Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht
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Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht
Ludwig-Maximilians-Universität München 24. Mai 2007 Institut für Kunstgeschichte Hauptseminar im Sommersemester 2007: „Vincent van Gogh und die Tradition der Moderne des 20. Jahrhunderts bis hin zu Gerhard Richter und Joseph Beuys“ Dozenten: Prof. Dr. Rainer Crone, Prof. Dr. Martin Faessler Referent: Jan Salewski Pablo Picasso (1881 – 1973), Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht, 1912 1. Von „Les Demoiselles d’Avignon“ (1907) zur Collage im Kubismus (1912) Im Atelier Picassos sieht der junge französische Künstler Georges Braques (1882 – 1963) Ende 1907 Picassos Demoiselles d’Avignon. Erst ein Jahr später werden die beiden Künstler zu engen Freunden. Sie vertreten ähnliche künstlerische Ansichten, beschäftigen sich mit denselben kunsttheoretischen Fragestellungen. Beide Künstler entwickeln, einzigartig in der Kunstgeschichte, durch ihre Zusammenarbeit gemeinsam eine neue Stilrichtung, den Kubismus. Ausgehend von der Formensprache des Bildnisses der Demoiselles d’Avignon entwickelte sich in Picassos Werk stufenweise der Kubismus mit seinen analytischen sowie synthetischen Ausprägungen. ● Drei Frauen, Herbst 1907 bis Ende 1908 → Zeichnung hat nicht mehr die Unabhängigkeit vom Motiv wie noch zuvor bei Picasso. Linien und Farbflächen schaffen jetzt geometrisierende Gebilde. → Perspektive wird weiter aufgebrochen, unterschiedliche Blickpunkte werden vereint. → Aus der Gegenstandsformung abgeleitete Flächen und Felder beginnen sich räumlich zu entwickeln. ● Haus im Garten (Landhaus mit Bäumen), August 1908 oder Winter 1908/09 → Prinzip der autonomen Verräumlichung wird aufgenommen, daraus Entwicklung von Formen, die einen stereometrisch stilisierten Eindruck hinterlassen. → Auch Braque kam im gleichen Sommer zu einer Auflösung der Gegenstands- und Raumkonstruktion (seine Arbeiten aus L’Estaque, z.B.: Bäume in L’Estaque, 1908). → Deutliche Inspiration Braques und Picassos durch die Landschaften Paul Cézannes. → Im Herbst desselben Jahres äußert der Künstler Henri Matisse anlässlich des Herbstsalons in Paris, zu welchem Braques Landschaften nicht zugelassen werden, gegenüber dem Kunstkritiker Louis Vauxcelles, dass Braques Bilder aus lauter kleinen Kuben (franz. cubes) bestünden. Vauxcelles verwertet diese Beschreibung in einer Kritik bezüglich einer Ausstellung Braques in der Galerie Kahnweiler in Paris im November 1908. Einige Monate später nennt er diesen Stil „kubistisch“, Ende 1909 ist der Ausdruck bei Malern und Kritikern in Gebrauch, 1911 offiziell anerkannt. ● Ziegelfabrik in Tortosa (Fabrik in Horta de Ebro), Sommer 1909 → Unter dem Eindruck des südlichen Lichts gelangt Picasso zu Bildern, die perspektivische Konstruktionen und optische Phänomene als Kompositionsgeflecht von geometrisierenden Formen und tonalen Farbabstufungen begreifen. ● Frau mit Birnen (Fernande), Sommer 1909 → Anhand des Porträts Analyse der Möglichkeiten der Formzerlegung. → Raumhaltige Zonen der menschlichen Gesichtspartien, die durch das Gegeneinander von Nase, Mund, Wangen, Stirn und Augen entstehen und in Licht und Schatten zerfallen, werden zu einem Gefüge aneinander stoßender Flächen. → Vereinfachung der Farbgebung schreitet voran. ● Kopf einer Frau (Fernande), Bronze, Herbst 1909 → Neue künstlerische Fragestellungen beschäftigen Picasso auch in Bezug auf die Plastik → Plastisches Volumen aus etwa gleich großen einzelnen Formpartikeln zusammengesetzt. ● Bildnis Ambroise Vollard, Frühjahr (bis Herbst) 1910 → Anwendung des Prinzips der Formpartikel nun auf bildmäßige Weise. Zerlegung des Raums und Zersplitterung der Bildfläche in Facetten. → Linien werden willkürlich fortgesetzt, keine Begrenzung, sie gewinnen an Eigenleben. → Tendenz zur Monochromie in dominant grauen und braunen