Ich und Du sind Wir - medizin individuell
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Ich und Du sind Wir - medizin individuell
Kinder | ich und du sind wir Ich und Du sind Wir Immer häufiger werden Kinder heute in entwicklungsfördernde Babygruppen und therapeutische Frühförderprogramme gebracht, mit Krankengymnastik, Ergotherapie, sensorischer Integration und vielem anderen mehr. Wie kommt es dazu und sind wir hier tatsächlich auf einem guten Weg? Fragen, auf die die Kindergärtnerin und Heileurythmistin Birgit Krohmer, eine der profiliertesten Vertreterinnen der Pikler-Pädagogik, überraschende Antworten gibt. Woran mangelt es Kindern heute am meisten? Was bedeutet das für das Selbstbild des Kindes? Viele Kinder sind bei Schuleintritt ungeschickt, verkrampft und unsicher in der Raumorientierung – und das trotz der Vorsorge-Untersuchungen (U 1 bis U 9), Baby-Lernprogramme und diverser Fördermöglichkeiten. Wenn diese Orientierung fehlt, muss das Kind in fast allen Lebenslagen mit einer Grundunsicherheit kämpfen und Kompensationsstrategien aufbauen, dadurch wird sein Leben immer anstrengender. Unter solchen Bedingungen leidet das Selbstbewusstsein und in der Folge auch die Gesundheit. Zuwendung erfährt das Kind dann meist vor allem bei seinen Schwächen, weil sich da alle kümmern und sorgen. Ein gesundes Selbstbild baut auf eigenständiger Erfahrung auf: Ich kann etwas probieren, wenn es mir misslingt, probiere ich es erneut, wenn es gelingt, versuche ich den nächsten Schritt. Da Kinder in ihren Experimenten nicht zielorientiert sondern absichtslos sind, ist die Erfahrung von Misserfolgen genau so lehrreich für das Selbst- und Weltbild wie die von Erfolgen. Ein solcher Prozess ist die wertfreieste Vorbereitung auf das Erlernen von Regeln. Das im eigenen Zeitmaß erkundete und selbstständig ergriffene Tun fördert Lebensmut und Autonomie auf allen Ebenen. Deshalb ist die selbstständige Bewegungsentwicklung der Boden des Lernens – nicht nur für die körperliche Beweglichkeit und Orientierung im Raum, sondern auch dafür, wie ich später Schrift und Grammatik anwenden kann, und wie ich mit mir und anderen, also im Sozialen, umgehen kann. Indem man ein Kind ständig als ein zu therapierendes Wesen ansieht, weil es Defizite aufweisen könnte, greift man auf ein „Blackbox-Modell“ zurück, das dem Kind jede eigenständige Lernfähigkeit abspricht und es damit daran hindert, eigene Lernstrategien zu entwickeln. So entstehen mit jeder äußerlichen Hilfestellung Entmutigung statt Selbstbewusstsein und Abhängigkeit anstelle von Eigenständigkeit. Ist Frühförderung also eher schädlich als hilfreich? Frühförderung ist für die Eltern ein Gebot der Stunde, weniger für die Kinder. Die Eltern werden heute von einem Markt mit Angeboten geradezu überfallen und stehen ständig unter Entscheidungszwang: Von Babyschwimmen über PekipGruppen bis zu „Baby-Activity-Centern“ absurdester Bauart, ganz abgesehen von einer Schwemme von Ratgebern zu jeder Einzelfrage. Wer sich hier verweigert, ist out und kann nicht mitreden. So stehen Eltern heute unter einem extremen gesellschaftlichen Druck, ihr Baby schon unmittelbar nach „Gesegnete Mahlzeit“ - freudig erwarten die Kinder ihr Essen (oben). der Geburt fördern und sich mit dem Kind in ein enges TerWickeln und Anziehen nach dem Mittagsschlaf: ein seitliches Gitter bietet Halt für das Kind, sodass es beim Anziehen gut mithelfen kann minkorsett zwängen zu müssen. Für das Kind und die Eltern (unten links). Den Tee trinken schon Einjährige direkt aus dem Glas! bleibt dann kaum noch Raum und Zeit für Eigenes. 