Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst?
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Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst?
Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst? Eine Arbeit von Katja Kolb (2011) Liebfrauenschule Sigmaringen Seminarkurs 2010/2011 „Zwischenmenschliches“ Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst? Eine Arbeit von Katja Kolb Liebfrauenschule Sigmaringen Juni 2011 2 Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst? Inhaltsverzeichnis: Einleitung S. 1-2 1. Ausdrucksformen der Schüchternheit und möglicher Verlauf 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. Der Begriff Schüchternheit Erscheinungsbild Symptome: Wie kommt Schüchternheit zum Ausdruck? Ungesellig oder schüchtern? S. 3 S. 3-5 S. 5-6 S. 7-10 2. Ursachen der sozialen Unsicherheit S. 10 2.1.Biologische Faktoren 2.2. Psychische Faktoren und psychologische Mechanismen 2.3. Soziale Faktoren 2.4. Erlernte Hilflosigkeit 2.4.1. Sozial unsicheres Verhalten als mögliche Ausdrucksform von Hilflosigkeit 2.4.2. Erlernte Hilflosigkeit als Erklärung für sozial unsicheres Verhalten 2.5. Sonntagskinder und deprivierte Kinder S. 10-11 S. 12-14 S. 15 S. 16 S. 16 S. 16-17 S. 17-20 3. Schüchternheit im Schulalltag 3.1 Schüchtern schon im Kindergarten 3.2 Das Schulleben schüchterner und stiller Kinder 3.3 Sind schüchterne Kinder in der Schule sozial benachteiligt? 3.4. Knüpfen schüchterne Kinder Kontakte? 3.5. Vertrautheit innerhalb und außerhalb der Schule 3.6. Woran erkennen Lehrer ein schüchternes Kind? 3.7. Wie häufig nehmen Lehrpersonen Schüchternheit bei Schulkindern wahr? 3 S. 21-23 S. 23-25 S. 25-26 S. 26-27 S. 27-29 S. 29-31 S. 31-32 4. Wie wirkt sich Schüchternheit auf die Noten aus? S. 32-35 4.1 Schüchternheit in Bezug zur sportlichen Leistung 4.2 Geschlecht als Einflussgröße 4.3 Wie wirkt sich Schüchternheit in nachfolgenden und höheren Bildungsstufen aus? S. 35-41 S. 41-43 S. 43-45 5. Wie häufig oder selten ist Schüchternheit? S. 45-48 6. Exkurs: Schüchternheit in anderen Kulturen S. 49 6.1. 6.2. Chinesische Kinder in der Schule Chinesischer Unterricht als ein Grund für Schüchternheit S. 49-52 S. 52-53 7. Schüchternheit als Schulproblem: Folgerungen S. 53-54 8. Rückblickende Zusammenfassung S. 54-55 9. Fragebogen S. 56-57 9.1. 9.2. 9.3. Einleitung zum empirischen Teil Auswertung des Fragebogens Zusammenfassung der Umfrageergebnisse S. 57 S. 58-78 S. 79-80 10. Schluss S. 81-82 Literatur S. 83 4 Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst? Der diesjährige Seminarkurs an der Liebfrauenschule Sigmaringen befasste sich mit dem Thema „Zwischenmenschliches“. Dieses Thema ist sehr vielfältig und umfasst ein sehr großes Gebiet. Ich wählte das Thema „Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst?“, weil ich in den vielen Jahren meines Schullebens die Beobachtung machte, dass selbstbewusste Schüler, die sich genauso selten am mündlichen Unterricht wie schüchterne Schüler beteiligen, trotzdem häufig eine bessere mündliche Note bekommen. Diese Feststellung machte mich nachdenklich und lenkte mein Interesse darauf, ob die Auswirkungen der Schüchternheit in Bezug auf die schulische Leistung bereits erforscht sind. Auf der Suche nach Fachliteratur stellte ich fest, dass dieses Thema bislang nur unzureichend untersucht wurde. Innerhalb Deutschlands wurden noch keine Studien bezüglich der Schulleistung schüchterner Kinder veröffentlicht. Meine Nachforschungen beziehen sich aus diesem Grund größtenteils auf Beobachtungen in Schweizer Schulen. Ich möchte der Frage nachgehen, ob Schüler durch ihre Schüchternheit in Bezug auf Leistung und Anerkennung Nachteile erfahren. Diese Frage ist umso interessanter, da bekannt ist, dass mündliche Mitarbeit, Präsentationen und Diskussionsfähigkeit in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen haben. Deshalb soll im Folgenden auch die Frage untersucht werden, inwieweit schüchterne Schüler Nachteilen bei der Benotung ausgesetzt sind. Um ein Ergebnis für meine Fragestellung herauszuarbeiten, suchte ich mir passende Literatur und vertiefte mich in die Thematik. In meiner Seminararbeit gehe ich zuerst darauf ein, wie Schüchternheit zum Ausdruck kommen kann, um einen allgemeinen Überblick über die Problematik der Schüchternheit zu gewähren. Im zweiten Kapitel nenne ich die Ursachen der sozialen Unsicherheit, um aufzuzeigen, wodurch sie entstehen kann und um das Phänomen Schüchternheit unter Berücksichtigung der Ursachen zu erklären. Im darauffolgenden dritten Kapitel geht es allgemein um Schüchternheit in der Schule und im Kindergarten und den Umgang der Lehrpersonen mit diesem Problem. Unter anderem wird auch deutlich, wie viele Kinder als schüchtern kategorisiert werden. Im vierten Kapitel meiner Seminararbeit stelle ich einen Bezug der Schüchternheit in der Schule zur schulischen Leistung und den Noten her. Hierbei gehe ich nicht nur auf die kognitiven Fächer wie 5 Deutsch oder Mathematik ein, sondern auch auf die sportliche Leistung. Außerdem habe ich herausgearbeitet, in welchem Maße das Geschlecht als Einflussgröße wirkt und welche Folgen Schüchternheit in den nachfolgenden und höheren Bildungsstufen mit sich bringt. In einem Exkurs stelle ich einen Vergleich von unserem westlichen Schulsystem zum östlichen Schulsystem her und erarbeite Unterschiede und Häufigkeit der Schüchternheit hierzulande und in östlichen Ländern. Um meine erarbeiteten Ergebnisse zu stützen, führte ich eine Umfrage durch, die Aufschluss darüber geben soll, wie stark verbreitet bestimmte Schüchternheitskriterien sind, wie und ob sich die Schüchternheit im Laufe der Klassenstufen ändert und ob Schüchternheit Auswirkungen auf die schulische Leistung hat. 6 1. Ausdrucksformen der Schüchternheit und möglicher Verlauf 1.1. Der Begriff Schüchternheit „Ich war so schüchtern und habe ihn nicht ansprechen können!“. „Es ist ein sehr schüchternes Kind, man muss behutsam auf es zugehen, dann taut es auf“- Dies sind alltägliche Verwendungsformen des Adjektivs „schüchtern“. Wie an den Beispielen zu erkennen, erklärt der Begriff „schüchtern“, dass jemand in einer sozialen Situation gerne etwas tun würde, sich aber nicht traut. Dies führt dazu, dass die Handlung gar nicht oder erst nach längerem Verzögern ausgeführt wird. Hierbei besitzt der Handelnde zwar die Fähigkeiten etwas zu tun, wird jedoch daran gehindert. Etwas in ihm erlaubt ihm nicht, seine Fähigkeiten umzusetzen.1 Bereits hier lässt sich erahnen, dass durch Schüchternheit Schwierigkeiten in der Schule vorprogrammiert sind. Ich bezeichne Schüchternheit gerne als eine Art Gefangenschaft, da sie die Handlungsfähigkeiten und die Möglichkeiten von Betroffenen stark einschränkt. Darauf werde ich später noch genauer eingehen. 1.2. Erscheinungsbild In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, dass der Begriff Schüchternheit meiner Meinung nach in verschiedenen Zeitepochen und in verschiedenen Kulturen recht unterschiedlich definiert werden kann. Was heute als schüchtern verstanden wird, war zum Teil früher sogar erwünscht. Aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern geht hervor, dass früher gefordert wurde, Gehorsam zu leisten. Schüchterne Kinder passen sich den gesellschaftlichen Normen an und trauen sich nicht zu widersprechen. Aus diesem Grund war Schüchternheit sogar etwas Positives. Auf dieses Thema werde ich später noch etwas genauer eingehen. Sozial unsichere Kinder erscheinen auf den ersten Blick als pflegeleicht. Sie verhalten sich ruhig, sind höflich und bringen Erwachsene nicht in Handlungsdruck wie zum Beispiel 1 Vgl. Jens Asendorpf (1989): Soziale Gehemmtheit und ihre Entwicklung, Springer-Verlag, Berlin, S.18 7 aggressive Kinder. So fallen sie meistens nicht als behandlungsbedürftig auf. Im Verhalten mit anderen zeigen sie eine übermäßige Ängstlichkeit, Unsicherheit sowie Vermeidungsverhalten. Meistens verweigern diese Kinder den Kontakt zu Gleichaltrigen, eine Freundschaft lässt sich aus diesem Grund nur schwer aufbauen. Auch wenn schüchterne Kinder sich eine Freundschaft wünschen, können sie sich nur schwer von ihren Eltern und ihrem häuslichen Umfeld trennen.2 In erster Linie fürchten schüchterne Kinder an der Begegnung mit anderen die ständig drohende soziale Bewertung. Den Kern der Schüchternheit bildet einerseits ein angeschlagenes Selbstwertgefühl und andererseits die tiefsitzende, unergründliche Bewertungsangst. Schüchterne Kinder können erheblich an den folgenden Auswirkungen leiden:3 - Sie können soziale Erfahrungen nicht wirklich genießen. - Es fällt ihnen schwer, die eigene Meinung und den eigenen Standpunkt auszusprechen, geschweige denn durchzusetzen. - Sie beschäftigen sich übermäßig mit der eigenen Verunsicherung und den eigenen Reaktionen. - Extreme Schüchternheit beeinträchtigt klare Gedankengänge und eine wirkungsvolle, auf eigene Ziele ausgerichtete Kommunikation. - Sie ist oft von Angstgefühlen, Depression und sozialer Isolierung begleitet.4 Inkompetentes Verhalten kann sich bei sozial unsicheren Kindern auf die Art zu sprechen und auf Mimik und Gestik beziehen. Diese Kinder sprechen in fremdem Umfeld nur leise und/oder undeutlich und antworten auf Fragen nur einsilbig oder gar nicht. Viele dieser Kinder sind nicht in der Lage, Blickkontakt herzustellen, bei manchen ist keine Gefühlsregung im Gesicht erkennbar und sie wirken wie versteinert. Deutlich fällt zusätzlich der mangelnde Ausdruck von Freude auf. Ihre Motorik wirkt oft steif und verklemmt, die Bewegungen 2 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 2 3 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.21 4 Vgl. ebd. 8 erfolgen verlangsamt. Auch kann häufig beobachtet werden, dass schüchterne Kinder nervös mit den Fingern spielen oder mit den Beinen zappeln. 5 Begriffsfeld: Da es eine große Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Phänomene gibt, kennt das Begriffsfeld mindestens die folgenden zehn Bezeichnungen: schüchtern sozial isoliert gehemmt sozial inkompetent ruhiges Temperament kontaktängstlich unsicher trennungsängstlich zurückgezogen Sozialkontakt vermeidend 1.3. Symptome: Wie kommt Schüchternheit zum Ausdruck? Im Kindesalter sind eine Reihe von verschiedenen Angststörungen möglich, deshalb existiert eine Vielzahl von Symptomen. Eine Mehrebenendiagnostik gibt einen Überblick über die psychischen Störungen. Es folgt ein Überblick über die wichtigsten Symptome von sozialer Unsicherheit im Kindesalter. Diese sind der kognitiven (Informations-und Wahrnehmungsebene), der emotionalen, physiologischen und Verhaltensebene zugeordnet.6 Kognitive Ebene: sozial unsichere Kinder haben häufig negative Erwartungen, sie sind eher pessimistisch und werten sich selbst ab. Ihre Aufmerksamkeit bezieht sich häufig auf ihre eigene Person, da sie möglichst alles richtig machen wollen und viel darüber nachdenken, ob ihre Reaktionen richtig oder falsch sind. Deshalb führen sie oft negative innere Dialoge mit sich (zum Beispiel: Ich darf keine Fehler machen, sonst werde ich für dumm gehalten! Jeder 5 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 2 6 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 13 9 muss mich anerkennen! Wenn mich jemand kritisiert, dann akzeptiert und mag er mich nicht!).7 Emotionale Ebene: Häufig leiden schüchterne Kinder unter Angstgefühlen, das Gefühl von Unsicherheit macht ihnen ständig zu schaffen. Sie fühlen sich in ihrer eigenen Haut nicht wohl und haben so ein mangelndes Selbstvertrauen. Auch die ständige Hilflosigkeit und die mangelnde Überzeugungswirkung sind typisch.8 Physiologische Ebene: Diese negativen Gefühle zeigen ihre Auswirkung auf den Körper. Die ständige Nervosität kann schnell zu Herzklopfen, einem erhöhten Puls oder Kurzatmigkeit führen. Typische Symptome sind auch Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwitzen, Zittern (an Händen und Beinen), Bauchkribbeln oder auch Bauchschmerzen und Muskelanspannung bis hin zu Muskelschmerzen.9 Verhaltensebene: Schüchternheit hat starke Auswirkungen auf das Verhalten der Betroffenen. Oft kommt es zu einem Vermeidungsverhalten und auch zur Verweigerung. Ein Kind, das zum Beispiel vor lauter Angst nicht in den Schwimmunterricht gehen möchte, verdeutlicht den Eltern solange, dass es auf keinen Fall dorthin will, bis es zu Hause bleiben darf. Dies kann durchaus auch auf eine sehr aggressive Weise geschehen. Typisches Verhalten ist leises, zittriges und undeutliches Sprechen, kaum oder gar keinen Blickkontakt herstellen, Erstarren, steif wirken, unruhiges Zappeln, Nägelkauen und nervös mit den Fingern spielen. Sozial unsichere Kinder stottern oft, dies jedoch nicht im Rahmen einer Sprechstörung sondern aus Unsicherheit. Oft klammern sie sich an ihre Eltern, weinen und jammern.10 Es wird deutlich, dass sich Schüchternheit durch ganz verschiedene Symptome bemerkbar macht. Diese Symptome zeigen sich als Komplex. Deutlich wird auch, dass es aufgrund dieser zahlreichen Auswirkungen, die sowohl auf kognitiver, emotionaler, physiologischer und auf der Verhaltensebene stattfinden, für schüchterne Kinder schwer wird, einen „normalen“ Umgang mit anderen (fremden) Menschen zu führen. 7 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 14 8 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 14 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd. 10 1.4. Ungesellig oder schüchtern? In der Schule werden Kinder ständig mit Leistungsbewertung konfrontiert und halten intensive Beziehungen zu Gleichaltrigen. Doch sind nicht alle Kinder, die ein Problem haben, auf andere Kinder zuzugehen und die im Unterricht eher einen passiven Eindruck vermitteln, schüchtern.11 Schüchterne Kinder schätzen ihre Fähigkeiten und ihre Leistung negativ ein, deshalb ist es interessant, der Frage nachzugehen, wie die Wahrnehmung der Lehrer durch die Selbsteinschätzung und das Sozialverhalten der Schüler beeinflusst wird.12 Um herauszufinden, ob ein Kind schüchtern oder ungesellig ist, kann man dies mit einem bestimmten Fragebogen zur Selbsteinschätzung erfassen. Der Fragebogen für Schüler (SFS 46) nach Petillon (1984) beinhaltet vier Aussagen zum Kern der Schüchternheit (Bewertungsangst) und vier weitere zur Ungeselligkeit. Hierbei mussten die Kinder in einem ersten Schritt entscheiden, welche der Aussagen auf sie zutreffen und in einem zweiten Schritt, wie sehr die gewählten Aussagen zutreffen.13 Die Formulierungen für die Bewertungsangst lauteten: 1. „Ich habe oft Angst, von anderen ausgelacht zu werden. 2. Ich fürchte oft, andere könnten mich für dumm halten. 3. Ich habe oft Angst, mich lächerlich zu machen. 4. Ich habe oft Angst davor, bei anderen unbeliebt zu sein.“14 Die Formulierungen zu Ungeselligkeit: 1. „Ich bin nicht so gern mit Kindern zusammen. (Ich bin gern mit Kindern zusammen.) 2. Wenn mir langweilig ist, kann ich mich ganz gut selber beschäftigen. 11 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 114 Vgl. ebd. 13 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 115 14 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 115 12 11 (Wenn mir langweilig ist, möchte ich am liebsten meine Freunde treffen.) 3. Ich will nicht ständig neue Kinder kennen lernen. (Ich lerne gerne neue Kinder kennen.) 4. Ich bin häufig ganz gern allein. (Ich habe am liebsten immer viele Leute um mich herum.)“15 Die Analyse zeigte deutlich, dass die beiden Faktoren der Schüchternheit und der Ungeselligkeit nicht auch nur annähernd in einem Zusammenhang standen. Damit war die Eigenständigkeit der beiden Tendenzen bewiesen. 16 In Bezug auf meine Fragestellung bedeutet dies, dass schüchterne Kinder in der Schule durch ihr Verhalten Problemen bekommen können. Einige Auswirkungen von Schüchternheit weisen meiner Meinung nach stark auf eine Verhaltenseinschränkung hin, da schüchterne Kinder nicht aus sich herausgehen, um nicht negativ beurteilt zu werden. Außerdem beschäftigen sie sich übermäßig mit ihrer eigenen Angst und Unsicherheit, was in extremen Fällen sogar dazu führen kann, dass schüchterne Kinder nicht mehr klar denken können. Folgen können, wie schon erwähnt, Depressionen, soziale Isolierung und Angstzustände sein. Ich denke, dass es für Lehrer sehr schwer sein kann, schüchterne Kinder fair zu bewerten. Im vorigen Kapitel wird deutlich, dass Schüchternheit ein Problem ist, das tief im Kind verankert ist, jedoch auch nach außen hin seine Auswirkungen zeigt. Schüchterne Kinder gelten häufig als pflegeleicht. Ihr ruhiges und höfliches Verhalten bringt Erwachsene nicht in Handlungsdruck, was sich für die schüchternen Kinder jedoch als Nachteil herausstellen kann. Fühlt sich ein schüchternes Kind zum Beispiel ungerecht behandelt, fällt es ihm sehr schwer oder es gelingt ihm gar nicht, sich zu wehren. Da es für schüchterne Kinder durch ihre übermäßige Ängstlichkeit und Unsicherheit nicht leicht ist, neue Kontakte zu knüpfen, ist es ihnen kaum möglich, ein besseres Selbstwertgefühl durch neue Beziehungen aufzubauen. Ich denke, Freundschaften zu pflegen, ist für Heranwachsende wichtig. Einerseits fühlen sie sich durch Freunde unterstützt und nicht alleine gelassen, andererseits tragen sie selbst die Verantwortung, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten. Schüchterne Kinder, denen der Kontakt zu Gleichaltrigen fehlt, mangelt es deshalb an der nötigen 15 16 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 115 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 116 12 Unterstützung und Wertschätzung von Seiten der Freunde, die zu einem positiven Selbstbild beitragen könnten. Das angeschlagene Selbstwertgefühl lässt schüchterne Kinder ständig an sich selber zweifeln. Auch die tiefsitzende Bewertungsangst trägt dazu bei, dass schüchterne Kinder viel mehr Angst vor Leistungsbeurteilungen haben als nicht schüchterne Kinder. Der stark ausgeprägte Pessimismus führt dazu, dass schüchterne Kinder sich selbst abwerten. Sie denken viel zu sehr darüber nach, was ihnen nicht gelungen ist, anstatt ihre Aufmerksamkeit auf die positiven und erfolgreichen Errungenschaften zu legen. Die negativen Erfahrungen in der Vergangenheit führen mit größerer Wahrscheinlichkeit dazu, dass auch in Zukunft die schulischen Leistungen aufgrund der Erwartungsangst nicht den tatsächlichen Fähigkeiten entsprechen. Ein großes Problem für die Schulleistung ist meiner Meinung nach auch die Tatsache, dass schüchterne Kinder ihren eigenen Standpunkt oft nicht richtig vertreten können. Ich denke, für die Lehrer kann es zu einer großen Hürde werden, ein schüchternes Kind richtig einzuschätzen, da es nicht klar wird, ob das Kind die Antwort wirklich nicht weiß, sobald es mit „Ich weiß nicht!“ antwortet, oder ob es die Antwort aufgrund der Angst, sie könnte falsch sein, nicht preisgeben möchte. