2 Probst- Die Renaissance der Pädagogischen Diagnostik (und
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2 Probst- Die Renaissance der Pädagogischen Diagnostik (und
Prävention durch Pädagogische Diagnostik und Förderung in der Grundschule (erscheint in Jahresheft 2006 Friedrichverlag) Holger Probst 13.09.2005 (2955 Wörter) 1. Kinder mit und Kinder ohne Vorkenntnisse Die Individualisierung der Lebenswelten hat zu einer nie gesehenen Heterogenität der Schulkinder geführt. Sie macht es Lehrkräften schwerer, ihre Lehrangebote gemäß Kenntnisstand und Interessen ihrer Schüler zu planen. So präsentieren sich bei der Einschulung Kinder die *singen, reimen, klatschen können, denen selbstverständlich ist, dass sie mit Büchern vergnügliche Stunden verbringen, die auf einem Bein stehen und ein Tuch mit den Zehen greifen können, Kinder die die Spielformate Lotto, Memory, Domino, Quartett etc. kennen. Im mathematikrelevanten Bereich des Vorwissens unterscheiden wir Kinder, die ihre Dinos der Größe nach aufstellen und ihre Flugzeugsammelkarten nach der Höchstgeschwindigkeit ordnen, für die fünf Smarties gleich viele sind wie fünf Dickmanns, denen es gleich gilt, mit welchen Fingern sie ihr Alter angeben, Kinder, die Wortpaare wie Anfang - Ende, doppelt - Hälfte, zusammenzählen – abziehen* etc. kennen von Kindern, die nur wenige anschlussfähige pränumerische Vorkenntnisse mitbringen. 2. Proximale und distale Vorkenntnisse – am Beispiel Mathematik Bei dieser Betrachtung entsteht die Überzeugung, dass Vorwissen (Beispiele in * *) mit Vorerfahrungen zu tun hat. Während erworbenes Wissen mäßige Intelligenzleistungen erstaunlich weitgehend kompensieren kann, stößt Intelligenz ohne Wissen und gute Lernhaltung schon im Grundschulalter an ihre Grenze (STERN 2001). Interessant sind hier sog. proximale Vorkenntnisse. Damit bezeichnet man Einsichten, Kompetenzen und Kenntnisse, die in einem direkten Zusammenhang zu dem anstehenden Lernziel stehen. Distale Vorkenntnisse dagegen sind solche, die in einem nur indirekten, vermittelten Zusammenhang mit dem Lernvorhaben zu tun haben. So sind zukünftige Fortschritte von Schülern im Rechnen wesentlich mehr durch die bereits erlangten numerischen Kenntnisse bedingt, als von der Intelligenz (s.o., siehe auch HELMKE 1999, KRAJEWSKI 2003). Nehmen wir als Beispiel Vorkenntnisse, die den Start in den Rechenunterricht erleichtern. Unterdessen versteht man unter Zählen deutlich mehr als das Aufsagen der Standardzahlwortreihe oder das Erkennen der Fünf auf dem Würfel: als proximale Kompetenzen gelten Mengenkonstanz, Kardinalzahlbegriff, simultanes Erfassen bis vier, das Klassifizieren und das Ordnen von Mengen nach ihrer Mächtigkeit; dazu kommt eine Art „numerische Bewusstheit“ nämlich die Aufmerksamkeit oder Ansprechbarkeit eines Kindes für quantitative Gegebenheiten wie fehlende/ vorhandene Elemente in einer Verpackung, Begriffe des (Ver-)Teilens und ein räumliches Vorstellen und Denken bei Anordnungen diskreter Elemente (Schokoladentafel, Eierpappe, Würfelbauten). In diesem Sinne gibt es Aufgabensammlungen (Tests) zur Früherkennung kommender Rechenstörungen (LORENZ 2003, KRAJEWSKI 2006, PROBST 2004). Für den weiteren Verlauf der Grundschule repräsentieren die DEUTSCHEN MATHEMATIKTESTS