärztlicher Dienst
INTERCURA
Sonderheft
Frühling 2011
Gemeindeintegrierte und mobile
psychiatrische Angebote
5 Jahre
Psychiatrisch-Psychologischer Dienst ( PPD )
im Stadtärztlichen Dienst
Impressum Intercura
Publikation des
Konzept und Redaktion
Stadtärztlichen Dienstes
David Briner
Postfach, 8021 Zürich
www.stadt-zuerich.ch /sad
Korrekorat
Nadja Monem
PsychiatrischPsychologischer Dienst
Gestaltung
Walchestr. 31, 8021 Zürich
pooldesign, Zürich
044 412 48 00
ppdinfo @ zuerich.ch
Bildnachweis
www.stadt-zuerich.ch / ppd
Luca Zanier : Porträts
S. 4,12, 18 ( beide ),
Erscheint 4x jährlich
26, 32, 38, 46, 56
Jahresabonnement Fr. 15.00
Stadtärztlicher Dienst :
Einzelnummer Fr. 5.00
­S. 4, 26, 46
pooldesign : Umschlag
Druck
Urs Baumgartner : S. 32
Kromer Print AG
SEB : S. 11, 25, 31, 45
5600 Lenzburg
SOD : S. 12, 17, 38, 42
Auflage : 3200
zfa : S. 55
Inhalt
Vorwort
2
Albert Wettstein
Gemeindeintegrierte und mobile psychiatrische Angebote
5
des PPD
David Briner
«Ich hatte Angst, dass man mich in die Klinik bringt»
13
Julia Würthner
Mobile Teams: zentraler Bestandteil der zeitgemässen Gemeinde­
19
psychiatrie
Paul Richard Guzek
Wieder ein Dach über dem Kopf. Ein Fallbericht
27
Jan Holder
Wer wird im PPD behandelt? Welche Behandlungsangebote gibt
33
es? Auswertung der Basisdokumentation
Gabriela Nietlisbach
Ein Nachmittag als Psychologe im Sozialzentrum
39
August Seitz
Die bezirksärztlichen Hausbesuche des Stadtärztlichen Dienstes
47
Martina Cesal, Albert Wettstein
Gesundheitlichen Ungleichheiten begegnen
51
David Briner
Stimmen der Partnerinstitutionen zu «5 Jahre PPD im SAD»
11, 17, 25, 31, 42, 55
2
5 Jahre Psychiatrisch-Psychologischer
Dienst (PPD) im Stadtärztlichen Dienst
Vorwort von Albert Wettstein
Dieses Heft unterscheidet sich in Erscheinung und Inhalt aus besonderem
Anlass von den bisherigen Ausgaben. Vor 5 Jahren wurde der PPD1, in den
70er Jahren als Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst des Sozialdepar­
tements gegründet, neu dem Stadtärztlichen Dienst (SAD) zugeteilt. Initial
hatte dieser Dienst den Auftrag, die ärztliche und psychologische Versorgung
der damals noch städtischen Kinder- und Jugendheime sicherzustellen. Mit
1
Der städtische PPD ist nicht zu verwechseln mit dem PPD des kantonalen Justizvollzugs
3
der Zeit übernahm er auch Aufgaben aus der Erwachsenenpsychiatrie und
stellte sein Know-how anderen Abteilungen des Sozialdepartements (SD), die
psychisch Kranke zu betreuen hatten, zur Verfügung. Mit steigendem Bedarf
wuchs auch die Nachfrage nach Angeboten, welche auf die spezifischen
Bedürfnisse des SD ausgerichtetet sind.
Im Jahr 2005 ergab eine Bedarfsanalyse, dass rund ein Viertel der vom
Sozial­departement unterstützten Personen psychisch beeinträchtigt und oft
nicht oder nur ungenügend psychiatrisch betreut ist. Deshalb wurde eine
neue Strategie erarbeitet und dem PPD zwei Hauptaufgaben übertragen:
erstens die Fallberatung von Mitarbeitenden der Sozialzentren (SZ) und der
Sozialen Einrichtungen und Betriebe (SEB) und zweitens der Aufbau geeig­
neter Angebote (mobile Krisenteams, Einzel- und Gruppentherapien) für
Klien­ten der SZ und SEB, wenn sie nicht bei privaten oder kantonalen Ein­
richtungen eingebunden werden können. Im Gegenzug werden die von den
Krankenkassen nicht gedeckten Leistungen vom Sozialdepartement über­
nommen.
Dieses Konzept hat sich in den letzten Jahren als sehr erfolgreich erwie­
sen und ist heute aus der Versorgung der KlientInnen des Sozialdepartements
nicht mehr wegzudenken. Der amtsärztliche Dienst des SAD seinerseits
konnte nur durch diese Entlastung ohne Aufstockung seiner personellen Res­
sourcen die steigende Nachfrage bewältigen. Nur dank des Umstandes, dass
sich die Stadt Zürich einen psychiatrisch-psychologischen und einen amts­
ärztlichen Dienst leistet, die beide nicht zögern, wenn nötig aufsuchend tätig
zu werden und Hausbesuche zu machen, kann einer langfristigen Überlas­
tung des Personals in den Institutionen des Sozialdepartementes durch psy­
chisch Kranke begegnet und eine weitere Isolation dieser sonst schlecht
versorgten Bevölkerungsgruppe verhindert werden.
Wir wünschen der Kooperation zwischen SAD und SD auch in Zukunft
viel Erfolg und Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine interessante und anre­
gende Lektüre dieses Sonderheftes.
Dr. med. David Briner,
Stv. Chefarzt,
Leiter Psychiatrisch-­­­
Psycholo­gischer Dienst
5
David Briner
Gemeindeintegrierte und mobile
psychiatrische Angebote des PPD
Der Kanton Zürich verfügt dank einer Vielzahl psychiatrischer Praxen und
diverser, teilweise spezialisierter ambulanter Dienste über ein gut ausgebautes
ambulantes Versorgungsnetz. Trotz dieses breit gefächerten Angebots kön­
nen nicht alle PatientInnen erreicht und adäquat behandelt werden. Das
Sozial­departement der Stadt Zürich hat in den vergangenen Jahren einen
steigenden, von der Regelversorgung aber nur partiell gedeckten Bedarf nach
niederschwelligen und mobilen psychiatrischen Leistungen festgestellt. Wel­
che Entwicklungen haben dazu geführt?
Einerseits sind die Fallzahlen in der Sozialhilfe kontinuierlich angestiegen.
Gleichzeitig hat – Beobachtungen der SozialarbeiterInnen zufolge – die Zahl
psychisch belasteter Sozialhilfeempfänger zugenommen. Die Sozialzentren
standen so vor der Aufgabe, mit knapper werdenden Ressourcen mehr Klien­
ten zu betreuen und soweit als möglich beruflich zu integrieren. Ein Pilot­
versuch zeigte, dass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sozialarbeit
und Psychologie/Psychiatrie die Sozialen Dienste entlastet und die Chancen
auf eine Reintegration der psychisch beeinträchtigten Klienten erhöht.
Andererseits hat in den städtischen Wohneinrichtungen der Anteil psy­
chisch schwer Kranker zugenommen. Viele dieser Personen sind nicht in der
Lage, für sich selber adäquate Hilfe zu finden. Sie werden heutzutage aber
auch nicht mehr – ausser in akuten Krisen mit Selbst- und Fremdgefährdung –
gegen ihren Willen in ein Behandlungssystem gezwungen. So laufen sie
Gefahr zwischen die auf Notfälle spezialisierten Kliniken und die auf Eigenver­
antwortung basierenden ambulanten Institutionen zu fallen. Im Laufe der letz­
ten Jahre wurden zudem unter der Devise «ambulant vor stationär» Klinikbet­
ten abgebaut und die stationären Aufenthaltszeiten verkürzt. Diese Verlagerung
der Behandlung in den gemeindenahen Raum ist zwar zu begrüssen, führt
6
jedoch zu einer deutlich höheren Belastung der betreuenden sozialen Einrich­
tungen ausserhalb der Klinik. Im angelsächsischen und nordeuropäischen
Raum hat der Umwandlungsprozess in der Versorgung schon früher einge­
setzt. Diese Länder verfügen heute über eine Vielzahl gemeindepsychiatri­
scher und mobiler Angebote. In der Schweiz beansprucht die strukturelle
Anpassung der psychiatrischen Versorgung und der Aufbau komplementärer
Angebote mehr Zeit. Die Folge davon ist, dass viele PatientInnen ungenügend
behandelt sind und die Gemeinden diese auffangen müssen. Viele dieser
PatientInnen erhalten Unterstützung bei den sozialen Diensten, in den Wohn­
einrichtungen oder Notschlafstellen. Sie zeigen aber wenig Bereitschaft, eine
psychiatrische Behandlung in Anspruch zu nehmen.
Aus diesen Gründen braucht es Angebote, welche die PatientInnen dort
erreichen, wo sie sich zumeist aus anderen Gründen hinwenden: In den Sozial­
zentren, Wohn- und Arbeitseinrichtungen. Weiter bedarf es einer Koordination
der psychiatrischen und sozialen Leistungen, um Schnittstellenprobleme zu
vermeiden.
Versorgungsebenen in der Stadt Zürich
Die Abbildung 1 illustriert die Positionierung des PPD innerhalb der städti­
schen Versorgungslandschaft.
Strukturell ist der PPD vergleichbar mit einer psychiatrischen Poliklinik, ein­
schliesslich Konsiliar- und Liaisondienst. Leistungsempfänger des Konsiliar­
dienstes sind jedoch nicht Spitalabteilungen, sondern (psycho-)soziale Insti­
tutionen auf der Gemeindeebene. Im Vordergrund steht die Beratungsfunktion
zugunsten der verantwortlichen und meist fallführenden MitarbeiterInnen. Die
systemische Betrachtungsweise und die Nähe zum Sozialraum erlauben es,
nicht nur den isolierten Fall des «schwierigen Klienten» zu sehen, sondern
auch einen Einblick in dessen Lebensumfeld zu erhalten.
