Schulversuch Gemeinschaftsschule - Broschürenservice

Transcription

Schulversuch Gemeinschaftsschule - Broschürenservice
Ministerium für
Schule und Weiterbildung
des Landes Nordrhein-Westfalen
Schulversuch
„Längeres gemeinsames Lernen — Gemeinschaftsschule“
Dokumentation zum Entstehungsprozess der
Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen
zum Schuljahr 2011/2012
3
1.
Einleitung
1.1
1.2
Die Ausgangssituation
Wesentliche Entwicklungsschritte auf Landesebene von
September 2010 bis zum September 2011
Methodische Vorgehensweise
1.3
5
5
5
6
2.
Schulporträts
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.6.1
2.6.2
2.7
2.8
2.9
2.10
2.11
Ascheberg
Billerbeck
Bochum
Burbach
Kalletal
Köln
– Ferdinandstraße
– Wuppertaler Straße
Langenberg
Lippetal
Morsbach
Neuenrade
Rheinberg
7
8
13
17
20
24
28
30
32
34
38
41
46
50
3.
Interview mit dem Schulberater
und Gesamtschulleiter Alois Brinkkötter
zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen
in Nordrhein-Westfalen
54
4.
Vergleichende Gesamtübersicht
56
5.
Zusammenfassung und Ausblick
60
6.
Übersicht über die Presseveröffentlichungen —
eine Auswahl
62
Anhang
65
4
V o r w o r t
Sehr geehrte Leserinnen und sehr geehrte Leser,
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“.
Dieser solidarische Gedanke eines afrikanischen Sprichworts ist ein Baustein der Bildungspolitik Nordrhein-Westfalens. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen – und es braucht ein ganzes Land, um die Schule
der Zukunft und die Zukunft der Schule zu gestalten. Dies
war 2010 der Beginn des Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“. Auch damit rückte die Landesregierung unsere
Kinder in den Mittelpunkt aller Bildungsinteressen. Bald
schon zeigte sich, dass der Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ auf großes
Interesse stieß. Zwölf Schulen gingen sofort an den Start,
viele weitere wollten in den kommenden Jahren nachfolgen.
Es zog ein frischer und neuer Wind durch Nordrhein-Westfalen. Die Landesregierung war von Anfang an offen für
verschiedene pädagogisch sinnvolle Ansätze und betonte,
dass Lösungen vor Ort erarbeitet werden. Dies weckte
das Interesse aller an Bildung Beteiligten, die Schule der
Zukunft – die Zukunft unserer Kinder – mitzugestalten.
Parallel zum Start des Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“ haben wir daher im September 2010 die Bildungskonferenz einberufen. In ihr erarbeiteten über 120 Vertreterinnen und Vertreter von rund 50 Verbänden, Institutionen und im Landtag vertretenen Parteien gemeinsam
Empfehlungen an die Landesregierung und den Landtag
zur Weiterentwicklung des Schulsystems. „Zusammen
Schule machen für Nordrhein-Westfalen“ lautete die Devise.
2011 wurde das Jahr der schulpolitischen Gespräche und
Beschlüsse – mit weitreichenden Konsequenzen.
Am 20. Mai 2011 präsentierte die Bildungskonferenz
42 Empfehlungen zu den Schwerpunkten Individuelle Förderung, Übergänge gestalten, Ganztag weiterentwickeln,
Eigenverantwortliche Schulen in Regionalen Bildungsnetzwerken und Schulstruktur in Zeiten des demografischen
Wandels im Landtag.
Am 19. Juli 2011 schlossen CDU, SPD und Bündnis 90/
Die Grünen den als historisch bezeichneten Schulkonsens. Er sieht unter anderem die neue Schulform Sekundarschule mit den Jahrgängen 5 bis 10 vor, die mit der
gymnasialen Oberstufe eines oder mehrerer Gymnasien,
Gesamtschulen und/oder Berufskollegs kooperiert. Außerdem wurde die erleichterte Errichtung von Gesamtschulen sowie der Erhalt kleiner Grundschulen vereinbart.