Tönen. → Der Gegenstand ist zerlegt, analysiert (Analytischer Kubismus). → Herkömmliche Aufteilung eines Bildes in Vorder-, Mittel- und Hintergrund, die Abgrenzung von Motiv und Umwelt, ist überwunden. Tendenz zur Flächigkeit. → Simultane Darstellung mehrerer Ansichten eines Objektes als objektivierte, allseitige Darstellung tritt an die Stelle der subjektiven Ansicht von einem Blickwinkel aus. ● Akkordeonspieler, Sommer 1911 → Picasso (genauso wie Braque zu dieser Zeit) führt die reine Virtuosität des malerischen Handwerks an die Grenze der reinen Abstraktion. Werke werden zu hermetischen Gebilden von Formrelationen. → Lediglich die Bildtitel sowie assoziative Bildelemente geben zu dieser Zeit bei Picasso und Braque Aufschluss über das Dargestellte. ● Stillleben auf einem Klavier, Sommer 1911 bis Frühjahr 1912 → Georges Braque verwendete schon ab 1909 einzelne Buchstaben, dann auch ganze Worte in seinen Bildern. → Während bei Braque der Wortsinn erhalten blieb, führte Picasso dieses Vorgehen auf eine weitere Sinnebene. → So fungiert die Inschrift „CORT“ als Assoziation an den Pianisten Alfred Cortot. ● Violine und Trauben, Frühjahr bis Sommer 1912 → Illusionistisch mit Metallkamm gemalte Holzmaserung (Innovation Braques). → Höhere Ebene der Manipulation, der bildnerischen Illusion. → Nicht nur Wiedergabe des Gegenstandes, sondern auch seiner stofflichen Beschaffenheit. Hierin wird deutlich wie sich der Kubismus gewandelt hatte. Aus einer „einfachen“ Auflösung der Nachahmungsrolle des Bildes war jetzt eine Kunst geworden, die im Zeichensystem Bild die Willkür der Zeichen zeigt. Nachdem der analytische Kubismus an die Grenze der Abstraktion gelangt war, wird die Bildwelt des Kubismus seit 1912 durch die Integration handwerklicher Techniken auf neue Grundlagen gestellt. Für künstlerische Malerei fremde Materialien und Anwendungsverfahren aus dem alltäglichen Malerhandwerk werden nun getestet (Schablonen, Sand, Gips), welche eine komplett neue Erfahrbarkeit von Stofflichkeit zuließen. 2. Pablo Picassos „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“ (1912) 2.1. Bildbeschreibung Pablo Picasso, „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“, Mai 1912, Öl auf Wachstuch auf mit Schnur eingerahmter Leinwand, 29 x 37 cm, Paris, Musée Picasso Auf der horizontal ovalen Leinwand, welche durch ein Seil gerahmt ist, wird ein Stillleben, welches ungefähr zwei Drittel des Bildbereiches einnimmt, durch ein querrechteckiges Feld im unteren Bildraum ergänzt, das ein Rohrstuhlgeflecht zeigt. Die Bildelemente füllen das ovale Format gänzlich aus, werden im oberen Bildraum zum Teil angeschnitten. Alle Gegenstände des Stilllebens sind aperspektivisch aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt, die Ansichten des Repräsentierten überlagern sich zum Teil, sind gebrochen. Im Stillleben lassen sich im linken oberen Bereich Papierblätter identifizieren, auf welchen ein Pfeifenmundstück bzw. das Endstück einer Pfeife perspektivisch darüber versetzt zu finden sind. Über die Blätter verteilt befinden sich in schwarzer Farbe die Buchstaben „JOU“. Im mittleren oberen Bereich können aus verschiedenen Perspektiven, wiederum versetzt, die Formen eines Kruges ermittelt werden. Unterhalb hiervon sind Ansichten eines Weinglases, z.B. ein Fuß, Kelch abgebildet. Im rechten Bildbereich erkennt man ein Messer sowie vermutlich eine Zitronenschale. Darunter befindet sich ein weiteres Objekt, welches schwer zu bestimmen ist, eventuell eine Eierschale. Alle Objekte, welche schwarz konturiert sind, können lediglich ihrer Form nach bestimmt werden. Die Farbgebung der Gegenstände des Stilllebens erscheint autonom und beliebig, es herrschen Schwarz-, Grau-, Braun- sowie Weißtöne vor, die nur teils dazu beitragen können die Gegenstände zu identifizieren. Bezüglich des Feldes unten links, welches ein Rohrstuhlgeflecht zeigt, kann zunächst nicht bestimmt werden, ob es sich um ein gemaltes Rohrstuhlgeflecht bzw. einen Druck handelt, es hat realen Charakter. Vom Stillleben der oberen Bildhälfte ist das Rohrstuhlgeflecht oben und rechts geradlinig getrennt, wobei aus dem oberen Bildbereich zwei Farbflächen, Schattierungen, diagonal über die Darstellung des Rohrstuhlgeflechts reichen. Das Rohrstuhlgeflecht wird unten horizontal von einer braun-schwarzen Linie durchschnitten sowie zur linken Seite vertikal umrandet. 