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass viele Lehrer mit diesem Verhalten schlichtweg überfordert sind und Schwierigkeiten haben, sich richtig in diese Kinder einzufühlen. Ein weiteres Problem, welches Einfluss auf die Leistungsbewertung haben könnte, ist die Tatsache, dass bei manchen Kindern sogar die Gedankengänge behindert werden, wenn sie zum Beispiel eine Antwort laut vor der Klasse sagen müssen. Es kann also gut sein, dass ein Kind die Antwort wüsste, wenn man es unter anderen Umständen (zum Beispiel zu Hause) fragen würde. Der Lehrer kann nur das bewerten, was er hört und da nicht von ihm verlangt werden kann, die Gedanken seiner Schüler zu lesen, kann er natürlich auch nicht ahnen, dass ein schüchterner Schüler die Antwort eigentlich weiß. Ich denke, die Leistung kann durch die pessimistische Selbsteinschätzung der schüchternen Kinder erheblich unterschätzt werden, denn wenn ein Kind nicht an sich glaubt, merkt sein Umfeld dies an seinem Auftreten. Ein gesunder Optimismus schadet niemandem und kann dazu führen, dass man viel gelassener an ungewohnte oder gefürchtete Situationen herantritt, als wenn man von vornherein Angst davor hat und sich selber nichts zutraut. Ich kann mir gut vorstellen, dass schüchterne Kinder in der Schule auch deshalb so zurückhaltend auftreten, weil sie einfach eine so pessimistische Grundeinstellung haben, 13 dass sie ihr Können derartig herunterspielen, so dass es wirklich den Anschein hat, als könnten sie nichts. 2. Ursachen der sozialen Unsicherheit Es gibt verschiedene Entwicklungswege, die zu einer kindlichen Angststörung führen können (Beidel und Turner (1998)). Bei den meisten betroffenen Kindern sind die psychologischen Merkmale (zum Beispiel ungünstiger familiärer Umgang) von großer Bedeutung. Für einen kleinen Teil der schüchternen Kinder scheinen jedoch auch genetische Aspekte eine Rolle zu spielen. Aber auch soziale Faktoren wie zum Beispiel die Erziehungskompetenz und die Erwartungen der Eltern übernehmen eine wichtige Funktion.17 2.1. Biologische Faktoren Zwillings- und Adoptionsstudien weisen darauf hin, dass schüchternes Verhalten gegenüber Fremden ein genetisch angelegtes Temperamentsmerkmal zu sein scheint. Lebten Kinder bereits seit ihrer Geburt von ihren Müttern getrennt und waren adoptiert, korrelierte die Schüchternheit der biologischen Mütter mit der ihrer zweijährigen Kinder.18 Ein ähnlicheres Verhalten gegenüber Fremden zeigten eineiige Zwillinge als es zweieiige Zwillinge gleichen Geschlechts taten.19 Es lässt sich beobachten, dass sich Kinder aus kinderreichen Familien trotz gleicher Erziehung unterschiedlich entwickeln. So gibt es Kinder, die sehr selbstbewusst in der Schule auftreten und keine Probleme haben, sich am Unterricht mündlich zu beteiligen, während sich das Geschwisterkind im Unterricht sehr zurückhaltend zeigt. Selbst im Tierreich entwickeln sich Nachkommen aus einem Wurf im Verhalten sehr unterschiedlich. Manche suchen durch ihr aufgeschlossenes Verhalten den Umgang zu Menschen und Artgenossen, andere ziehen sich 17 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 63 18 Vgl. Jutta Heckhausen/ Heinz Heckhausen (2006): Motivation und Handeln, Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 3. Auflage, S. 200 19 Vgl. ebd. 14 zurück, obwohl sie unter gleichen Bedingungen aufgewachsen sind. Daraus schließe ich, dass genetische Faktoren beim Auftreten von Schüchternheit mitwirken. Die Arbeitsgruppe um Jerome Kagan analysierte vor allem die physiologischen Grundlagen von Schüchternheit und gehemmtem Verhalten im Kindesalter. Längsschnittstudien belegen, dass es sich bei gehemmtem Verhalten um ein stabiles Temperamentsmerkmal handelt und sich bei Kindern ab dem neunten Monat zeigt. Meistens kann es in ungewohnten Situationen (zum Beispiel Ortswechsel, fremde Personen) beobachtet werden und im weiteren Verlauf zu einem erhöhten Auftreten von Trennungsangst führen (vgl. Beidel & Turner, 1999). Häufig zeigen Kinder mit Verhaltenshemmung in fremden und ungewohnten Situationen eine Reihe von Auffälligkeiten. Unter anderem reagieren sie auf unbekannte Situationen aufgeregter und weisen Rückzugsverhalten auf, das heißt, dass schüchterne Kinder eine bestehende Aktivität unterbrechen, wenn so eine Kontaktaufnahme zu fremden Personen vermieden werden kann. Diese Kinder klammern sich zusätzlich besonders an ihre Bezugsperson und zeigen im Umgang mit anderen Kindern ein eher passives Sozialverhalten. 20 Schüchterne Schulkinder, die sich bereits selbst einschätzen können, haben Angst sich zu blamieren, Fehler zu begehen, kritisiert zu werden und Misserfolge zu erleben. Dieses Problem zeigt sich deutlich im Schulalltag, weil sich die Anzahl der Zuhörer/Zuschauer in der Klasse erhöht. Je höher der soziale Status des Gegenübers, in dem Fall des Lehrers, desto unwahrscheinlicher wird sozial kompetentes Verhalten. Beruf und Ansehen spielen diesbezüglich eine große Rolle.21 Auch die Tatsache, ob jemand streng mit dem Kind umgeht, beeinflusst das Auftreten von unsicherem Verhalten. Je autoritärer ein Lehrer auftritt, desto schüchterner reagiert das Kind. 20 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 64 21 Vgl. Ulrike Petermann/ Franz Petermann (1989): Training mit sozial unsicheren Kindern, Psychologie Verlags Union, München, 3 Auflage, S.23 15 2.2. Psychische Faktoren und psychologische Mechanismen Viele verschiedene psychische Faktoren können zur Entstehung von sozialer Unsicherheit und Ängsten beitragen. Hierbei handelt es sich um geistige und emotionale Aspekte. Durch Lernprozesse werden diese geprägt.22 Soziales Lernen Kinder können sozial unsicheres Verhalten durch Beobachtung von schüchternen Bezugspersonen lernen, indem sie das Verhalten, das sie bei der Bezugsperson erleben, nachahmen. Dies bezeichnet man als Modelllernen23 Andererseits können Kinder, die zu viel unterstützt und verwöhnt werden, auch unsicheres Verhalten entwickeln. Diese Kinder haben keine Gelegenheit zum sozialen Lernen, da man ihnen alle Probleme abnimmt, so können sie keine Problemlösefähigkeit entwickeln, die sie in sozialen Interaktionen jedoch benötigen würden. Dies wird als fehlende Gelegenheit zum sozialen Lernen bezeichnet.24 Reiz-Reaktions-Muster Wenn ein Kind erlebt, dass es nichts selbst tun darf und ihm kein eigenständiges Handeln gewährt wird, werden ihm Erfolgserlebnisse versagt. Auch wenn die Mutter zum Beispiel eifersüchtig wird, wenn das Kind mit anderen Kindern spielt, werden ihm Handlungsfreiräume und befriedigende Sozialkontakte genommen. Diese Situationen können vom Kind als bestrafend empfunden werden und so wird es zukünftig die Bemühungen unterlassen sowie bestimmte soziale Gegebenheiten vermeiden. Dies wird als Verstärkerentzug und Bestrafung bezeichnet.25 22 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 65 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 66 16 Wahrnehmung und soziale Informationsbearbeitung Bei sozial unsicheren Kindern ist diese verzerrt. Ängstliche Menschen richten ihre Aufmerksamkeit eher auf negative Erfahrungen, während nicht-ängstliche Personen eher positive oder neutrale Reize wahrnehmen. Aus diesem Grund werden soziale Informationen von sozial unsicheren Kindern häufiger als bedrohlich wahrgenommen. Meistens bleiben diese negativen Erfahrungen auch bevorzugt in Erinnerung und werden so besonders hervorgehoben. Außerdem erleben sich sozial unsichere Kinder nicht als selbstwirksam. Das bedeutet, dass ihre Wahrnehmung, Ereignisse und sich selbst beeinflussen zu können, eingeschränkt ist.26 Desweiteren schreiben sozial unsichere Kinder ihre negativen sozialen Erfahrungen vor allem ihrer eigenen Unfähigkeit zu. Daraus folgt, dass diese Kinder kein Selbstbewusstsein aufbauen können und ihr Verhalten passiv und anteillos wirkt.27 Sozial unsichere Kinder fühlen sich meist in neuen, ungewohnten Situationen unwohl. Sie gelangen ständig zur Annahme, von anderen abgelehnt zu werden. Darüber hinaus erwarten sie von sich selber, Aufgaben und Anforderungen nicht oder nicht befriedigend bewältigen zu können.28 Ängstliche Kinder werden ständig von Sorgen und Befürchtungen begleitet. Durch die hohe Selbstaufmerksamkeit wird die soziale Flexibilität eingeschränkt, da diese Kinder so mit sich selber und ihren oft irrationalen Gedanken und Gefühlen beschäftigt sind, dass sie ihre Außenwelt, also ihr soziales Umfeld manchmal nur eingeschränkt wahrnehmen. In vielen dieser Fälle führen die Kinder zum Beispiel Selbstgespräche, grübeln stärker nach, was andere von ihnen denken und/oder zeigen ein verträumtes Verhalten.29 Oft leiden sozial unsichere Kinder unter irrationalen Gedanken. Diese bestehen aus Überoder Untertreibungen, die vollkommen automatisch auftreten, also nicht kontrolliert oder gestoppt werden können.30 26 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 66 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 67 17 Einige Beispiele für irrationale Gedanken: Ich darf keine Fehler machen, sonst werde ich für dumm gehalten! Ich langweile andere; deshalb rede ich lieber nichts! Ich kann nirgendwo hingehen, da ich überall abgelehnt werde!31 Um zu verstehen, welche Auswirkungen Schüchternheit auf die schulische Leistungsfähigkeit hat, ist es wichtig, die Abläufe im Gehirn und die Faktoren, die zu diesen Abläufen führen, zu ergründen. Verhaltensmerkmale für Schüchternheit können genetisch vorbestimmt sein und damit von Geburt an die Persönlichkeit charakterisieren. Schüchternheit kann also auch in einem gewissen Maße vererbt werden. Desweiteren kann sie durch psychologische und soziale Faktoren bedingt sein. Da Kinder durch ihre Vorbilder lernen, übernehmen die Kinder das Verhalten ihrer Eltern. Ich machte die Beobachtung, dass sich Schüchterne gerne an selbstbewussten Personen orientieren und dadurch lernen, selbstbewusster aufzutreten. Schüchternheit lässt sich in einem gewissen Maße auch abgelegen. Das sogenannte Modellernen kann somit zu einer Leistungsverbesserung führen, da sich selbstbewusste Personen positiver wahrnehmen und dies auch für andere Personen sichtbar wird. Meiner Ansicht nach ist es außerdem bedeutsam zu wissen, dass schüchterne Kinder oft unter irrationalen Gedanken leiden. Diese Gedanken führen dazu, dass sie sich selbst stark unter Druck setzten, keine falschen Dinge zu sagen oder zu tun. Dieses ständige sich selber unter Drucksetzen führt dazu, dass sie sich innerlich nicht wohlfühlen können und der Umgang mit anderen Person verkrampft wirkt. 2.3. Soziale Faktoren Die Erziehung spielt unter vielen anderen Aspekten auch eine große Rolle. Für die positive Entwicklung ist die psychische Gesundheit der Mutter sehr wichtig. Sie stellt einen 31 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 7 18 Schutzfaktor dar und bewirkt, dass das Risiko des Kindes, eine soziale Angststörung zu entwickeln, sinkt.32 Auch die elterliche Vorbildwirkung kann viel bei einem Kind bewirken. In einer Studie von Melfsen et al. (2000) schätzen sich Mütter sozial unsicherer Kinder selbst als überdurchschnittlich ängstlich ein.33 Kinder von ängstlichen Eltern tendieren dazu, auch ängstlich zu werden, da diese Eltern meist überbehütend, kontrollierend und sehr beschützend mit ihren Kindern umgehen. Dieses Erziehungsverhalten schränkt Kinder in ihrer Freiheit ein und führt dazu, dass sie wichtige Erfahrungen durch das ständige Bevormunden nicht sammeln können. Daraus folgt, dass sie nicht lernen, wie man bestimmte Probleme selber löst und so selbst skeptisch und ängstlich gegenüber neuen, ungewohnten Situationen werden.34 Es ist naheliegend, dass es für überbehütete Kinder in den ersten Klassenstufen schwer ist, sich in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen einzugliedern. Durch das kontrollierende Verhalten der Eltern hatten sie weniger Möglichkeiten, in Situationen mit Gleichaltrigen adäquat zu interagieren. Diese Umstände wirken sich wiederum auf die schulische Leistung aus, da diese Kinder es nicht gewöhnt sind, Probleme selbst zu lösen und so ein eher unselbstständiges Verhalten aufweisen. Vermutlich können auch kritische Lebensereignisse für eine Panikstörung ausschlaggebend sein. In welcher Form solche Ereignisse zu kindlichen Ängsten beitragen, ist jedoch zur Zeit noch unklar.35 2.4. Erlernte Hilflosigkeit Nach Seligman (2004) machen wiederholte Erfahrungen unkontrollierbarer Ereignisse hilflos. Ein unkontrolliertes Ereignis wird dann erlebt, wenn die Person keinerlei Einfluss auf das Ereignis hat, also wenn am Eintreten, dem Verlauf und dem Ergebnis nichts geändert werden 32 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 67 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 68 35 Vgl. ebd. 19 kann. Diese Situationen führen also zu einem Handlungsergebnis, das nicht gesteuert werden kann. Wenn diese Erfahrung immer wieder auftritt, kann dies zur Hilflosigkeit führen, die sich in verschiedenen Störungen äußern kann, zum Beispiel können verminderte Handlungsbereitschaft, eine Beeinträchtigung beim Erkennen reaktionsabhängiger Konsequenzen oder auch Furcht und Depression eine Folge sein.36 2.4.1. Sozial unsicheres Verhalten als mögliche Ausdrucksform von Hilflosigkeit Passives und initiativloses Verhalten sind nach Seligmann die Folgen von erlernter Hilflosigkeit. Das passive Verhalten kann sich auf ganz verschiedene Lebensbereiche wie zum Beispiel die Schulleistung bei Kindern beziehen. Bei sozial unsicheren Kindern beobachtet man, wenn sie mit einer sozialen Anforderung konfrontiert werden, Passivität. Meist bezieht sich dies auf die Sozialkontakte zu Gleichaltrigen. Sozial unsichere Kinder wissen nicht so recht, wie sie mit der Kontaktaufnahme zu anderen Kindern umgehen sollen und halten sich aus diesem Grund lieber von anderen Kindern fern.37 2.4.2. Erlernte Hilflosigkeit als Erklärung für sozial unsicheres Verhalten Elterliches Erziehungsverhalten kann sich stark auf das Verhalten der Kinder auswirken. Das ist auch der Fall bei sozial unsicherem Verhalten. Die Familie ist für die Entwicklungs- und die Lernbedingungen eines Kindes sehr wichtig. Das Erziehungsverhalten der Eltern kann als eher unkontrollierbar und unvorhersagbar erlebt werden, wenn entweder im Verhalten der Eltern Reaktionen und Konsequenzen auseinanderklaffen, oder die Entwicklung des Kindes zum Beispiel durch häufiges Umziehen, Trennungen oder den Tod eines Elternteils geprägt worden ist. Dadurch werden Kontrollerfahrungen verhindert und die Entwicklung ungünstig beeinflusst, was wiederum die Entstehung von sozialer Unsicherheit fördert. Die soziale Angst bezieht sich dann auf die Erwartungen von unkontrollierbaren Situationen und prägt das Selbstkonzept negativ. Das Kind erwartet deshalb, dass eine bestimmte Situation nicht kalkulierbar ist und weist so auch keine Handlungsbereitschaft auf. Dies verringert wiederum 36 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 68 37 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 70 20 auch die Möglichkeit, ein Erfolgserlebnis genießen zu können, da das Kind die Konsequenzen der Handlung nicht auf sein eigenes Tun zurückführen kann. Es kann so kein Selbstwertgefühl und keine Selbstsicherheit aufgebaut werden, da für ein positives Selbstkonzept Vorhersagbarkeits- und Kontrollierbarkeitsbedingungen nötig sind.38 2.5. Sonntagskinder und deprivierte Kinder Trotz vieler gemeinsamer Erscheinungsmerkmale können bei sozial unsicheren Kindern zwei Typen differenziert werden. Diese können sich einerseits in ihren Symptomen, andererseits aber auch in den Entstehungsbedingungen des sozial unsicheren Verhaltens unterscheiden. Bei beiden Typen kann man das sozial unsichere Verhalten auf Unkontrollierbarkeit zurückführen. Jedoch gibt es in der Art der unkontrollierbaren Ereignisse einige Unterschiede, die sich auf das Selbstvertrauen und auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung verschieden auswirken.39 Sonntagskinder: Diese Kinder werden von ihren Eltern verwöhnt und überbehütet. Probleme bei wichtigen Entscheidungen werden ihnen abgenommen und sie müssen nichts, was sie anfangen, zu Ende führen, da sie jederzeit Hilfe über die Eltern bekommen. Sie haben keine familiären Verpflichtungen. Diese Kinder fallen durch ihr Verweigerungsverhalten auf, mit dem sie soziale Anforderungen abblocken. Eigentlich verfügen sie über ein ausgeprägtes Selbstvertrauen, haben jedoch ein positives Selbst- und ein negatives Fremdbild. Auch Misserfolge gestehen sie sich nicht selbst ein, sondern versuchen sie durch äußere Umstände zu erklären. Sie verweigern aktives Sozialverhalten, wenn es sich auf Personen außerhalb der Familie bezieht. Da sie es gelernt haben, jederzeit von ihrer Familie beschützt zu werden, sehen sie die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu gleichaltrigen Kindern, wie auch die Verpflichtungen und Anforderungen innerhalb der Familie nicht ein. Sie sagen zu allem Nein und legen ein ausgeprägtes Verweigerungsverhalten an den Tag. Auch in der Schule kann dieses Verhalten zu Problemen führen, da diese Kinder auch dort jegliche Verpflichtungen verweigern und sich 38 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S.70f 39 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 71 21 unangemessen behaupten. Typisch für diese Kinder ist, dass sie sich lange Zeit selbst beschäftigen können. Sie leben in einer Art Phantasiewelt, in der alles in Ordnung ist, auch wenn die Realität ganz anders aussieht.40 Deprivierte Kinder: Diese Kinder werden meist von ihrer Familie vernachlässigt. Sie erfahren Unkontrollierbarkeit durch die nicht vorhandene Aufmerksamkeit der Familie. Zum Beispiel können unvorhersagbare Erfahrungen hier auch unangenehme Ereignisse, wie eine Trennung sein. Dadurch entwickeln sie ein passives und initiativloses Verhalten. Da sie sich von ihrer Familie nicht akzeptiert fühlen, sehen sie es als sinnlos an, überhaupt die Aufgabe des Kontaktschließens in Angriff zu nehmen. Sie besitzen kein Selbstvertrauen und haben im Gegensatz zu Sonntagskindern ein negatives Selbst- und ein positives Fremdbild. Auch Misserfolge werden durch persönliches Versagen erklärt. Diese Kinder sind sehr verschlossen und reden nicht gerne. Zu Hause erzählen sie nichts und bitten um nichts. Sie können sich nur schlecht allein beschäftigen, da sie keine Ausdauer haben und durch die Beschäftigung mit sich selbst keine Befriedigung verspüren. In der Familie erledigt dieser Kindertyp in einem Prozess der sozialen Anpassung verschiedene Aufgaben, da er nicht gelernt hat, Nein zu sagen und seine eigene Meinung nicht vertreten kann.41 Unterschiede in den Entwicklungsverläufen sozial unsicheren Verhaltens Wie schon beschrieben, entstehen bei einem Kind Hilflosigkeitsprobleme, wenn es das Gefühl hat, einer Situation hilflos ausgesetzt zu sein und durch sein Verhalten keinerlei Einfluss auf das Ereignis zu haben. Sonntagskinder sowie deprivierte Kinder sind sozial unsicher, doch sie unterscheiden sich in vielen wesentlichen Verhaltensweisen. Nach Seligman kann Unkontrollierbarkeit einerseits durch übermäßiges Behüten und Verwöhnen, andererseits durch Vernachlässigung hervorgerufen werden. Da übermäßiges Behüten das Kind einschränkt, kann es Ziele, die es sich setzt, nicht erreichen (zum Beispiel allein eine Radtour zu machen). Dies verspürt das Kind als einen Misserfolg. Vernachlässigung wird von 40 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 73ff 41 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 71ff 22 einem Kind als abstoßend erlebt. Das Kind hat das Gefühl, dass seine Anwesenheit nichts wert ist, kann diesen Zustand jedoch nicht durch eigenes Bemühen beeinflussen.42 Unvorhersehbarkeit kann für ein Kind zum Beispiel durch eine überraschende Trennung der Eltern, den Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder den „plötzlichen“ Einritt eines neuen Familienmitglieds (zum Beispiel zweite Heirat der Mutter oder Aufnahme eines Pflegekindes) sein.43 Bei Sonntagskindern liegt die Unkontrollierbarkeit