Am 20. Oktober 2011 hat der Landtag das zur Umsetzung
notwendige neue Schulgesetz und in Verbindung damit
eine Änderung der Landesverfassung beschlossen. Mit
Beginn des Schuljahres 2012/2013 sind jetzt die ersten
42 neuen Sekundarschulen und 20 neue Gesamtschulen
gestartet. Viele weitere werden in den kommenden Jahren folgen.
Der Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ markiert den Beginn dieses Wegs hin
zu einem sozial gerechten und leistungsstarken Bildungssystem. Er war Wegbereiter und ist weiterhin ein wichtiger Wegbegleiter. Die hier gewonnenen Erkenntnisse helfen, diesen Weg weiter auszugestalten – hin zur Schule
der Zukunft, die offen ist für alle Kinder und Jugendlichen
und in der die Stärken aller Schulformen zusammenkommen.
Ich danke allen Beteiligten, die sich auf kommunaler und
schulischer Ebene für die Errichtung der neuen Gemeinschaftsschulen eingesetzt und an der Entstehung dieser
Dokumentation mitgewirkt haben.
Sylvia Löhrmann
Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes
Nordrhein-Westfalen
5
1. Einleitung
Die vorliegende Dokumentation beschäftigt sich mit dem
Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen. Ziel der Dokumentation ist es,
wichtige Dokumente zu der Entstehungsphase der
Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen zu
sammeln,
der geplanten wissenschaftlichen Begleitforschung
eine Materialgrundlage bereitzustellen und
die Fachöffentlichkeit zu informieren.
Darüber hinaus sollen im Rahmen der Dokumentation
Faktoren herausgearbeitet werden, die für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule von zentraler Bedeutung
gewesen sind. Die Dokumentation umfasst den Zeitraum
September 2010 bis September 2011 und berücksichtigt
lediglich die Gemeinschaftsschulen, die zum Schuljahr
2011/2012 ihre Arbeit aufgenommen haben.
Bevor im zweiten Teil der Dokumentation – im Rahmen
der jeweiligen Schulporträts – näher auf die Situation der
jeweiligen Gemeinschaftsschulen und Kommunen eingegangen wird, folgt in diesem ersten Kapitel zunächst eine
Beschreibung der Ausgangssituation, die zur Einführung
des Schulversuchs geführt hat (Kapitel 1.1). In einem
nächsten Schritt werden die wesentlichen Entwicklungsschritte auf Landesebene seit der Veröffentlichung der
Eckpunkte im September 2010 bis zum Start der zwölf
Gemeinschaftsschulen im September 2011 beschrieben
(Kapitel 1.2). Abschließend erläutert das Kapitel 1.3 die
methodische Vorgehensweise der Dokumentation.
1.1 Die Ausgangssituation
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen wird bis zum Jahr 2019 um mehr als 300.000 zurückgehen. Das sind rund 16 Prozent. Diese demografische Entwicklung erschwert es kleinen Kommunen, ein
attraktives und wohnortnahes Schulangebot zu erhalten.
Vor allem Hauptschulen werden immer weniger nachgefragt, sodass deren Existenz nicht immer gesichert ist.
Um ein Schulsterben – vor allem in den ländlichen Regionen Nordrhein-Westfalens – zu verhindern und den Schülerinnen und Schülern vor Ort möglichst viele Schulab-
schlüsse anbieten zu können, muss es eine Schule geben,
die alle Bildungsangebote in sich vereint.
Neben der demografischen Entwicklung ist der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft
auch in Nordrhein-Westfalen immer noch zu groß: Kinder
aus „oberen sozialen Schichten“ haben bessere Chancen,
ein Gymnasium zu besuchen oder einen besseren Schulabschluss zu machen als ein Arbeiterkind. Parallel dazu
wünschen sich viele Eltern, dass der Bildungsweg ihrer
Kinder länger offengehalten wird und ihre Kinder die Chance haben, das Abitur zu machen.
Der Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ reagierte auf die beschriebenen Entwicklungen. Er bietet im Rahmen eines Modellvorhabens,
das wissenschaftlich begleitet wird und auf sechs Jahre
angelegt ist, die Einführung von Gemeinschaftsschulen
zum Schuljahr 2011/2012 an. Der Schulversuch basierte
zunächst auf § 25 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes. Das Ministerium muss die Schulversuche genehmigen und deren Inhalte, Ziele sowie die Durchführung
und die Dauer festlegen. Für grundsätzliche und dauerhafte Veränderungen ist das Schulgesetz selbst entsprechend zu ändern. Inzwischen wurde der Schulversuch im
6. Schulrechtsänderungsgesetz (Artikel II) schulrechtlich
verankert.