2.2. Bildanalyse Die Gegenüberstellung eines Stilllebens, im analytisch kubistischen Stil, sowie eines weiteren, „autonomen“, Bildfeldes, ein Rohrstuhlgeflecht abbildend, kann bis dato weder im Werk Picassos, Braques noch eines anderen Künstlers beobachtet werden. Nicht allein die innovative Kombination stellte die damaligen Sehgewohnheiten auf die Probe, sondern vor allem die Darstellungsweise des Rohrstuhlgeflechts selbst. Eine Reproduktion des Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht betrachtend rätselt man, ob dieses Rohrstuhlgeflecht real, gedruckt oder gemalt sei. Nun weiß man, dass es sich bei der Darstellung des Rohrstuhlgeflechts um ein bedrucktes Wachstuch handelt. So integrierte Picasso erstmals ein Massenprodukt, das zum Bekleben von Stuhlsitzflächen gedacht war, in eines seiner Bilder. Picasso hatte auf diese Weise die erste Collage (franz.: le collage: das An-, Aufkleben) kreiert. Indem Picasso ein Objekt der Realität, dem täglichen Leben, in ein ansonsten traditionell ausgeführtes Ölbild auf Leinwand einband, erzeugte er optische „Widersprüche“. So vermittelt das auf die Leinwand geklebte „Rohrstuhlgeflecht“ einen Eindruck von Tiefe im Vergleich zu dem oberflächig wirkenden Stillleben. Dies erreicht Picasso indem er die Farbe des Stilllebens über die Ränder des Wachstuches führt. Des Weiteren blickt man von oben auf das Rohrstuhlgeflecht, die fiktive Sitzfläche eines Stuhls, wohingegen die Elemente des Stilllebens größtenteils von vorne dargestellt sind. Es sind aber auch Ansichten der Elemente von oben vertreten, so das Pfeifenendstück sowie der Kelch des Weinglases. Folglich erkennt man die Gegenstände auf einer Stuhlsitzfläche liegend, wobei auch der diagonale Farbschatten vom Weinglasfuß dieses auf dem Rohrstuhlgeflecht „aufstehen“ lässt. Indem er das Wachstuch im unteren Bereich durch einen schwarz-braun gemalten Balken horizontal genauso wie links vertikal durchschneidet bzw. rahmt, setzt er Stillleben und Rohrstuhlgeflecht in Bezug zueinander. So scheint diese Linie den Rahmen einer Stuhlsitzfläche zu repräsentieren und eine Einheit der beiden „Fremdkörper“ zu suggerieren. Die Gegenstände Pfeife, Krug, Glas, Messer und Zitrone scheinen also auf der Sitzoberfläche eines Stuhles auf einer Zeitung zu liegen bzw. zu stehen. Dass es sich um eine Zeitung handelt, lassen die Buchstaben „JOU“ vermuten, die Picasso schon in zahlreiche Kompositionen des Kubismus integrierte. Es ist anzunehmen, dass er hier auf die französische Tageszeitung „Le Journal“ verweisen will. Wie Picasso in seiner ersten Collage mit den Sehgewohnheiten, Erwartungshaltungen des Betrachters spielt, verdeutlicht sich an der bloßen Wahl des Sujets. So war bei den Alten Meistern das Stillleben mit seinen Trompe-l’oeil Effekten dazu bestimmt ihre Virtuosität und Meisterschaft zu demonstrieren. Picasso bezeugt dies einerseits indem er in seinem Stillleben die revolutionären Errungenschaften des Kubismus präsentiert. Andererseits integriert er das Wachstuch, ein Massenprodukt der realen Welt, das maschinell gefertigt wurde, welches hier für den Trompe-l’oeil Effekt sorgt. Er präsentiert die Gegenüberstellung des Werkes eines virtuosen Künstlers auf der einen Seite und eines austauschbaren, kommerziellen Massenproduktes, das von Arbeitern gefertigt wurde. Folglich vollzog Picasso nicht nur eine formale sondern auch eine intellektuelle Bezugnahme des Stilllebens auf das Wachstuch. Indem Picasso