Die Stadt der Erde und des Himmels

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Die Stadt der Erde und des Himmels
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FRANKFURTER ALLGEMEINE
ZEITUNG, 3 November 2005
Die Stadt der Erde und des Himmels
Antonio Pau, Rilke en Toledo, Trotta Verlag, Madrid 1997.
Lothar Schmidt
Neun Jahre mußten vergehen, bis sich für Rainer Maria Rilke
"der spanische Plan" erfüllte. Am Morgen des 2. November 1912
kommt der Dichter mit dem Zug in Toledo an. Madrid hat er hastig
durchquert, keine Zeit verschwendet an die Schätze der
Hauptstadt. Schon an der Grenze zu Spanien ist er aufgeregt wie
ein Kind. "Es wird ernst, es wird ernst", schreibt er an seine
Freundin und Gönnerin Marie von Thurn und Taxis aus Bayonne.
"Ich ziehe nun, wandere, werde", heißt es im selben Brief vom 31.
Oktober. Kein Zweifel, Toledo ist ihm eine ernste, eine existentielle
Angelegenheit.
Es ist ein Morgen, wie ihn vielleicht auch Rilke am
Allerseelentag des Jahres 1912 erlebte. Ein helles, in seiner
Klarheit fast schmerzendes Herbstblau dehnt den kastilischen
Himmel bis in irgendeine Ewigkeit. Unten, auf der Erde, halten sich
im Schatten noch die frostig kühlen Temperaturen der Nacht,
während es in der Sonne schon angenehm mild ist. Auch heute
erreicht der erste Zug aus Madrid um zehn Uhr morgens den
kleinen Bahnhof von Toledo. Damals war das schmucke Gebäude
im Neo-Mudejarstil, einer Mischung aus arabischen und
abendländischen Elementen, gerade erst erbaut worden. Der
Bahnhof sieht noch immer neu und ein wenig unecht aus, er wurde
erst kürzlich renoviert.
Geschichte in Stein
Die Stadt am Tajo ist eines der populärsten Ziele des
Kulturtourismus in Spanien. Tag für Tag schwärmen Horden von
Kunstbeflissenen durch die engen Gassen, ganze Busladungen
trippeln wie Schafe hinter ihrem Führer her. Doch Toledo kapituliert
nicht unter dem Ansturm. Obwohl die Altstadt auf dem vom TajoFluß umspülten Felsen überschaubare Ausmaße hat, ist das
Angebot an Sehenswürdigkeiten enorm, und leicht verlieren sich
die Besucher im Gewirr der Gassen. Toledo saugt sie auf wie ein
Schwamm, ohne sich zu verformen.
Toledo, Weltkulturerbe der Unesco, ist Stein gewordene
Geschichte. Es ist die ewige Stadt Spaniens. Keltiberer, Römer,
Westgoten, Araber und schließlich die Christen bauten, zerstörten
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oder veränderten mehr als zweitausend Jahre lang das Bild
Toledos. Mehr, als es den stolzen, katholischen Kastiliern lieb ist,
haben sich hier die christliche, jüdische und maurische Kultur zu
einem Ganzen gefügt. Man mag es kaum glauben, aber hier lebten
zumindest zeitweise die drei monotheistischen Religionen friedlich
nebeneinander. Auch wenn dies vor etwa siebenhundert Jahren
war,
sollte
man
solche
kostbaren
Momente
der
Menschheitsgeschichte nicht vergessen.
Unwirklichkeit der Farben
Domenikos Theotokopoulos, der von den Spaniern der
Einfachheit halber "El Greco", der Grieche, genannt wurde, hat das
Erhabene, Entrückte der Stadt in einem ebenso rätselhaften wie
phantastischen Gemälde beschworen. Um das Jahr 1600 malte er
sein berühmtes Bild "Blick auf Toledo", das erst Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts wiederentdeckt wurde und heute im
Metropolitan Museum in New York hängt. Das vage Leuchten der
Farben und die ins Unwirkliche verschobene Darstellung der
Stadtsilhouette haben auch nach vierhundert Jahren nichts von
ihrer mystischen Kraft verloren.
Rilke hat in Paris den spanischen Maler Zuloaga
kennengelernt, der in seinem Atelier drei Grecos aufbewahrt. Dann,
1908, sieht er eher zufällig während des Pariser Herbstsalons die
Stadtansicht des Griechen. El Greco wird zum "größten Ereignis
meiner letzten zwei oder drei Jahre". So wertet Rilke die
Begegnung, er spricht von "Berufung", von einer "tief eingesetzten
Pflicht", sich mit dem Maler zu beschäftigen. Drei Jahre später
begegnet ihm Grecos "Laokoon" in München. Und wieder erblickt er
in den Zwischenräumen der verschlungenen Gestalten diese
eigenartige, fesselnde Stadt. "Fürstin", schreibt er an Marie von
Thurn und Taxis, "wissen Sie, daß ich eine einzige Sehnsucht
hätte: nach Toledo zu reisen."