in Form von beschützendem und verwöhnendem Verhalten der Eltern vor. Diese Kinder fühlen sich nicht dazu in der Lage, Probleme selbst zu lösen, da sie es von zu Hause gewohnt sind, dass die Probleme für sie gelöst werden. Auch erfahren sie von ihren Eltern keine konsequenten Grenzsetzungen. Es fehlen also bestimmte Ge- und Verbote, die dem Kind helfen sollten, seine Grenzen zu erfahren. Man kann also sagen, dass Sonntagskinder in einer „rosaroten“ Welt leben. Sie erhalten unabhängig von ihrem Verhalten positive Verstärkung und damit unter für sie unkontrollierbaren Bedingungen. So äußert sich ihr sozial unsicheres Verhalten in einem stark ausgeprägten Verweigerungsverhalten.44 Bei vernachlässigten Kindern hat die Unkontrollierbarkeit einen anderen Ursprung, nämlich den, dass diese Kinder in ihrer Entwicklungszeit oftmals eine schicksalhafte Situation erleben (zum Beispiel zweite Heirat der Mutter). Oft erfahren diese Kinder Unkontrollierbarkeit durch Vernachlässigung. Sie können das Verhalten ihrer Eltern nicht beeinflussen und müssen die mangelnde Zuwendung akzeptieren, weil die Eltern zu wenig Zeit für sie haben oder nicht in der richtigen Stimmung sind, um sich mit ihnen zu befassen.45 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass Schüchternheit sehr unterschiedliche Ursachen haben kann und dass Schüchternheit nicht schon von Geburt an vorhanden sein muss, sondern häufig erst viel später in Erscheinung tritt. Um herauszufinden, wie sich Schüchternheit auf die schulische Leistung auswirkt, ist es wichtig, nach ihren Wurzeln zu suchen. So wird das Verhalten schüchterner Kinder verständlicher und ein Stück weit 42 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 73f 43 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 74 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Petermann, Petermann (1983): Training mit sozial unsicheren Kindern, Belz Verlag, Weinheim, Basel, 10 Auflage (2010), S. 74f 23 nachvollziehbarer. Man kann davon ausgehen, dass Schüchternheit durch drei verschiedene Faktoren ausgelöst werden kann. Einerseits kann Schüchternheit durch genetische Faktoren bedingt sein. Aber meistens hängt Schüchternheit stark mit dem sozialen Umfeld zusammen. Natürlich gibt es Kinder, die durch ihre Veranlagung eher dazu neigen, Schüchternheit zu entwickeln, genauso wie manche Kinder eher dazu neigen, aus sich herauszugehen und keine Probleme haben, neue Kontakte zu schließen. Jedoch kann Schüchternheit auch einzig und allein durch das familiäre Umfeld und insbesondere durch die Erziehung ausgelöst werden. Um dem vorzubeugen, ist es wichtig, dass Kinder auch außerhalb der Familie (zum Beispiel im Kindergarten oder der Nachbarschaft) soziale Verhaltensweisen erleben. Dadurch, dass sie in Kontakt mit selbstbewussten Personen kommen, können sie sich an ihnen orientieren und schüchterne Verhaltensweisen verlernen. Meiner Meinung nach kann man Kindern Schüchternheit auch regelrecht anerziehen. Wie bereits erwähnt, neigen Kinder, die nichts selbst tun können und von ihren Eltern bevormundet werden, zur Schüchternheit. Da immer mehr Eltern sich dafür entscheiden, nach dem staatlich geförderten Erziehungsjahr wieder in den Beruf zurückzukehren, werden immer mehr einjährige Kinder in Betreuungseinrichtungen gegeben. So lässt sich zumindest vermuten, dass die vernachlässigten und überbehüteten Kinder die Chance bekommen, in einem positiveren Milieu mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln und im Schulalltag bessere Leistungen zu erbringen. 3. Schüchternheit im Schulalltag 3.1. Schüchtern schon im Kindergarten 24 Nicht erst in der Grundschule, sondern bereits im Kindergarten kann Rückzugsverhalten beobachtet werden. Auch Zusammenhänge mit der späteren Schulleistung sind nachweisbar. Schüler, die sich bereits im Kindergarten isolierten, schnitten in späteren Leseund Wortschatztests (erste und zweite Klasse Grundschule) schlechter ab. Auch in Mathematik konnten in einer Stichprobe von Jungen schwächere Mathematikleistungen nachgewiesen werden. Jedoch sollte man im konkreten Einzelfall keine Prognosen für die Zukunft erstellen.46 Die Beobachtung von Evans (1987) über die Situation im Kindergarten zeigt, dass die Lehrpersonen sich bemühen, schüchterne Kinder in die Geschehnisse zu integrieren und aus der Reserve herauszulocken. Die Kindergärtnerinnen richten nach ihren Beobachtungen sogar mehr Fragen an schweigsame Kinder, was jedoch bei den stillen Kindern nicht zu einer erhöhten sprachlichen Reaktion führt. Die Sprachreaktion zwischen Kindergärtnerin und einem stillen Kind ist ziemlich einseitig. Denn je weniger ein „stilles“ Kind spricht, desto häufiger richtet die Kindergärtnerin Fragen an dieses Kind, was dazu führt, dass das Kind noch schweigsamer wird, als dass es mehr auf die Kindergärtnerin eingeht. Das gilt auch für die Schulsituation: Je häufiger die Lehrerin in der Schulzeit mit dem Kind spricht, desto weniger redet es.47 Eine weitere Arbeit von Evans (1992) zeigt, dass schüchterne Kinder mehr Worte in längeren Redeabschnitten äußern, wenn weniger Fragen gestellt werden. In einer Untersuchung beobachtete die Autorin, wie viel die schüchternen und nicht schüchternen Kinder während einer Zeigestunde redeten. Das Sprechverhalten der Kindergärtnerin variierte hierbei. Die Bedingung „starke Kontrolle“ bedeute, dass die Kindergärtnerinnen besonders viele und über das gewohnte Maß hinausgehende Fragen stellten. Bei der Bedingung „schwache Kontrolle“ stellte die Kindergärtnerin weniger Fragen, dafür gab sie aber mehr Beiträge im Sinne eines Gesprächs. Die Quantität des Gesprochenen nahm bei „schwacher Kontrolle“ zu. Daraus ist nach Evans (1992) zu folgern, dass häufiges Fragen der Erwachsenen bei schüchternen Kindern eher zu noch mehr Passivität führt und somit die abhängige Rolle des Kindes verstärkt. Der Erwachsene dominiert und das Gespräch wird einseitig.48 46 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 111 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 111f 48 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 112 47 25 Allerdings kommt es auch darauf an, welche Fragen gestellt werden, da nicht jede Frage die gleichen Folgereaktionen bei schüchternen Kindern auslöst. Evans unterschied zwischen Wahl- und Produktfragen (Evans 1987). Bei schweigsamen Kindern scheinen Produktfragen zu einer erhöhten Sprachaktivität zu führen. Die Wahlfrage (Hast du das Buch gelesen?- Ja, Nein) ist also weniger effektiv als eine Produktfrage (Wovon handelt es?). Zu dieser Studie gibt es allerdings nur beschränkte Daten. Für einen definitiven Beweis ist sie also nicht ausreichend. Aber auch ohne eine abgesicherte Bestätigung ist es naheliegend, dass bei einer Produktfrage mehr Sprechaktivität erwartet werden kann als bei einer Wahlfrage.49 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vom schüchternen Verhalten der Kinder im Kindergarten auf das spätere Verhalten in der Schule schließen kann. Ich halte es für sinnvoll, wenn schüchterne Kinder in kleinen Gruppen betreut werden, da sie dadurch mehr Aufmerksamkeit der Erzieher erhalten können. In größeren Gruppen ist die Gefahr gegeben, dass sie übersehen werden, weil die Betreuungspersonen mit den Kindern beschäftigt sind, die die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Außerdem ist es wichtig, dass die Erzieher wissen, wie man mit schüchternen Kindern in Kontakt tritt. Die Versuchung ist groß, ein Kind mit Fragen zu überschütten, um es zum Reden zu bewegen. Erfolgreicher ist es jedoch, wenn ein schüchternes Kind in ein Gespräch verwickelt wird. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies durch eine gemeinsame Beschäftigung (zum Beispiel malen/ basteln) besser gelingt. Da das schüchterne Verhalten der Kindergartenkinder sich auch in der Schule auswirken wird, ist es umso wichtiger, bereits im Kindergarten das Selbstbewusstsein zu stärken, damit das gehemmte Verhalten zumindest etwas reduziert wird. Für die erfolgreiche Kommunikation mit einem schüchternen Kind ist es wichtig, weniger Fragen zu stellen, aber dafür mehr Beiträge im Sinne eines Gesprächs zu liefern. So fühlt sich das Kind von der Person nicht bedrängt und von Fragen überschüttet. Das führt dazu, dass das Kind sich der Person eher anvertraut und die Person nicht jemand ist, vor dem sich das Kind womöglich sogar fürchtet. Es kann also eine effektive Gesprächsbasis geschaffen werden, die das weitere Kommunizieren unterstützt. Auch die Fragen, die dem schüchternen Kind gestellt werden, haben, wie im vorigen Kapitel dargestellt, einen Einfluss darauf, wie das Kind auf die Frage reagiert und wie seine Antwort ausfällt. Fragen, die nicht nur eine Antwort wie ja/nein verlangen, sind eher 49 Vgl. ebd. 26 dazu geeignet, ein schüchternes Kind zum Sprechen zu bewegen, da sie eine persönliche Antwort verlangen. 3.2. Das Schulleben schüchterner und stiller Kinder Soziale Situationen und mündliche Anforderungen bereiten einem schüchternen Kind große Schwierigkeiten. Schüchterne Kinder wären oft am liebsten unsichtbar. In der Schule versuchen sie möglichst nicht aufzufallen, machen sich klein, um nicht ins Blickfeld des Lehrers zu geraten und melden sich im Unterricht lieber nicht, da sie Angst davor haben, einen Lacher zu riskieren, selbst wenn ihnen die Antwort auf den Lippen brennt. Wenn ein schüchternes Kind dann doch einmal aufgerufen wird, spricht es nur ganz leise oder zieht es vor, „ich weiß nicht“ zu sagen, weil es sich viel zu viele Gedanken darüber macht, ob das, was es eigentlich sagen möchte, wirklich richtig ist. Daraus lässt sich schnell erkennen, dass dieses Kind ein Problem in der Schule hat. Aufgabe der Schule ist es, das Können ihrer Schülerinnen und Schüler zu fokussieren und zu erweitern. Die Lehrpersonen sind hierbei die Prüfer, die sich ein Bild über die Leistung der jeweiligen Schüler machen. Sie streben einen „lebendigen“ Unterricht an und haben meist das Bild vom eifrig, mit dem Finger schnipsenden Schüler im Hinterkopf. So wirkt das Verhalten von Schüchternen für sie wie der Einsatz von Schauspielern, die auf der Bühne stehen und ihren Text verweigern. Schüchterne Kinder fühlen sich in der Schule fehl am Platz und sehen den Unterricht als Bühne der gefürchteten Selbstpräsentation.50 Außerdem ist der Unterricht in den ersten Jahren stark mündlich orientiert. So markiert die mündliche Aktivität den Lernerfolg und die Fähigkeiten, aber ebenso auch das Interesse und die Motivation der Schüler. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Schüler durch rege mündliche Mitarbeit einen positiven Eindruck bei der Lehrperson hinterlassen. Dadurch, dass schüchterne Kinder große Schwierigkeiten mit sozialen Situationen und mündlichen Anforderungen haben, bewirken sie eher das Gegenteil. Sie fallen nicht positiv auf. Eigentlich 50 Vgl. Georg Stöckli (Symposion im Rahmen der Didacta, Stuttgart, 19. – 23.2.2008): Persönlichkeitsentwicklung in Kindergarten und Grundschule: Was fehlt schüchternen Kindern wirklich?, Universität Zürich, S.4 27 würden schüchterne Kinder lieber einen weiten Bogen um die Schule machen, da dieser Ort für sie unwirtlich ist. 51 Schüchternheit ist wie eine innere Gefangenschaft. Philip Zimbardo, der Pionier der Schüchternheitsforschung, erklärt dies so: „Da gibt es Schüler, die die Antwort wissen und die auf den Lehrer einen guten Eindruck machen wollen, aber irgendetwas sorgt dafür, dass sie trotzdem stumm bleiben. Sie werden am Handeln gehindert, weil der Wärter in ihrem Inneren ihnen eingibt: „Du machst dich lächerlich; man wird dich auslachen; dies ist nicht der richtige Ort dafür; ich werde dir nicht die Freiheit lassen, spontan zu handeln; lass deine Hand unten, melde dich nicht freiwillig, tanze nicht, singe nicht, mach dich nicht bemerkbar; in Sicherheit bist du nur, wenn man dich nicht sieht und nicht hört.“ Und der Gefangene in ihm beschließt, sich nicht auf die gefährliche Freiheit eines spontanen Lebens einzulassen; er fügt sich brav.“ (Zimbardo, 1994, S.16).52 Schüchterne, sozial unsichere Kinder erwecken leicht den Eindruck einer reduzierten Leistungsfähigkeit. Ihr zurückgezogenes Verhalten fällt schnell auf. Sitzplätze am Rand des Klassenzimmers werden gerne aufgesucht und in der Pause halten sich schüchterne Kinder lieber am Rand des Pausenhofes auf. Haben sie die Wahl, stellen sie sich lieber hinten an anstatt vordere Positionen aufzusuchen. Durch diese selbstgewählte Randständigkeit wird die Beteiligung und das Mitverfolgen des Unterrichts negativ beeinflusst. Dadurch bekommen die zuständigen Lehrkörper schnell den Eindruck, dass das Kind sich nicht für den Unterricht interessiert. Dieses Verhalten vermittelt leicht Passivität. Durch die selbstschützenden Strategien verbauen sich schüchterne Kinder zusätzlich die Möglichkeit, Unverstandenes zu klären. Diese Nichtbeteiligung und das Rückzugsverhalten beeinflussen praktisch zwangsläufig die mündlichen Noten und aufgrund der besonderen Anforderungen wird die Schulzeit für schüchterne Kinder zu einer außerordentlich leidvollen und meist im Stillen erduldete Phase der Persönlichkeitsentwicklung. 53 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass schüchterne Kinder im alltäglichen Schulleben, besonders im mündlichen Bereich, benachteiligt sind. Die Schule ist für ein schüchternes 51 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 109f Zitat nach Zimbardo, in: Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 110 53 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 110 52 28 Kind kein Ort, wo es sich wohlfühlen kann, eher einer, der psychischen Stress bedeutet. Lehrer können einen falschen Eindruck von einem schüchternen Kind gewinnen, da es durch seine mangelnde Mitarbeit womöglich gelangweilt und uninteressiert wirkt. Dabei ist es eigentlich nur zu schüchtern, um sich am mündlichen Unterricht zu beteiligen oder Blickkontakt zum Lehrer aufzunehmen. Dieses Verhalten könnte sogar als unhöflich aufgefasst werden. Es liegt nahe, dass die Leistung besonders durch mangelnde Kommunikationsbereitschaft von Seiten der schüchternen Kinder negativ beeinflusst werden kann. Auch die Tatsache, dass sich schüchterne Kinder zu viele Gedanken darüber machen, wie sie von anderen eingeschätzt werden, wirkt sich ungünstig auf ihr Verhalten im Unterricht aus. Für Lehrer ist es sehr schwer, das Verhalten dieser Kinder richtig zu interpretieren, da sie wenig Eigeninitiative erkennen lassen und eher passiv wirken. Schüchterne Kinder trauen sich oft nicht nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben, so können sie Unklarheiten auch nicht aufklären. Für sie ist es unangenehm, vor der ganzen Klasse zu sprechen, da ihnen jeder zuhört und sie im Mittelpunkt stehen. 3.3. Sind schüchterne Kinder in der Schule sozial benachteiligt? Schüchternheit geht nicht zwangsläufig mit sozialer Ablehnung einher, denn sie lässt sich auch als ausgeprägte Höflichkeit und Zuvorkommenheit interpretieren. Jedoch ist sie nicht gerade eine Voraussetzung, um besonders beliebt und sozial erfolgreich sein zu können. Das Schweigen der schüchternen Kinder birgt einige Schwierigkeiten, denn wenn man nicht mit anderen spricht, hört einem auch niemand zu. Auch später werden zurückhaltende Menschen keine führenden Positionen in der Gesellschaft einnehmen. Dies ist eine ziemlich genaue Umschreibung der Stellung schüchterner Kinder in der Schulklasse.54 Bei der Einschätzung der „Beliebtheit in der Klasse“ werden die einzelnen Gruppen von Lehrern und Lehrerinnen auf einer Skala von 1 bis 5 (sehr beliebt) eingestuft. Hierbei erzielt die Gruppe der schüchternen Kinder einen Mittelwert und belegt den dritten Platz. Als noch weniger beliebt werden die aggressiven Kinder eingestuft. Am beliebtesten sind die nichtschüchternen, knapp gefolgt von den mäßig schüchternen Kindern. Wenn man die 54 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.25 29 Mitschüler bittet, sich zu den Stellungen der einzelnen Gruppen zu äußern, nehmen die nichtschüchternen Kinder ebenfalls eine beliebt-führende Stellung ein. Dies wird dadurch begründet, dass sie zum Beispiel tolle Dinge organisieren, viele gute Ideen haben und andere Kinder durch ihre offene und eher unkomplizierte Art leicht begeistern und mitreißen können. Die schüchternen Kinder werden weniger beachtet und haben oft Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Außerdem kommt es häufig vor, dass man ihnen nicht richtig zuhört, wenn sie etwas zu sagen haben. Die aggressiven Kinder werden auch von den Mitschülern als auffällig eingestuft. Ihnen werden, wie auch von den Lehrern, ausgesprochen negative und aggressive Verhaltensweisen zugeschrieben wie zum Beispiel „fordert andere zum Streit heraus“ oder „lacht andere aus“. Die Gruppe erfährt aus diesem Grund auch mehr Ablehnung als alle übrigen. Die Schüchternen werden hingegen nicht häufiger abgelehnt als die nichtschüchternen Kinder.55 3.4. Knüpfen schüchterne Kinder Kontakte? Innerhalb der Schulklasse haben schüchterne Kinder die gleiche Anzahl von Spielkameraden wie nichtschüchterne Kinder. Jedoch verfügen letztere außerhalb der Klasse über weit mehr Freunde.56 Die Schulklasse ist für die schüchternen Kinder eine vertrautere Umgebung. Ich denke, das liegt daran, dass dort jeden Tag der Unterricht stattfindet und die schüchternen Kinder sich langsam an ihre Klasse und ihre Mitschüler gewöhnen können. Außerhalb der Schule haben die nichtschüchternen Kinder einen größeren Freundeskreis, denn sie haben keine Probleme, offen auf andere Kinder zuzugehen und schließen gerne neue Kontakte. Außerdem besuchen sie gerne Vereine, wo sich schnell ein zusätzlicher Freundeskreis aufbauen kann. Schüchterne Kinder meiden Vereine eher, da sie sich so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit bewegen wollen und nicht unbedingt den Anreiz verspüren, neue Freundschaften einzugehen. Außerdem fühlen sie sich in vertrauter Umgebung geborgener und können sich aus diesem Grund dort auch lockerer und zwangloser verhalten. So wird die 55 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.25f 56 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.26 30 Schulklasse für schüchterne Kinder zu einer wichtigen Basis, Kontakte zu schließen. Das bedeutet, dass schüchterne Kinder meist nur Freundschaften innerhalb der Klasse schließen können. Da sie in den meisten Fällen nicht zu den Außenseitern gehören, sondern von der Akzeptanz her im Mittelfeld liegen, zeigen sich bei ihnen nicht so starke Versagensängste wie bei Schülern, die unter Mobbing leiden. Die Gefahr, leistungsmäßig stark abzufallen, ist daher nicht so groß. 6 5 4 3 Spielkontakte außerhalb der Klasse 2 Innerhalb der Klasse 1 0 nicht/ kaum schüchtern mässig bis besonders schüchtern 57 Abb: Durchschnittliche Spielkontakte innerhalb und außerhalb der Schulklasse 3.5. Vertrautheit innerhalb und außerhalb der Schule Schüchterne Kinder zementieren ihre verbale Enthaltsamkeit im Verlauf der Schulzeit eher, als dass sie versuchen, aus sich herauszukommen. Auch das vielfältige Bemühen der Lehrer kann das Verhalten dieser Kinder nicht verändern. Die Untersuchungen von Jones und Gerig (1994) ergaben, dass bereits im sechsten Schuljahr bei nahezu einem Drittel der Schüler eine völlig unterbundene oder eine nur noch sehr seltene mündliche Beteiligung im Unterricht festzustellen ist. In einem Interview