DEMAT 1,2,3,4 bundesweite curriculare Inhalte. Sie verschaffen rasch einen Überblick über Leistungsniveau und -profil möglicher Nachzügler in einer Klasse oder Jahrgangstufe. Bei den lernschwachen Kindern ist der Untersucher jedoch auf förderpädagogische Verfahren verwiesen, denn ab DEMAT 2+ sie leisten die Tests nicht das Aufdecken fehlender Grundlagen, sondern testen (nur) den curricularen Stoff der 2., 3., 4. Klasse selbst. Im mittleren Grundschulalter liegen Lücken meist bei der Zehner- und Hunderterbündelung (Positionssystem), bei den Maßeinheiten und betreffen die Logik der Multiplikation. Hier ist auch Fördermaterial zur Hand, das tatsächlich grundlegende numerische Erfahrungen vermittelt und Alternativen zum „Mehr desselben!“ der allfälligen Förderstunden bietet (z.B. Mathematik entdecken und Verstehen, Rechenzug von KUTZER). Bevor ab Ende der Klasse 1 die DEMAT-Serie 1-4 greift, bietet sich für die wünschenswerten Vorkenntnisse aus der Vorschulzeit der Test MENGENVERSTÄNDNIS UND ZAHLEN und das Training MENGEN, ZÄHLEN, ZAHLEN an (beides KRAJEWSKI 2006) Ein Blick in die Inhalte dieses Trainings und des Tests kann Lehrkräfte erster Klassen zu der Frage veranlassen, ob wirklich alle, auch ihre langsamen und schwachen Rechner diese Inhalte sicher beherrschen. Das Training gibt Lektionen in einem strikten Zeitformat mit täglich 20-30min Übungszeit über 10 Wochen vor. Sie beginnen mit der Semantik von viele – wenige, mehr – weniger, genug – zu wenig, führen die Kinder zur Vergleichsmethode des paarweisen Zuordnens, führen schrittweise die Zahlwortreihe ein und klären dabei den Unterschied von ordinaler und kardinaler Zahlbedeutung. Weitere Lektionen präsentieren spielerisch die Trios von Zahlwort, Menge und Ziffer, bahnen die Addition durch Mengenergänzen (counting on) bzw. Zahlzerlegung an. Jede neue Zahl wird mit verschiedenen, oft wiederholenden Spielformaten und Veranschaulichungen eingeführt. An der Frage Training oder Unterricht? scheiden sich oft die Geister in einerseits diejenigen, die den vorzahligen Anmarsch der Kinder nicht ohne mathematikdidaktisches Studium angeleitet sehen wollen. Ihnen ist das vorzahlige Curriculum zu sehr integraler Teil ihres mathematikdidaktischen Konzeptes als dass sie es Laien überlassen mögen, so KUTZER und WANIEK (1999) mit dem inhaltlich gerade auch den pränumerischen Bereich pflegenden Unterrichtswerk MATHEMATIK ENTDECKEN UND VERSTEHEN. Auf der anderen Seite ist MENGEN, ZÄHLEN, ZAHLEN (KRAJEWSKI 2006) ein laien-sicheres Training, das einen Satz erwiesen effizienter und kognitionspsychologisch bestens ausgewiesener Spiel- und Übungsformen für vorzahlige Kompetenzen anbietet. Ich denke, dass angesichts oft fachfremden Unterrichtens und angesichts oft als zunächst umgrenzt erkennbarer Schwierigkeiten von Kindern gezielte Trainings/ Förderprogramme zum Instrumentarium präventiver Grundschularbeit gehören. 