Zu beachten sind dabei die unterschiedlichen finanziellen und gesetz­
lichen Rahmenbedingungen der medizinisch-psychiatrischen und der sozialen
7
Abbildung 1| Versorgungsebenen
in der Stadt Zürich
PUK
PPD
ambulante Psychiatrie
medizinische Primärversorgung
Gemeinde
psychiatrische Praxen
Hausärzte
Spitäler
Spitex
Sozialhilfe, Wohnen, Arbeit, Vormundschaftsbehörde
Versorgung. Die getrennte Finanzierung dieser beiden Versorgungssysteme
führt zu einer Fragmentierung der Hilfeleistungen. Zentrale Voraussetzungen
für eine erfolgreiche Zusammenarbeit und eine Integration der Leistungen sind
deshalb ein gutes Schnittstellenmanagement sowie vertiefte Kenntnisse von
Auftrag, Möglichkeiten und Grenzen der Kooperationspartner.
Kooperationspartner und dezentrale Standorte
Hauptauftraggeber des PPD sind die Sozialen Dienste (SOD) mit den fünf
regionalen Sozialzentren und die Sozialen Betriebe und Einrichtungen (SEB)
mit den Wohn- und Arbeitseinrichtungen. SOD und SEB sind Teil des Sozial­
departements (SD). Leistungsvereinbarungen bestehen ausserdem mit der
Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme (zfa) und dem Tageszentrum des
Schweizerischen Roten Kreuzes. Die Abbildung 2 gibt einen Überblick über
die Standorte mit fixen PPD-Angeboten.
soziale Versorgung
teilstationäre Psychiatrie
medizinische
stationäre Psychiatrie
8
Abbildung 2| Mehrere
dezentrale Standorte des PPD
Glattal
Waidberg
Schwamendingen
Letzi
Limmattal
Zürichberg
Uto
Poliklinik des PPD an der Walchestr. 31
Sozialzentren
Soziale Einrichtungen und Betriebe
Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme
Tageszentrum des Schweizerischen
Roten Kreuzes
9
Grundsätze und Ziele
Wie soll eine zeitgemässe psychiatrische Versorgung aussehen? Die Literatur
und die meisten Psychiatriekonzepte betonen die Ausgestaltung bedürfnis­
orientierter Angebote, die Gemeindenähe und die Betreuungskontinuität als
zentrale Punkte [ 1, 2,3 ]. Ausserdem wird die Vernetzung und gute Abstimmung
zwischen den Leistungserbringern in der medizinischen Versorgung in Zukunft
noch mehr Bedeutung erhalten. Deshalb setzt sich die Stadt Zürich mit dem
Gesundheitsnetz 2025 für eine Integration der verschiedenen Angebote ein.
Der PPD und seine Partnerinstitutionen verfolgen daher folgende Grundsätze:
1. Integration der psychiatrischen Leistungen in das soziale Versorgungs­
system
2. Bedürfnisorientierte Angebote mit den Kernelementen Niederschwellig­
keit, Empowerment, Behandlungskontinuität und mobile Krisenteams
3. Unterstützung und Beratung der betreuenden Fachpersonen
4. Verhinderung von Behandlungsabbrüchen, Eskalationen und unnötigen
Klinikeinweisungen
5. Subsidiarität der Leistungen gegenüber Kanton, psychiatrischen Praxen
und anderen Anbietern
Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet dabei, die Versorgungslücke in der
Stadt Zürich zu schliessen und nicht, bestehende kantonale und private
Angebote zu ersetzen.
Entwicklung der Fallzahlen
Die starke Zunahme der Zuweisungen aus dem Sozialdepartement über die
letzten fünf Jahre verdeutlicht den grossen Bedarf (vgl. Abb. 3). Es drängt sich
die Frage auf, woher all diese PatientInnen kommen. Waren sie vorher bei einer
anderen Stelle in Behandlung? Viele PatientInnen berichten im Erst­gespräch,
dass sie bisher nie oder nur einen kurzen Kontakt mit der Psychiatrie hatten.
Das bestätigt die Vermutung, dass mit den neuen PPD-Angeboten eine bisher
ungenügend versorgte Personengruppe erreicht wird.
10
Abbildung 3| Anzahl
und Herkunft der PatientInnen
1000
800
600
400
200
0
Soziale Dienste
Soziale Einrichtungen und Betriebe
Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme
andere
2005
2006
2007
2008
2009
113
426
497
518
698
2010
758
18
42
63
78
109
125
1
29
52
288
246
318
308
168
127
Verdienste des Sozialdepartements
Das Sozialdepartement hat mit der Lancierung mobiler Angebote vor acht
Jahren eine Vorreiterrolle übernommen und aus der Not eine Tugend gemacht.
Mit der Einbindung der psychiatrischen Angebote in das soziale Umfeld wurde
der Grundstein für ein zukunftsfähiges Modell einer integrierten Versorgung
gelegt. Die Kooperation ermöglicht eine sorgfältige Abstimmung der psychiat­
rischen und sozialen Leistungen.
Den Verantwortlichen im Sozialdepartement gebührt für dieses Engage­
ment bei der Etablierung der mobilen und integrierten Angebote des PPD ein
spezieller Dank.
Literatur
1.
Thornicroft G, Tansella M. Components of a modern mental health service: a pragmatic balance of community and hospital care: overview of systematic evidence. The
British Journal of Psychiatry. 2004;185( 4 ) :283.
2. Weinmann S, Gaebel W. Versorgungserfordernisse bei schweren psychischen
Erkrankungen. Der Nervenarzt. 2005;76 ( 7 ) :809 – 821.
3. Leitfaden zur Psychiatrieplanung. Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz.
Bern, 2008.
«Der mobile PPD ist eine Erfolgsgeschichte. Er ver- Reto Gugg, ­
steht es wie keine andere psychiatrische Institution, Direktor Soziale
Einrichtungen
mit unseren speziellen Klientinnen und Klienten um- und Betriebe
zugehen. Dank der Betreuung, die seine Fachleute
vor Ort leisten, können wir die Klientinnen und Klienten in unseren Einrichtungen halten. Der mobile PPD
trägt so entscheidend dazu bei, dass wir unseren Auftrag erfüllen können. Wie wichtig das Fachwissen des
PPD in unserem Umfeld ist, zeigt die Tatsache, dass
ihn inzwischen auch die Sozialen Dienste in bedeutendem Umfang nutzen.»
Dr. med. Julia Würthner,
Ärztin im Sozialzentrum
Dorflinde
13
Julia Würthner
«Ich hatte Angst, dass man mich
in die Klinik bringt»
Wie soll man vorgehen, wenn sich eine paranoide Mutter mit ihren Kindern zu
Hause abkapselt und Hilfsangebote aus der «gefährlichen» Umwelt ablehnt?
Mit Polizei und Vormundschaftsbehörde einschreiten? Oder warten bis es ihr
besser geht? Der vorliegende Fallbericht illustriert eine typische Ausgangs­
situation und die Schwierigkeiten, eine psychisch kranke Person trotz grossen
Ängsten in eine Behandlung einzubinden.
Kasuistik
Frau C. ist eine alleinerziehende Mutter zweier lebhafter Töchter im Alter von zwei
und vier Jahren. Auf den Fall aufmerksam wurden wir durch ihren Sozialarbeiter.
Er bat uns um Begleitung auf einem Hausbesuch, nachdem eine Gefährdungs­
meldung durch die Angehörigen der Patientin eingegangen war. Die Patientin
habe im Vorfeld schwere Vorwürfe gegen ihren Vater erhoben und diesen ange­
zeigt. Als das Verfahren eingestellt worden sei, habe sie sich von ihrer Familie
distanziert und dieser mitgeteilt, sie wolle sie nicht mehr sehen. Frau C. habe die
Türe nicht mehr geöffnet und sich über einen Monat lang nicht mehr beim Sozial­
arbeiter gemeldet. Dann habe sie plötzlich ihre Familie gebeten, die Kinder zu
sich zu nehmen, sei «aufgetaucht und wieder verschwunden». Ihre Familie
beschreibe die Patientin als «geistig abwesend, paranoid, ängstlich und unselb­
ständig». Sie würden ihr raten, dringend psychiatrische Hilfe in Anspruch zu
nehmen, was die Patientin aber verweigere. Besorgt um das Wohl der Kinder
baten die Verwandten um die Einleitung vormundschaftlicher Massnahmen.
14
Auch dem Sozialarbeiter gelang keine Kontaktaufnahme. Er wandte sich
an den PPD. Schliesslich stand er mit meinem Kollegen und der Tante der
Patientin unangemeldet vor der Türe von Frau C. Diese zeigte sich überrascht,
war aber mit einem gemeinsamen Gespräch in ihrer Wohnung einverstanden.
Die Notwohnung war sauber und ordentlich aufgeräumt. Ihre beiden Töchter
waren sehr lebendig und aufgeweckt, malten und spielten während des
Gespräches und suchten auch den körperlichen Kontakt zu den Anwesen­
den. Frau C. stand wiederholt auf, um etwas für die Mädchen zu holen, zeigte
sonst aber wenig Körperberührung und Interaktion mit den Kindern. Auf Fra­
gen antwortete Frau C. kaum oder nur mit leiser Stimme. Im Verlauf des
Gesprächs gab sie an, manchmal überfordert zu sein.
Ein Folgetermin im PPD wurde vereinbart. Die Patientin erschien mit ihren
beiden Kindern und ihrer Tante. Dabei lernte sie mich als ihre weiter behan­
delnde Ärztin kennen. Es fiel ihr schwer, offen über die Ereignisse der letzten
Wochen zu berichten. Zögerlich und leise, teils fast flüsternd, berichtete sie,
dass sie den Kontakt zur Tante und zur Schwester vor einigen Wochen abge­
brochen habe. Dies, nachdem sie durch eine Gerichtsverhandlung gegen
ihren Vater und dessen Ehefrau verunsichert gewesen sei. Ohne Kontakt zur
Familie habe sie sich daraufhin sehr alleine gefühlt und in der Nacht «schlechte
Träume» gehabt. Frau C. verneinte Halluzinationen, sie beschrieb jedoch ein
«komisches Gefühl, von ausserhalb beobachtet worden zu sein». Eine genaue
Erhebung der Anamnese und eine diagnostische Einordnung waren nicht
möglich. Wir stellten die Verdachtsdiagnose einer wahnhaften Störung.
In den folgenden Gesprächen zeigt sich Frau C. zu Beginn weiterhin
wahnhaft, eine Medikation lehnte die Patientin jedoch ab. Sie liess sich auf
die durch uns unterstützte Auflage der Vormundschaftsbehörde ein, ihre bei­
den Töchter für drei Tage die Woche – mit einer Übernachtung – in eine Kin­
derkrippe zu geben. Anfangs fiel ihr dies sichtlich schwer, denn ihr Leben hatte
sich vor allem um die Kinder gedreht. Diesen gefiel es in der Krippe aber
zunehmend besser. Schliesslich war auch Frau C. überzeugt, dass die Kinder
vom neuen Umfeld profitieren würden. Für die Kinder wurde im Sinne einer
Unterstützung der Mutter eine Erziehungsbeistandschaft eingerichtet.