bezeichneten sich 72 Prozent von diesen schweigsamen Schülern als schüchtern und 40 Prozent gaben an, dass sie nur wenige oder gar keine 57 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.28 31 Freunde oder Freundinnen hatten. Oft unternahmen sie Freizeitaktivitäten allein und fühlten sich im Umfeld ihrer Familie wohler als unter Freunden. Interessant ist aber, dass die „Flucht ins Schweigen“ in bestimmten Situationen unterbrochen werden kann. In der Untersuchung von Jones und Gerig (1994) stellte sich heraus, dass sich 41 Prozent der Schweigsamen dann in der Schule am wohlsten fühlten, wenn sie in kleinen Gruppen bestehend, aus Freunden und Freundinnen, arbeiten konnten. Für das Sprechverhalten ist Vertrautheit eine wesentliche Bedingung. Eine Beobachtungsstudie von Asendorpf und Meier (1993) bestätigt dies für die Situation außerhalb der Schule. Hierzu wurden vier Gruppen von Kindern im zweiten Schuljahr unter Berücksichtigung der beiden Merkmale Schüchternheit und Geselligkeit nach Cheek und Buss (1981) untersucht. Hierbei unterschieden sich die Kinder in den Merkmalen a) nicht schüchtern und gesellig, b) schüchtern und gesellig, c) nicht schüchtern und ungesellig und d) schüchtern und ungesellig. Diese Kinder wurden alle mit einem kleinen, tragbaren Datenaufzeichnungsgerät für Herzrate und Sprechverhalten ausgerüstet. Sie konnten ihren Tagesablauf wie gewohnt gestalten und wurden in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt. Während dieser sieben Tage wurden zusätzlich Interviews mit ihnen geführt, die einen gezielteren Einblick in das Alltagsverhalten der Kinder ermöglichten. Die Studie bestätigte, dass schüchterne Kinder in der Schule und auch auf dem Pausenhof unter Mitschülern weniger sprachen als nicht schüchterne Kinder. Über den Rahmen der Schule hinaus zeigen sich einige interessante Unterschiede. Es konnte festgestellt werden, dass Schüchterne nur dann in Alltagssituationen weniger sprachen als nichtschüchterne Kinder, wenn ihnen die Situation nicht vertraut war. In vertrauten außerschulischen Situationen (z.B. zu Hause) war das Sprechverhalten also nicht eingeschränkt und die Schüchternheit somit keine Bedingung, die das Sprechverhalten bedeutend beeinflusste. Neben den Effekten für Schüchternheit wurde auch auf Geselligkeit geachtet. Kinder, die gesellig waren, verbrachten die Nachmittage häufiger zusammen mit Freunden. Dagegen fühlten sich ungesellige Kinder innerhalb der Familie wohler und verbrachten ihren Nachmittag lieber zusammen mit den Geschwistern. Im Unterschied zu nicht geselligen Kindern redeten die geselligen Kinder häufiger in Situationen, die ihnen nur einigermaßen, aber nicht vollkommen vertraut waren. Ein Zusammenhang zwischen Schüchternheit und Geselligkeit war nicht zu verzeichnen. Beide Merkmale können also als eigenständige Persönlichkeitsmerkmale mit unterschiedlicher Verhaltenswirksamkeit 32 betrachtet werden: Geselligkeit scheint den Zugang zu sozialen Situationen zu regeln und Schüchternheit das Verhalten in bestimmten Situationen (vgl. Asendorpf und Meier, 1993) 58 Es stellt sich heraus, dass die Gehemmtheit der schüchternen Kinder in vertrauter Umgebung und im Zusammensein mit vertrauten Personen überwunden werden kann. Das bedeutet, dass schüchterne Kinder in Gruppenarbeit mit wenigen anderen Kindern, zu denen sie eine gute Beziehung haben, ihre Schüchternheit durchaus eine Zeit lang ablegen können und es sogar den Anschein hat, dass sie auf einmal ihre Persönlichkeit verändern und plötzlich doch aus sich herauskommen. Man könnte das Phänomen Schüchternheit auch als eine Art zweites Gesicht bezeichnen. In meinem familiären Umfeld habe ich schon oft die Erfahrung gemacht, dass ein schüchternes Kind sich in der Öffentlichkeit komplett anders verhält als in seiner gewohnten Umgebung, nämlich zu Hause. Kennt man die Person genauer, merkt man schnell, dass sie nach außen hin ein komplett anderer Mensch ist und fremde Menschen große Schwierigkeiten haben, aus dieser Person schlau zu werden. Innerhalb der Familie verhält sie sich jedoch wie jedes andere Kind, singt laut, lacht und ist sogar schlagfertig. Zwischen dem gewöhnlichen Verhalten in vertrauter Umgebung zu Hause und dem Verhalten in der Öffentlichkeit besteht also ein großer Unterschied. 3.6. Woran erkennen Lehrer ein schüchternes Kind? In der Schule fallen schüchterne Kinder wesentlich durch ihre Zurückhaltung und ihr eher passives Verhalten auf. Sie können sich selbst nur schlecht darstellen und so wird es für den Lehrer besonders schwer, einen Eindruck von ihnen zu gewinnen und sie kennenzulernen. Viele Signale, die ein Lehrer mit Fleiß, Interesse, Engagement und Arbeitseifer in Verbindung bringt, zeigen schüchterne Kinder nicht auf. Sie schnippen nicht ungeduldig mit den Fingern, weil sie unbedingt drangenommen werden möchten und werfen auch nicht im mündlichen Unterricht die Hand nach oben. Da schüchterne Kinder nur sehr wenig Mitarbeit erkennen lassen, liegt es nahe, dass Lehrer daraus folgern, solche Kinder seien nur wenig bereit, sich anzustrengen. Für die Einschätzung ist die Anstrengungsbereitschaft im Sport sehr hilfreich. Da schüchterne Kinder in den Sportstunden ein gehemmtes Verhalten aufweisen, lieber abseits stehen und nur mit Unlust an den Übungen teilnehmen, kann man daraus schließen, 58 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 114 33 dass diese Kinder entweder zu der Kategorie des sozial gehemmten Kindes oder aber zu den ungeselligen Kindern zählen. Die wahrgenommene Motivation steht für Lehrpersonen in deutlicher Verbindung mit der Schüchternheitseinschätzung. Sportlich motivierte Kinder werden als weniger schüchtern beurteilt als nicht motivierte.59 Meiner Meinung nach ist es für außenstehende Personen sehr schwierig, schüchterne Kinder zu verstehen und einen guten Draht zu ihnen zu finden. Das Hauptproblem ist hierbei, dass sich Schüchternheit auf eine Art und Weise auswirkt, die es sehr schwer macht, die Probleme der Kinder zu verstehen. Eigentlich geben schüchterne Kinder nichts von sich preis. Sie tragen in ungewohnten Situationen, in denen sie sich unter fremden Menschen befinden, eine Art Maske. Ihr eigentliches Selbst kommt dabei nicht mehr zum Vorschein, sondern wird von der Schüchternheit überdeckt, und auch die Beeinflussung auf die Persönlichkeit und die gesunde psychische Entwicklung der betroffenen Kinder findet verdeckt und im Stillen statt. Aus diesem Grund ist das Problem der Schüchternheit ein Phänomen, das man nur sehr schwer erforschen kann. Vergleicht man Schüchternheit zum Beispiel mit Aggressivität, wird schnell klar, dass Aggressivität eine Verhaltensweise ist, die deutlich zum Ausdruck kommt. Aggressive Menschen fallen durch ihr Verhalten auf, bei Schüchternen ist dies umgekehrt. Sie verschwinden im Hintergrund und ihr Ziel besteht darin, möglichst unsichtbar zu sein und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich denke, das ist auch der Grund, wieso es zu diesem Thema noch recht wenig erforschtes Material gibt. Mit Aggressivität hat man sich in einem viel größeren Umfang auseinandergesetzt, dabei stellen beide Verhaltensweisen ein Problem für die Betroffenen dar, es kommt nur anders zum Vorschein. Schüchterne Kinder neigen zu einer verkrampften Körperhaltung, zum Beispiel ziehen sie den Kopf ein und legen die Arme eng an den Körper.60 Dadurch ist es für sie sehr schwer, grobmotorische Bewegungen vor anderen auszuführen. In der Sportstunde sitzt das Kind nicht mehr an seinem gewohnten Platz, sondern bewegt sich frei im Raum und wird ständig von seinen Mitschülern und seinem Lehrer beobachtet und eingeschätzt. Zur Notengebung muss es sich auch oft einzeln vor der Klasse präsentieren und in Mannschaftsspielen ständig agieren und reagieren. Da schüchterne Kinder aber nicht gerne beobachtet werden und sich 59 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 120ff Vgl. Margarete Schmaus, M. Margarete Schörl (1986): Sozialpädagogische Arbeit im Kindergarten, KöselVerlag München, 6. Auflage (1986), S.76 60 34 lieber zurückziehen, ist es verständlich, dass sie sich nicht gerne am Sportunterricht beteiligen. Darauf werde ich später noch näher eingehen. 3.7. Wie häufig nehmen Lehrpersonen Schüchternheit bei Schulkindern wahr? Gemäß einiger Untersuchungen von Georg Stöckli, die auf der Einschätzung von Lehrerinnen und Lehrern beruhen, kann von einem 16%igen Anteil auffällig oder überdurchschnittlich schüchterner Kinder ausgegangen werden. Die folgende Abbildung 1 zeigt den Anteil dieser schüchternen Kinder vom ersten bis zum dritten Schuljahr.61 62 Abbildung 1: Anteil überdurchschnittlich schüchterner Kinder pro Schuljahr Die Angaben betreffen jeweils den Anteil von schüchternen und nicht schüchternen Kindern pro Schuljahr. Es fällt auf, dass der Anteil schüchterner Kinder im Zeitraum des ersten und des zweiten Jahres variiert. Dies bedeutet, dass sich überdurchschnittlich schüchterne Kinder durchaus verändern können. Sie können im ersten Schuljahr noch als überdurchschnittlich 61 Vgl. Georg Stöckli (Symposion im Rahmen der Didacta, Stuttgart, 19. – 23.2.2008): Persönlichkeitsentwicklung in Kindergarten und Grundschule: Was fehlt schüchternen Kindern wirklich?, Universität Zürich, S.5 62 Vgl. ebd. 35 schüchtern angesehen werden und im darauffolgenden Jahr möglicherweise schon zu den eher nicht schüchternen Kindern zählen.63 Dies bedeutet, dass sich schüchterne Kinder, die zum Beispiel aufgrund ihrer unzureichenden mündlichen Beteiligung eine schlechtere Leistungsbeurteilung erfahren, durchaus ändern können und vielleicht schon im nächsten Schuljahr kein Problem mehr mit der mündlichen Mitarbeit haben. Daraus lässt sich schließen, dass die Auswirkungen, die Schüchternheit auf die Schulleistung hat, nicht unbedingt von Dauer sein müssen und durchaus überwunden werden können. Aus der oben dargestellten Statistik geht jedoch hervor, dass dies nur in geringem Umfang über einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum geschieht (erste/zweite Klasse). 4. Wie wirkt sich Schüchternheit auf die Noten aus? Durch Betrachtung der bereits beschriebenen Merkmale der Schüchternheit liegt es nahe, sich zu fragen, ob und wie Schüchternheit sich auf die schulischen Noten auswirkt. Aufgrund der Beschreibung wäre zu erwarten, dass schüchterne Kinder schlechtere soziale Fähigkeiten haben, unselbständiger sind und außerdem mehr mit Ängsten zu kämpfen haben als ihre Mitschüler. Die Urteile der Lehrkräfte bestätigen dies zwar, trotzdem scheinen die Selbständigkeit und die sozialen Fähigkeiten nur mäßig beeinflusst zu sein. Jedoch besteht ein großer Zusammenhang zwischen Schüchternheit und Angst. Man kann also sagen, dass Ängstlichkeit ein charakteristisches Merkmal von schüchternen Kindern ist. Diese Angst bewirkt einen Großteil der für schüchterne Kinder zeitweisen oder ständigen quälenden Ereignisse und bezieht sich meistens auf das soziale Verhalten.64 Es konnte herausgefunden werden, dass sich für die Noten in den sprachlichen und mathematischen Fächern statistisch bedeutsame Unterschiede ergeben, jedoch fallen diese nicht drastisch aus. Die als besonders oder ziemlich schüchtern eingestuften Kinder liegen mit ihrem Notendurchschnitt minimal unter dem Notendurchschnitt der als nicht schüchtern 63 Vgl. Georg Stöckli (Symposion im Rahmen der Didacta, Stuttgart, 19. – 23.2.2008): Persönlichkeitsentwicklung in Kindergarten und Grundschule: Was fehlt schüchternen Kindern wirklich?, Universität Zürich, S.5 64 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.23 36 oder nur mäßig schüchtern eingestuften Kinder. Hierbei tritt in der Sprachleistung ein kaum feststellbarer Unterschied zwischen der Leistung der besonders schüchternen oder ziemlich schüchternen Kindern im Vergleich zu den nur mäßig oder nichtschüchternen Kindern auf. Im Fach Mathematik erhalten die schüchternen Kinder praktisch die gleichen Noten wie in den sprachlichen Fächern, schneiden jedoch im Vergleich zu den nichtschüchternen Kindern etwas schlechter ab.65 Aufgrund der Ergebnisse stellt sich heraus, dass Schüchternheit teilweise, aber nicht schwerwiegende Beeinträchtigungen im Leistungsbereich zur Folge hat. Das zentrale Problem schüchterner Kinder ist nicht ihre tatsächliche Leistung sondern ihr eigenes Selbstbild.66 Es konnte sichergestellt werden, dass Schüchternheit ein gestörtes Selbstwertgefühl und ein angeschlagenes Selbstkonzept als Problem zur Folge hat. Schüchterne Kinder haben ein sehr pessimistisches Selbstbild, sie denken, dass sie schlecht sind, was zur Folge hat, dass sie sich auch schlecht fühlen.67 Im vierten Schuljahr können die meisten Kinder ihre persönlichen Fähigkeiten schon ziemlich genau einschätzen und haben oft schon eine klare Vorstellung darüber, in welchen Fächern sie gut und in welchen Fächern sie eher schlecht sind. Um diese Vorstellungen auszuwerten, sind die Noten ein wichtiger Anhaltspunkt, denn die eigene Einschätzung der Leistung ist subjektiv, das heißt, wie man seine eigene Leistung und Fähigkeiten in einem bestimmten Fach einschätzt, muss nicht mit der tatsächlichen Note übereinstimmen. Im vierten Schuljahr bilden Übereinstimmung der Note mit der Selbsteinschätzung ein mittleres Maß. Wenn die Note als Basis für die Selbsteinschätzung verwendet wird, zeigt sich eine Differenz zwischen der Note und dem Fähigkeitsbild, so wird eine subjektive Über-oder Unterschätzung sichtbar.68 65 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.23 66 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.24 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. ebd. 37 aggressiv Über- und Unterschätzung der Fähigkeiten im Rechnen in Abhängigkeit von Schüchternheit und Aggressivität nicht/kaum schüchtern mässig schüchtern besonders schüchtern -0,4 -0,2 0 0,2 0,4 69 In der obigen Abbildung ist die Über-und Unterschätzung der Viertklässler im Hinblick auf die Note in Mathematik dargestellt. Man kann deutlich erkennen, dass die schüchternen Kinder ihre Leistung eher unterschätzen. Die aggressiven Kinder hingegen, die den gleichen Notendurchschnitt erreichen wie die schüchternen Kinder, neigen hingegen zur Überschätzung. Schüchterne Kinder haben also eine pessimistisch-ängstliche Haltung im Gegensatz zu aggressiven Kindern, bei denen die Haltung der Fähigkeitseinschätzung mit einem deutlichen Hang zur Selbstüberschätzung einhergeht.70 Hinsichtlich der Prüfungs-und Leistungsangst ist die beste Voraussetzung, wie bereits erwähnt, ein „gesunder Optimismus“, also eine leichte Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Nichtschüchterne Kinder kommen diesem Bereich im Fach Mathematik am nächsten. Dagegen liegen die schüchternen Kinder weit darunter und die aggressiven Kinder überschreiten ihn weit. Letztere genannte Muster enthalten eine Bedrohung und können Nachteile mit sich bringen. Schüchterne Kinder haben mit ihrer Angst und ihren ständigen Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen, die anderen leben in einer Illusion und schätzen ihre Fähigkeiten nicht realistisch ein, dadurch können sie enttäuscht werden.71 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass schüchterne Kinder sich häufig selbst im Weg stehen und zu einem pessimistischen Selbstbild neigen. Auf die Leistung kann sich dies negativ auswirken. Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass die Leistung negativ beeinflusst wird, wenn man unmotiviert an eine bestimmte Sache herangeht und schon von vornherein nicht an sich glaubt. Da dies bei schüchternen Kindern ein Dauerzustand ist, 69 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 151 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.24 71 Vgl. Georg Stöckli (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99)): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich, S.24f 70 38 schließe ich daraus, dass sie dadurch auch schlechter bewertet werden, da ihre Fähigkeiten einfach nicht richtig zum Vorschein kommen können. Außerdem habe ich schon öfters festgestellt, dass das Auftreten, also wie eine Person ihre Meinung „verkauft“, häufig für die Glaubwürdigkeit ausschlaggebend ist. Auch aus der Werbung wissen wir, dass wir eher dazu neigen, einer sympathischen und selbstbewussten Person zu glauben, dass beispielsweise ein bestimmtes Kosmetikprodukt eine besonders gute Wirkung zeigt. Durch ihre Ausstrahlung werden wir mitgerissen, da die werbende Person selbst von dem Produkt derartig überzeugt ist, dass wir seine Qualität erst gar nicht in Frage stellen, sondern das Produkt schnellstmöglich auch besitzen wollen. Das gleiche Prinzip gilt auch für die Schule. Gibt ein selbstbewusster Schüler eine Antwort auf eine Frage, die vom Lehrer gestellt wird, bewirkt allein seine Ausstrahlung schon, dass der Lehrer das Gefühl hat, dass dieses Kind sich der Antwort sicher ist. Das wiederum hat als Auswirkung , dass dieses Kind vom Lehrer eher besser bewertet wird als ein Kind, das leise und unsicher wirkt und die Antwort auf eine Frage erst nach längerem Zögern preisgibt. Lehrer versuchen, ihre Schüler möglichst genau einzuschätzen, um ihre Leistung angemessen bewerten zu können. Doch wie sollen Lehrer ein schüchternes Kind einschätzen, das bestrebt ist, möglichst unsichtbar zu sein und so gut wie nichts über sich verraten will? Ich denke, für manche Lehrer kann ein solches Verhalten irritierend wirken. Es kann für die Lehrer, die sich möglicherweise bemühen, eine Beziehung zu diesem Kind aufzubauen, deprimierend und enttäuschend sein, wenn sie feststellen, dass es schier unmöglich scheint, etwas aus dem Kind herauszubekommen. Dadurch passiert es schnell, dass ein Kind eher unterschätzt wird, vor allem, wenn sein Verhalten passiv und anteillos wirkt. 