3. Vorhersagen und Vorsorgen im Lernfeld Schriftsprache Auch für Lesen und Rechtschreiben wurde erwiesen, dass einschlägige proximale Vorläuferfähigkeiten frühzeitig jene Kinder indizieren, die zwei Jahre später zu den erfolgreichen Lernern oder aber zur Schleppe der nachhängenden (LRS-) Schüler zählen werden (MARX 2000). Das sichere Vorhersagen von Erfolg oder Versagen, auf das psychologische Untersuchungen so stolz sind, kommt mitunter bei Pädagogen nicht so gut an. Denn statt vorherzusagen und die schlechten Schüler ins Unglück laufen zu lassen, wären doch die rechtzeitige Hilfe und das Abwenden des Misserfolges angebracht! Gewiss, aber der Nachweis der prognostischen Gültigkeit ist die Voraussetzung dafür, Schritte der Prävention (sekundäre Prävention, nämlich für eine Risikogruppe) künftig begründet einzuleiten. Damit ist geklärt, dass spezifische proximale Diagnostika mitsamt einer zugeordneten Trainings- oder Fördermaßnahme helfen können, die schlecht vorinformierten Kinder zunächst zu zu erkennen und dann präventiv fördern. Ein solches Duo ist das BIELEFELDER SCREENING (BISC) mit dem zugeordneten Training HÖREN LAUSCHEN LERNEN (oder der PC-Version LAUSCHEN, REIMEN, SILBENTRENNEN) Der Test erfasst im Vorschulalter die Aufmerksamkeit und Fähigkeit des Kindes, Klangeigenschaften gesprochener Wörter zu beachten und zu unterscheiden. Die Inhalte von Test und Programm inszenieren auf der auditiven Seite das Erkennen von Reimen, Anlauten, Silben, Wortgrenzen, Phonemfolgen, aber auch Lese-Schreibhelfer wie schnellen Abruf einfacher Informationen aus dem Langzeitgedächtnis oder den (visuellen) Merkmalsvergleich zwischen Wortgestalten. BISC hat höchste Vorhersagekraft für Lese-Rechtschreibversagen über zwei Jahre. Der Test erfasst eine Vorläuferfähigkeit, welche die klassische/ konventionelle Einschulungsdiagnostik hinter ihrer Fixierung auf die vorwiegend visuell verstandene „Gliederungsfähigkeit“ nicht sah; jedoch fordert unsere lautdarstellende Schrift stärker den auditiven Kanal, so dass weniger das Wortbild (die visuelle Wortform) als der Wortklang (die phonologische Wortform) und seine Analyse das Tor zum LesenSchreiben öffnen. Genauigkeit und Gültigkeit des BISC haben ihren Preis: notwendig ist Einzeldarbietung mit der Dauer von 40 Minuten. Für nur einen (wenn auch höchst relevanten) Aspekt der Diagnose von Schulbereitschaft ist dies ein hoher Aufwand. Die TESTAUFGABEN ZUM EINSTIEG IN DIE SCHRIFTSPRACHE bieten eine Sammlung, die eine breitere Auswahl von Vorkenntnissen der Schriftsprache mit weniger Zeit und Aufgaben (und damit weniger genau) erfasst. Der phonologischen Bewusstheit widmet sich mit einer stärkeren pädagogischen und weniger empirisch-quantifizierenden Orientierung auch das Diagnostikum „Rundgang durch Hörhausen“, ein Erhebungsverfahren zur phonologischen Bewusstheit mit dem zugeordneten Training „Leichter lesen und schreiben lernen mit der Hexe Susi“ (MARTSCHINKE, KIRSCHHOCK & FRANK 2004, FORSTER & MARTSCHINKE 2003). Es ist interessant zu sehen, dass die Übungen – auch in HÖREN LAUSCHEN LERNEN – denen aus der guten alten Kinderstube ähneln. Schon ein Blick in diese Übungshefte würde Grundschullehrer anregen, sich einiger Kinderlieder zu besinnen und die Weisheit der „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ (Lautsubstitution) und der kleinen Wanze auf der Lauer (Phonemsegmentierung/ phonologisches Rekodieren) neu zu entdecken. Der Förderung auditiver Sprachwahrnehmung dient auch das Computerprogramm AudioLog 3 (www:FLEXOFT 2003), das in Bild und Klang alle erdenklichen Hör-Differenzierungs- und Aufmerksamkeitsübungen