15
Beide Massnahmen sowie die regelmässigen wöchentlichen Gespräche
entlasteten die Patientin deutlich. Es gelang ihr, sich schrittweise zu öffnen
und über die belastenden Erlebnisse zu berichten. Die Symptome traten nach
zwei Monaten auch ohne Medikation zunehmend in den Hintergrund und
verschwanden schliesslich ganz. Die Störung war vermutlich durch den
Gerichtsprozess gegen den Vater ausgelöst worden.
Ich sehe Frau C. weiterhin alle zwei Wochen. Als nächster Schritt ist die
Arbeitsintegration geplant, worauf sich die Patientin zu freuen scheint. Vor
allem freut sie sich darauf, wieder in Kontakt mit anderen Menschen zu kom­
men. Langsam gelingt es ihr, die freie Zeit ohne die Kinder für sich zu nutzen.
So möchte sie nun zum Beispiel endlich Gesangsunterricht nehmen, das
Singen ist, wie ich erfahren habe, ihre Leidenschaft. Ermöglicht wird der
Unterricht durch ein Geschenk der ganzen Familie zu Weihnachten in Form
eines Gutscheins. Trotz aller Vorkommnisse spielt die Familie weiterhin eine
wichtige Rolle im Leben der Patientin. Ein erster Schritt zu einem wieder
weniger verkrampften Umgang miteinander ist getan.
Der Patientin geht es heute deutlich besser, die Situation hat sich ent­
spannt und die beiden Töchter können bei ihrer Mutter bleiben.
Schlussfolgerungen
Von den verschiedenen Faktoren, welche zum erfolgreichen Verlauf beigetra­
gen haben, sollen deren drei besonders hervorgehoben werden: Der Haus­
besuch zu Beginn der Behandlung, die Koordination der Hilfe und der lang­
same Kontaktaufbau.
Ein unangemeldeter Hausbesuch wird von den meisten PatientInnen als
Verletzung ihrer Privatsphäre erlebt. Oft stellt er aber die einzige Möglichkeit
dar, die krankheitsbedingte, «gewählte» Isolation zu durchbrechen und der
kranken Person, wie in diesem Fall, Hilfe anzubieten ( S. 21). Im nächsten
Schritt gilt es dann, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzu­
bauen. Danach kann die Therapie mit regelmässigen Gesprächen in der eige­
nen Institution durchgeführt werden.
16
Die Vernetzung mit den beteiligten HelferInnen ist zwar aufwändig,
ermöglicht aber ein koordiniertes und abgestuftes Vorgehen. Verhindert wer­
den soll insbesondere ein Zuviel oder Zuwenig an Hilfe. Ausserdem realisiert
die betroffene Person, dass die Aussagen der involvierten Fachleute überein­
stimmen, was sie glaubwürdiger macht.
Zu Beginn wurden im Beispiel von Frau C. die Kontakte meinerseits
bewusst kurz gehalten um die Patientin nicht zu überfordern. Nach wenigen
Terminen erhielt ich dann von der Tante der Patientin die Rückmeldung, dass
sich Frau C. gerne längere Gespräche wünsche. Ihre Nichte merke, dass ihr
diese gut täten und sie komme gerne zu den Gesprächen. Eine schöne und
erfreuliche Rückmeldung! Und ein Zeichen, dass trotz des nicht ganz freiwil­
ligen Beginns eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung entstanden war.
Frau C. kommt zwar auch heute noch oft zu spät, was wir beide mittlerweile
aber mit Humor nehmen.
Rückblickend berichtet die Patientin, dass sie über den Hausbesuch sehr
erschrocken gewesen sei. In diesem Moment sei es gut gewesen, ihre Tante
zu sehen. Sie habe gemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimme. Deshalb
habe sie Angst gehabt, man komme sie holen, um sie in eine Klinik zu bringen,
wie im Film «Einer flog übers Kuckucksnest». Im Kontakt mit ihren beiden
Töchtern habe es wie «eine Schranke» gegeben. Sie sei nicht von Herzen bei
ihnen gewesen. Sie habe die ganze Familie «verjagt» und sich zurückgezogen,
obwohl ihr das Alleinsein Mühe bereitet habe. Sie habe nicht mehr gewusst,
wem sie vertrauen könne. Jetzt gehe es ihr wieder gut, das «komische Gefühl»
sei verschwunden. Sie könne wieder von Herzen bei ihren Kindern sein.
«Die Fallführenden der SOD sind oft mit KlientInnen Ilse M. Kaufmann,
konfrontiert, die psychiatrische Hilfe benötigten, aber Leiterin Kompetenz­
zentrum, Soziale
kaum eine Arztpraxis aufsuchen würden. Daher be- Dienste Zürich
grüssten sie die Idee der niederschwelligen psychologischen Hilfe vor Ort sehr. Der Pilot im SZ Hönggerstrasse erleichterte den Aufbau der Kooperation
enorm. Ein Erfolgsfaktor ist die Nähe der Psychologen
zu den Fallführenden. Grosse Sensibilität ist im Datenaustausch zwischen den Profis bei gleichzeitiger
Wahrung des Berufsgeheimnisses gefordert.»
med. pract.
Paul-Richard Guzek,
Oberarzt
19
Paul-Richard Guzek
Mobile Teams: zentraler Bestandteil
der zeitgemässen Gemeindepsychiatrie
Einleitung
Der Hausbesuch gehört traditionell zum ärztlichen Handlungsrepertoire. Er ist
insbesondere in der Allgemeinmedizin so selbstverständlich, dass er keiner
besonderen Erklärung oder gar Rechtfertigung bedarf. Die Bezeichnung
Hausärztin oder Hausarzt spiegelt diese Tatsache wider.
In der Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin hingegen, welche das
Spannungsverhältnis von Helfenwollen und -müssen stets zu reflektieren ver­
sucht, ist dies anders. Bereits im Vorfeld einer Intervention im privaten Umfeld
des Patienten sind die psychiatrisch Tätigen aufgefordert, sowohl ihre Vor­
gehensweise als auch die psychosozialen Auswirkungen ihres Besuches
abzuwägen.
Hausbesuche wurden in der Psychiatrie bereits zu Anfang des 20. Jahr­
hunderts angewendet. Später jedoch wurde diese Intervention zunehmend
kritisch betrachtet. Dieser Umstand liegt im historischen Ballast des Faches
begründet, der bis in die Gegenwart zu seiner gesellschaftlichen Stigmatisie­
rung beiträgt [1]
In der modernen Psychiatrie hingegen erfährt aufsuchende Hilfe seit den
sechziger Jahren international eine Renaissance. Verschiedene Modelle wie
Assertive Community Treatment, Case Management, Community Mental
Health Teams und Hometreatment werden bereits seit längerer Zeit erfolgreich
angewendet.
Ursprünglich vorwiegend im angloamerikanischen Raum angesiedelt,
erreichte der Trend via Skandinavien und die Niederlande allmählich den
deutschsprachigen Raum.
20
Die meisten dieser Modelle orientieren sich an folgenden Grundsätzen:
1. Die Bedürfnisse der PatientInnen und nicht die der Institutionen stehen
im Mittelpunkt der Therapieplanung und der Festlegung des Settings.
2. Die Behandlung findet so lange wie möglich im Wohnumfeld der Patient­
Innen statt.
3. Die Bedarfs- und Bedürfnisermittlung ist realitätsnah und ressourcen­
orientiert. Der individuellen und von jedem Patienten selbst definierten
Lebensqualität wird zentrale Bedeutung beigemessen.
4. Nach Lösungen wird trialogisch im Rahmen eines offenen Dialoges
gesucht.
Mobile Teams
Das mobile Team, auch mobile Equipe genannt, kann als zentraler Bestandteil
aufsuchender psychiatrischer Hilfe aufgefasst werden. Diese besteht aus
interdisziplinären Fachleuten, die die Patienten in ihrem Lebensumfeld situa­
tions- und bedürfnisangemessen behandeln. Eine Sonderform stellt das
sogenannte Hometreatment dar, bei welcher die Interventionsbereitschaft des
behandelnden Teams klassischerweise rund um die Uhr an sieben Tagen in
der Woche besteht.
Die mobile Equipe des PPD
Die mobile Equipe des PPD setzt sich je nach Kontext ad hoc aus der Ärztin
des PPD, der Sozialarbeiterin, der Bezugsperson des Begleiteten Wohnens
oder einer Pflegefachperson der Spitex zusammen. Im Unterschied zu mobi­
len Equipen anderer Institutionen, besteht sie also aus den im jeweiligen Fall
involvierten Fachpersonen des PPD und des Sozialdepartements und wird für
jeden Fall neu zusammengestellt.
21
Vor acht Jahren im Rahmen eines gemeinsamen Pilotprojekts mit dem Sozial­
departement gegründet, kommt sie heute in folgenden Situationen zum Ein­
satz:
–
als Krisenintervention nach einer Meldung von dritter Seite (Betreuer,
–
bei Abbruch einer ambulanten Behandlung und Hinweisen für eine mög­
–
nach Absprache mit dem Patienten zur «systemischen Diagnostik»
Angehörige, Polizei)
liche bevorstehende Dekompensation
Ziel ist es, problematische Entwicklungen durch den Besuch zu Hause früh­
zeitig zu erkennen und diesen entgegenzuwirken. Notfalleinsätze und FFESituationen sollen soweit als möglich vermieden werden. Insofern ist die
mobile Equipe kein Ersatz für den Notfallpsychiater, sondern ein Bindeglied
zwischen diesem und der ambulanten Sprechstunde.
Die Vorteile der aufsuchenden Hilfe
Das klassische psychopathologische Nachdenken über die Bedingungen der
psychischen Krankheit fokussiert die Wahrnehmung auf das Individuum und
blendet dabei die Kybernetik seines Ökosystems teilweise aus [2].