die illusionistische Darstellungsweise in Szene setzt, stellt er sie gleichzeitig in Frage. Doch geht Picasso noch einen Schritt weiter. Hatte er mit dem Wachstuch bereits einen Alltagsgegenstand in sein Werk einbezogen, der hier auf einen weiteren Gegenstand verweist, nämlich auf einen Stuhl, so integriert er mit dem Seil, welches das Bild rahmt, einen Alltagsgegenstand, der für sich selbst steht. So lässt sich Picassos Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht auf drei künstlerischen Ebenen diskutieren. Es verbindet ein von ihm selbst gemaltes Stillleben mit einem Alltagsgegenstand, der für einen weiteres Massengut steht und setzt diese schließlich mit einem Realgut, das für sich selbst steht, in Beziehung. 3. Ausblick Begründete Pablo Picasso mit seinen Demoiselles d’Avignon im Jahre 1907 eine erste ästhetische Revolution der Kunstsprache, so tat er dies, auch in der Folge im analytischen Kubismus, stets mit den traditionellen Mitteln der bildenden Kunst. Er haftete noch an den Konventionen der Malerei, Ölfarbe und Leinwand. Picassos erste Einführung alltäglicher, realer Gebrauchsgegenstände in die Welt der traditionellen Malerei sorgte für eine weitere Revolution. Kombinierte Picasso in seinen Collagen und Papiers collés diese Alltagsgegenstände noch stets mit konventionellen Kunstmitteln, so war es kurze Zeit später der Franzose Marcel Duchamp, der sich von der Tradition des Naturnachahmungsprinzips vollkommen abwendete. Mit seinen „Readymades“ (Roue de bicyclette, 1913; Fountain, 1916 u.a.) führte Duchamp die Errungenschaften Picassos in radikaler Weise fort. Auch wären die Konterreliefs eines Vladimir Tatlin, das objet trouvé oder später die „Combines“ eines Robert Rauschenberg ohne den Pioniergeist Picassos, der sich in seiner ersten Collage Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht manifestierte, undenkbar. 4. Literaturverzeichnis Barr, Alfred H. Jr.: Picasso. Fifty years of his art, New York 1946 Cowling, Elizabeth: Picasso. Style and Meaning, New York 2002 Crone, Rainer: Similia/Dissimilia. Abstraktion in Malerei, Skulptur und Photographie heute, Düsseldorf, 1987 Daix, Pierre: Picasso. The cubist years 1907 – 1916. A catalogue raisonné of the paintings and related works, London 1979 Golding, John/Penrose, Roland (Hg.): Picasso in retrospect, New York 1973 Palau i Fabre, Josep: Picasso. Cubism (1907 – 1917), Barcelona 1990 Rubin, William: Pablo Picasso. Retrospektive im Museum of Modern Art, München 1980 Warncke, Carsten-Peter: Pablo Picasso. 1881 – 1973, Köln 1992 5. Bildmaterial Pablo Picasso, Drei Frauen, Herbst 1907 bis Ende 1908, Öl auf Leinwand, 200 x 178 cm, Eremitage, Sankt Petersburg Pablo Picasso, Haus im Garten (Landhaus mit Bäumen), August 1908 oder Winter 1908/09, Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm, Puschkin-Museum, Moskau Pablo Picasso, Ziegelfabrik in Tortosa (Fabrik in Horta de Ebro), Sommer 1909, Öl auf Leinwand, 50,7 x 60,2 cm, Eremitage, Sankt Petersburg Pablo Picasso, Frau mit Birnen (Fernande), Sommer 1909, Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm, Privatsammlung, New York Pablo Picasso, Kopf einer Frau (Fernande), Herbst 1909, Bronze, 40, 5 x 23 x 26 cm, Tate Modern, London Pablo Picasso, Bildnis Ambroise Vollard, Frühjahr (bis Herbst) 1910, Öl auf Leinwand, 93 x 66 cm, Puschkin-Museum, Moskau Pablo Picasso, Akkordeonspieler, Sommer 1911, Öl auf Leinwand, 51,25 x 35,25 inches, Solomon R. Guggenheim Museum, New York Pablo Picasso, Stillleben auf einem Klavier (“CORT”), Sommer 1911 bis Frühjahr 1912, Öl auf Leinwand, 50 x 130 cm, Sammlung Heinz Berggruen, Genf Pablo Picasso, Violine und Trauben, Frühjahr bis Sommer 1912, Öl auf Leinwand, 61 x 50,8 cm, The Museum of Modern Art, New York Pablo Picasso, Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht, Mai 1912, Öl auf Wachstuch auf mit Schnur eingerahmter Leinwand, 29 x 37 cm, Musée Picasso, Paris