sehr motivierend gestaltet trainiert. Eigentlich ist phonologische Bewusstheit als Vorläuferfähigkeit gedacht, die Kinder für den Schreib-Lese-Lehrgang bereits mitbringen sollten. Trotzdem kann es sinnvoll sein, Kinder mit schlechtem Schreib-Lese-Start bis in die erste Klasse hinein mit BISC zu testen. Sonderpädagogische Erfahrungen zeigen, dass bis in Klasse 2 Kinder in der Schleppe schwächster Schriftsprachler z.B. die Laut(paket)e /F/ ---/ isch/ nicht zu /Fisch/ synthetisieren können und auch unsicher sind, ob sie den Laut /u/ in /Oma/ hören, wie es BISC-Items erfragen. 4. Lautmanipulation und Graphem-Phonem-Bezug für Fortgeschrittene Die Fortsetzung der phonologischen Bewusstheit liefert der Test BAKO1-4, der BASISKOMPETENZEN DER WAHRNEHMUNG testet. Er stellt Aufgaben der Phonemmanipulation und damit der Hohen Schule der Lautanalyse. Auch hier ist man an die Sprachspielereien fitter Kinder erinnert, denn die Testkinder sollen (z.T. Phantasie-) Wörter rückwärts aussprechen, Laute weglassen, umkehren oder durch andere ersetzen. Der Zusammenhang dieser Lautmanipulation mit der Rechtschreibnote ist erstaunlich eng. Denn die Fähigkeit dazu entwickelt sich mit der Schreiberfahrung im Verlauf der Grundschule Hand in Hand mit der Rechtschreibung weiter. Die Durchführung des BAKO in einer Grundschulklasse offenbart, welche uns unerkannte Kompetenzen die Fortschritte guter Schreiber flankieren. Bei schlechten Schreibern zeigt ihr BAKO-Ergebnis, wie löcherig das Netz ihrer Ressourcen ist, mit dem sie RS-Anforderungen bewältigen sollen (Wortschatz, Weltwissen und analoges Denken sind weitere stille Zulieferer zum guten Schreiben). 5. Ungewöhnliche Testaufgaben zeigen Grundlagen der Lesekompetenz Einige neue Testverfahren öffnen den Blick für tiefer liegende Kompetenzen und Aspekte schriftsprachlicher Leistungen, indem sie neuartige Konstrukte operationalisieren. So zeigen KNUSPELS LESEAUFGABEN, ob ein Kind eine nichtexistierende („falsche“) orthografische Wortform nach deutscher „Aussprache“ (Phonotaxis) lautiert und darauf sagen kann, ob es dieses Wort gibt. „Bitte lies dieses Wort: Wesche / Schulle / Hüner / Middel/.... Hört sich das an, wie ein Wort das du kennst? (1, 3 ja; 2, 4 nein). Zweites Beispiel: Kann das Kind eine orthografische Wortform korrekt lautieren und daraufhin sagen, ob sich zwei Minimalpaarlinge gleich anhören? „Du sollst diese Wörter leise lesen und vergleichen, ob sich die beiden Wörter ganz gleich anhören: Lieder – Lider; Wall – Wahl; Hemd – hemmt....“ (ja, nein, ja) Diese Testaufgaben mögen spitzfindig erscheinen. Aber sie decken auf, welcher Ressourcen sich kompetente Leser auch angesichts ungewöhnlicher Aufgaben bedienen können. Und bei den ganz Schwachen zeigen sie – leider schonungslos – ihre Hilflosigkeit, wenn sie auf eine Modalität, hier: auf den Graphem-Phonem-Bezug beschränkt sind, und wenn weder Kontext, noch Erinnerung an das Wortbild ihnen helfen können. Hier ein drittes Beispiel für eher unübliche Prüfungen der Schriftsprachkompetenz: Die Schüler schreiben eine Liste diktierter Kindernamen: Gabi Ruppel, Ilona Kehl, Toni Wocken..... Es sind klangtreue Vornamen (nach dem Konsonant-Vokal-Prinzip aufgebaut) und Nachnamen mit orthografischen Partikeln, also