Bei den aufsuchenden Angeboten wird der Blickwinkel erweitert. Ihre Vorteile
sind vielfältig und umfassend:
1. Direkte Informationen über den Zustand, die Grösse und Lage des
Wohn­raumes
2. Einblick und Kontaktaufnahme mit der sozialen Umgebung, wie z. B.
Angehörigen, Nachbarn sowie Erfassung von Ressourcen
3. Aufnahme von Hinweisen für einen Suchtmittelkonsum und Besonder­
heiten bei der Ernährung und der Körperpflege
4. Realitätsnahe Gestaltung der Behandlungsplanung
5. Prävention von Eskalationen und Klinikeinweisungen
22
6. Verhinderung von Therapieabbrüchen
7. Ermöglichung des Zugangs zum Hilfssystem
8. Abgleichung des persönlichen Eindrucks mit der Schilderung des Patien­ten1
Die Wohnung kann man – nach der Haut und der Kleidung – als eine Art «dritte
Haut» eines Menschen konzeptualisieren. Die Notlage der kranken Person
erschliesst sich den TherapeutInnen vor Ort schneller und vollständiger.
Die Gefahren und Grenzen der aufsuchenden Hilfe
Diesen Vorteilen stehen jedoch auch einige Gefahren und «unerwünschte
Wirkungen» gegenüber. Der psychiatrische Hausbesuch kann für die Patien­
tInnen und ihre Angehörigen bedrängend, beschämend und stigmatisierend
sein. Er kann als Beschränkung der Eigenaktivität und der Selbstbestimmung
empfunden werden. Deshalb muss er, wie alle medizinischen Massnahmen,
einer sorgfältigen Indikationsstellung unterzogen werden. Wenn immer mög­
lich sollte der Hausbesuch angemeldet werden.2
1
In der Psychose z. B. erfährt die Wohnung eine recht charakteristische Umgestaltung. Sie verliert
häufig ihren bergenden und schützenden Charakter. Die psychotische Person fühlt sich an einen
Raum ausgeliefert, der keine verlässlichen Grenzen mehr hat. Die eigene Wohnung ist nicht mehr
vertraut und wird zur Quelle der Angst. Durch die Wände, aus dem Schlüsselloch, den Steckdosen,
den elektrischen und elektronischen Geräten dringen schädigende Strahlen, todbringende Dünste,
verfolgungverheissende Geräusche in die Wohnung und verursachen leibhaftig wahrgenommene
Veränderungen und Schädigungen. Die Betroffenen fühlen sich durch die Wände hindurch, durch
abgedeckte Fenster und verbarrikadierte Türen beobachtet, ausgehorcht und der eigenen Intimzone
beraubt. Durch die plötzlich «ringhörig» gewordenen Wände und Fenster hören Sie Gespräche und
Kommentare feindlich gesonnener Nachbarn. Die erlebte Entgrenzung der Wohnwelt muss deshalb
möglichst rückgängig gemacht werden. Neue Schlösser, Riegel und Sicherungen werden eingebaut, die Türe verbarrikadiert, Fenster abgedichtet und Steckdosen verklebt (frei nach 1).
2
Die Anmeldung eines Hausbesuches drückt Respekt vor der Person des anderen aus und signalisiert gleichzeitig eine Distanzierung von der totalitären Kontrollfunktion der Psychiatrie, welche leider
zu ihrem geschichtlichen Ballast gehört[1]!
23
Die Psychiaterin darf die Wohnung (oder das Zimmer im Wohnheim) ohne
Einladung oder Erlaubnis nur bei Gefahr im Verzug betreten. Sie macht sich
sonst des Tatbestands eines «Hausfriedensbruchs» schuldig. Der psychiatri­
sche «Haus-Friedens-Bruch» begründet seine Berechtigung durch seinen
therapeutisch-fürsorgerischen Auftrag. Der Fürsorgeaspekt sollte jedoch
nicht zum Kontroll- oder Disziplinierungsinstrument mutieren.3 Man betritt
dabei sensible Zonen von intimer Privatheit, was besonders viel Taktgefühl
abverlangt.
Auch für die Psychiaterin selbst bedeutet das Verlassen ihrer schutzbie­
tenden und rollenzuweisenden Institution eine grosse fachliche und soziale
Herausforderung. Die Begegnung auf derselben Augenhöhe, ausserhalb des
Elfenbeinturmes, bei zugleich nicht zu leugnenden Asymmetrie des Macht­
verhältnisses muss mühevoll ausbalanciert werden.
Eine vielfältige Rollendynamik entfaltet sich unter weniger kontrollierten
Bedingungen und verursacht auch bei Professionellen, welche sich auf das
«Gastspiel» eingelassen haben, mannigfache Verunsicherung. Die Patientin
hat «Heimvorteil».
Grenzen werden der aufsuchenden Hilfe auch aus ökonomischen Grün­
den gesetzt. Das gegenwärtige Tarifsystem honoriert den Aufwand, der bei
Hausbesuchen anfällt, ungenügend. Ausserdem sind Risiken wie die Absage
des Besuchs vor der Tür des Patienten nicht gedeckt. So besteht die para­
doxe Situation, dass nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen stationäre
Kapazitäten abgebaut, gleichzeitig aber komplementäre Angebote ein­
schliesslich mobiler Hilfen nicht angemessen finanziert werden. Der ökono­
mische Anreiz für die Schaffung entsprechender Strukturen ist somit gering.
3
(…) und als der bis in die Wohnstube verlängerter Greifarm der kustodialen Psychiatrie, welcher sich
nach der unkooperativen Patientin ausstreckt, missverstanden werden [5].
24
Fazit
Nach Befreiung von den Ketten durch Pinel im 19. Jahrhundert und der Deinstitutionalisierungsbewegung im 20. Jahrhundert erobern nun die Konzepte
Recovery [6] und Empowerment die psychiatrische Versorgungsplanung.
Diese neuen Konzepte erfordern die Schaffung neuer Behandlungsparadig­
men, welche sich vornehmlich an den Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer
sozialen Umgebung orientieren und in ihrer Ausrichtung «proaktiv-entgegen­
kommend» und im Bedarfsfall «nachgehend» sein müssen [7].
Die mobile gemeindepsychiatrische Hilfe mit ihrem zentralen Anliegen,
die PatientInnen in ihrer häuslichen Umgebung zu behandeln, bedeutet eine
qualitative Verbesserung unseres psychiatrischen Instrumentariums. Der
Hausbesuch wird zum unverzichtbaren Instrument des diagnostischen Ver­
stehens und des therapeutischen Handelns.
PatientInnen, welche aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht in der
Lage sind eine Behandlung selbst einzufordern, werden durch die nieder­
schwelligen, mobilen Angebote dort aktiv abgeholt, wo sie sich gerade befin­
den, statt dass man auf sie vergeblich wartet.
Literatur
1. H.
Stoffels, G. Kruse. Der psychiatrische Hausbesuch. Psychiatrie-Verlag, Bonn
1996
2. K. Dörner. Der Beitrag ökologischen Denkens zum Verständnis psychischen Erkrankungen und psychosozialen Handelns. In A. Thom, E. Wulff (Hrsg.) Psychiatrie im
Wandel. Psychiatrie-Verlag 1990, 551-561
3. P. Yellowlees. Psychiatric assessment in community practice. MJA Practice Essentials, Dep. of Psychiatry, Univ. of Queensland Mental Health Centre, AU.
4. L. Ciompi. Zur Entwicklung des sozialpsychiatrischen Denk- und Behandlungsansatzes in der Schweiz. In A. Thom, E. Wulff (Hrsg.) Psychiatrie im Wandel. PsychiatrieVerlag 1990, 551-561
5. T. Bock. Wie muss sich die Psychiatrie auf dem Weg nach draussen verändern?
XIII Tagung – Die subjektive Seite der Schizophrenie. Februar 2011, Hamburg.
6. Amering M. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Psychiatrie-Verlag, 2007
7. T. Berhe, B. Puschner, R. Kilian, T. Becker. «Home treatment» für psychische Erkrankungen. Nervenarzt 2005. 76: 822-831
«Die Kooperation des Begleiteten Wohnens mit dem Nicolas Ribaut,
PPD startete mit dem Pilotprojekt «PPD goes mobile» Leiter Begleitetes
Wohnen, Soziale
im Jahr 2003 und richtete sich an psychisch kranke Einrichtungen und
Bewohnerinnen und Bewohnern, welche nicht von Betriebe
sich aus in eine ambulante Behandlung gingen und
darum öfters per FFE in die stationäre Psychiatrie eingewiesen werden mussten. Inzwischen ist «PPD goes
mobile» zu einer Erfolgsgeschichte geworden und
diese mobile Dienstleistung der gemeinsamen Hausbesuche ist aus dem Alltag unserer Wohnbegleitung
nicht mehr weg zu denken.»
Dr. med. Jan Holder,
Oberarzt
27
Jan Holder
Wieder ein Dach über dem Kopf
Ein Fallbericht
In diesem Fallbericht stellen wir eine obdachlose 49-jährige Frau vor, welche
aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammt, an einer bipolaren Störung
leidet und über lange Zeit jegliche Hilfsangebote ablehnte. Erst dank eines
koordinierten Vorgehens und nach mehreren Anläufen gelang es, die Patien­
tin zu einem Eintritt in ein betreutes Wohnen und zu einer psychiatrische
Behandlung zu motivieren. Welche Elemente haben dazu beigetragen? Wel­
che Schritte erwiesen sich als hilfreich?
Vorgeschichte
In ihrer Kindheit erlebte Frau H. viele traumatische Ereignisse. Vom Vater und
anderen Männern wurde sie regelmässig sexuell missbraucht. Ihre alko­
holkranke Mutter kümmerte sich nicht um sie, so dass sie eine vertrauensvolle
Beziehung nie erlebt hatte. Sie floh kurz vor der Matura von Zuhause und
begann sich zu prostituieren. In dieser Zeit konsumierte sie zeitweise massiv
Kokain. Drei Jahre später wurde sie obdachlos. Eine psychiatrische Konsul­
tation hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nie in Anspruch genommen.
Anmeldung beim PPD
Die Anmeldung erfolgte direkt in der Sprechstunde des PPD im Sozialzentrum,
nachdem Frau H. durch ihr schillerndes, aufbrausendes und lautes Verhalten
aufgefallen war. Im Kontaktverhalten zeigte sie sich jedoch eher kindlich-naiv.
Jähe Stimmungswechsel mit aggressiven Durchbrüchen erschwerten den
Umgang mit ihr.
28
Fr. H. präsentierte sich als eine jünger wirkende, freundliche, Selbst­
gespräche führende Frau. Ihr Gedächtnis erschien leicht reduziert, der Gedan­
kengang sogar bis zur Unkenntlichkeit zerfahren. Frau H. führte Zwiegespräche
mit ihren mitgebrachten Stofftieren und schien akustisch und optisch zu hal­
luzinieren. Die Gesprächsatmosphäre gestaltete sie betont vertraulich, flirtend
und humorvoll. Ihre Stimmung war situationsunangemessen euphorisch. Sie
machte auf uns einen äusserst angetriebenen und unruhigen Eindruck. Dar­
über hinaus klagte sie über massive Schlafstörungen. Als ihre Hobbies nannte
sie Schwimmen, Turmspringen und Tauchen.