18 medizin individuell S O M M ER 2 0 0 8 Kinder | ich und du sind wir Imbiss nach dem Mittagsschlaf – die Betreuerin in der Wiegestube am „hof“ in Frankfurt-Niederursel bietet Obst und Brotstückchen. Die Kinder warten, bis sie dran sind und essen dann gesittet und aufmerksam. Sie wissen: Jedes bekommt genug, und jedes erfährt Aufmerksamkeit. Währenddessen spielen die anderen Kinder in aller Seelenruhe außerhalb des abgerenzten Areals, bis sie an der Reihe sind. Was wäre denn für das Kind das Richtige? Das Einfachste ist das Richtigste: Die Kinder lernen die Polarität von Zusammensein und Für-sich-sein kennen, indem sie bei der Pflege – beim Stillen oder Füttern, Wickeln, Waschen, Baden oder Ankleiden – eine aufmerksame Zuwendung erfahren. Die Präsenz des Erwachsenen drückt sich im stimmigen Zusammenhang von Geste, Wort und Tätigkeit aus. Deshalb ist es so entscheidend, dass Eltern diese Dinge nicht als lästige Pflicht empfinden und sich ihrer möglichst rasch entledigen wollen, um etwas scheinbar Wichtigeres, weil das Kind angeblich in seiner Entwicklung Förderndes zu tun: spielen, eine Gruppe besuchen oder etwas in einem Buch Gelesenes anwenden, um einem Vorbild nachzueifern, das angeblich so viel kompetenter ist als man selbst... Im plaudernden Alltagsgespräch, beim Wickeln, Füttern oder Anziehen ist der Erwachsene ein natürliches und authentisches Vorbild, das es dem Kind leicht macht, Bindung zu entwickeln und Sicherheit zu erfahren. Die Qualität der Beziehung ist abhängig von der Präsenz des Erwachsenen. Ist er durch Radio, Telefon, Fernsehen abgelenkt oder mit seinen Gedanken ganz woanders, kann sich die nötige Beziehungsqualität eben so wenig aufbauen, wie wenn das Kind z.B. durch ein Mobile über dem Wickeltisch davon abgehalten wird, das Gesicht des Pflegenden zu betrachten und seine Mimik zu erforschen. Ein präsenter Erwachsener nimmt auch kleine Signale des Säuglings wahr und reagiert darauf – was das Kind in seiner Entwicklung fördert. Eine zugewandte Pflege, die weder zu langsam noch hektisch abläuft, ist deshalb die beste Entwicklungshilfe, die man einem Kind angedeihen lassen kann. So kann Dialogfähigkeit schon vom ersten Lebenstag an wachsen! Sie bildet den Boden für jede Sprach- und Beziehungsentwicklung. Eine Mahlzeit bietet mehr als nur Kalorien, und Zuwendung macht nicht nur satt, sondern auch zufrieden. Ein Kind, das in dieser Weise versorgt wurde, hat im Zusammensein so viel erlebt,dass es danach ein natürliches Bedürfnis hat, für sich zu sein. Daraus erwächst für die Eltern ein Freiraum, der es ihnen ermöglicht, ihren sonstigen Aufgaben oder Bedürfnissen ungestört nachzugehen. Dieser rhythmische Wechsel von Begegnung und Eigenaktivität bildet die Grundlage gesunder Entwicklung und sozialer Kompetenz. Es entsteht ein sicheres Empfinden für Gleichgewicht in vielerlei Hinsicht: Zusammen- und Für-sich-sein, Nahrung aufnehmen und