4.1. Schüchternheit in Bezug zur sportlichen Leistung Schon flüchtige Beobachtungen während dem Sportunterricht können ausreichen, um festzustellen, dass schüchterne Kinder, wenn sie die Möglichkeit haben, im Sportunterricht eher am Rand stehen und keine ungebremste Einsatzfreude an Spielen und Übungen zeigen. Oft unternehmen sie auch Vermeidungsversuche oder ein Ausweichmanöver, um möglichst nicht in den Mittelpunkt gerückt zu werden, was im Sportunterricht schnell einmal passieren 39 kann. Daher kommt die Frage auf, ob die Abneigung gegenüber sportlichen Aktivitäten sogar als typisches Begleitmerkmal von Schüchternheit bezeichnet werden kann.72 Schüchternheit und sportliche Leistung im Grundschulalter Leider existiert hierzu wieder wenig wissenschaftliche Literatur und es lassen sich selten ausführliche Ergebnisse oder gezielte Studien zu Schüchternheit und sportlicher Leistung finden. Bekannt ist, dass Sport eher „Jungssache“ ist und Jungen ihr Selbstverständnis schon sehr früh an sportlichen Aktivitäten und Fähigkeiten fest machen. Eine Studie von Engfer (1993) bestätigt die geschlechtsabhängige Bedeutung des Sports. In ihrer Längsschnittstudie richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf 25 Jungen und 14 Mädchen im Alter von knapp drei Jahren. Die Autorin fand heraus, dass die Schüchternheit der Jungen in späterer Beziehung zu ihrer Selbsteinschätzung in Sport stand und auch die aktuelle Schüchternheit der damals Sechsjährigen negative Auswirkungen auf die eigene Fähigkeitseinschätzung zeigte. Bei den Mädchen konnte jedoch kein Bezug festgestellt werden. Derartige Geschlechtsunterschiede findet man aber nicht generell.73 Eine andere Untersuchung von Croizer (1995), bei der sich Kinder im Alter von neun bis zwölf Jahren mit Hilfe einer erprobten Schüchternheitsskala für Kinder (Children’s Shyness Questionnaire) und der Selbstkonzeptskala von Harter (1985), die auch Subskalen zur sportlichen Kompetenz und zur Zufriedenheit mit der eigenen physischen Erscheinung beinhaltet, selber einschätzten, brachte neue Erkenntnisse. Es konnte herausgefunden werden, dass diese beiden Merkmale bei schüchternen Kindern deutlich negativ ausfallen (bei Jungen etwas stärker als bei Mädchen). Das bedeutet, dass sowohl schüchterne Jungen als auch schüchterne Mädchen ihre eigenen sportlichen Fähigkeiten unterschätzen und ein Problem mit ihrem äußeren Erscheinungsbild haben. Mit zunehmender Schüchternheit, steigt auch die immer ungünstiger ausfallende Selbsteinschätzung der sportlichen Fähigkeiten und die weniger ausgeprägte Zufriedenheit mit dem Erscheinungsbild.74 Die von Lehrern wahrgenommene Anstrengung der Kinder im Sport hat einen großen Einfluss auf die Schüchternheitseinschätzung. Dies gilt ab dem vierten Schuljahr für Jungen 72 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 122 Vgl. ebd. 74 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 122f 73 40 und Mädchen gleichermaßen. Für die schüchternen Kinder bedeutet das: die sportliche Selbstwahrnehmung beeinflusst das Ausmaß der Motivation, welches wiederum die Schüchternheitswahrnehmung der Lehrperson beeinflusst. Dies bedeutet also, wenn ein Kind seine sportlichen Fähigkeiten unterschätzt und denkt, dass es unsportlich ist, baut es auch keine Motivation auf. Diese Motivation ist aber für die Leistungsbeurteilung der Lehrer ausschlaggebend, da diese großen Wert darauf legen, dass ein Kind motiviert ist und gerne den Sportunterricht besucht. Steht es lieber abseits und nimmt an den Übungen nur widerwillig teil, wird seine Leistung schlechter beurteilt. Kinder die sportlich motiviert sind, werden also unabhängig vom Geschlecht als weniger schüchtern beurteilt als nicht motivierte.75 Ein bedeutsamer Unterschied zwischen Mädchen und Jungen zeigt sich in der Beziehung zwischen der Selbstwahrnehmung und der Motivationseinschätzung durch eine Lehrperson. Wenn Jungen vom Sportlehrer oder von der Sportlehrerin als motiviert angesehen werden, steigt auch ihre Selbsteinschätzung und ihre Selbstwahrnehmung bezüglich ihrer sportlichen Leistung. Bei Mädchen ist die beobachtete Motivation im Gegensatz zu der der Jungen unabhängig von ihrer Selbsteinschätzung. Dies lässt vermuten, dass die SportSelbstwahrnehmung der Mädchen zu diesem Zeitpunkt (Schulbeginn) weniger verankert und somit weniger veränderbar ist als bei den Jungen. Im dritten Schuljahr sind jedoch keine Geschlechterunterschiede mehr zu beobachten und es besteht nun bei beiden Geschlechtern ein Zusammenhang zwischen der Selbstwahrnehmung und der von außen wahrnehmbaren Motivation.76 Doch was hat sich ereignet, dass diese Veränderung stattfindet? Der negative Zusammenhang zwischen wahrgenommener Schüchternheit und der Motivation hat sich auf Seiten der Lehrer vom ersten bis zum dritten Schuljahr nicht markant verändert. Aus diesem Grund ist eine Veränderung bei der Selbstwahrnehmung wahrscheinlicher. Eine geschlechterspezifische Studie bestätigte den negativen Einfluss der von Lehrern wahrgenommenen Schüchternheit im ersten Schuljahr auf die Sport-Selbstwahrnehmung der Mädchen im dritten Schuljahr. Da dieser Effekt bei Jungen nicht auftritt, lässt sich daraus schließen, dass die Selbstwahrnehmung der Jungen eine höhere Stabilität aufweist. Dies bedeutet, dass Mädchen, die in der ersten Klasse auf die Lehrer einen schüchternen 75 76 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 123f Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 124f 41 Eindruck machen, sich auch im Verlauf der weiteren Schuljahre immer weniger im Sportunterricht zutrauen und ihre sportlichen Fähigkeiten immer schlechter einschätzen.77 Schüchternheit und sportliche Leistung im Jugend- und Erwachsenenalter Die Interpretationen bezüglich der Leistung in Sport spielen zu Beginn der Schulzeit eine wichtige Rolle. Aber auch in späteren Schuljahren gibt es immer noch negative Zusammenhänge zwischen Schüchternheit und anderen Lehrerurteilen. McHale et al. (2005) fragte über 400 Jugendliche im siebten Schuljahr nach deren sportlichen Aktivitäten, insbesondere nach Teamsport. Die Lehrer beurteilten darauf die soziale Kompetenz, die Schüchternheit und die Aggressivität der betreffenden Schüler. 77 Prozent der Jungen und 50 Prozent der Mädchen gaben an, Teamsport betrieben zu haben. Es dürfte nicht zu überraschend sein, dass die Teamasportler(innen) von den Lehrern als sozial kompetenter und weniger schüchtern eingestuft wurden. Dies betraf gleichermaßen Mädchen und Jungen.78 Page und Hammermeister (1995) befragten in einer Studie 882 College-Studierende, die an Sportkursen teilnahmen und durchschnittlich 21,4 Jahre alt waren, wie häufig sie in einer Woche Sport treiben. Sie konnten herausfinden, dass die Häufigkeit des Trainings in deutlichem Zusammenhang mit selbst berichteter Einsamkeit, sozialer Unzufriedenheit und Schüchternheit standen. Vor allem Personen, die selten oder nie trainierten, erzielten wesentlich höhere Werte in den Selbsteinschätzungen von Schüchternheit, Einsamkeit und Unzufriedenheit.79 Cheek, Melchior und Carpentieri (1986) untersuchten die Schüchternheit bei CollegeStudierenden im Grundstudium. Im Zusammenhang mit Sport sind die Ergebnisse zur Selbsteinschätzung der sportlichen Fähigkeiten und zur körperlichen Erscheinung von Bedeutung. Bei den 47 männlichen Studenten stand Schüchternheit leicht negativ zur selbst eingeschätzten sportlichen Fähigkeit. Bei den 59 Studentinnen konnte dieser Zusammenhang nicht nachgewiesen werden. Jedoch zeigte sich bei ihnen die Beziehung zwischen der Selbsteinschätzung der körperlichen Erscheinung und der Schüchternheit 77 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 125f . Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 126 79 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 127 78 42 stärker. Dieses Ergebnis entspricht auch dem Versuch von Croizer (1995), der sich auf die 9bis 12-Jährigen bezog.80 Mögliche Wurzeln für dieses Verhalten Man kann zwar nicht behaupten, dass Schüchternheit gleichbedeutend mit der Abneigung zu Sport ist, doch hat sich herausgestellt, dass Vorbehalte gegenüber bestimmten sportlichen Aktivitäten bei Schüchternen kaum zu leugnen sind. Es ist bekannt, dass Zusammenhänge zwischen Schüchternheit und Depression bestehen, sowohl bei Kindern im ersten Schuljahr (Edelsohn et al., 1992) als auch bei jungen Erwachsenen (Traub 1983). Depression begünstigt eine negative Selbsteinschätzung, geht mit Unlust an körperlicher Betätigung einher und häufig fühlen sich schwer depressive Menschen nicht einmal mehr in der Lage, das Bett zu verlassen. Ein weiteres Indiz für die bestehende Verwandtschaft von Schüchternheit und depressiven Verstimmungen ist die durch die Presse bekannt gewordene „Pille gegen Schüchternheit“. Das Medikament namens Seroxat ist eigentlich als Antidepressivum entwickelt worden, zeigt aber auch gegen Schüchternheit eine günstige Wirkung.81 Untersuchungen von Georg Stöckli haben gezeigt, dass eine enge Verbindung zwischen Schüchternheit und der Häufigkeit trauriger Gestimmtheit bei Kindern im vierten Schuljahr besteht. Außerdem sind schüchterne Kinder für depressive Verstimmungen besonders anfällig.82 Eine zweite zentrale Erklärung für das Verhältnis der Schüchternen zum Sport ist die Abneigung der Schüchternen gegenüber bestimmten Arten der Selbstpräsentation. Schüchterne Kinder stehen ungern im Mittelpunkt, richten die Aufmerksamkeit viel stärker auf sich selber als andere Kinder und haben manchmal auch zusätzlich noch von sich selbst das Bild einer unbeholfenen, tollpatschigen Person im Kopf. So kann der Sportunterricht mit seinen unzähligen Momenten möglicher Bloßstellungen für sie schnell zum Alptraum 80 Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 127f Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 128 82 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 1128f 81 43 werden. Es ist also wichtig, in Zukunft noch mehr über das Körpergefühl schüchterner Kinder in Erfahrung zu bringen, da dieses Themengebiet viel zu nachlässig erforscht wurde.83 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass Schüchternheit mit negativen Leistungen im sportlichen Bereich einhergeht. Da schüchterne Menschen häufig ihren eigenen Körper nicht mögen und selbst mit sich unzufrieden sind, ist es für sie schwer, im Sportunterricht die gleiche Leistung zu erzielen wie nicht Schüchterne. Im Sportunterricht geht es darum, sich (seinen Körper) zu präsentieren. In keinem anderen Fach wird der Schüler auf diese Weise „bloßgestellt“. Ich denke, es kommt aber auch stark darauf an, welche Sportart bewertet wird, denn ich könnte mir gut vorstellen, dass nicht alle Sportarten für schüchterne Schüler mit einer Art Bloßstellung einhergehen. Im Leichtathletik-Unterricht, z.B. beim Laufen, ist die Aufmerksamkeit meiner Meinung nach nicht so sehr auf den Körper und damit auf die Person gerichtet, weil oft in Gruppen gelaufen wird und eine schüchterne Person in der Menge verschwinden kann und nicht das Gefühl hat, total beobachtet zu werden. Ich denke, anders könnte es sich beispielsweise beim Tanzen verhalten. Muss zum Beispiel eine schüchterne Person alleine oder vielleicht mit einer anderen Person zusammen vortanzen, richtet sich eine starke Aufmerksamkeit auf sie. Außerdem muss die Person vielleicht Bewegungen machen, die sie normalerweise nicht so gern ausüben würde und sich deshalb zusätzlich unwohl fühlt. Schüchterne versuchen, Situationen der Selbstpräsentation möglichst zu vermeiden. Sie wollen keinesfalls im Mittelpunkt stehen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Studie von Engfer hat gezeigt, dass Schüchternheit zumindest bei den Jungen in Beziehung zu ihrer späteren Selbsteinschätzung im Sportunterricht steht. Aufschluss darüber, dass schüchterne Jungen und Mädchen ihre eigenen sportlichen Fähigkeiten unterschätzen und zusätzlich ein Problem mit ihrem äußeren Erscheinungsbild haben, brachte die Untersuchung von Croizer. Lehrpersonen beurteilen die sportliche Leistung nach der Anstrengung der Kinder im Unterricht. Da die sportliche Selbstwahrnehmung das Ausmaß der Motivation beeinflusst, liegt es nahe, dass schüchterne Kinder schlechter beurteilt werden. Diese unterschätzen häufig ihre sportlichen Fähigkeiten und denken, dass sie unsportlich sind. So kommt es, dass sie keine Motivation aufbauen, die jedoch für die Leistungsbeurteilung der Lehrer ausschlaggebend ist, da sportlich motivierte Kinder, unabhängig vom Geschlecht, als 83 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 130 44 weniger schüchtern eingestuft werden. Außerdem steigt bei Kindern die Selbsteinschätzung bezüglich ihrer sportlichen Leistung, wenn sie vom Lehrer als motiviert eingestuft werden. Auch konnte herausgefunden werden, dass die Selbstwahrnehmung der Jungen eine höhere Stabilität aufweist und Mädchen ihre Selbstwahrnehmung häufiger verändern. Auch die die Häufigkeit des Trainings steht im Zusammenhang mit Schüchternheit. Page und Hammermeister fanden heraus, dass Jugendliche, die häufiger trainierten, nicht so oft unter Einsamkeit und sozialer Unzufriedenheit litten. 4.2. Geschlecht als Einflussgröße Untersucht hat man die Leistungsbeurteilung und Notengebung in Bezug auf die Geschlechter, da das Geschlecht in zweifacher Hinsicht maßgebend sein kann. Es werden in der Schule nicht nur „Kinder“ von „Lehrern“ unterrichtet, sondern Jungen und Mädchen von Lehrern und Lehrerinnen. Das Geschlecht kann sich theoretisch also gleich zweimal und zusätzlich zum Sozialverhalten auf die Leistungsbeurteilung auswirken.84 Die Untersuchung erfolgte pro Schulfach (Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik) und bezog sich auf 380 Schüler und Schülerinnen aus 20 fünften und sechsten Klassen. Was die schüchternen Kinder betrifft, fällt auf, dass es bei der Einschätzung der Leistungsfähigkeiten in den Sprachfächern Deutsch, Englisch und Französisch egal ist, welchem Geschlecht die Schüler und welchem die Lehrer angehören. Das liegt daran, dass schüchterne Kinder typischerweise Angst vor „Auftritten vor anderen“ haben. Die Sprachfächer orientieren sich jedoch stark auf den mündlichen Unterricht und so ist die mündliche Mitarbeit ein zentrales Erfolgskriterium in diesen Fächern. Damit haben sowohl schüchterne Jungen wie auch schüchterne Mädchen ihre Probleme - und dies bei einer Lehrerin ebenso wie bei einem Lehrer. Interessant ist jedoch, dass sich die allgemein schwächere Beurteilung von schüchternen Kindern nicht so stark in der Deutschnote ausprägt. In Deutsch erzielen die Jungen allgemein eine schlechtere Leistung als Mädchen, jedoch schneiden nur Mädchen im Hinblick auf Schüchternheit im Fach Deutsch schlechter ab. Dieser Umstand trifft genauso auf die Leistungsfähigkeit im Fach Mathematik zu, so kann man davon ausgehen, dass schüchterne Jungen teilweise immun gegen eine aufgrund der 84 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 161 45 Schüchternheit schlechteren Leistungsbeurteilung sind. Dies bestätigt sich noch stärker, wenn auf die Mathematiknote geachtet wird. Merkwürdigerweise lässt sich nur bei schüchternen Mädchen, die den Mathematikunterricht bei einem Lehrer besuchen, eine massiv schlechtere Benotung feststellen.85 Die negativen Auswirkungen von Aggressivität sind vergleichbar mit denen von Schüchternheit. In den Sprachfächern erfahren aggressive Kinder unabhängig vom Geschlecht eine schlechtere Bewertung als nicht aggressive Kinder. Das klassische maskuline Fach Mathematik bildet jedoch eine Ausnahme. Die Note in Mathematik ist bei aggressiven Jungen, unabhängig vom Geschlecht des Lehrers, stärker betroffen als die der aggressiven Mädchen. Verblüffend ist, dass das Geschlecht in Hinsicht auf Lehrer und Schüler für die Bewertung in sämtlichen Sprachfächern eine wichtige Rolle spielt. Lehrer beurteilen die Leistungen der Mädchen besser und umgekehrt beurteilen Lehrerinnen die Leistungen der Jungen besser. Der Charme der Mädchen und Jungen wirkt sich auf diese gegengeschlechtliche Weise positiv darauf aus, wie die Leistung beurteilt wird. Für Lehrer ist die Sozialkompetenz und die Schüchternheit ein wichtiger Faktor für die Benotung. Bei den Mädchen wirkt sich Sozialkompetenz positiv auf die Mathematik- und Deutschnoten bei einem Lehrer aus und somit sind sozial kompetente Mädchen in Hinsicht auf die Mathematiknote das genaue Gegenstück zu schüchternen Mädchen, das Klischee „Mathe: nichts für Mädchen“ (vgl. Beerman, Heller, Menacher,1992) erfährt durch schüchterne Mädchen Bestätigung. Im Gegensatz dazu widerlegen sozial kompetente Mädchen diese Aussage völlig.86 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass Schüchternheit je nach Geschlecht der Betroffenen unterschiedliche Auswirkungen zeigen kann. Es ist also möglich, dass ein schüchterner Junge in der Leistung anders als ein schüchternes Mädchen beurteilt wird. Außerdem stellt sich heraus, dass Schüchternheit in unterschiedlichen Situationen mehr oder weniger stark zum Ausdruck kommen kann. Die Hemmungen eines schüchternen Kindes können zum Beispiel in Fächern wie Kunst oder Technisches Werken, in denen der Schwerpunkt mehr auf die manuelle Tätigkeit als auf die mündliche Mitarbeit gelegt wird, weniger zum Vorschein kommen und sich deshalb nicht auf die Leistungsbewertung auswirken. 85 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 155 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 156f 86 46 4.3. Wie wirkt sich Schüchternheit in nachfolgenden und höheren Bildungsstufen aus? Bis jetzt beschränkt sich meine Arbeit nur auf die Leistung schüchterner Kinder in der Grundschule und die fünfte bis sechste Klasse, doch stellt sich natürlich auch die Frage, ob schüchterne Kinder in späteren Jahren, wenn sie in eine höhere Bildungsstufe kommen, durch ihre Schüchternheit Benachteiligung erfahren. Bis heute liegen für die höheren Bildungsstufen nur wenige und unzureichende Ergebnisse im Zusammenhang von Schüchternheit auf die Studienleistung vor. Nur schwer lassen sich offizielle Bewertungen oder Testergebnisse finden.87 Es stellen sich nur teilweise und schwache Zusammenhänge zwischen Schüchternheit und den erbrachten Leistungen in den höheren Bildungsstufen heraus. Überraschend ist, dass sich Schüchternheit auch positiv auf die Leistung auswirken kann. Traub (1983) untersuchte den Zusammenhang von Schüchternheit auf die Leistung, indem er 187 Absolventinnen und Absolventen von Einführungskursen in Psychologie mit Hilfe von zehn Schüchternheits-Items aus der Untersuchungsreihe von Zimbardo (1994) zuordnete. Er fand heraus, dass Schüler, die schüchterner waren, sogar etwas bessere Schulleistungen erzielten. Daraus folgerte er, dass sich das Rückzugsverhalten der schüchternen Schüler günstig auf das Lernverhalten auswirke. Schüchterne verbringen nämlich oft mehr Zeit mit Lernen, da sie außerhalb der Schulzeit häufig andere Aktivitäten meiden. So haben sie mehr Zeit, sich auf die Schule zu konzentrieren. Durch erzielte Erfolge werden sie sogar zusätzlich bestärkt. (Traub, 1983, S. 850). Jedoch kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob Schüchterne aufgrund ihrer eingeschränkten sozialen Aktivitäten in weiterführenden Schulen einen Vorteil habenobwohl zwischen Schüchternheit und Intelligenz mit Sicherheit kein Zusammenhang besteht. Dies ergab die Untersuchung von College-Studierenden von D’Souza und Singh (1999).88 In einer weiteren Untersuchung mit 99 College-Studierenden testete man die kreativen Lösungsvorschläge zu einem vorgegebenen Problem. Die Ergebnisse zeigten, dass Schüchterne weniger Ideen äußerten als Nichtschüchterne und mit ihren erzielten Lösungen 87 88 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 157 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 155 47 weniger zufrieden waren. Die Schüchternen schnitten also schlechter ab, was jedoch keine Rückschlüsse auf die tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten zulässt.89 Cheek und Stahl (1986) untersuchten die These, ob bei Schüchternen eine eingeschränkte verbale Kreativität vorliegt. Dazu mussten die Versuchspersonen Gedichte verfassen, die später hinsichtlich ihrer Kreativität beurteilt wurden. Es konnte bestätigt werden, dass sich der negative Zusammenhang zwischen Schüchternheit und der Qualität der Gedichte bei hoher privater Selbstaufmerksamkeit und angekündigter Bewertung verstärkte.90 Ich folgere daraus, dass der Bewertungsdruck bei den Schüchternen zu Stress führt. Die Konzentration wird eingeschränkt, was wiederum bewirkt, dass der Schüler eine schlechtere Leistung erzielt als es seine Fähigkeiten in einer stressfreien Situation erlauben würden. Von Asendorpf wurden die Persönlichkeitsentwicklung und die sozialen Beziehungen von 132 Studienneulingen (92 Studienanfängerinnen und 40 Studienanfängern) erforscht. Eine 18-monatige Längsschnittstudie richtete sich auf die Qualität der sozialen Beziehungen aus. Es ging hierbei also nicht um den Studienverlauf oder die Studienbewältigung, sondern einzig und allein um die sozialen Kontakte, die während dieser Zeit geschlossen wurden. Es konnte herausgefunden werden, dass sich Einflüsse der Persönlichkeit auf das Sozialleben der Studierenden auswirkten. Schüchterne gewannen in dieser Zeitspanne weniger Freunde oder Freundinnen und führten auch seltener eine romantische Beziehung. Mit der Zeit nahm die Schüchternheit jedoch leicht ab. Dies kann mit der anfänglichen Fremdheit und der neuen Umgebung erklärt werden, so konnte das Vertrauen mit der Hochschulsituation nach und nach wachsen. (Asendorpf und Wilpers, 1998).91 Letztlich lässt sich sagen, dass durch den Blick, der auf die weiterführenden Schulen gelegt wird, weitere Forschungsthemen offen gelegt werden. Aufgrund der unzureichenden Versuche zu diesem Themengebiet sind langzeitlich angelegte Studien zu den Bildungsverläufen und Unterrichtsbeobachtungen erforderlich. Es liegt der Verdacht nahe, dass Schüchterne im Bildungssystem der westlichen Kulturen schon sehr früh und allgemein 89 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 159 Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd. 90 48 unangemessen beurteilt werden. Deshalb bleibt zu fragen, ob Schüchterne in anderen Kulturen besser beurteilt werden.92 Für meine Fragestellung bedeutet dies, dass Schüchternheit nicht zwingend mit schlechteren Leistungen einhergeht. Es zeigt sich, dass sich Schüchternheit gerade auf die schriftlichen Noten positiv auswirken kann. Meiner Meinung nach besteht zwischen der schriftlichen und der mündlichen Note auch in späteren Schuljahren eine Differenz. Ich denke, die These von Cheek und Stahl zeigt deutlich, dass ältere, schüchterne Schüler im mündlichen Bereich noch die gleichen Probleme wie Grundschulkinder haben, nämlich, dass sie sich in Stresssituationen aufgrund der erhöhten Selbstaufmerksamkeit nicht so gut konzentrieren können. In höheren Bildungsstufen existieren nur schwache Zusammenhänge zwischen Schüchternheit und den erbrachten Leistungen. Traub fand heraus, dass sich Schüchternheit sogar positiv auf die Leistung auswirken kann, da das Rückzugsverhalten der schüchternen Schüler das Lernverhalten positiv beeinflusst. Jedoch zeigt sich, dass Schüchterne weniger Lösungsvorschläge zu einem vorgegebenen Problem äußern als Nichtschüchterne, wobei man keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Fähigkeiten der Schüchternen ziehen kann. Außerdem konnten Cheek und Stahl darüber aufklären, dass bei Schüchternen unter Leistungsdruck eine eingeschränkte verbale Kreativität vorliegt. Sobald Schüchterne wissen, dass ihre Leistung bewertet wird, führt das bei ihnen zu Stress und sie können nicht mehr die gleiche Leistung erbringen wie in einer stressfreien Situation. 