Als Diagnosen stellten wir eine bipolare Störung mit gegenwärtig mani­
scher Episode und psychotischen Symptomen sowie eine Persönlichkeitsak­
zentuierung nach jahrelangen sexuellen Deprivationsereignissen fest.
Verlauf
Wir empfahlen der Patientin nach dem Erstgespräch eine Medikation sowie
begleitende therapeutische Gespräche, welche sie anfänglich allerdings
ablehnte. Einige Monate später kam sie in der Notschlafstelle unter. Das enge
Zusammenleben der dortigen BewohnerInnen hielt sie allerdings nicht aus,
sie wurde verbal ausfällig und erhielt deshalb Hausverbot. Es folgte ein län­
gerer Aufenthalt am Flughafen, den sie sich vermutlich durch Prostitution
finanzierte. Später war Frau H. wieder obdachlos und es bestand keinerlei
Kontakt zu ihr. Erst nach einem Jahr tauchte sie wegen finanziellen Problemen
wieder sporadisch bei der Sozialarbeiterin auf. Hier kam es nach einer gewis­
sen Zeit zu einem erneuten Kontakt mit uns. Eine zufällige Begegnung mit
dem PPD-Arzt an der Limmat und ein anschliessendes Gespräch begünstigte
den weiteren Beziehungsaufbau. In der Folge konnte sie unsere Empfehlung,
in ein vom PPD konsiliarisch betreutes Übergangsheim1 einzutreten, anneh­
men. Dem Team des Wohnheimes gelang es, zur Patientin – trotz ihrer mas­
siven Stimmungsschwankungen – eine Beziehung aufzubauen, so dass diese
schliesslich einwilligte, stimmungsstabilisierende Medikamente einzunehmen.
1
Ehemals Wohnwerkstatt, heute Bewo-City Feldstr.
29
Das mitunter aggressive sowie destruktive Verhalten bildete sich daraufhin
zurück. Eine drohende Inhaftierung (VBZ-Bussen) konnte sie durch eine
Beschäftigung in der Küche abwenden. Die Patientin gewann allmählich an
neuer Zuversicht und konnte über ihre neuen Kompetenzen stolz sein.
Heute nimmt sie aktiver am Leben teil und zeigt sich gegenüber ihrer
Umgebung wesentlich vertrauensvoller. Mit schwierigen Situationen kann sie
heute konstruktiver umgehen. Ihre Schlafstörungen sind heute weitaus weni­
ger beeinträchtigend und ihren Stimmungsschwankungen kann sie sogar
mitunter humorvoll begegnen.
Diskussion
Die traumatisierte Frau hat in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass es
besser ist, sich niemandem anzuvertrauen und sich dadurch nicht abhängig
zu machen, nicht einmal für ein Dach über dem Kopf. Ihre zentrale Überle­
bensstrategie war, um jeden Preis die Kontrolle zu bewahren. Dies erklärt,
weshalb sie in der Vergangenheit trotz grossem Leidensdruck und Obdach­
losigkeit sämtliche Hilfsangebote ausschlug. Die finanzielle Not führte sie ins
Sozialzentrum. Auch hier fand sie sich erneut in einer für sie unerwünschten
Abhängigkeit wieder. Der Sozialarbeiterin gelang es trotz alledem in einer
schwierigen Gratwanderung, die Wünsche ihrer Klientin nach Autonomie zu
respektieren und dennoch mit sanfter Hartnäckigkeit ein Gespräch beim PPD
zu bewirken. Nach dem Erstgespräch schlug die Patientin unsere Empfeh­
lungen zwar vorerst aus und wollte keine weiteren Termine mehr wahrneh­
men. Rückblickend wurde jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit bei dieser
ersten Begegnung der Grundstein für den folgenden Beziehungsaufbau
gelegt. Die Patientin hatte festgestellt, dass sie die Wahl hatte, die ihr ange­
botene psychiatrische Hilfe anzunehmen, diese ihr jedoch nicht aufgezwun­
gen wurde. Die folgenden Kontakte mit dem PPD ein Jahr später wurden
wieder über das Sozialzentrum initiiert ( S. 9 und 39 ). Als grosser Vorteil
erwies sich dabei, dass der gleiche Arzt, welcher sie im Sozialzentrum ken­
nengelernt hatte, sie anschliessend im Übergangsheim weiterbetreute und
mit dem dortigen Team zusammenarbeiten konnte. Hierdurch erlebte die
30
Patientin eine Kontinuität und zugleich eine positive Beziehungserfahrung,
welche sie in ihrem bisherigen Leben nie kennengelernt hatte.
Zusammenfassend trugen aus unserer Sicht verschiedene Faktoren zu
diesem positiven Behandlungsverlauf bei: zunächst der zwar freiwillige, aber
durch geduldige Hartnäckigkeit erwirkte Erstkontakt im Sozialzentrum, die
Folgekontakte mit dem Arzt, welcher die Hilfsangebote wiederholte, dann die
Behandlungskontinuität bei Eintritt in das Übergangsheim und schliesslich die
interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Sozialzentrum und dem Heim.
Ohne diese Elemente wäre ein Kontaktaufbau und somit die Einleitung und
Durchführung der psychiatrischen Behandlung kaum möglich gewesen.
«Wir pflegen eine enge Zusammenarbeit mit dem PPD.
Regelmässig kommt die für unsere Einrichtung zuständige Psychiaterin auf Besuch, um Gespräche mit den
Klientinnen und Klienten zu führen, die Medikation zu Marianne Spieler
überwachen und sich mit dem Personal auszutauschen. Frauenfelder,
­Leiterin Betreutes
Monatlich wird eine Fallbesprechung mit gezielten Prob­ Wohnen City,
lemstellungen durchgeführt. Auch bei psychiatrischen Soziale Einrichtungen
Notfällen konsultieren wir den PPD, um sinnvolle Mass- und Betriebe
nahmen einzuleiten. Die häufigen Kontakte schaffen
Vertrauen: Die Mitarbeitenden schätzen die fachärztliche Hilfestellung, und die KlientInnen akzeptieren die
Interventionen. Dank der Zusammenarbeit mit dem PPD
müssen wir praktisch keine Ausschlüsse aussprechen,
und können die KlientInnen auch in schweren Krisen­
situationen bei uns behalten. Ich als Einrichtungsleiterin
will mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, diese Häuser
ohne die fachliche Unterstützung des PPD zu führen!»
Dr. phil. Gabriela ­Nietlisbach,
Psychologin im Sozial­
zentrum Albisriederhaus
33
Gabriela Nietlisbach
Wer wird im PPD behandelt?
Welche Behandlungsangebote gibt es?
Auswertung der Basisdokumentation
Im PPD werden bei Beginn, im Verlauf und bei Abschluss einer Behandlung
patienten- und behandlungsspezifische Daten erfasst. Diese Basisdokumen­
tation liefert die Kenndaten zu PatientInnen und Behandlungen und dient der
internen Qualitätssicherung. Im Folgenden wird ein Auszug der Zahlen des
Jahres 2010 vorgestellt.
Anzahl und Alter
Insgesamt waren im Jahr 2010 1062 PatientInnen in Kontakt mit dem PPD,
40 % Frauen und 60 % Männer. Das Durchschnittsalter dieser Personen lag
bei 41.7 Jahre ( Standardabweichung 12.7 Jahre ). Die Angebote richten sich
an 18- bis 65-Jährige.
Therapie-Setting
Zum Behandlungsangebot gehören Abklärungsgespräche, Kurztherapien
und langfristige Therapien ( vgl. Abb. 1 ). Bei 371 PatientInnen fanden Abklä­
rungsgespräche im Rahmen von 1– 3 Stunden statt. Bei ca. einem weiteren
Drittel aller PatientInnen fand eine Kurzzeittherapie statt, welche 4 –10 Thera­
piestunden beinhaltete. Weitere 350 nahmen eine Behandlung mit mehr als
10 Therapiestunden in Anspruch. Die Therapien ab 10 Stunden beinhalten
sowohl integrierte psychologisch-psychotherapeutische Behandlungen als
auch Psychotherapien im engeren Sinne.
2010 umfasste das Gruppenangebot eine Gruppentherapie gegen Schlaf­
störungen, eine Gruppe mit frauenspezifischen Themen und eine Gruppe
34
Abbildung 1| Behandlungsangebote
350
Abklärung ^3 h
Kurztherapien 4 –10 h
Therapien ab 10 h
371
340
Abbildung 2| Einzel-
und Gruppentherapien
Einzel
1026
Gruppe
29
7
«Training sozialer Kompetenzen». 1026 PatientInnen wurden im Einzelsetting
behandelt, 29 PatientInnen nahmen nebst den Einzeltherapiestunden an einer
Gruppentherapie teil und 7 Personen kamen ausschliesslich für eine Gruppen­
teilnahme in den PPD ( vgl. Abbildung 2 ).
Hauptdiagnosen
Die Aufschlüsselung der Hauptdiagnosen zeigt ( vgl. Abbildung 3 ), dass bei
etwa 30 % ( n = 310 ) der 2010 im PPD behandelten PatientInnen eine affektive
Störung ( F3 ) vorliegt. An zweiter Stelle mit rund 20 % ( n = 233 ) stehen die
neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen ( F4 ), zu denen auch
die Angststörungen gehören. Je etwa 15 % der PatientInnen leiden an einer
Störung aus dem schizophrenen Formenkreis ( F2 ; n = 151 ) oder an einer
Abhängigkeitserkrankung ( F1 ; n = 139 ). Bei etwa 9 % ( n = 93 ) der Behandelten
wurde eine Persönlichkeitsstörung als Hauptdiagnose codiert.
Die Diagnosen der PatientInnen, bei welchen ein Hausbesuch durch­
geführt wurde, wurden separat ausgewertet. Hier liegen die Störungen aus
dem schizophrenen Formenkreis mit rund 35 % ( F2 ; n = 41 ) an erster Stelle.