Verdauen, Forschen und Eindrücke sammeln und verknüpfen, Aktivität und Ruhe. So veranlagt man Gesundheit, die auch durch eine wechselvolle Biographie trägt. Und wie kann das Kind diesen Freiraum am besten nutzen? Ein Säugling, der sich wohl in seiner Haut fühlt, geborgen und wahrgenommen, beginnt, sich selbstbestimmt zu bewegen und zu spielen. Zunächst reicht der Stuben- oder Kinderwagen, der dann vielleicht auch im Garten stehen kann, er gibt die Geborgenheit, um sich selbst zu begreifen. Kann ein Baby sich bereits drehen und somit seinen Spielraum erweitern, ist es während seiner Aktivitätszeit in einem Spielgitter S O M M ER 2 0 0 8 medizin individuell 19 Kinder | ich und du sind wir Lebensform oder unter welchen Umständen sie aufgewachsen sind – haben ein tiefes Bedürfnis nach authentischer Begegnung und eigenständigem Tun. Dem kann man immer Rechnung tragen – in der Kleinfamilie ebenso wie in einer kinderreichen Familie oder einer Kinderkrippe. Die Qualität der Entwicklungsbedingungen in der frühen Kindheit bemisst sich nicht am Grad des Verwandtschaftsverhältnisses oder der Professionalität der Betreuenden, sondern am ehrlichen und überzeugten Umsetzen der vorgenannten Grundsätze. Jule Heinzelmann bei Kletterexperimenten: Über eine Hühnerleiter (vom Vater selbst gebaut!) hangelt sie sich zielstrebig nach oben, greift gekonnt nach Armstütze und Rückenlehne der Bank, um genügend Halt fürs „Umsteigen“ zu finden. Und auch der Abstieg zurück ins Gras gelingt mühelos. Unermüdlich klettert sie rauf und runter – übt ihr Gleichgewicht und gewinnt dabei Selbstvertrauen. besser aufgehoben. Später, wenn es krabbelt, kann sich der Raum auf das ganze Zimmer ausdehnen. Wichtig ist hierbei, dass das Kind einen kleinen, aber eigenen Raum hat, in dem es nichts verkehrt machen kann, in dem alles erlaubt ist und wo es ungestört experimentieren kann. So erlebt das Kind Grenzen als Freiräume, die mit seinen Fähigkeiten wachsen! Spielzeug braucht es generell kaum – was der Haushalt und die Natur an Ungefährlichem zu bieten haben, reicht völlig: Tüchlein, Schüsselchen, Kochlöffel, ein glattes Stück Holz, eine runde Muschel. Je mehr es dem Erwachsenen gelingt, sein Kind wahrzunehmen, desto mehr wächst der Respekt vor der Eigeninitiative und den vielfältigen Versuchen und Lösungen, die ein Kind entdecken kann. Eine gemeinsam erlebte Freude, die sich schon in einem stillen Blick – „ich sehe dich“ – ausdrücken kann, schafft mehr Bindung als manipulatives Lob. So lernen Eltern im Wahrnehmen ihres Kindes die EntwicklungsRessourcen kennen, die in der Natur jedes Menschen liegen, auch ihres Babys. Eine Erkenntnis, die auf die Arbeit der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler zurückgeht. Warum können wir von Emmi Pikler und ihren Erfahrungen so viel lernen? Grundlage für Emmi Piklers Forschungen war die Beobachtung ihrer eigenen Tochter in der Familie. Als Kinderärztin hatte sie sowohl bei anderen Familien als auch in dem von ihr betreuten Säuglingsheim Gelegenheit, ihre Erkenntnisse zu überprüfen. Kinder – egal in welcher Gesellschaft und 20 medizin individuell S O M M ER 2 0 0 8 Hat die Fokussierung auf die Bedeutung der frühen Kindheit also eher Schaden als Segen gebracht? Dass die frühe Kindheit stärker ins Bewusstsein gerückt ist, betrachte ich als durchaus positiv. Aber man ist über das Ziel hinausgeschossen und hat daraus einen Markt für Gruppen und Therapien gemacht, der Eltern und Kinder gleichermaßen stresst. Der Ausruf „Was, du bist nur zuhause?