Buchstabenverbindungen für die nicht der naive Graphem-Phonem-Bezug gilt. Fitte Grundschüler in Klasse 4 schreiben alle Namen erwartungsgemäß, die Schlechteren nur die Vornamen, die Schwächsten machen auch hier Fehler. Das Namendiktat bildet zwei Subtests aus einem Rechtschreibtest (INVENTAR IMPLIZITER RECHTSCHREIBREGELN), der den Zugriff auf orthografisch relevante, fehlerträchtige Partikel (Wortsegmente) prüft. Dies sind z.B. die leidigen Affixe ver-, vor-, ge- und -ig, -et, -ung mit ihrer Nahtstelle zum Wortstamm, die einen hohen Anteil der Fehler schwacher Schreiber ausmachen. Zu diesem Test passen/ gehören zwei, drei Fördermaterialien, deren Kapitel Fehlerschwerpunkten zuzuordnen sind (ERST NACHDENKEN, DANN SCHREIBEN; DENKEN SPRECHEN SCHREIBEN, auch das lange bewährte WORTLISTENTRAINING WLT ist hier zu empfehlen; die Tests der HAMBURGER SCHREIBPROBE HSP 1-9 verweisen ebenfalls auf diese Fördermittel). Diese nicht erschöpfenden Hinweise auf neue, neuartige Testverfahren sollen anregen und vor Augen führen, dass die lange erhobene Forderung, einer Diagnose sollen auch Maßnahmen der Abhilfe folgen, einige Tandems von Test und Treatment zusammengebracht hat. Sie können Lehrende anregen, „extracurricular“ Fehlerschwerpunkte anzugreifen, z.B so: Ein klassenweise durchgeführter Rechtschreibtest erweist, dass eine Gruppe von Schülern viele Fehler durch Verletzen des Stammprinzips bei Umlautung oder bei Auslautverhärtung macht; andere schreiben zuviel fer- und for-, wieder andere unterscheiden nicht Lang- vs. Kurzvokale. In den o.g. RS-Materialien finden sich jeweils Übungsblätter für diese Fehlerschwerpunkte. 6. Lesen in Mindestgeschwindigkeit Bloße Lesegeschwindigkeit ist wahrlich kein erstrebenswertes Lernziel, denn manche Lesefertigkeit verbirgt mangelndes Sinnverständnis. Aber unterhalb einer MindestLesegeschwindigkeit leidet die Sinnentnahme; das Arbeitsgedächtnis kann nur begrenzte Zeit die erlesenen Grapheme frisch halten, muss das aber so lange, bis das Wort entschlüsselt ist. Zwei einfache und sehr kurze Lesetests (< 10min für die gesamte Durchführung) können Klarheit schaffen: WÜRZBURGER LEISE LESEPROBE WLLP und SALZBURGER LESESCREENING (SLS, beide für Klassen 1- 4) messen die Zügigkeit beim sinnentnehmenden Lesen. Heraus kommen kann der Tipp, den schnellen Abruf bekannter Wortbilder aus dem Langzeitgedächtnis (und die Segmentierung langer Wörter in handliche Teile) zu trainieren. Fördermethoden zur Beschleunigung des Lesens bieten sich an (z.B. WEMBER, 1999). Während diese Verfahren sehr ökonomisch in der Gruppe durchzuführen sind, ist für eine detailliertere Einzelfalldiagnose die HAMBURGER LESEPROBE HLP zu empfehlen, die für jedes Grundschuljahr angemessene Wortlisten und Texte bereithält und sowohl Lesefertigkeit (= Geschwindigkeit) wie auch Sinnentnahme zu beurteilen und an groben Normen zu vergleichen erlaubt. 