35
%
Abbildung 3| Hauptdiagnosen
nach ICD-10
35
Patienten im PPD (n=1062)
Hausbesuche (n=113)
30
25
20
15
10
5
0
F0
F1
F2
F3
F4
F5
F6
F7
F8
F9
keine
An zweiter Stelle folgen mit knapp 20 % ( n = 20 ) die affektiven Störungen ( F3 ).
Bei je etwa 15 % ( n = 17 ) der Behandelten wurde eine Abhängigkeitserkrankung
oder eine Störung aus der F4-Kategorie codiert. Die Persönlichkeitsstörungen
wurden bei Hausbesuchen mit rund 10 % etwa gleich häufig codiert wie bei
den PatientInnen, die im Ambulatorium an der Walche behandelt wurden.
Globales Funktionsniveau ( GAF )
Mittels der standardisierten GAF-Skala werden bei Behandlungsbeginn
und -abschluss sowohl die Schwere psychischer Symptome als auch soziale
und berufliche Funktionsbereiche beurteilt. Je höher der GAF-Wert auf der
Skala von 0 –100, desto höher ist das globale Funktionsniveau eines Men­
schen. Bei den meisten PatientInnen im PPD liegen Beeinträchtigungen im
sozialen oder beruflichen Bereich vor. Zudem leidet eine beträchtliche Anzahl
unter schweren psychischen Symptomen, was dazu führt, dass bei mehr als
der Hälfte aller PatientInnen der GAF-Wert bei Behandlungsbeginn unter
50 liegt. Bei etwa 12 % der PatientInnen liegt der GAF-Wert zwischen 21– 30,
bei 27 % zwischen 31– 40 und bei 22 % zwischen 41– 50 ( vgl. Abbildung 4 ).
36
%
Abbildung 4| Globales
Funktionsniveau (GAF), n=431
25
Behandlungsbeginn
Behandlungsabschluss
20
15
10
5
0
1–10
11– 20 21– 30 31– 40 41– 50 51– 60 61– 70 71– 80 81– 90 91– 100
Erwartungsgemäss liegen die GAF-Werte bei Behandlungsabschluss höher
( 51.4 ) als bei Behandlungsbeginn ( 48.2 ). Der Vergleich der GAF-Mittelwerte
vor und nach einer Behandlung weist eine mittlere Effektstärke von 0.4 auf.
Berufliche Integration
Bezüglich der beruflichen Integration zeigt eine Auswertung der 431 Patien­
tInnen mit Behandlungsabschluss im 2010 eine zwar kleine, aber in der Ten­
denz erfreuliche Entwicklung ( vgl. Abbildung 5 ).
35 Personen ( 8 % ) gelang ein Aufstieg aus der untersten Kategorie
«Sozial­hilfe und keine Beschäftigung» in eine höhere Kategorie. Bei 20 ( 5 % )
zeigte sich eine Veränderung in Richtung verschiedener Formen einer Arbeits­
tätigkeit. 14 Personen gelang während der Behandlung im PPD ein Aufstieg
in die oberste Kategorie «Eigener Verdienst». Verglichen mit dem Grossteil der
Personen, welche Sozialhilfeempfänger bleiben, ist dies zwar nur ein kleiner
Anteil. Die Daten zeigen jedoch, dass positive Veränderungen möglich sind.
GAF-Werte
37
Abbildung 5| Verlauf
berufliche Integration (n=431)
Andere
Behandlungsbeginn
Behandlungsabschluss
Eigener Verdienst
SH= Sozialhilfe
IV = Invalidenversicherung
IV und berufliche
Massnahmen
IV und einfache
Tätigkeit
IV und keine
Beschäftigung
SH und Teillohn
SH und einfache
Tätigkeit
SH und keine
Beschäftigung
0
10
20
30
40
50 %
Mobile Tätigkeiten
2010 wurden 113 PatientInnen in 189 Einsätzen zu Hause besucht. Dabei
handelte es sich um 137 mobile Kriseninterventionen und 52 geplante Haus­
besuche ( vgl. Grafik ). Im Rahmen der mobilen Kriseninterventionen mussten
insgesamt 25 Fürsorgerische Freiheitsentziehungen ( FFE ), bei den geplanten
Hausbesuchen hingegen keine verfügt werden.
Abbildung 6| Mobile Tätigkeiten
52
137
Krisenintervention ausserhalb PPD
geplante Hausbesuche
lic. phil. August Seitz,
­Psychologe
im Sozialzentrum
Hönggerstrasse
39
August Seitz
Ein Nachmittag als Psychologe
im Sozialzentrum Hönggerstrasse
Im Folgenden möchte ich einen kleinen Einblick in die vielseitige Thematik
dieser Sprechstunden geben. Es handelt sich um das «Protokoll» eines Nach­
mittags. Die erste Fallvignette handelt von einer primär therapeutischen
Stunde, die zweite von der institutionellen Zusammenarbeit mit den Sozialen
Diensten, die dritte von einem Erstgespräch mit einer Klientin, die erst einmal
für eine psychologische Abklärung und Behandlung gewonnen werden muss.
Die letzte Stunde handelt von zwei Patienten: Beim ersten sind die Integra­
tionsmassnahmen auf gutem Wege, beim zweiten ist eine Arbeitsintegration
nicht möglich. Hier steht die Erhaltung der Wohnfähigkeit im Vordergrund.
Um 13.00 Uhr hole ich den ersten Patienten am Haupteingang des Sozial­
zentrums ab. Ausnahmsweise führen wir unser Therapiegespräch heute im
Sozialzentrum durch. Gemeinsam fahren wir im Lift hoch und ich bemerke,
dass Herr C.1 leicht nervös ist und schwitzt. Herr C. meidet soziale Kontakte.
Menschliche Begegnungen lösen bei ihm Stress aus, machen ihm Angst,
lassen ihn schwitzen. Manchmal gerät er sogar in Panik. Im November, gerade
als die Temperaturen fielen, wurden ihm Strom und Heizung abgestellt. Er
hatte längere Zeit die Rechnungen nicht bezahlt, weil er zu oft nicht zum
Briefkasten ging, die Begegnung am Postschalter scheute und das Betrei­
bungsamt ohnehin fürchtet. Herr C. berichtet nun, wie er kurz vor Weihnach­
ten, als die Wohnungstemperatur schon deutlich unter zehn Grad gefallen
war, seine Angst vor Begegnungen überwand und Holz für den alten Ofen
kaufte. Da er nun aber kein Geld mehr hatte, um Essen einzukaufen, musste
er sich nochmals überwinden und suchte den Sozialarbeiter auf, um
1
Initialen des Patienten geändert.
40
die Auslagen fürs Holz zurückerstattet zu bekommen. Er hoffte, dass der
Sozialarbeiter ihm gleich einen Check ausstellen würde. Als der Sozialarbeiter
die Rechnung entgegennahm, bemerkte dieser, dass er das Geld bei nächs­
ter Gelegenheit auf das Bankkonto überweisen würde. Herr C. sagte jedoch
nicht, dass er gleich einen Check möchte. Am Ende musste Herr C. bis
Anfang Januar ohne Geld auskommen und von dem Wenigen leben, was er
noch zu Hause hatte. Herr C. ist sehr verärgert. Er schimpft, der Sozialarbei­
ter hätte doch merken müssen, dass er sofort Geld brauche! Dass er es nicht
gemerkt habe, sei unprofessionell. Warum er denn selbst nicht gesagt habe,
dass er sofort Geld brauche? frage ich. Er sei ja nicht neu bei der Sozialhilfe
und wisse doch, dass Geldüberweisungen länger dauern können. Trotz seiner
Ängste und Hemmungen würde ich das von ihm erwarten. Herr C. entgegnet
daraufhin aufgebracht, dass das genau das sei, was die Sozialarbeiter gerne
hätten, bitten und betteln. Aber das würde er keinesfalls machen, er werde
nicht bitten und betteln, auf dem Boden kriechen und sich selbst erniedrigen !
Ich sehe, wie Herr C. von Emotionen, inneren Bildern und Erinnerungen auf­
gewühlt ist. Die Erregung ist deutlich, aber nicht übermässig. «Können Sie
denn nicht um etwas fragen oder bitten, ohne sich dabei zu erniedrigen oder
sich als Bettler zu fühlen?» frage ich in nachforschendem und zugleich ver­
ständnisvoll-konfrontierendem Ton, wohl wissend, wie schwer Bitten sein
kann und gerade für denjenigen, welcher sich in einer abhängigen Position
befindet. Herr C. reagiert betroffen. Er atmet tief durch, ist nachdenklich. Ja,
das sei schwer, das habe er sein Leben lang nicht können. Um etwas fragen,
um etwas zu bitten habe er stets als Erniedrigung erfahren! Sein Ärger auf
den Sozialarbeiter ist verflogen! Er sieht nun selbst ein, wie negative Erfahrun­
gen und Emotionen sein Verhalten bestimmt haben. Gemeinsam analysieren
wir dieses offensichtlich tief verankerte Verhaltensschema, dessen emotionale
Wurzeln (autoritär ablehnender Erziehungsstil der Eltern) und dessen kurzsowie längerfristigen Folgen (kurzfristig: Konflikt- und Angstvermeidung; län­
gerfristig: Aggressionsstau und sozialer Rückzug, um unkontrollierte Aggres­
sionsentladung zu vermeiden). Der Patient entwickelt nun selbst eine Idee
davon, wie er nächstes Mal seinen Wunsch sachlich und guten Mutes
41
formulieren könnte. Wird ihm dies gelingen? Die Chancen stehen gut, denn
sein Sozialarbeiter sei eigentlich ganz o.k. und habe ihm schon bei der Rege­
lung der Prämienrückstände bei der Krankenkasse geholfen und sei daran,
mit dem EWZ zu verhandeln. Er kann seinen Sozialarbeiter jetzt (wieder) in
einer realistischeren Weise sehen.
14.00 Uhr: Fallbesprechung mit einer Sozialarbeiterin. Es geht um eine Klien­
tin mit geringen Deutschkenntnissen. Sie leidet seit Jahren an Rücken- und
Beinschmerzen, welche von den Ärzten somatisch nicht erklärt werden kön­
nen. Ein Rentenantrag bei der IV wurde abgelehnt, die Klientin sei für leichte
Arbeiten voll arbeitsfähig und kein Versicherungsfall. Die Sozialarbeiterin hält
die Klientin jedoch aus psychischen Gründen für 100 % arbeitsunfähig.