“, den viele Eltern hören müssen, wenn sie dem Gruppenzwang nicht folgen, zeigt, wie tief dieser Markt das Wertebewusstsein bereits geprägt hat. Eltern, die nach bestem Wissen den Angeboten folgen, weil sie ja nur das Beste für ihr Kind wollen und keine Fördermaßnahme auslassen, erscheinen mir in diesem Sinne hyperaktiv. Das seelische Gleichgewicht der Eltern und Betreuenden ist in prägendem Maße Vorbild für das Kind. Gesellschaftlich gesehen wäre die beste Frühförderung, in das aufmerksame und zugewandte Elternsein zu investieren und Tagesmütter oder Betreuerinnen den Bedürfnissen der kleinen Kinder gemäß auszubilden. Birgit Krohmer, geb. 1962, ist ausgebildete Waldorfkindergärtnerin und Heil-/Eurythmistin. 1980 lernte sie Emmi Pikler in der Universitäts-Kinderklinik Freiburg bei einem Vortrag kennen und besuchte sie anschließend mehrfach in ihrem Säuglingsheim in Budapest; auch war sie an der Herausgabe von Schriften Emmi Piklers beteiligt. Birgit Krohmer gehört zu den profiliertesten Vertreterinnen dieser pädagogischen Richtung und ist seit 1984 als Referentin in der Fortbildung von Erziehern, Eltern, Hebammen und Physiotherapeuten im In- und Ausland tätig. Viele Angebote an den anthroposophischen Kliniken und Einrichtungen gehen letztlich auf ihre Vorträge zurück. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter von 14 und Zwillinge im Alter von 12 Jahren. Sanft rieseln Kirschkerne über Kopf und Körper des kleinen Jungen – ganz und gar konzentriert horcht er tief in sich hinein, um das zarte Plop-Plop, mit dem die Kerne auf Haare, Arme und Rücken treffen, wahrzunehmen. Eine Übung, die Kinder mit unterentwickeltem Tastsinn ganz besonders lieben. Sie sitzen dabei in einer großen Tonne mitten in den Kirschkernen (Foto rechts außen) und haben viel Spaß daran, die glatten Körner auch über die Hände rieseln zu lassen oder die Füße darin zu vergraben. K i n d e r | p r äv e n t i o n b e i k l e i n - u n d s c h u l k i n d e r n In Kontakt kommen mit sich und der Welt Vor gut zehn Jahren entstand an der Freien Bildungsstätte „der hof“ in FrankfurtNiederursel die Idee für ein „Haus des Kindes“. Heute ist diese Einrichtung Teil eines pädagogisch-therapeutischen Zentrums, das Frühförderung, Kleinkindbetreuung und Elternberatung in vorbildlicher Weise unter einem Dach vereinigt. Frankfurt-Niederursel – eine dörfliche Idylle am Rande der kosmopolitischen Großstadt. Enge Gassen, verwinkelte Fachwerkhäuser, blühende Gärten, und an der höchsten Stelle der Kirchturm, dessen Glocke alle Viertelstunde schlägt und mittags um zwölf sowie abends um sechs Uhr mit Geläut dem Tag eine Zeitstruktur herkömmlichen Gepräges verleiht – verlässlich, ruhig, gelassen. Mittendrin, in einem Gebäude, das noch gut als ehemaliger Bauernhof erkennbar ist, das pädagogisch-therapeutische Zentrum mit Arzt-, Psychotherapeuten- und Hebammenpraxis, Wiegestube für die ganz Kleinen bis drei Jahre, Kinderstube für Eltern-Kind-Gruppen vom Säuglings- bis zum