7. Jenseits von Deutsch und Mathe An der Oberfläche von Lernschwäche in der Grundschule erscheint immer und zunächst das Versagen in Deutsch und Mathematik. Obwohl Lehrkräfte weitere Kompetenzen in der Vorgeschichte oder im Umkreis der Lernschwäche wahr- und wichtig nehmen – wie motorische Geschicklichkeit, Sprachvermögen und besonders „die Wahrnehmung“ – spielen diese Fähigkeiten beim offiziellen Verdacht auf Lernversagen nie eine auslösende oder dann gar entscheidende Rolle. Darum ist auch das Augenmerk der diagnostischen und der Förderverfahren auf die Hauptfächer konzentriert – vielleicht auch reduziert? Da es hier gilt, den diagnostischen Blick der Grundschullehrkräfte zu ermutigen, sei noch – informierend bis empfehlend – auf Verfahren für jene „zweitrangigen“ Bereiche geschaut. Motorische Geschicklichkeit, Koordination und Ausdauer sind bei Blick auf die schicksalhaften Hauptfächer der Grundschule zweifellos distal – also ohne direkten Bezug oder gar Auswirkung auf diese. Jedoch drücken sich Entwicklungsstörungen des Lernens und der Sprache in aller Regel auch in geminderter Spiel- und Bewegungsfreude sowie in geringerer körperlicher Belastbarkeit aus. Psychosoziale Risikolagen von Kindern reduzieren nicht nur deren Vorkenntnisse, sondern auch ihre Bewegungserfahrung, -übung und -ausdauer. Ein einfacher und sogar ökonomisch auszuführender Test für die körperliche Leistungsfähigkiet von Kindern des Grundschalters ist der ALLGEMEINE SPORTMOTORISCHE TEST AST 6-11 (BÖS 2000). Wenn der Testparcours einmal in der Turnhalle aufgebaut ist, lässt sich zügig eine Klasse oder ganze Jahrgangsstufe testen. Man erhält für jeden Schüler ein Profil mit seiner Körperkoordination, seiner Schnellkraft/ Schnelligkeit und seiner Ausdauer (6-Min-Lauf, ähnlich wie COOPER-Test). Die bisherigen Ergebnisse zum epochalen Trend der körperlichen Leistungsfähigkeit erlauben die Daumenregel, dass jedes Jahr die Generation Grundschüler in sechs Minuten 10m weniger weit rennen kann, als die vorhergehende. Jeder neuen Schülergeneration geht also früher die Puste aus, es schwindet ihre aerobe Ausdauer. Wenn uns die Leistungsfähigkeit unserer Grundschüler genauer zu interessieren beginnt, verdient im Kontext von Übergewicht, Rückenbeschwerden, Asthma und Infektionsanfälligkeit der körperliche Leistungsstatus diagnostische Aufmerksamkeit. Über die Schreibmotorik/ Graphomotorik im Einschulungsalter informiert das GRAPHOMOTORISCHE KOMPLEXBILD; es prüft die Elemente der Blockschrift und die weiteren graphomotorischen Grundmuster der Schreibschrift. Die zu ergänzende Malvorlage ist motivierend und gibt auch Aufschluss über die visuelle Aufmerksamkeit; mit dem Marburger Graphomotorischen Training ist dem Test ein Übungsmaterial zugeordnet, das schreibmotorisch unerfahrenen Kindern weiterhilft. 8. Testergebnisse und wie weiter? 1. Grundschullehrkräfte dürfen und sollen die hier empfohlenen Testverfahren anwenden. Die normierten Schulleistungstests basieren zwar auf einem statistischen Modell, das (noch) nicht Inhalt der Regelschullehrerausbildung ist. Aber alle Testhandbücher erklären den elementaren Normwert Prozentrang (PR), so dass man auch ohne Spezialkenntnisse ein Testergebnis verstehen und interpretieren kann. So gilt für die erwähnten normierten Tests, dass ein Schüler mit einem Prozentrang von z.B. PR = 5 zu den 5 % schlechtesten/ schwächsten Schülern seiner Klassenstufe (oder Altersgruppe) gehört. Ein PR von 85 würde bedeuten, dass dieser Schüler nur von 15 % jahrgangsgleicher Schüler übertroffen wird. Um ihn braucht man sich keine Sorgen zu machen. Aber bis zu welchem Wert muss man sich Gedanken in Richtung