Soll die Sozialarbeiterin den Entscheid der IV über den Rechtsdienst
überprüfen lassen? Ist das Gutachten, das uns aktuell nicht vorliegt, wohl in
allen Punkten korrekt? Wie soll die Sozialarbeiterin bezüglich Arbeitsintegra­
tion weiterfahren, so dass es dem tatsächlichen Gesundheitszustand der
Klientin gerecht wird? Um diese Fragen der Sozialarbeiterin zu klären, planen
wir gemeinsam folgendes Vorgehen: Mit der Klientin sollen psychiatrische
Abklärungsgespräche im PPD vereinbart werden unter Beizug einer Dolmet­
scherin. Weiter sollen die IV-Akten einbestellt, studiert und der Rechtsdienst
eingeschaltet werden – falls der psychiatrische Teil lückenhaft oder in ent­
scheidenden Punkten von unserer diagnostischen Beurteilung abweichen
würde. In diesem Falle könnte der PPD bei der Begründung eines Rekurses
mit relevanten Argumenten helfen. Es ist aber gut möglich, dass auch wir,
nach unseren Abklärungen in versicherungsrechtlicher Hinsicht, zu demsel­
ben Schluss kommen wie die IV. Weiterhin soll das Abklärungsgespräch dazu
dienen, die Klientin für allfällig indizierte psychotherapeutische Massnahmen
zu gewinnen und – wenn möglich – für erste Arbeitsintegrationsmassnah­
men, wie z.B einen gemeinnützigen Einsatz, zu motivieren und sie dabei zu
begleiten. Dazu werden wir die zuständige Sozialarbeiterin, welche gemein­
nützige Einsätze organisiert, einbeziehen und mit ihr ein möglichst genaues
Arbeitsprofil erarbeiten, das auf die Klientin zugeschnitten ist. Darüber hinaus
Patrizia Ingold,
Sozialarbeiterin,
Sozialzentrum
Albisriederhaus
«Die Zusammenarbeit mit unserer ‹Hauspsychologin›
Gabriela Nietlisbach erlebe ich als überaus bereichernd. In schwierigen Situationen kann ich sie hinzuziehen, sie ist gut erreichbar und die Zusammenarbeit
ist äusserst unkompliziert. Ich schätze insbesondere
ihre humorvolle Art und ihr Engagement, welche in
dieser oftmals schwierigen Arbeit unentbehrlich sind.
Die Hilfe von Gabriela und dem PPD ist stets kompetent und professionell. Für mich ist diese Unterstützung aus meiner Arbeit nicht mehr wegzudenken !»
43
ist es wichtig, dass wir die Unterstützung der langjährigen Hausärztin, einer
Landsmännin der Klientin, gewinnen, die ihr Vertrauen geniesst. Mit Einver­
ständnis der Klientin wird der PPD den Kontakt zu dieser Hausärztin
aufnehmen.
15.00 Uhr: Angemeldet ist die 22-jährige Frau F., die ich heute zum ersten
Mal sehen werde. Frau F. hat, laut Anmeldung der Beiständin, verschiedene
Integrationsmassnahmen wiederholt abgebrochen. Frau F. sei in verschiede­
nen Heimen platziert gewesen und zur Zeit obdachlos. Sie käme immer wie­
der einmal bei Bekannten für ein oder zwei Nächte unter, sei aber so andau­
ernd mit der Suche nach einer Unterkunft beschäftigt. Die Beiständin möchte
wissen, wie es um den psychischen Gesundheitszustand von Frau F. steht.
Frau F. erscheint diesmal (nach drei versäumten Terminen) pünktlich. Sie
verhält sich abweisend, trotzig, und gibt sich wortkarg, macht aber einen
intelligenten Eindruck. Sie beschreibt Migräneprobleme, häufiges Fieber,
wofür der Arzt keine somatische Ursache finde. Auch habe sie Einschlafstö­
rungen und Gedankenkreisen bezüglich Zukunft. An den Unterarmen hat sie
Narben von Schnitten, die sie sich selber zugefügt habe. Sie hat eine Lehre
abgebrochen und würde gerne eine Ausbildung in einem speziellen Bereich
des Detailhandel machen. Als sie bemerkt, dass ich dafür ein offenes Ohr
habe, ihr dies intellektuell zutraue und Überlegungen anstelle, wie man dies
trotz zu erwartender Schwierigkeiten in die Wege leiten könnte, wird Frau F.
lebendig. Nun ist sie am Gespräch interessiert und möchte einen neuen Ter­
min haben, um das Thema weiter zu verfolgen. Leider müsse sie nächste
Woche erst einmal in Haft, um VBZ-Bussen abzusitzen. Sie wolle sich nach
der Haft bei mir wieder melden.
44
16.00 Uhr: Herr E. ist noch nicht da. Eine Sozialarbeiterin kommt spontan
vorbei, erkundigt sich, wie es ihrem 23-jährigen Klienten, Herr U., gehe. Sie
hatte Herrn U. vor einigen Monaten angemeldet, da die Betreuer der Arbeits­
integration sehr unterschiedliche Rückmeldungen bezüglich der kognitiven
Leistungsfähigkeit von Herrn U. gaben. Die testpsychologische Abklärung
brachte Aufschluss (Teilleistungsprobleme), so dass berufliche Massnahmen
bei der IV beantragt wurden. Nun ist der junge Mann seit einem Monat in einer
Berufsabklärung der IV und arbeitet in einer Autowerkstatt. Davon habe er
immer geträumt und er nehme es in Kauf, dass er täglich um 05.30 aufstehen
müsse, weil der Arbeitsweg lang sei. Darüber sind alle erstaunt!
Herr E. ist immer noch nicht da. Er wird heute vermutlich nicht mehr
kommen. Das ist bei ihm nicht ganz ungewöhnlich; er ist medikamentenab­
hängig und erscheint des öfteren in schläfrigem Zustand. Stationäre Entzugs­
versuche sind mehrmals gescheitert. Danach nahm er noch mehr Medika­
mente ein, da seine Schmerzen, die durch ein Schleudertrauma ausgelöst
wurden, unerträglich waren. Ich erneuere für ihn eine Spitex-Verordnung, da
er auf Haushalthilfe angewiesen ist. Insgesamt hat sich bisher gezeigt, dass
der Klient mit Unterstützung der Sozialarbeiterin, der Spitex und dem PPD in
der Lage ist, seine Wohnfähigkeit zu erhalten. Eine teurere betreute Wohnform
war daher bislang nicht nötig.
«Der PPD bietet hohe fachliche Standards und einen Donald Ganci,
sehr niederschwelligen Zugang. Die Wertung erlaube Einrichtungsleiter
Jugendberatung
ich mir aufgrund der positiven Rückmeldungen ver- Streetwork, ­Soziale
mittelter KlientInnen. Meine Mitarbeitenden gelangen Einrichtungen
mit unterschiedlichen Anliegen an das Angebot des und Betriebe
PPD – sei es für Teamweiterbildungen, kurzfristig einzuleitende Triagen, Kriseninterventionen, enge Zusammenarbeit bei gemeinsamen Fällen oder einfach
nur ein Telefonat für eine Handlungsempfehlung – wir
bekommen immer umgehend und zuverlässig die
notwendige Unterstützung.»
PD Dr. med. Albert Wettstein,
Chefarzt Stadtärztlicher
Dienst
47
Martina Cesal und Albert Wettstein
Die bezirksärztlichen Hausbesuche
des Stadtärztlichen Dienstes
Eine retrospektive Auswertung der Jahre 2005 bis 20091
Von Martina Cesal1
In den Jahren 2005 bis 2009 unternahm der Stadtärztliche Dienst (SAD)
624 bezirks- oder amtsärztliche Hausbesuche bei 568 verschiedenen Perso­
nen. Ausgeführt wurden die Besuche hauptsächlich durch den Chefarzt Albert
Wettstein und bei seiner Abwesenheit durch die Psychiater und Stadtärzte
Christoph Held und Ulrich Erlinger.
Meldungen
Mindestens zweimal pro Woche erhält der Stadtärztliche Dienst einen Anruf
von verunsicherten Nachbarn, besorgten Angehörigen, von der Polizei oder
auch der Vormundschaftsbehörde. Sie bitten in der Regel um Hilfe für eine
Person, die ihrer Ansicht nach in Not ist, sich aber selber keine Hilfe holen
kann oder eine Unterstützung ablehnt. Es ist Aufgabe des Stadtarztes, sich
gegebenenfalls an Ort und Stelle genauer über das Problem zu informieren
und abzuklären, inwiefern Handlungsbedarf besteht.
1
Gekürzte Version einer Masterarbeit im Rahmen des Medizinstudiums an der Universität Zürich
48
Tabelle 1 zeigt die Meldeinstanz und den Meldegrund in
Abhängigkeit der Altersgruppe.
Alter
Anzahl
< 65-jährig
224
> 65-jährig
344
Meldeinstanz
in %
in %
Vormundschaftsbehörde
24
21
Angehörige
11
12
5
12
Soziale Einrichtung
13
11
Vermieter
Arzt
13
10
Polizei
7
9
Spitex
3
7
Beistand
7
4
Übrige
17
14
Auslöser
in %
in %
ungenügende Betreuung
11
23
Verwahrlosung
12
23
Verwirrtheit
0
10
22
6
Betagtenmisshandlung
2
5
Wohnungsausweisung
8
5
11
4
Aggressionen
4
4
Alkoholismus
3
2
Suizidalität
4
2
23
16
Verhaltensstörungen
Wahnvorstellungen
Übrige
Kommentar : Die Betagtenmisshandlung als Auslöser kommt auch bei den unter
65-jährigen vor. In diesem Fall sind sie Täter. Die über 65-jährigen sind die Opfer.
49
Tabelle 2 zeigt die Diagnoseverteilung und die durchgeführten
Interventionen.
Alter
Anzahl
Diagnose (ICD-10)
< 65-jährig
224
> 65-jährig
344
in %
in %
6
60
F1 Abhängigkeitserkrankung
19
5
F2 Schizophrenie
40
9
F3 Affektive Störung
12
5
F0 organisch, Demenz
F4 neurotisch, Zwang
3
4
F6 Persönlichkeitsstörung
4
1
F7 Intelligenzminderung
4
1
Keine
12
15
Intervention
in %
in %
Beistandschaft
13
28
Spitexeinsätze
7
19
27
12
FFE
2
10
Keine
Heimeinweisung
12
9
Ambulante Behandlung
13
5
Informelle Betreuung
1
4
Spitaleinweisung
3
3
Beratung
3
2
Betreuung Sozialdienst
5
1
14
7
Übrige
50
Diagnosen und Interventionen
Bei den unter 65-jährigen wurden am häufigsten eine Diagnose aus dem
schizophrenen Formenkreis gestellt, gefolgt von Abhängigkeitserkrankungen
( vgl. Tab. 2 ). Bei knapp einem Drittel der unter 65-jährigen musste eine Für­
sorgerische Freiheitsentziehung (FFE) ausgesprochen werden
Ein grosser Teil der über 65-jährigen erhielt eine Beistandschaft aufgrund
einer Demenz. Bei jeder fünften Person musste die Spitex eingeschaltet wer­
den, um die Pflege zu Hause sicherzustellen.