Kindergartenalter und dem „Haus des Kindes“ als Frühförderstelle für Kinder, die bei ihrer Entwicklung zusätzlicher Hilfe bedürfen oder deren Eltern Rat und Unterstützung suchen. Hier interdisziplinär zusammenzuarbeiten war von Anfang an das Ziel der gesamten Einrichtung. Außerdem wird der Säugling animiert, aktiv mitzuhelfen: Jede Tätigkeit kündigt die Betreuerin an, nichts wird dem Kind einfach übergestülpt. So hält sie beispielsweise bittend die Hand hin, wenn sie das Hemd über den Kopf, die Jackenärmel über die Ärmchen oder die Strampelhose über die Beinchen ziehen will – und zwar von Geburt an. Der Erfolg ist offenkundig: die Kinder arbeiten, sobald sie dazu in der Lage sind, beim Anziehen freudig mit. Da gibt es keine Kämpfe um Pulli, Jacke oder Mütze. Geduldig wartet die Betreuerin, wenn ein Kind verÄlteste Institution im Haus ist die integrative Wiegestube für sucht, sich zum ersten Mal das Söckchen alleine über die Kinder ab acht Wochen bis zum vierten Lebensjahr, die nach widerstrebenden Fußzehen zu ziehen – und freut sich mit, den Empfehlungen der ungarischen Kinderärztin Emmi wenn es dann tatsächlich gelingt! Pikler arbeitet: mit intensiver Zuwendung zum Kind bei größtmöglicher Förderung der Eigenständigkeit. So ist zum Die zehn bis zwölf Kinder werden nacheinander von einer Beispiel die Pflege des Kindes keine lästige Nebensache, son- der drei Betreuerinnen geholt – in stets gleichbleibender Reidern eine wichtige Zeit der Begegnung, die Betreuerin und henfolge. So weiß jedes, wann es dran ist, es gibt kein QuenKind gleichermaßen genießen. Ob Wickeln, Anziehen, Füt- geln und kein Rangeln. Auch beim Essen nicht: Während die tern, Waschen – alles geschieht in einem respektvollen, acht- einen ruhig im Bänkchen sitzen und sich kleine Brotschnittsamen Umgang und in ausschließlicher Konzentration auf- chen, Obst und Tee schmecken lassen, spielen die anderen einander. „Das Kind erfährt dadurch eine intensive Zuwen- nebendran. Obwohl auch sie hungrig sind, wissen sie genau: dung bei einer sinnvollen und notwendigen alltäglichen Ver- gleich sind wir dran, wir können uns darauf verlassen. richtung, das fördert die Bindung und vermittelt Sicherheit und Vertrauen“, sagt Claudia Grah-Wittich, Mit-Gründerin Zufrieden durch dieses intensive Zusammensein und gesätund Sozialarbeiterin am „Haus des Kindes“. „Es ist doch tigt durch ein vollwertiges Essen können die Kleinen dann widersinnig, sich beim Wickeln abzuhetzen und alles husch- ihrem Bewegungsdrang freien Lauf lassen. Für die ganz Kleihusch machen, um dann genügend Zeit zu haben, ein Bilder- nen gibt es abgegrenzte Areale, in denen sie gefahrlos ihre buch anzuschauen, in dem ein Kind gewickelt wird...“ Hände und Füßchen entdecken oder auch rollen, robben und SO M M ER 2 0 0 8 medizin individuell 23 Ceyda (6) erlebt und spürt in der Therapiestunde vor allem sich selbst: beim Balancieren auf zwei Stangen, beim Magnetangeln von einem schwankenden Brett, im Kuschelbett unter gewichtigen Sandsäckchen, auf der hohen Leiter beim Umsteigen von einer Seite auf die andere, beim Balancieren auf zwei Rundhölzern, beim schwungvollen Schaukeln in einem gut gepolsterten ehemaligen Futtertrog. Ruhig, gesammelt und von Kopf bis Fuß ausgeglichen singt sie zum