5. Wie häufig oder selten ist Schüchternheit? Leider ist auch dieses Thema, was Fachliteratur angeht, ziemlich vernachlässigt worden. Trotzdem sprechen die Zahlen zur Selbstbeurteilung von Schüchternheit eine deutliche Sprache. Die Mehrheit der Erwachsenen gibt an, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben bereits Erfahrungen mit Schüchternheit gemacht hat und die meisten von ihnen in der Schüchternheit ein persönliches Problem gesehen haben. In Deutschland beläuft sich diese Zahl auf 82 Prozent, in den USA immerhin auf 73 Prozent. Eine Befragung von Cheek et al. (1986) zeigte, dass sich von 118 College-Studentinnen 43 Prozent als gegenwärtig 92 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 159f 49 schüchtern bezeichneten. 41 Prozent gaben an, sie seien früher schon einmal schüchtern gewesen und nur 16 Prozent behaupteten, sie hätten Schüchternheit noch nie erlebt, weder früher noch heute.93 Eine Übersicht zur Schüchternheit in den bestimmten Kulturen liefern die Ergebnisse des Stanford Shyness Projects von Zimbardo (1994; 1986). Sie zeigen die Verbreitung der momentanen Schüchternheit bei 18- bis 21- jährigen Erwachsenen. Japan Taiwan Deutschland Anteil der momentan schüchternen 18- bis 21jährigen Erwachsenen in verschiedenen Nationen (Auswahl nach Zimbardo, 1994, S.304) Indien US-Studierende Mexiko Israel 0 20 40 60 80 94 Das Diagramm lässt deutlich erkennen, dass Schüchternheit in Japan und in Taiwan stärker verbreitet ist als in anderen Kulturen. In Japan bekennen sich 60 Prozent zur Schüchternheit, in Deutschland immerhin die Hälfte.95 Wie häufig Schüchternheit bei Kindern vorkommt, ist nur schwer zu sagen. Man kann sich nur auf die Urteile der Mütter oder der Erzieher beziehen. Kagan, Reznick und Snidman (1987) beobachteten das gehemmte Verhalten von Kindern entweder im Labor oder bezogen sich auf telefonische Auskünfte. Das Ziel war, gehemmte Kinder im Alter von 21 bis 31 Monaten zu finden. Um 60 sehr gehemmte Kinder herauszufinden, mussten sie 400 Kinder analysieren. Die Anzahl der schüchternen Kinder beläuft sich nach ihren Beobachtungen auf etwa einen Wert von 15 Prozent. Bei einer anderen Untersuchung von 93 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 19 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd. 93 50 Berg et al. (1976) sollten Klassenlehrer ihre Kinder der ersten bis vierten Jahrgangsstufe der Grundschule mit Hilfe einer Liste, die eine Reihe von Stichworten zu Verhaltensauffälligkeiten beinhaltete, zuordnen. Schüchternheit und Gehemmtheit befanden sich zwar nicht unter den vorgegebenen Begriffen, jedoch gab es ein paar Verhaltensweisen, die wenigstens mit Schüchternheit in Verbindung gebracht werden konnten.96 Unkonzentriertheit Leistungsstörungen Mangelndes Selbstvertrauen Überempfindlichkeit Ungehorsam mäßig Ängstlichkeit stark Kontaktprobleme Aggressives Verhalten Wutausbrüche Depressive Verstimmung Übertriebene Anpassung 0 10 20 30 40 50 97 Abb: Angaben in Prozent Es gibt für dieses Diagramm jedoch keinen Rückschluss auf die Gesamtzahl der Kinder, da die Prozentangaben nur die Kinder betreffen, für die mindestens einmal eine starke Verhaltensauffälligkeit genannt wurde. Spitzenreiter ist eindeutig die Unkonzentriertheit (47,5%), doch erstaunlicherweise ist mangelndes Selbstvertrauen bei ziemlich vielen Kindern festzustellen und auch Kontaktprobleme treten häufiger auf als aggressives Verhalten. 98 Bei einer Befragung von 406 Kindern im vierten Schuljahr füllten die Lehrer pro Kind der Klasse eine Liste mit verschiedenen Verhaltensmerkmalen aus.99 96 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 20 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 21 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 22 97 51 50 45 40 35 30 25 Mädchen 20 Jungen 15 10 5 0 Aggressiv nicht/kaum schüchtern mäßig schüchtern ziemlich/besonders schüchtern 100 Abb: Von den Lehrerinnen und Lehrern eingeschätzte Schüchternheit bei Kindern im vierten Schuljahr unter Berücksichtigung der Aggressivität. (Angaben in Prozent). Aus Stöckli (1999, S.22) Das Diagramm zeigt die geschlechtsgetrennten Anteile. Als ziemlich oder besonders schüchtern werden 16,5 Prozent bezeichnet. Insgesamt liegt der Anteil der mehr oder weniger schüchternen Kinder mit 40,8 Prozent überraschend hoch. Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass Schüchternheit bei Schulkindern ähnlich verbreitet ist wie bei Erwachsenen.101 Bei der Durchsicht der Literatur fiel mir auf, dass die Angaben über Schüchternheit recht unterschiedlich ausfallen können. Das kann unter anderem auch damit zusammenhängen, dass je nach Methodenansatz statistische Ergebnisse recht unterschiedlich ausfallen können. Dennoch kann man davon ausgehen, dass ungefähr jedes sechste Kind in der Grundschule als besonders schüchtern einzustufen ist. Daher ist es umso wichtiger, dass die Kinder von den Lehrern ermutigt und motiviert werden, ihre Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. 6. Exkurs: Schüchternheit in anderen Kulturen 100 101 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 22 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 23 52 In China ist „Guai Hai Zi” die Bezeichnung für ein ruhiges, schweigsames und schüchternes Kind, das Wort hat jedoch die Bedeutung „gut“ oder „brav“. Schüchternheit erfährt in China also eine positive Wertung. Auch in der Philosophie des Konfuzius wird deutlich, dass Zurückhaltung und Bescheidenheit zu den höchsten Tugenden gehören und Ausdruck menschlicher Reife sind. So kann man sagen, dass China eine „Kultur der Zurückhaltung“ ist und schüchternes Verhalten hier als besonders ausgeprägte Form der Höflichkeit und sozialer Kompetenz verstanden wird. Es stellt sich nun die Frage, ob in China und in den anderen östlichen Kulturen Schüchternheit häufiger anzutreffen ist als bei uns im Westen und ob Schüchternheit dort gern gesehen ist und nicht wie bei uns als negativ und unerwünscht abgeschrieben wird.102 6.1. Chinesische Kinder in der Schule Einen guten Einblick in die kulturspezifische Wirkung und Wertung von Schüchternheit erhält man, wenn man die Lage der chinesischen Kinder im Grundschulalter betrachtet. Chen, Rubin und Li (1995a) verglichen eine Gruppe schüchterner Kinder mit einer Gruppe aggressiver und einer Gruppe nicht schüchterner Kinder des zweiten und vierten Schuljahres. Die Ergebnisse bezogen sich auf die Einschätzungen der Klassenkameraden, so sollte die Stellung der jeweiligen Gruppen im Klassenverband herausgefunden werden. Für die aggressiven Kinder kam es zu ähnlichen Ergebnissen wie auch bei uns im Westen. Aggressivität ging für die Betroffenen mit sozialer Ablehnung, Schwierigkeiten in der Schule und schlechteren Leistungen einher. Aggressive Kinder waren aufgrund ihres Verhaltens in der Klasse also nicht hoch angesehen. Im Gegensatz zu den aggressiven Kindern erzielten die schüchternen Kinder eine erstaunlich positive Einschätzung. Sie hatten in ihrer Klasse viele Freunde und erzielten in Mathematik bessere Leistungen als aggressive oder nicht schüchterne Kinder. Die Autoren schlossen daraus, dass Schüchternheit in China als eine besonders positive Eigenschaft angesehen und mit Höflichkeit und Wohlverhalten in Verbindung gebracht wird.103 102 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 161 103 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 165f 53 Dieselben Forscher (Chen, Rubin und Li, 1995b) führten zwei Jahre später dieselbe Untersuchung noch einmal durch. Die damals 8- und 10-jährigen Kinder waren nun 10 und 12 Jahre alt und wurden erneut befragt. Überraschenderweise konnte das Ergebnis von damals (schüchternes Verhalten wird von den Mitschülern als positiv gewertet und führt zu mehr Beliebtheit, aber nicht zu Ablehnung) bei den 12-jährigen Kindern nicht mehr bestätigt werden. Das Bild kehrte sich für sie vollkommen um, und sie wurden nun aufgrund ihres schüchternen Verhaltens sogar leicht von ihren Mitschülern abgelehnt. Die Einschätzung der Lehrkräfte veränderte sich im Laufe des Alters der Kinder jedoch nicht. Sowohl mit 10 als auch mit 12 Jahren erhielten die Schüchternen eine positivere Einschätzung. Die Lehrer schätzten zum Beispiel ihre schulischen Leistungen besser ein und verliehen den schüchternen Kindern öfter Führungsaufgaben in Gruppenarbeiten.104 Georg Stöckli (Stöckli, 2002b) führte zehn Jahre später eine eigene Untersuchung durch. Er ging der Frage nach, wie Schüchternheit aus der Sicht der Lehrer mit der schulischen Leistung und der Beliebtheit bei schweizerischen und chinesischen Kindern zusammenhängt. Hierzu wurden die Kinder geschlechtsabhängig beurteilt, damit herausgefunden werden konnte, ob Schüchternheit, abhängig vom Geschlecht, verschiedene Auswirkungen hat. Die Stichprobe aus der Schweiz zeigte, dass Schüchternheit sowohl auf die schulische als auch auf die sportliche Leistung und auf die Beliebtheit negative Auswirkungen hat und in der Schweiz als generell nachteiliges Merkmal gilt. Das Ergebnis der chinesischen Stichprobe besagte, dass Schüchternheit nur bei Mädchen zu negativen Auswirkungen führt. Dies führt zur Überlegung, ob im heutigen China nur noch eine neutrale Wertung von Schüchternheit bei den Jungen zu finden ist. Aber auch in der Schweiz gibt es Bereiche, bei denen sich Schüchternheit nur bei Mädchen negativ auswirkt (Deutsch- und Mathematiknote). Daraus kann man folgern, dass das Geschlecht ein noch wichtigeres Kriterium als der kulturelle Hintergrund ist. Jedoch spielen die kulturellen Unterschiede nach wie vor eine wichtige Bedeutung bei der sozialen Wertung von Schüchternheit.105 104 105 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 166f Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 167f 54 12 11,5 11 10,5 10 Schweiz 9,5 China 9 8,5 8 Grundausbildung Berufsausbildung Weiterführende Höhere Ausbildung Ausbildung 106 Abb: Schüchternheit bei schweizerischen und chinesischen Schulkindern in Abhängigkeit vom Bildungsniveau der Eltern. Mithilfe des Diagramms lässt sich gut erkennen, dass die Schüchternheit in der Schweiz mit zunehmenden Bildungsniveau der Eltern abnimmt. Schüchternheit ist also in diesem Land vorwiegend ein Merkmal der unteren Schichten. In China findet man umgekehrte Verhältnisse. Die weniger gebildeten Bevölkerungsgruppen neigen dort weniger zur Schüchternheit, dafür zeigt sich bei den beruflich oder höher Gebildeten ein gewisses Maß an Schüchternheit.107 Jedoch sind weitere Untersuchungen nötig, um die Ausformung, die Wirkung und die Stabilität und die eventuelle Altersabhängigkeit der Kulturen angemessen beurteilen zu können. Trotzdem gibt es einige Hinweise dafür, dass die positive Bedeutung von Schüchternheit in China einem Wandel unterworfen ist. Durch die veränderten wirtschaftlichen, ökonomischen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem neuartigen individuellen Erfolgsdruck wird ein anderes Auftreten als das des „Guai Hai Zi“ (gutes, braves Kind im Sinne von schüchtern) gefordert.108 Es wird deutlich, dass Schüchternheit nicht in jedem Land mit eher negativer Leistungsbeurteilung einhergeht. Schüchternheit hängt also stark von der Kultur und vom 106 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 168 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 169 108 Vgl. ebd. 107 55 Geschlecht des Betroffenen ab. Jedes Land hat seine eigenen Normen, wie Menschen sich verhalten sollen, um als erfolgreich angesehen zu werden. 6.2. Chinesischer Unterricht als ein Grund für Schüchternheit Beim Betrachten der genannten Umstände kommt die Frage auf, warum Kinder in China eher zur Schüchternheit neigen als zum Beispiel Kinder aus Deutschland oder der Schweiz. Einen nicht allzu geringen Teil trägt das chinesische Bildungssystem bei. Das Ziel des Bildungssystems in China besteht unter anderem darin, hundert Millionen hochklassig ausgebildete Fachkräfte, zehn Millionen Experten und eine Gruppe von herausragenden Wissenschaftlern hervorzubringen. Daraus folgt, dass in China sehr viel Wert auf die Bildung gelegt wird. Das Schulleben der Kinder ist sehr hart. Der Unterricht beginnt meistens bereits um sieben Uhr und endet erst spät am Abend. Auch das Wochenende der chinesischen Kinder besteht größtenteils aus Lernen und Hausaufgaben machen. Freizeit haben chinesische Kinder daher kaum. Auf ihnen lastet ein großer Druck. Da sie meistens Einzelkinder aufgrund der Ein-Kind-Politik sind, entlädt sich dieser umso stärker. Die Eltern wollen, dass ihr Kind einen begehrten Studienplatz an einer renommierten Universität bekommt und sparen dafür ihr ganzes Leben. Nur wenn die Kinder hervorragende Leistungen in der Schule erzielen, sind ihre Eltern zufrieden, doch um das zu schaffen, bedarf es sehr viel Anstrengung. Der Unterricht in China ist anders ausgerichtet als in Deutschland. In China wird ein Schüler durch eine falsche Antwort schon negativ gemaßregelt. So kommt es, dass Schüler oft Hemmungen haben, etwas Falsches zu sagen und deshalb versuchen sie, sich der Antwort zu entziehen und melden sich kaum oder gar nicht. Wenn sie vom Lehrer aufgerufen werden, sprechen sie oft nur sehr leise, so dass Lehrer und Mitschüler sie nur schwer verstehen können. Auch kommt es nicht selten vor, dass sie sich bei Fehlverhalten endlos lange Standpauken anhören müssen, bei denen der Lehrer nur kurzzeitig stoppt, um Luft zu holen oder einen Schluck Tee zu trinken.109 Wie in einem früheren Kapitel verdeutlicht wurde, brauchen Kinder Übungssituationen, um altersgemäßes Verhalten zu trainieren. Es ist wichtig, dass Kinder den Umgang mit 109 Vgl. Gransow Bettina (2009): China verstehen lernen 1, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Seite 233 und 234 56 Mitmenschen üben und positive Verstärkung erfahren. Da chinesische Kinder aber meist keine Geschwister haben und den Großteil des Tages in der Schule verbringen, haben sie kaum die Möglichkeit, mit anderen Kindern intensive Kontakte zu pflegen. Enge Freundschaften lassen sich häufig nur schwer aufbauen, da chinesische Kinder auch am Wochenende und in den Ferien mit der Erledigung von Hausaufgaben beschäftigt sind. Es ist nicht verwunderlich, dass chinesische Kinder als schüchterner eingeschätzt werden als Heranwachsende aus westlichen Ländern, da in den östlichen Ländern häufig ein sehr autoritärer Umgang mit ihnen praktiziert wird. Dies führt dazu, dass das Selbstwertgefühl der chinesischen Kinder nicht ausreichend gestärkt wird, und sie aufgrund der ständigen Angst zu versagen, ihre Hemmungen nicht überwinden. Schüchternheit hat in China auf die Leistungsbeurteilung keine negative Auswirkung, da dieses Verhalten von den Lehrern geschätzt wird. 7. Schüchternheit als Schulproblem: Folgerungen Für schüchterne Kinder gibt es leider kaum Hilfsprogramme, in die sie eingebunden werden könnten. Auch ist über das Phänomen Schüchternheit nur sehr wenig bekannt. Grund dafür ist, dass schüchterne Kinder nicht auffallen, sie stellen keine Risikogruppe wie zum Beispiel aggressive Kinder dar. Schüchternheit ist also leicht zu übersehen und stört eigentlich auch niemanden so richtig, da schüchterne Kinder sehr friedlebend und nach außen immer höflich wirken. Doch für die Kinder, die von Schüchternheit betroffen sind, ist das sehr wohl ein Problem. Sie haben mit den Konsequenzen zu leben, denn in der Schule sind die negativen Folgen von Schüchternheit denen von aggressivem Verhalten sehr ähnlich. Dadurch wird deutlich, dass Schüchternheit genauso wie Aggressivität mit sozialen wie auch mit leistungsbezogenen Konsequenzen einhergeht. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, die Folgen der Schüchternheit wenigstens zu minimieren, dies gelingt möglicherweise durch eine Optimierung der Lehr- und Lernqualitäten. Denn leider kann immer wieder festgestellt werden, dass der eine oder andere Fall durch die generelle Unauffälligkeit allmählich und unbemerkt in einen problematischen Bereich hinübergleitet.110 110 Vgl. Georg Stöckli (2007): Schüchternheit als Schulproblem?, Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn, S. 171 57 8. Rückblickende Zusammenfassung Ich habe die wichtigsten Punkte zum Thema meiner Seminararbeit „Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst?“ noch einmal kurz und bündig aufgelistet, um einen besseren Überblick zu gewähren: Fehlendes Selbstvertrauen, Gefühle der Minderwertigkeit und der Unterlegenheit können die Kindheit quälend prägen. Dies wiederum hat zur Folge, dass schüchterne Kinder im späteren Schulleben ihr Können unterschätzen und sich im mündlich orientierten Unterricht zu wenig einbringen. Durch die komplizierte Art der Kinder (wenig sprechen, sich nicht äußern, kaum melden) ist es für Lehrer sehr schwer, schüchterne Kinder richtig und leistungsgerecht einzuordnen. So passiert es häufig, dass Lehrer schüchternen Kindern gegenüber kein Verständnis entgegenbringen. Möglicherweise werden solche Schüler für interesselos und faul gehalten, was sich natürlich negativ auf die Leistungseinschätzung auswirkt. Für schüchterne Kinder ist es schwer, Freunde zu finden, denn gegenüber den Mitschülern besteht eine gestörte Symmetrie, das heißt, die Minderwertigkeitsgefühle und die Unterlegenheit sind auch für die Mitschüler spürbar. Eine Freundschaft wird deshalb oft asymmetrisch, da die schüchternen Kinder sich nach dem Prinzip „Ich bin weniger wert als andere“ verhalten und sich somit mit ihrer negativen Einstellung selbst im Weg stehen. Dieses Fehlen von tragenden Beziehungen führt dazu, dass schüchterne Kinder eher dazu neigen, Stresssymptome zu entwickeln, wenn sie vor der Klasse sprechen müssen, da sie davon ausgehen, dass ihnen weniger ermutigende Anerkennung von den Mitschülern entgegengebracht wird. Die Verbreitung von Schüchternheit liegt bei Schulbeginn bei ca. 18 Prozent und beträgt im Verlauf vom zweiten zum dritten Schuljahr etwa 16 bis 18 Prozent. Außerdem konnte eine geschlechtsabhängige Stabilität gefunden werden. Zum Beispiel erhalten schüchterne Mädchen von den Jungen ihrer Klasse weniger Ablehnung. Jedoch werden schüchterne Jungen von Mädchen und Jungen häufig abgelehnt. Das weist auf die Bedeutsamkeit der geschlechterspezifischen Auswirkungen von Schüchternheit hin. Die Annahme liegt nahe, dass Jungs größeren 58 Druck über die Klasse erfahren, was dazu führen kann, dass sie sich mehr beobachtet und negativ bewertet fühlen. Dies verstärkt die Angst vor Misserfolgen und auch die Wahrscheinlichkeit, leistungsmäßig abzufallen. Schüler, die sich selbst als schüchtern wahrnehmen, erfahren eine schlechtere Benotung. Wer von den Lehrern nicht als schüchtern angesehen wird, hat ganz andere Möglichkeiten, seine Notenbeurteilung möglichst erfolgreich auszubauen. Schüchternheit steht also in einer negativen Beziehung zur Leistungsbeurteilung. Sie geht mit einem pessimistischen Selbstbild einher. Dieses pessimistische Selbstbild ist das zentrale Problem der schüchternen Kinder und wirkt sich auf ihre Leistung und Leistungsbeurteilung aus. In den mathematischen und sprachlichen Fächern konnten für die Noten statistisch bedeutsame Unterschiede festgestellt werden. Die als schüchtern eingestuften Kinder liegen mit ihrem Notendurchschnitt knapp unter dem der nicht schüchternen Kinder. Die Unterscheidung zwischen „schüchtern-ängstlichem“ und „ungeselligem“ Verhalten verdeutlicht, dass die soziale Integration im Klassenverband nicht hauptsächlich auf erblich bedingter "schüchtern-ängstlicher" Neigung, sondern auf "ungeselligen" Verhaltensanteilen beruht. Bezüglich Schüchternheit gibt es auch kulturelle Unterschiede. Im Westen wird Schüchternheit meistens als negativ angesehen, in östlichen Ländern erfährt sie jedoch immer wieder auch positive Reaktionen. 9.Fragebogen Mit Hilfe meines Fragebogens beabsichtige ich, die bereits erarbeiteten Erkenntnisse aus dem Theorieteil zu überprüfen. Hierbei möchte ich darauf hinweisen, dass die Ergebnisse der Umfrage nicht besonders repräsentativ sind, da mir die zur Verfügung stehenden Mittel als sehr gering erscheinen. Die Umfrage bezieht sich nur auf einen kleinen Teil der Schüler, wobei dieser kleine Teil dennoch einen gewissen Aufschluss geben kann. 59 Umfrage Markiere jeweils die Antwort, die für dich zutrifft. Die Zahlen haben jeweils folgende Bedeutung: 1: trifft voll zu, 2: trifft meistens zu, 3: trifft manchmal zu, 4: trifft selten zu, 5: trifft nie zu. Alter:______ Klasse:______ Geschlecht:______ 1 1. Ich stehe gerne im Mittelpunkt. 2. Ich habe kein Problem, meine Meinung vor fremden Menschen zu 2 3 sagen. 3. Ich beneide Klassenkameraden, die keine Probleme damit haben, auf andere zuzugehen. 4. Ich empfinde Kritik vom Lehrer als sehr unangenehm. 5. Ich fühle mich in meiner Klasse wohl. 6. Ich schließe gerne neue Kontakte. 7. Ich beteilige mich am mündlichen Unterricht. 8. Ich bin mit meinem Aussehen zufrieden. 9. Ich versuche, es jedem recht zu machen. 10. Ich bin gerne alleine. 11. Wenn ich vom Lehrer aufgerufen werde, bin ich nervös. 12. Ich denke, dass ich mehr leisten kann, als ich im Mathematikunterricht zeige. 13. Ich bin traurig, wenn ich im Unterricht feststelle, dass ich die richtige Antwort gewusst hätte, mich aber nicht gemeldet habe. 14. Ich bin mit meinen mündlichen Noten zufrieden. 15. Ich denke, dass ich mehr leisten kann, als ich im Sprachunterricht (Deutsch, Englisch, Französisch, Latein) zeige. 16. Wenn ich etwas nicht verstanden habe, frage ich nach. 17. Ich habe Angst vor der Schule. 18. Ich bin in einem Verein. 19. Ich mag mich selber. 20. Ich denke, dass ich mehr leisten kann, als ich im Sportunterricht 60 4 5 zeige. 21. Ich versuche, mich so gut wie möglich an andere anzupassen, damit ich nicht auffalle. 22. Ich habe viele Freunde. 23. Ich fühle mich nur im Umkreis meiner Freunde wohl. 24. Ich treffe mich gerne mit Freunden. 25. Ich habe ein Problem, meine Meinung vor Klassenkameraden zu sagen. 26. Ich melde mich nur, wenn ich mir sicher bin, dass meine Antwort richtig ist. 27. Ich nehme gerne an Klassenfahrten teil. 28. Ich sage meine Meinung nicht, damit ich mich bei anderen nicht unbeliebt mache. 29. Ich fühle mich unter fremden Menschen unwohl. 30. Ich bin aufgeregt, wenn ich ein Referat vor meiner Klasse halten muss. 31. Am liebsten bin ich zu Hause. 32. Ich habe z.B. Herzklopfen, Zittern, Schwindelgefühle, wenn ich vor anderen Leuten sprechen muss. 9.1. Einleitung zum empirischen Teil Anschließend an den Fragebogen erkläre ich, was in diesem abgefragt wurde. So sollen die Beschreibungen der Schaubilder in Bezug zum Theorieteil stehen und diesen überprüfen. 9.2. Auswertung des Fragebogens Meine empirischen Untersuchungen zum Thema „Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst?“ wurde an einer Stichprobe von 231 Schülern der Liebfrauenschule Sigmaringen durchgeführt. Von den befragten Schülern waren 106 männlich und 125 weiblich, zudem verteilten sich diese gleichmäßig auf verschiedene Altersstufen. Die Umfrage umfasst Schüler der fünften bis zur 13. Klasse des Gymnasiums. 61 Ich untersuchte in meinem Fragebogen die Einstellung der 231 Schüler zu verschiedenen Aspekten. Danach sortierte ich durch mehrmalige Auswahlvorgänge besonders schüchterne Schüler aus. Mit diesen 30 Schüchternen führte ich weitere Untersuchungen durch, die unter anderem Aufschluss über die Zufriedenheit der schulischen Leistung in den Fächern Mathematik, Sprachunterricht (Deutsch, Englisch, Französisch und Latein) und Sport geben sollten. Außerdem untersuchte ich die gehemmten Schüler auf ihre Zufriedenheit mit ihren mündlichen Leistungen. Desweiteren richtete ich mein Augenmerk auf verschiedene Merkmale, welche mir für Schüchternheit typisch zu sein schienen und ging der Frage nach, inwiefern diese zutrafen. Zur Befragung der Schüler benutzte ich ein System, welches auch die Universität Tübingen zur empirischen Überprüfung ihrer Theorien verwendet. Hierbei wurden die Antworten zu Fragen von den Schülern jeweils in einer Skala von 1-5 eingetragen, wobei 1 „trifft voll zu“ und 5 „trifft nie zu“ bedeutet. Daher kann die Einstellung der Schüler viel genauer untersucht werden als bei einer Frage, die nur mit „Ja“ und „Nein“ beantwortet werden kann. Bei der Auswertung wurden nicht alle Thesen der Umfrage behandelt, da viele nicht relevant für die Untersuchung waren und keine wichtigen Ergebnisse lieferten. Im Folgenden wird veranschaulicht dargestellt, wie die Schüler der Liebfrauenschule den Fragebogen zum Thema „Wird die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst?“ beantwortet haben und welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können. Da sich wie in Kapitel 1.2. beschrieben, schüchterne Kinder vor der Begegnung mit anderen aufgrund ihrer sozialen Bewertungsangst fürchten, ist folgende These in diesem Zusammenhang von Bedeutung: These 1: Ich fühle mich unter fremden Menschen unwohl. Die Auswertungen sind im folgenden Diagramm verdeutlicht: 62 Grün: Klasse 5 Blau: Klasse 8 Gelb: Klasse 10 Rot: Klasse 13 Am Schaubild lässt sich erkennen, dass Klasse 5 mit ca. 31 Prozent der Behauptung, sich unter fremden Menschen unwohl zu fühlen, am häufigsten zustimmt. Das könnte daran liegen, dass der Schulbesuch an der Liebfrauenschule mit dem großen Gebäudekomplex und den vielen Menschen, denen sie begegnen, eine neue und ungewohnte Situation darstellt. In Kapitel 2.2., S. 13, erwähnte ich, dass sich sozial unsichere Kinder meist in unbekannten Situationen unwohl fühlen. Sie leiden ständig unter der Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Außerdem sind viele Fünftklässler deutlich kleiner als die Mitschüler, denen sie begegnen, was dazu führen kann, dass sie sich unterlegen und unsicher fühlen. Im Gegensatz dazu stimmen die Klassen 8, 10 und 13 der Behauptung „ich fühle mich unter fremden Menschen unwohl“ mit 0 Prozent zu. Man kann also feststellen, dass im Laufe der Schuljahre ein Gewöhnungseffekt eintritt. Das zeigt die Auswertung der Antworten in den achten Klassen. 55% dieser Schüler haben angekreuzt, dass sie sich nie oder selten unter fremden Menschen unwohl fühlen. In den zehnten Klassen sind es 50 Prozent. Immerhin kreuzten fast 40 Prozent der Fünftklässler an, dass sie sich nie oder selten unter fremden Menschen unwohl fühlen. Eine Erklärung wäre, dass es sich hierbei um die selbstbewussten Unterstufenschüler handelt. 63 Da Schüchterne übermäßig ängstlich sind und durch Unsicherheit sowie Vermeidungsverhalten auffallen (vgl. Kapitel 1.2.), beleuchtete ich den Aspekt „Angst vor der Schule“. These 2: Ich habe Angst vor der Schule. Die Auswertungen sind im folgenden Diagramm verdeutlicht: 64 Grün: Klasse 6 Blau: Klasse 8 Gelb: Klasse 10 Rot: Klasse 13 Bei dieser Darstellung ist auffallend, dass fast 14 Prozent der Sechstklässler angeben, dass der Punkt „Angst vor der Schule zu haben“ voll oder meistens zutrifft. Während in der achten Klasse nur 3 Prozent der Schüler angeben, Angst vor der Schule zu haben, sind es in der zehnten Klasse 13 Prozent. In der dreizehnten Klasse gab in dieser Hinsicht niemand Ängste an. In der Unterstufe wäre denkbar, dass die Ängste durch Überforderung (viele Hausaufgaben, voller Stundenplan, zahlreiche Klassenarbeiten) ausgelöst werden. Die Unterschiede der Anforderungen, die in der Grundschule gestellt werden, sind erheblich, im Gegensatz zu denen des achtjährigen Gymnasiums. Auffallend ist, dass die Achtklässler weniger Ängste zeigen. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass sie sich an das Stoffpensum und die Leistungsanforderungen gewöhnt haben und zudem meist einen festen Freundeskreis besitzen. Deutlich kommt zum Vorschein, dass in der zehnten Klassen etwas mehr Ängste auftreten als bei den Sechstklässlern. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass sie Zweifel haben, den Anforderungen bis zum Abitur gewachsen zu sein. Dies wiederum könnte damit in Zusammenhang stehen, dass aufgrund der Pubertät die Leistungen abgesunken sind. In der 13. Klasse verwundert es nicht, dass die Angst vor der Schule nicht vorhanden ist, da die Schüler aus Klasse 13 zum Zeitpunkt der Umfrage bereits ihr 65 schriftliches Abitur hinter sich gebracht hatten. Sie hatten also keine ernsthaften Befürchtungen mehr, den Anforderungen zu genügen. Da bei Schüchternheit verschiedene Verhaltensmerkmale festgestellt werden, untersuchte ich auch die These „ich bin gerne allein“. Sozial unsichere Kinder leben häufig zurückgezogen, sind kontaktängstlich, vermeiden deshalb gern Sozialkontakte und isolieren sich (vgl. Kapitel 1.2., S.5). These 3: Ich bin gerne alleine. Die Auswertungen sind im folgenden Diagramm verdeutlicht: 66 Grün: Klasse 5 Blau: Klasse 8 Gelb: Klasse 10 Rot: Klasse 13 Bei näherer Betrachtung des Schaubilds lässt sich erkennen, dass ca. 52% der Fünftklässler nie gerne alleine sind. Ungefähr 3 Prozent kreuzten an, dass die Aussage „Ich bin gerne alleine“ für sie voll zutrifft. Für die Acht- und Zehntklässler trifft die Aussage „nicht gerne allein zu sein“ nur noch bei ca. 21 Prozent zu. Im Gegensatz dazu kreuzten 28 Prozent der Schüler aus Klasse 13 an, dass die Aussage meistens zutrifft. Daraus schließe ich, dass mit zunehmendem Alter der Schüler das Bedürfnis, allein sein zu wollen, wächst. Somit lässt sich schlussfolgern, dass diese Antworten nicht für eine Auswertung der Frage bezüglich Schüchternheit relevant sind. Es waren nicht in erster Linie die schüchternen Schüler, die ankreuzten, dass sie gerne alleine sind, sondern diejenigen, die schon älter sind. Die negativen Gefühle der Schüchternen können körperliche Symptome auslösen und sich in Nervosität äußern (vgl. Kapitel 1.3., S.6). 67 These 4: Wenn ich vom Lehrer aufgerufen werde, bin ich nervös. Die Auswertungen sind im folgenden Diagramm verdeutlicht: Grün: Klasse 5 Blau: Klasse 8 Gelb: Klasse 10 Rot: Klasse 13 Am Diagramm kann abgelesen werden, dass ca. 13 Prozent der Fünftklässler, 14 Prozent der Achtklässler, 17 Prozent der Zehntklässler und sogar 18 Prozent der 13.Klässler ankreuzten, dass es voll oder meistens zutrifft, dass sie nervös sind, wenn der Lehrer sie aufruft. Daraus lässt sich schließen, dass sich ältere Schüler mehr Gedanken darüber machen, ob sie richtig reagieren und die zutreffenden Antworten wissen. Da sie mehr reflektieren, wachsen vermutlich die Versagensängste. Erstaunlicherweise reagieren ca. 68 Prozent der Fünftklässler nicht oder meist nicht nervös, wenn sie vom Lehrer aufgerufen werden. Eigentlich müsste der Prozentsatz der Kinder, die mit Hemmungen reagieren, in jüngeren Jahren höher liegen, da der Altersabstand zur Autoritätsperson (Lehrer) größer ist (vgl. Kapitel 2.1., S.10) und jüngere Schüler weniger Selbstbewusstsein haben als ältere. Mit zunehmenden Alter verhalten sich die Heranwachsenden den Lehrern gegenüber zunehmend partnerschaftlich und müssten demzufolge auch weniger nervös reagieren, wenn sie vom Lehrer aufgerufen werden. Die Annahme lässt sich durch die Umfrage jedoch nicht bestätigen. Aus alltäglichen Beobachtungen im Schulgebäude lässt sich erkennen, dass 68 Unterstufenkinder zunehmend forscher auftreten und mehr Selbstbewusstsein zu besitzen scheinen. Das könnte an der Erziehung, in der mehr Wert auf Durchsetzungsvermögen und Kritikfähigkeit gelegt wird und dem Wandel des gesellschaftlichen Umfelds liegen. Da Schüchterne nicht gerne im Mittelpunkt stehen (vgl. Kapitel 4.1., S.39), versuchte ich über die Auswertung von These 5 „ich stehe gerne im Mittelpunkt“ herauszufinden, bei wie vielen Schülern dies nicht der Fall ist. These 5: Ich stehe gerne im Mittelpunkt Die Auswertungen sind im folgenden Diagramm verdeutlicht: 69 Grün: Klasse 5 Blau: Klasse 7 Gelb: Klasse 9 Rot: Klasse 13 In diesem Diagramm werden die Klassen 5, 7, 9 und 13 in Hinblick auf die These „Ich stehe gerne im Mittelpunkt“ untereinander verglichen. 63 Prozent der Fünftklässler kreuzten an, dass sie nie oder selten im Mittelpunkt stehen wollen. Ebenfalls trifft diese Feststellung bei 15 Prozent der Siebtklässler und 27 Prozent der Neuntklässler zu. 20 Prozent der Schüler aus Klasse 13 haben diese These mit „trifft selten zu“ beantwortet. Der Unterschied zwischen der fünften und siebten Klasse ist enorm groß. Die starke Unsicherheit der Fünftklässler, vor Menschen zu stehen, scheint sich im Laufe kürzester Zeit zu legen. Während die Behauptung „ich stehe gerne im Mittelpunkt“ bei Fünftklässlern mit ca. 20 Prozent meist oder voll zutrifft, sind es bei den Siebtklässlern bereits 28 Prozent, bei den Neuntklässlern ca. 35 Prozent und bei den Schülern aus Klasse 13 sogar 40 Prozent. Daraus lässt sich folgern, dass Hemmungen im Laufe der Zeit abgebaut werden können und das Selbstbewusstsein zunimmt. An den Schulen wird selbstbewusstes Auftreten gezielt trainiert durch das Abhalten von Präsentationen, GFS’s, Buchvorstellungen usw. Es scheint so, als würden diese Methoden Erfolge erzielen. 70 In Kapitel 1.3. auf Seite 5 meines Theorieteils wird beschrieben, dass Schüchternheit unter anderem durch den Wunsch, alles richtig machen zu wollen, zum Ausdruck kommt. Schüchterne möchten akzeptiert werden und versuchen deshalb, alles recht zu machen. Sie denken, dass sie nicht akzeptiert werden, wenn sie sich nicht angepasst verhalten und möglicherweise sogar kritisiert werden könnten. These 6: Ich versuche, es jedem recht zu machen. Die Auswertungen sind im folgenden Diagramm verdeutlicht: 71 Grün: Klasse 5 Blau: Klasse 8 Gelb: Klasse 10 Rot: Klasse 12 Das Diagramm veranschaulicht, dass die Fünftklässler die These „Ich versuche, es jedem recht zu machen“ zu 74 Prozent mit „trifft voll zu“ oder „trifft meistens zu“ angekreuzt haben. Nur 3 Prozent der Schüler aus Klasse 5 geben an, dass dieses Merkmal nie zutrifft. In der achten und zehnten Klasse kreuzten bei dieser These 50 Prozent und in der dreizehnten Klasse 48 Prozent an, dass sie voll oder meistens zustimmen. Daraus schließe ich, dass die Fünftklässler gewohnt sind, den Willen der Eltern zu erfüllen und sich leichter tun, den Interessen der Gleichaltrigen gerecht zu werden. Außerdem versuchen sie, Freundschaften aufzubauen und wollen sich deshalb bei anderen nicht unbeliebt machen. Im Jugendalter setzt die Pubertät ein, der eigene Wille verstärkt sich und will durchgesetzt werden, Freundschaften wurden gefestigt und so kann Widerstand riskiert werden. Durch die Auswertung der Schaubilder erkannte ich, dass die Beantwortung keiner dieser Einzelfragen ausreichend war, um die Verbreitung und den Verlauf von schüchternem Verhalten und dessen Auswirkungen auf die schulische Leistung aufzuzeigen. In Kapitel 1.3. Seite 6 erwähnte ich bereits, dass sich Schüchternheit durch ganz verschiedene Symptome äußern kann. Da sich diese Symptome als Komplex zeigen, ging ich folgendermaßen vor: Ich 72 stellte mir die Frage, welche Thesen auf schüchterne Kinder besonders gut zutreffen müssten. Da Schüchternheit verschieden stark ausgeprägt sein kann, berücksichtigte ich pro Frage die verschiedenen Grade von „trifft manchmal“ bis „trifft voll zu“. Bei folgenden Thesen waren die typischen Verhaltensmerkmale für Schüchternheit erfüllt: - Ich versuche, es jedem recht zu machen. - Wenn ich vom Lehrer aufgerufen werde, bin ich nervös. - Ich melde mich nur, wenn ich mir sicher bin, dass meine Antwort richtig ist. - Ich fühle mich unter fremden Menschen unwohl. - Ich bin aufgeregt, wenn ich ein Referat vor meiner Klasse halten muss. Außerdem müssten folgende Fragen mit „trifft manchmal“, „selten“ oder „nie zu“ beantwortet werden: - Ich stehe gerne im Mittelpunkt. - Ich beteilige mich am mündlichen Unterricht. Die von der Schule ausgegebene Berechnungssoftware konnte ich für weitere Untersuchungen nicht verwenden, da sie die komplizierteren Kriterien, mit denen ich weiterarbeitete, nicht mehr erfasste. Um herauszufinden, wie die Gruppe schüchterner Kinder die Fragen in Bezug auf die schulische Leistung beantwortet hat, wertete ich die Angaben anhand wiederholter Auswahl- und Sortiervorgänge einer Excel-Tabelle aus: Die Feststellung „ich stehe gerne im Mittelpunkt“ wurde von 182 Schülern mit „trifft manchmal“, „trifft selten“, „trifft nie zu“ beantwortet. Da es sich bei dieser Gruppe mit Sicherheit nicht nur um Schüchterne handelt, musste als nächstes das Kriterium „ich beteilige mich am mündlichen Unterricht“ mit der Antwort „trifft manchmal zu“, „trifft selten zu“, trifft nie zu“ beurteilt werden. Dies war bei 75 Schülern der Fall. Nun traf ich eine engere Auswahl mit der These „ich versuche es jedem recht zu machen“. 