notwendiger besonderer und präventiver Förderung eines Schülers machen? Grenzwerte für Lernversagen in bestimmten Fächern, die hierzu vorgeschlagen werden, streuen breit von PR 1 oder 3 bis 15 oder gar 20. Man könnte also je nach Strenge des Kriteriums von 1, 3, 5, 10 oder x % der schlechtesten Schüler sagen, dass der Grad ihrer Minderleistung besondere Maßnahmen erfordert. Was daraufhin ansteht, ist eine pädagogische (keine testpsychologische), also auch eine Ressourcenentscheidung. Die Fördermethoden jedenfalls stehen bereit. 2. Mehrere der vorgeführten Testverfahren bieten Aufgaben, deren Format und Anforderung LehrerInnen überraschen und auch skeptisch stimmen mögen, weil ihre Relevanz oder Fairness nicht spontan einleuchten. Aber auch wenn Testitems prima vista nicht schulischen Aufgaben ähneln, so ist erstens ihre Gültigkeit für eine Aussage zum Lernerfolg empirisch erwiesen. Zum zweiten spricht für die Testaufgaben, dass sie und ihre Ergebnisse Anlass zu Fragen und überraschenden Aussagen wie diese bieten können: • A. liest objektiv sehr langsam. • B. ist nicht sicher im Vergleich von Wortpaaren mit minimalen Klangunterschieden. • C. kann sich nur schwer die Lautfolge eines Wortes vergegenwärtigen. • D. errät das Wort nach seinem Anfang und denkt sich den Rest – oft falsch. • E. zieht keine Analogien aus bekannten Wörtern für das Schreiben unbekannter Wörter heran. • F. legt in sechs Minuten nur 350 m zurück! Ihm droht früher Herzinfarkt. Somit können Testergebnisse das Können und Versagen von Kindern aus einer anderen Sicht als der im Unterrichtssetting gewohnten beleuchten. Es mag darum heilsam sein, seine Schüler mit einem fremden Maß zu messen, das mit seiner Aufgabenstellung ungewohnte Aspekte einbringt. Wenn dann auch Übungsmaterial bereitsteht, kann Grundschule ihre präventive Arbeit ausbauen. Verzeichnis der erwähnen Tests und Förderprogramme • Allgemeiner Sportmotorischer Test AST 6-11 • AudioLog 3 (www:FLEXOFT 2003) PC-gestützes Programm zur Förderung der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung • Aufgaben zum Einstieg in die Schriftsprache. Eine standardisierte Aufgabensammlung für die phonologischen und linguistischen Vorkenntnisse der Schriftsprache (Persen Verlag, Probst 2004) • Basiskompetenzen der Rechtschreibung von Klasse 1-4 (BAKO1-4) • Denken, sprechen schreiben Roosen & Grissemann • Der Rundgang durch Hörhausen, ein Erhebungsverfahren zur phonologischen Bewusstheit mit dem zugeordneten Training Leichter lesen und schreiben lernen mit der Hexe Susi (Martschinke, Kirschhock & Frank 2004, Forster & Martschinke 2003) • Deutsche Mathematiktests DEMAT 1+,2+,3+,4. • Erst nachdenken, dann schreiben; Ch. Laetsch-Bregenzer • Graphomotorische Testbatterie GMT • Hamburger Schreibprobe HSP 1-9 • Hören Lauschen Lernen (oder PC-Version Lauschen, reimen, Silbentrennen • Mathematik entdecken und Verstehen, Rechenzug nach R. Kutzer, • Mengen, zählen, Zahlen. Programm zur vorschulischen Förderung der Mengenbewusstheit und Zahlen (Krajewski 2006) • Salzburger Lesescreening SLS 1-4 für 1- bis 4 Klassen • Wortlistentraining WLT • Würzburger Leise Leseprobe WLLP Prof. Dr. Holger Probst Fachbereich Psychologie der Justus-Liebig-Universität Otto-Behaghel-Str. 10 F 35394 Giessen