Schluss das Abschiedslied mit der Therapeutin. krabbeln können. Die Älteren brauchen Raum zum Gehen, Laufen und Spielen. Kleine Klettergerüste und schiefe Ebenen laden zum Balancieren und Rutschen ein, und die Kinder nutzen das alles mit großer Experimentierfreude. Ein geschützter Garten lockt zum Spiel im Freien. „Diese Einrichtung ist schon von sich aus Prävention pur“, sagt Claudia Grah-Wittich. „Denn viele Kinder, die wir mit drei oder vier Jahren als verhaltensauffällig in die Frühförderung bekommen, durften eben meist keine autonome Bewegungsentwicklung erleben. Sie wurden aufrecht getragen, wo sie noch liegen müssten, hingesetzt, wenn sie noch nicht sitzen konnten, an der Hand geführt, wenn sie noch nicht laufen konnten. Sie haben nie erfahren, dass sie sich selbst aufrichten und laufen lernen können. Als Erwachsener sollte ich aber diese Willenskraft, die jedes Kind hat, um von der Waagerechten in die Senkrechte zu kommen, nicht korrumpieren! Deshalb wollten wir einen Ort schaffen, an dem wir ganz konkret zeigen, dass sich Kinder zu selbstbewussten und selbstständigen Wesen entwickeln, wenn die Gestaltung der Umwelt es ihnen ermöglicht, sich frei und selbstbestimmt zu bewegen.“ Wenn Kinder sich nicht richtig spüren Ceyda ist sechs Jahre alt und kommt seit etwa einem Jahr regelmäßig einmal wöchentlich ins Haus des Kindes zur Frühförderung. Die Kleine hatte es in den ersten Lebensjahren nicht leicht: Schon kurz nach der Geburt litt sie an Neurodermitis, war sehr ängstlich, ohne jedes Selbstvertrauen, und entwickelte eine Art Dauer-Husten, als würde sie sich beim Atmen an der Außenluft ständig wundscheuern. 24 medizin individuell SO M M ER 2 0 0 8 Ihre Mutter, aus dem orientalischen Ausland stammend, war als Migrantin sehr scheu, traute sich wenig zu, ständig hatte sie das Gefühl, alles falsch zu machen. Sie konnte kaum Grenzen setzen – weder dem Kind, noch ihrem Mann. Dabei fühlte sie sich für alles verantwortlich, wollte alles tun, damit es dem Kind gut ging, und in dieser übertriebenen Fürsorge überbehütete sie es und überforderte sich selbst. Bis ihr nach drei Jahren alles zuviel wurde, und sie im Haus des Kindes Hilfe suchte. In der 45-minütigen Therapiestunde übt Ceyda, das Gleichgewicht zu halten: bäuchlings liegt sie auf einem großen Brett, das an Seilen von der Decke hängt, und angelt mit einem Magnet die auf dem Teppich verstreut liegenden „Fische“. Oder sie greift am Boden liegende Sandsäckchen und wirft sie anschließend der Therapeutin zu. Diese ermuntert sie, auf die hohe Leiter zu klettern und auf der anderen Seite wieder herunterzusteigen. Das erfordert Koordinationsvermögen – und das Umgreifen da oben, zwei Meter über dem Boden, eine große Portion Mut. Ceyda schafft es schließlich, und stolz balanciert sie noch über zwei Rundhölzer zur Sprossenwand. Zur Belohnung darf sie in einen mit Kissen gepolsterten ehemaligen Futtertrog einsteigen, der hier als eine Art Schiffsschaukel dient. Später „badet“ sie noch in einem Korb voller Kirschkerne – mit Wonne versteckt sie die Füße darin, und sorgsam sammelt sie jedes Körnchen von den Zehen wieder ab. Zum Schluss liegt sie im gemütlichen Kuschelbett, von Anfangs traute sich der kleine Junge noch nicht auf die schwankende