60 der Schüler kreuzten die Antworten „trifft manchmal“, „trifft meistens“, „trifft voll zu“ an. Da Schüchterne verstärkt Angst haben, sich zu blamieren, untersuchte ich, wieviele von diesen 60 Schülern die Feststellung „ich melde mich nur, wenn ich mir sicher bin, dass meine Antwort richtig ist“ mit „trifft manchmal, meist, voll zu“ bejahten. Bei 52 Schülern war dies 73 der Fall. Von diesen Schülern beantworteten 35 die These „ich fühle mich unter fremden Menschen unwohl“ mit „trifft manchmal, meistens, voll zu“. Aufgrund der erhöhten Neigung zu Nervosität von Schüchternen beleuchtete ich als letztes die Feststellung „ich bin aufgeregt, wenn ich ein Referat vor der Klasse halten muss“. 30 Schüler kreuzten die Spalte „trifft manchmal, meistens, voll zu“ an. All diese Kriterien erfüllten 30 von 231 Schülern. Das entspricht einem Prozentsatz von 12,5. Dies erschien mir als ein realistischer Wert, da ich im Kapitel 3.6. auf Seite 31 aufzeigte, dass 16 bis 18 Prozent der Kinder im Grundschulalter als ziemlich oder besonders schüchtern eingestuft werden. Nachdem sich in Deutschland immerhin 50 Prozent der Erwachsenen zwischen 18 bis 21 Jahren für schüchtern halten (vgl. Kapitel 5, S. 46), kann man davon ausgehen, dass sich die Anzahl der ziemlich und besonders Schüchternen am Gymnasium nicht erheblich von denen in der Grundschule unterscheiden dürfte. Durch das folgende Schaubild möchte ich die Verbreitung der Schüchternheit darstellen. Anhand des Diagramms veranschauliche ich, wie viele der 30 Schüler männlich und weiblich sind, als auch jünger, beziehungsweise älter als 15 Jahre sind. 74 Unter den überdurchschnittlich Schüchternen befinden sich 9 Jungen, die jünger als 15 Jahre und 2 Jungen, die älter als 14 Jahre alt sind. Bei den Mädchen sind 8 unter 15 Jahre und 11 mindestens 15 Jahre alt. Aufgrund der geringen Ergebnisse kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese statistischen Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung übertragen werden können. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen der Schüchternheit der Mädchen und den Entwicklungsjahren aufgrund der einsetzenden Pubertät, die das gehemmte Verhalten möglicherweise fördert. Bei den Jungen hat sich die Schüchternheit deutlich reduziert, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass Jungen in der Pubertät eher extrovertiert auftreten. Die folgenden Schaubilder sollen aufzeigen, ob die schulische Leistung durch Schüchternheit beeinflusst wird. 75 Bei näherer Betrachtung dieses Schaubilds lässt sich erkennen, dass sieben Schüler von insgesamt neun entweder voll oder meistens mit ihrer Leistung im Fach Mathematik zufrieden sind. Nur ein Schüler ist nur manchmal damit zufrieden und einer nie. Das bedeutet, 78 Prozent der Schüler sind mit ihrer Leistung in Mathe zufrieden, 22 Prozent sind eher unzufrieden. Diese Ergebnisse stimmen mit den Feststellungen in Kapitel 4.2. auf Seite 41 überein. In Mathe spielt die mündliche Leistung eine geringere Rolle als in den sprachlichen Fächern. In Hinblick auf Schüchternheit schneiden Jungen in Mathe nicht schlechter ab. Nimmt man nun die Ergebnisse der Schülerinnen in Augenschein, lässt sich feststellen, dass insgesamt 10 von 20 voll oder meistens mit ihrer Note zufrieden sind. Vier Mädchen sind manchmal damit zufrieden, und sechs Mädchen sind selten oder nie mit ihrer Leistung in Mathe zufrieden. Das bedeutet, 50 Prozent der Mädchen sind mit ihrer Leistung in Mathematik zufrieden, 50 Prozent dagegen eher nicht. Wie bereits in Kapitel 4.2. auf Seite 41 erwähnt, wirkt sich die Schüchternheit der Mädchen negativ auf die Leistungsfähigkeit im Fach Mathematik aus. Die Ergebnisse meiner Umfrage stimmen mit den Untersuchungen von Georg Stöckli überein. 76 Dieses Diagramm veranschaulicht, dass sechs von elf Schülern (55%) mit ihrer sprachlichen Leistung zufrieden sind. Eher unzufrieden sind fünf von diesen elf Schülern (45%). Betrachtet man nun die Ergebnisse der Mädchen, sind zehn von 19 (53%) mit ihrer Leistung in den sprachlich orientierten Fächern zufrieden. Neun von 19 Mädchen (47%) sind mit dieser Leistung eher unzufrieden. Knapp die Hälfte der schüchternen Jungen und Mädchen sind mit ihrer Leistung in den sprachlichen Fächern nicht zufrieden. Dies ist nicht verwunderlich, da der sprachliche Unterricht stark mündlich orientiert ist. Aus der Umfrage von Georg Stöckli (Kapitel 4.2. auf Seite 41) geht hervor, dass sowohl schüchterne Mädchen als auch Jungen ihre Probleme in den sprachlichen Fächern haben. Das Geschlecht spielt hierbei also keine Rolle, da schüchterne Schüler Angst davor haben, sich vor anderen zu präsentieren. 77 Am Diagramm kann abgelesen werden, dass nur drei von elf Schülern (27%) mit ihrer sportlichen Leistung zufrieden sind. Acht von diesen elf Schülern (73%) sind eher unzufrieden mit ihrer sportlichen Leistung. Betrachtet man nun die Ergebnisse der Mädchen, sind nur fünf von 19 (26%) mit ihrer Leistung zufrieden. Auffällig ist, dass 14 von 19 Mädchen (74%) mit ihrer sportlichen Leistung unzufrieden sind. Die Unzufriedenheit der schüchternen Mädchen und Jungen mit ihrer sportlicher Leistung ist fast identisch. Fast drei Viertel der Schüler und Schülerinnen sind der Ansicht, dass sie im Sportunterricht mehr leisten könnten als sie zeigen. Verwunderlich ist das nicht, denn wie bereits in Kapitel 3.6. auf Seite 39 beschrieben, haben Schüchterne eine Abneigung gegenüber bestimmten Arten der Selbstpräsentation. Sie stehen ungern im Mittelpunkt, richten ihre Aufmerksamkeit stark auf sich selbst und halten sich oft für eine unbeholfene Person. Im Sportunterricht fürchten sie, bloßgestellt zu werden, deshalb stehen sie lieber abseits und nehmen nur mit Unlust an den Übungen teil (vgl. Kapitel 3.5., S.30). Die schüchternen Kinder sind sportlich weniger motiviert und werden deshalb schlechter beurteilt. Unabhängig von den Fächern beleuchte ich im folgenden Schaubild die Zufriedenheit der Schüchternen mit ihren mündlichen Noten. 78 Dieses Diagramm veranschaulicht, dass nur 23 Prozent der Befragten besonders schüchternen Schüler mit ihren mündlichen Noten „meistens“ oder „voll“ zufrieden sind. 77 Prozent und somit die deutliche Mehrheit der Schüchternen kreuzte an, dass sie nur „manchmal“, „selten“ oder „nie“ mit den mündlichen Leistungen zufrieden ist. Im Gymnasium fließt die mündliche Note mit einer Gewichtung von mindestens 33 Prozent in die Gesamtnote ein. Da Schüchterne nicht auffallen wollen, melden sie sich im Unterricht ungern. Schließlich haben sie Angst, sich im Unterricht zu blamieren. Lehrer messen über die mündliche Aktivität das Interesse, die Motivation und den Lernerfolg der Schüler. Rege Mitarbeit hinterlässt einen positiven Eindruck. Schüchterne Schüler, die Schwierigkeiten mit den mündlichen Anforderungen haben, bewirken mit ihrem gehemmten Verhalten und der Nichtbeteiligung am Unterricht das Gegenteil. Dies wirkt sich zwangsläufig negativ auf die mündlichen Noten aus (vgl. Kapitel 3.2., S.23f) Das folgende Diagramm gibt einen Überblick über die Antworten („trifft manchmal“, „trifft meistens“, „trifft voll zu“) von schüchternen Schülern zu verschiedenen Thesen, die gehemmtes Verhalten charakterisieren. 79 Dieses Schaubild zeigt, dass 17 von 30 schüchternen Schülern (57%) nervös sind, wenn sie vom Lehrer aufgerufen werden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sozial gehemmte Personen eine negative Erwartungshaltung haben. Sie befürchten, dass sie sich vor den Mitmenschen blamieren könnten, indem sie die Antwort nicht wissen oder eine falsche Antwort von sich geben. Die ständig vorhandene Bewertungsangst führt dazu, dass physische und psychische Symptome wie Nervosität, Konzentrationsschwierigkeiten usw. auftreten (vgl. Kapitel 1.3., S.6). Mit 80 Prozent (24 von 30 Schülern) zeigen die Schüchternen, dass These 2 „ich bin traurig, wenn ich mich im Unterricht nicht gemeldet habe, obwohl ich die Antwort gewusst hätte“ ziemlich zutreffend ist. Das bedeutet, dass sich die Schüchternen weniger zutrauen aufgrund ihres niedrigen Selbstwertgefühls, obwohl sie genauso begabt sind wie die nichtschüchternen Schüler (vgl. Kapitel 4.3., S 43). Sie bringen ihre Begabungen und Fähigkeiten nicht zum Ausdruck. Acht von 30 schüchternen Schülern (27%) kreuzten an, dass sie Angst vor der Schule haben. In Kapitel 1.2. auf Seite 4 wird betont, dass Schüchterne unter übermäßiger Ängstlichkeit leiden. Sie fürchten sich davor, sich in der Schule präsentieren zu müssen. Außerdem fühlen sie sich oft unsicher, glauben den Anforderungen nicht gewachsen zu sein und vermeiden gern Sozialkontakte. Die Lehrer als Autoritätspersonen können die Ängste bei schüchternen Kindern verstärken (vgl. Kapitel 2.1. S.11). 80 Schüchterne sind von Natur aus schweigsam und beteiligen sich ohnehin nur selten am mündlichen Unterricht. Es überrascht nicht, dass es, wie aus dem Diagramm ersichtlich wird, 47 Prozent schwer fällt, die eigene Meinung und den eigenen Standpunkt zu formulieren. Noch schwerer fällt es ihnen, diesen durchzusetzen (vgl. Kapitel 1.2. , S.4f). Bei der These „ich sage meine Meinung nicht, damit ich mich bei anderen nicht unbeliebt mache“ fiel die Antwort genauso aus. Wieder meinten 47 Prozent der Schüchternen, dass sie mit ihrer Meinung zurückhaltend sind. Das kommt daher, dass sie die soziale Bewertung fürchten (vgl. Kapitel 1.2. auf Seite 4). Das Schaubild zeigt außerdem, dass 70 Prozent der schüchternen Schüler sich am liebsten zu Hause aufhalten. In Kapitel 1.2. auf Seite 4 wird darauf hingewiesen, dass sich Schüchterne nur schwer von den Eltern und dem häuslichen Umfeld trennen. Sie leben gerne zurückgezogen, sind kontaktängstlich und laufen Gefahr, sich sozial zu isolieren, weil sie sich ungern in der Öffentlichkeit bewegen (vgl. Kapitel 1.2., S.5). Sie haben oft nur wenige oder gar keine Freunde (vgl. Kapitel 3.3., S.27). Abschließend untersuchte ich die Thesen „ich mag mich selber“ und „ich bin mit meinem Aussehen zufrieden“. 81 Das Schaubild veranschaulicht, dass drei von 30 Schülern nie mit ihrem Aussehen zufrieden sind, zwei selten, zehn manchmal, 13 meistens und zwei voll. Dieses Ergebnis erstaunt, da die Hälfte der Befragten mit ihrem äußeren Erscheinungsbild zufrieden ist. In Kapitel 4 auf Seite 33, wird darauf hingewiesen, dass mit zunehmender Schüchternheit die Zufriedenheit mit dem Erscheinungsbild sinkt. Weil auffällig gehemmte Schüler wenig Selbstbewusstsein besitzen, wäre es bei dieser These nicht verwunderlich, wenn der Prozentsatz derjenigen, die mit ihrem Aussehen unzufrieden sind, höher läge. Das letzte Diagramm veranschaulicht, dass zwei von 30 schüchternen Schülern ankreuzten, dass die These „ich mag mich selber“ nie zutrifft, bei drei Schülern nur selten, bei fünf manchmal, bei 13 meistens und bei sieben voll. Dieses Ergebnis fällt noch positiver aus als das letzte, da sich 67 Prozent der gehemmten Schüler offensichtlich in ihrer Haut wohl fühlen. Auch dieses Resultat überrascht, da Schüchternheit oft durch körperliche Symptome zum Ausdruck kommt wie zum Beispiel Nervosität, Herzklopfen, Übelkeit oder Kopfschmerzen usw. (vgl. Kapitel 2.3., Seite 6). Um diesen körperlichen Symptomen zu entkommen, können Vermeidungsverhalten und starke Verhaltenseinschränkungen die Folge sein. Scheinbar sind die Befragten von diesen Problemen nicht so stark betroffen. 9.3. Zusammenfassung der Umfrageergebnisse 82 Die Auswertung meines Fragebogens, der dazu beitragen soll, meine Fragestellung zu beantworten, hat zu folgenden interessanten Ergebnissen geführt: Einerseits wurden die Einstellungen zu verschiedenen Aspekten der 231 befragten Schüler untersucht und andererseits speziell der Zufriedenheitsgrad der schüchternen Schüler mit ihren Noten in verschiedenen Fächern aufgezeigt. Die Erkenntnisse, die ich durch die Fachliteratur gewann, konnten durch meine Untersuchungen weitgehend bestätigt werden. Viele der Schwierigkeiten, die Schüchternheit mit sich bringt, lassen sich nicht in direkte Beziehung zur Leistungsbeurteilung von schüchternen Schülern setzen (z.B. „Ich bin mit meinem Aussehen zufrieden“.). Deshalb richtete ich mein Augenmerk auch darauf, wie es dem ausgewählten Personenkreis mit seinem Problem geht. Zusammenfassend kann ich sagen, dass sich die mangelnde mündliche Beteiligung der schüchternen Schüler nur minimal auf die Leistung in Mathematik auszuwirken scheint. In den sprachlichen Fächern zeigte sich, dass die Leistungen der sozial gehemmten Schüler weniger ihren tatsächlichen Begabungen zu entsprechen scheinen. Das verwundert nicht, da in diesen Fächern mehr Wert auf die mündliche Mitarbeit gelegt wird. Auch im Sportunterricht sieht es so aus, dass die Schüchternen nicht ihr eigentliches Können präsentieren. Dieses Resultat überrascht ebenfalls nicht, da der genannte Personenkreis aufgrund seiner pessimistischen Selbsteinschätzung weniger motiviert ist, sich sportlich zu betätigen. Nur knapp ein Viertel der schüchternen Schüler zeigt sich mit seinen mündlichen Leistungen zufrieden. Auch das überrascht nicht, da sich sozial gehemmte Personen mündlich ungern einbringen. Die Verbreitung der ziemlich stark ausgeprägten Schüchternheit liegt nach meiner Umfrage bei ca. 12 Prozent im Gymnasium der Liebfrauenschule. Das könnte ein realistischer Wert sein. Die Auswertungen der Angaben, die die 30 ausgewählten Schüler zu einzelnen Thesen machten, führten zu nachvollziehbaren Ergebnissen. Dies bestärkt die Annahme, dass sich unter den 30 ausgewählten Schülern tatsächlich stark sozial Gehemmte befinden. Dieser Personenkreis ist jedoch so klein, dass es nicht möglich ist, über den zeitlichen Verlauf der Schüchternheit signifikante Aussagen zu machen. Die Informationen aus den Schaubildern, die sich auf alle 231 Schüler bezogen, konnten nicht auf den Personenkreis der Schüchternen übertragen werden. Im Hinblick auf die Auswertung der Ergebnisse, die alle 231 Schüler umfasst, konnte festgestellt werden, dass sich bezüglich der einzelnen Verhaltensmerkmale 83 durchaus deutliche positive Tendenzen im Verlauf der Entwicklung zeigen. Zum Beispiel hatten in puncto „sich unter fremden Menschen wohl fühlen“ 31 Prozent der Fünftklässler ein Problem, die Älteren dagegen hatten keine Schwierigkeiten mehr damit. Der Wunsch „im Mittelpunkt stehen zu wollen“ nahm in den höheren Klassen deutlich zu. Darüber hinaus hatten 74 Prozent der Unterstufenschüler das Problem, es allen recht machen zu wollen, bei den älteren Schüler traf das wesentlich seltener zu. Während meiner Arbeit stellte ich fest, dass es äußerst schwierig ist, zuverlässige Kriterien für das komplexe Erscheinungsbild der Schüchternheit zu finden. Dazu kommt, dass sich Schüchternheit sich unterschiedlich stark ausgeprägt zeigen kann. Sinnvoll wäre es, Langzeitstudien zum Thema Schüchternheit zu erstellen. Dadurch könnte der Verlauf schüchternen Verhaltens im Einzelfall genau beobachtet werden. 10. Schluss 84 Abschließend lässt sich feststellen, dass Schüchternheit ein Phänomen ist, über das es noch sehr viel zu erforschen gibt. Obwohl man vermuten könnte, die Verhaltensweisen des Menschen seien gut erklärbar, hat sich für mich herausgestellt, dass wir nur sehr wenig über Schüchternheit wissen. Dabei ist Schüchternheit genau wie andere Verhaltensauffälligkeiten ein wichtiges Thema, um den Menschen besser verstehen zu können. Ich denke, die Schwierigkeit, etwas über Schüchternheit herauszufinden, besteht darin, dass sie, wie auch die von ihr Betroffenen, eher unscheinbar in den Hintergrund des Alltagslebens rückt. Schüchterne Menschen versuchen, für die Gesellschaft so gut wie unsichtbar zu sein, und aus diesem Grund wird Schüchternheit sozusagen zu einer „unscheinbaren Verhaltensauffälligkeit“. Ich hoffe also, dass in Zukunft mehr auf gehemmtes Verhalten eingegangen und dass dieses Thema zugänglicher wird. Denn wie man sieht, reagieren Lehrer sehr unterschiedlich auf schüchterne Kinder. Einerseits gibt es welche, die schüchterne Schüler falsch einschätzen und das extrem gehemmte Verhalten nicht verstehen. So kann es vorkommen, dass ein solches Kind vom Lehrer nur ungern in die nächste Klassenstufe versetzt wird. Dagegen gibt es Lehrer, die sich sehr gut in ein schüchternes Kind hineinversetzen können und verstehen, dass es im Unterricht Hemmungen hat, vor anderen Kindern zu sprechen. Diese Lehrer legen oft mehr Wert auf die schriftliche Note. Häufig kann man feststellen, dass ein schüchternes Kind zwar sehr gute Leistungen im schriftlichen Bereich erbringt, jedoch im mündlichen Bereich eigentlich die Note mangelhaft verdient hätte. Aus Rücksicht auf die Probleme schüchterner Schüler gibt es auch Lehrer, die die mündlichen Leistungen zurückhaltend bewerten. Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, in der pädagogischen Aus- und Fortbildung das Problem „Schüchternheit im Schulalltag“ zu thematisieren. Die Lehrer sollten bezüglich dieser Verhaltensproblematik sensibilisiert werden, damit sie auf die schüchternen Kinder Rücksicht nehmen. Schließlich können schüchterne Kinder nichts für ihr Verhalten und wünschen sich oft auch, so offen und extrovertiert wie andere Kinder zu sein. Manche Dinge sind für schüchterne Kinder einfach nicht machbar. Es ist schwierig, objektive Kriterien für Schüchternheit zu finden, da die Kultur und der Zeitgeist stark die von der Gesellschaft geforderten Verhaltensweisen beeinflusst. In der heutigen Zeit werden soziale und kommunikative Fähigkeiten am Arbeitsplatz immer wichtiger. Deshalb lernen die Schüler in den höheren Klassen mittels Video-Aufzeichnung 85 selbstbewusst vor der Klasse zu sprechen und die Schüchternheit durch stetiges Üben zu überwinden. Schüchternheit muss also kein unabänderliches Schicksal sein. Literatur 86 Asendorpf, J.B. (1989). Soziale Gehemmtheit und ihre Entwicklung, Berlin: Springer Verlag Gransow, B. (2009). China verstehen lernen 1, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung Heckhausen, J. und H. (2006). Motivation und Handeln, Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 3. Auflage Margarete Schmaus, M. Margarete Schörl (1986): Sozialpädagogische Arbeit im Kindergarten, Kösel-Verlag München, 6. Auflage Petermann U. und Petermann F. (1989). Training mit sozial unsicheren Kindern. München: Psychologie Verlags Union, 3. Auflage Petermann U. und Petermann F. (1983). Training mit sozial unsicheren Kindern. Weinheim, Basel: Belz Verlag, 10. Auflage Stöckli, G. (2007). Schüchternheit als Schulproblem?, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag Stöckli, G. (Erstpublikation: „Schweizer Schule“ (1/99): Schüchterne Kinder in der Schule, Universität Zürich Stöckli, G. (Symposion im Rahmen der Didacta, Stuttgart, 19.-23.2.2008). Persönlichkeitsentwicklung in Kindergarten und Grundschule. Was fehlt schüchternen Kindern wirklich? Universität Zürich 87 „Hiermit erkläre ich, dass ich die Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.“ ------------------------------ ----------------------------------- Ort, Datum Unterschrift 88