Diskussion
Dieser Überblick illustriert, mit welchen Problemen der Stadtärztliche Dienst
konfrontiert wird. Die betagte demenzkranke Frau, die in ihrer Wohnung nach
und nach verwahrlost, ist ebenso auf einen Besuch des Stadtarztes angewie­
sen wie der seine Nachbarn störende Alkoholiker und die psychotische Mut­
ter mit ihrem kleinen Kind. Viele dieser Patienten lehnen fremde Hilfe ab,
können aber nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden.
Der Stadtarzt kümmert sich nebenamtlich um solche Personen, obschon
deren Behandlung eigentlich im Aufgabenbereich der kantonalen Psychiatrie
läge.
In einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium sind viele Patienten nicht
mehr in der Lage, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Einigen bleibt
auch wegen unbezahlter Rechnungen oder wegen ihres unangepassten Ver­
haltens der Zugang zum Gesundheitswesen verwehrt.
In solchen Fällen wäre es wichtig, dass die vorbehandelnde Stelle den Kon­
takt aufrecht erhält, und zwar auch dann, wenn eine gefährdete Person meint,
ohne fremde Hilfe auskommen zu können. So könnten viele Notfallsituationen
und eine Entwicklung bis hin zum «point oft no return» verhindert werden. Wenn
der Stadtarzt gerufen wird, ist der Zustand einer Person oft schon so prekär, dass
freiheitseinschränkende Massnahmen nicht mehr zu verhindern sind. In weniger
gravierenden Fällen kann der bezirksärztliche Dienst soziale oder pflegerische
Stellen einschalten und so die Grundbedürfnisse der Patienten sicherstellen.
Die steigende Patientenzahl des SAD und des PPD zeigt deutlich, wie
gross der Bedarf nach aufsuchender ärztlicher Hilfe im kommunalen Umfeld ist.
51
David Briner
Gesundheitlichen Ungleichheiten
begegnen
In der Literatur finden sich viele Belege für den Zusammenhang zwischen
Armut und erhöhter körperlicher und psychischer Morbidität [1,2]. Eine 2007
durchgeführte standardisierte Erhebung der psychischen Belastung bei den
neuangemeldeten Sozialhilfeempfängern in der Stadt Zürich zeigte gegen­
über der Normalbevölkerung deutlich erhöhte Werte in den Bereichen Depres­
sivität, Ängstlichkeit, Somatisierung und paranoides Denken. Insgesamt
waren 20 % der neuen KlientInnen psychisch schwer belastet [3].
Diese Ergebnisse überraschen nicht. Es ist heute weitgehend unbestrit­
ten, dass die Gesundheit entlang des sozio-ökonomischen Gradienten stra­
tifiziert ist. Die Fülle empirischer Arbeiten zu den sozialen Determinanten von
Gesundheit lässt sich auf einen erstaunlich einfachen Nenner bringen: je
höher der sozio-ökonomische Status eines Menschen, desto besser seine
Gesundheit und desto höher seine Lebenserwartung [4,5]. Von einigen weni­
gen Ausnahmen wie Asthma oder Erkrankungen des allergischen Formen­
kreises abgesehen, sind Menschen umso kränker, je niedriger ihr Einkommen,
je geringer ihre Bildung und je schlechter ihr beruflicher Status ist. Dieser
Zusammenhang zeigt sich nicht nur bei den unteren Schichten, sondern bis
in die höchsten Stufen der sozio-ökonomischen Leiter. AkademikerInnen
leben länger als FachhochschulabsolventInnen, diese haben wiederum eine
höhere Lebenserwartung als Personen mit einer abgeschlossenen Berufs­
lehre und noch kürzer leben ungelernte Hilfskräfte.
Wie lassen sich diese Ungleichheiten im Gesundheitszustand erklären?
In der Literatur gibt es zusammengefasst drei Erklärungsansätze:
52
1. Selektionshypothese nach dem Prinzip «survival of the fittest»: Gesunde
haben mehr Chancen für einen sozialen Aufstieg, Kranke hingegen mehr
Risiken für einen sozialen Abstieg. Vereinfacht: Krankheit macht arm.
2. Erklärung durch Verhalten: Gesundheitsabträgliche Verhaltensweisen
oder Lebensstile sind sozial ungleich verteilt.
3. Erklärung durch strukturelle resp. materielle Faktoren: Ungleiche Vertei­
lung verschiedener umweltbezogener und psychosozialer Belastungen
und Ressourcen. Vereinfacht: Armut macht krank.
In der heutigen Debatte besteht Einigkeit, dass kein einzelnes Modell die
sozialen Determinanten der Gesundheit hinreichend zu erklären vermag. Die
Mechanismen der Selektionshypothese sind zwar im Grundsatz unbestritten,
fallen quantitativ aber viel zu wenig ins Gewicht. Es wird daher davon aus­
gegangen, dass sowohl Verhalten als auch Verhältnisse Gesundheit bedingen,
und zwar in einem komplexen gegenseitigen Wechselspiel.
Kindheit, sozialer Status und Gesundheit
Verschiedene Autoren [ 6,7,8 ] weisen darauf hin, dass ein gesundes und lan­
ges Leben das Ergebnis eines lebenslangen Entwicklungsprozesses sei. Die­
ser resultiert aus der Interaktion von biologischen, psychologischen und sozia­
len Einflüssen in verschiedenen Stadien des Lebens. Ergebnisse aus der
Lebenslaufforschung zeigen, dass
•
der soziale Status bei Geburt und in der Kindheit mit Gesundheitsbeein­
trächtigungen im späteren Leben und früherer Sterblichkeit assoziiert ist
und
•
der soziale Status die Wahrscheinlichkeit von multiplen Risiken zu unter­
schiedlichen Zeitpunkten von der Geburt bis ins hohe Alter determiniert.
53
Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten
Wie kann diesen Einflussfaktoren und Prozessen begegnet werden, um
gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren? Soziale Ungleichheiten können
zwar nicht vermieden werden, die gesundheitlichen Folgen dieser Ungleich­
heiten sollten jedoch gezielter angegangen werden. Die Commission on
Social Determinants of Health der WHO [ 4 ] betont die Notwendigkeit der
Verbesserung der täglichen Lebensbedingungen bei Armut und weist auf die
Bedeutung von Bildung und Einkommen als Grundlage für Gesundheit hin
(vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1| In
Richtung eines umfassenderen Modells
Economic and
political context
Social position
Governance
Education
Policy
(Macroeconomic,
Social, Health)
Occupation
Material
circumstances
Social cohesion
Income
Psychosocial factors
Cultural and social
norms and values
Gender
Behaviour
Ethnicity/Race
Biological factors
Health-Care system
Distribution
of health
and well-being
54
In der Gesundheitspolitik geht es immer noch in erster Linie um die Finanzie­
rung und Bereitstellung medizinischer Versorgungsleistungen. Es ist unbe­
stritten, dass die kurative Medizin einen hohen Beitrag für die Lebensqualität
und eine verlängerte Lebenserwartung leistet. Vernachlässigt werden jedoch
die Prävention und die vorgelagerten Determinanten der Krankheiten [ 9 ]. Eine
nachhaltige Gesundheitspolitik sollte deshalb bildungs-, arbeits- und sozial­
politische Massnahmen einbeziehen. Der deutsche Arzt Rudolf Virchow
brachte dies schon im Jahr 1848 auf den Punkt: «Die Medicin ist eine sociale
Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medicin im Großen.»
Literatur
1. Mangalore
R. Income-related inequality in mental health in Britain. Psychol Med.
2007; 37(7):1037– 45
2. Hong, J. et al. Income-related inequalities in the prevalence of depression and suicidal behaviour. World Psychiatry, 2011 Feb;10(1):40 – 4.
3. Briner, D., Guzek, P. Integrierte psychiatrische und soziale Versorgung. Abstract
DGPPN-Kongress Berlin, 2009
4. Commission on Social Determinants of Health. CSDH final report: closing the gap in
a generation: health equity through action on the social determinants of health.
Geneva: World Health Organization, 2008.
5. Buyx A. Wie gleich kann Gesundheit sein? Gesundheitswesen 2010;72:48 – 52.
6. Wadsworth M. Health inequalities in the life course perspective. Social Science &
Medicine. 1997; 44:859 – 869
7. Graham H. Building an interdisciplinary science of health inequalities: the example of
life course research. Social Science & Medicine. 2002; 55:2005 – 2016
8. Lampert T., Richter M. Kinder und Jugendliche: Ungleiche Lebensbedingungen,
ungleiche Gesundheitschancen. Gesundheitswesen 2006; 68(2):94 –100.
9. Richter M., Hurrelmann K. (eds.). Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. VS-Verlag, 2009
«Die Kooperation zwischen dem PPD und der Zürcher Barbara Willimann,
Fachstelle für Alkoholprobleme ZFA ermöglicht uns Geschäftsführerin,
Zürcher Fachstelle
seit April 2009 ambulante psychiatrische und sucht- für Alkohol­probleme
medizinische Dienstleistungen im Haus der ZFA an- (ZFA)
zubieten. Unsere KlientInnen profitieren dadurch von
einer niederschwelligen und nahtlos aufeinander abgestimmten medizinischen Versorgung sowie einer
umfassenden psychosozialen Behandlung. Auch der
interdisziplinäre Austausch stellt für alle Beteiligten
eine fachliche Bereicherung dar.»
obere Reihe vlnr :
Elisa Choi, Psychologin; August Seitz, Psychologe; Julia Würthner, Ärztin;
Amay Villazan, Fachärztin, Gabriela Nietlisbach, Psychologin; Fenissa Schlatter,
Psychologin; Nadja Monem, Ärztin, Silvana Keller, Administration
untere Reihe vlnr :
Barbara Ganz, Psychologin; Angelo Barrile, Arzt; Britta Platz, Sekretariat; Paul Guzek,
Oberarzt; Karel Kukal, Arzt; Jan Holder, Oberarzt; David Briner, Leiter