Balancierscheibe. Die helfende Hand des Therapeutin machte ihm Mut – und schon probiert er selbst freudig die neue Fähigkeit. Fotoreihe unten: Eine noch etwas anspruchsvollere Mutprobe ist der Sprung von einer großen Holzkugel auf einen mit Getreidekörnern gefüllten Sack. Beide Mädchen bestehen sie mit Bravour. Claudia Grah-Wittich hält derweil die Kugel fest, damit sie genügend Halt für den Absprung bietet. ihre Füße sind und wie sie Kontakt zur Erde bekommen. Denen müssen wir mühsam wieder beibringen, Tasterfahrungen zuzulassen, sich selbst anzunehmen und zu mögen, den eigenen Körper als etwas Angenehmes zu empfinden. Denn die Sinne entwickeln sich nur, indem wir sie betätigen. Und alles, was sich in den ersten drei Lebensjahren veranlagt, ist ein riesiger Schatz, den der Mensch sein Leben lang nicht mehr verliert. Alles, was nachreifen muss in Bezug auf diese Sinneserfahrungen – und damit sind vor allem Sinne wie Tasten, Schmecken, Gleichgewicht gemeint –, gestaltet sich später viel mühsamer. Und alles, was ich gar nicht erfahre, kann zum Problem werden.“ unten bis oben mit kleinen Sandsäckchen bedeckt, die sie mit einem kräftigen Ruck ihres zarten Körpers jauchzend wieder von sich wirft. Ruhig und aufmerksam sitzt sie für das Abschiedslied mit der Therapeutin auf dem Teppich. Die Mutter nimmt ein ausgeglichenes, fröhliches und durch und durch gestärktes Kind in Empfang. Sie selbst hat während Ceydas Therapiestunde gemalt. Das hilft ihr, zu sich selbst zu kommen und mehr Ruhe zu finden, mehr Selbstvertrauen. Dabei geht es nicht darum, das Kind an die Umwelt anzupassen, damit es den Anforderungen dort besser gerecht werden Viele Kinder haben perfekte kann. „Unser Bestreben ist zu erkennen, wo liegen die Ressourcen des Kindes, wo fühlt es schon Sicherheit, Fähigkeiten, Vermeidungsstrategien entwickelt Selbstvertrauen“, ergänzt Claudia Grah-Wittich.„Da werde ich „Ceyda übt mit uns, sich selbst und ihren Körper positiv zu mit ihm spielerisch tätig und versuche, diesen Bereich seiner spüren und in Kontakt mit sich und der Umwelt zu kommen“, Fähigkeiten auszuweiten, um ihm immer mehr Vertrauen zu erklärt Heilpädagoge Stefan Krauch. „Dadurch verliert sie geben, dass es etwas lernen kann, wenn es sich nur darauf die Angst und erfährt, dass sie sich etwas zutrauen kann.“ In einlässt. Wir versuchen, über einen liebevollen Kontakt einen den zwölf Monaten, seit sie in das Haus des Kindes kommt, Raum zu schaffen, wo das Kind sich wahrgenommen, wertgehat sie bereits enorme Fortschritte gemacht. Und auch die schätzt und geachtet fühlt, so, wie es ist. Dann kann es LebensMutter hat inzwischen gelernt, besser für sich zu sorgen und und Lernfreude entwickeln und sich mit der Welt verbinden.“ ihr Kind auch mal loszulassen. „Viele Kinder haben in den ersten drei Lebensjahren bereits perfekte Mechanismen entwickelt, wie sie den Kontakt mit der Umwelt vermeiden und bestimmte Entwicklungsschritte umgehen oder verweigern können“, sagt Stefan Krauch. „Die meisten sind im Kopf ganz wach, aber sie wissen nicht, wo Kontakt: Pädagogisch-therapeutisches Zentrum, Haus des Kindes, Alt Niederursel 51/53, 60439 Frankfurt/Main, Telefon (069) 5 89 01 65, www.haus-des-kindes.com SO M M ER 2 0 0 8 medizin individuell 25