Eine Ankunft wie ein Rausch
Der Fußweg vom Bahnhof in die Stadt führt über die
Alcantara-Brücke. Viele Jahrhunderte lang war sie die einzige
Verbindung mit dem gegenüberliegenden Tajo-Ufer. Die mächtigen
Wehrtürme auf der ursprünglich römischen Brücke, das enge
felsige Tal des Tajo und das aufragende, ineinander verschachtelte
Toledo sind ein grandioses Bild des Mittelalters in der Gegenwart.
"Diese unvergleichliche Stadt hat Mühe, den Berg, den puren Berg,
den Berg der Erscheinung, in ihren Mauern zu halten. Welt,
Schöpfung, Gebirg und Schlucht, Genesis." Rilke erlebt die Ankunft
wie im Rausch.
Er fühlt sich geführt von den Gassen, der Calle Santo Tome
und der Calle del Angel, der Straße des Engels, die ihn bis vor die
Pforte der Kirche San Juan de los Reyes spült. Eben von jener
Kirche mit den eisernen Ketten und Fesseln, die noch immer an
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ihrer Fassade herabhängen, hatte ihm ein Freund in München
berichtet. Jetzt steht er davor, ohne sie gesucht zu haben.
Schreibkrise und Existenzkrise
Dieses "Genommen- und Geführtsein", von dem Rilke spricht,
erlebt man auch heute noch. Allerdings sind die Ursachen andere.
Die Calle Tome ist eine touristische Hauptverkehrsachse, die das
Pflichtprogramm, nämlich die Kathedrale und das Viertel, mit dem
El-Greco-Museum, der Synagoge und der Kirche San Tome
verbindet. Hier fließt ein beständiger, manchmal reißender Strom
von Touristen. Wer nicht Halt sucht, etwa in einem der zahlreichen
Souvenirläden, wird mitgerissen.
Die Mitbringsel, nach denen der Dichter suchte, konnte man
damals sowenig kaufen wie heute. Nach den ersten "Duineser
Elegien" steckte er in einer Schreibkrise, die für einen Menschen
wie Rilke notwendigerweise zur Existenzkrise wurde. Toledo, so
seine Hoffnung, könnte ihn retten, könnte ihn wieder an jenen
imaginären Ort führen, an dem der Faden der Elegien verlorenging.
Im "Hotel Castilla" mietet er sich ein. "Es gilt für das beste hier und
scheint brauchbar zu sein", so schreibt er. Die Jahre des
Spanischen Bürgerkriegs hat das Haus nicht überdauert, heute
befindet sich in dem restaurierten Palast die Schatzmeisterei der
örtlichen Sozialversicherung. Vielleicht würde Rilke heute in der
"Hesperia Toledo", im "Alfonso VI" oder im "Parador" auf der
gegenüberliegenden Seite der Tajo-Schlucht logieren.
Sonntags singen Engel
Tagsüber macht er lange, einsame Spaziergänge. Der Autor
Antonio Pau, der die Spuren des Dichters in Toledo zu einem Buch
zusammengefaßt hat, sieht ihn frierend durch die Cuesta del Can
gehen, eine der ältesten Gassen der Stadt. "Can" bedeutet Hund,
was gut paßt. Der Dichter, der die Wärme suchte, berichtet von
einer "hündischen Kälte". Wie so viele Reisende hat sich Rilke im
kastilischen Klima geirrt. Fast ohne Übergang wendet sich der
heiße Sommer in einen klirrenden Winter.
Immer wieder sucht er die Gemälde des Meisters auf, doch El
Greco war nur die Fährte, die ihn nach Toledo führen sollte. Er geht
ins Museum Santa Cruz und in die Kathedrale, bestaunt die
mächtigen Gitter, die den Chor vom profanen Fußvolk trennen. Am
Sonntag zieht es ihn in die kleine mozarabische Kirche San Lucas,
weniger der heiligen Messe als eines alten Gesangs wegen, der, so
berichtet die Legende, von Engeln gesungen wurde.
Die Stadt als Gespenst
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Es sind Nebenwege, nicht die ausgetretenen Tourismusrouten,
auf denen man heute dem Dichter folgen kann - ein Wandern
zwischen den Wundern Toledos und den Wundern der Imagination.
Manchmal am Abend verläßt Rilke die Stadt, geht nach "drüben, wo
die Landschaft sofort ausbricht und wie ein Löwe ist". In der
Felslandschaft fühlt er sich an einen Propheten erinnert. Da ist sie,
die Stadt des "Himmels und der Erden, denn sie ist wirklich in
beiden, sie geht durch alles Seiende durch". Später werden die
Literaturwissenschaftler
den
Ursprung
für
Rilkes
Engelsdarstellungen in der Landeshauptstadt von Kastilien-La
Mancha finden. Allein der Dichter weiß davon noch nichts. Denn die
Hoffnung, endlich wieder schreiben zu können, erfüllt sich nicht.
Toledo bleibt ihm buchstäblich "unbeschreiblich". Am 26.
November, einige Tage vor seiner Abreise nach Sevilla und
schließlich nach Ronda, vergleicht er die Stadt mit einem Gespenst,
das man nicht beschreiben könne, "wie Moses nicht der
Erscheinung mächtig war und erschrak und verstummte und nur
den Widerschein davon sah - so bäumt sich einem das Herz vor
dieser Stadt, und mehr wird man nie sagen können als dies und
nichts beweisen".
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