In den Gemeinschaftsschulen lernen die Kinder in der
fünften und sechsten Klasse weiterhin gemeinsam im
Klassenverband. Ziel des Schulversuchs der Gemeinschaftsschulen ist es, zu erproben, wie durch das längere
gemeinsame Lernen die Chancengerechtigkeit vergrößert
werden kann und wie mehr Schülerinnen und Schüler zu
besseren Abschlüssen geführt werden können. Gemeinschaftsschulen entstehen in der Regel durch die Zusammenführung bereits bestehender Schulformen. Mit der
Gemeinschaftsschule soll es den Schulträgern ermöglicht
werden, ein umfassendes, wohnortnahes Schulangebot
zu erhalten.
1.2 Wesentliche Entwicklungsschritte auf Landesebene von September 2010
bis zum September 2011
Für die Gründung der Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen mussten auf Landesebene zunächst die
entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. In den folgenden Abschnitten werden die wesentlichen Entwicklungsschritte auf dem Weg zur Errichtung
der Gemeinschaftsschulen nachgezeichnet. Eine Über-
6
sicht über den Zeitplan bzw. die einzelnen Schritte zur
Gründung von Gemeinschaftsschulen ist im Leitfaden im
Anhang dieser Dokumentation zu finden (B, Anlage 1).
Nach der Regierungsbildung im Sommer 2010 wurden
die Bezirksregierungen und die kommunalen Spitzenverbände im September 2010 durch das Schulministerium
über den Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ informiert.
Zeitgleich hat Schulministerin Sylvia Löhrmann auch die
Eckpunkte zu dem Schulversuch gemäß § 25 Abs. 1 und 4
des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes vorgelegt, die
das nordrhein-westfälische Kabinett gebilligt hat. Erarbeitet wurden die Eckpunkte von den Regierungsfraktionen.
Mit Schulmail vom 21. September 2010 wurden sie auch
den Schulen des Landes bekannt gegeben.
Die Eckpunkte, die im Anhang dieser Dokumentation (A)
noch einmal im Wortlaut ausführlich dargestellt werden,
enthalten unter anderem Angaben zur Zielsetzung, Zeitdauer und zur wissenschaftlichen Begleitung sowie Vorgaben zur Klassengröße, Lehrerarbeitszeit und Besoldungsstruktur und liefern Informationen zu den benötigten
Antragsunterlagen.
Neben diesen Eckpunkten ist interessierten Schulen und
Schulträgern im Oktober 2010 vom Schulministerium ein
Leitfaden zur Verfügung gestellt worden, der die Akteure
unterstützte, die sich an dem Modellversuch mit längerem
gemeinsamen Lernen beteiligen wollten. Der Leitfaden
enthält umfassende Informationen zu dem pädagogischen
Konzept und der Leitidee der „Gemeinschaftsschule“ sowie zu der regionalen Schulentwicklungsplanung. Darüber
hinaus finden Interessierte dort Angaben zur Antragstellung und zu den einzureichenden Unterlagen. Im Anhang
ist die letzte und aktualisierte Version des Leitfadens mit
Stand vom 10. Dezember 2010 noch einmal im Wortlaut
angefügt worden (B).
1.3 Methodische Vorgehensweise
Die vorliegende Dokumentation beschäftigt sich ausschließlich mit den Gemeinschaftsschulen, die zum Schuljahr 2011/2012 ihre Arbeit aufgenommen haben. Die Gemeinschaftsschulen, die zwar genehmigt wurden, aber
bei denen es nicht zur Gründung kam, sind hingegen nicht
Gegenstand dieser Veröffentlichung.
Um den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen
in Nordrhein-Westfalen dokumentieren zu können, wurden mit den verantwortlichen Akteuren vor Ort Leitfadeninterviews geführt. Pro Kommune wurde mit folgenden
Akteuren gesprochen:
(Ober-)Bürgermeisterin/(Ober-)Bürgermeister als
Leiterin/Leiter der Verwaltung und als Vorsitzende/
Vorsitzender des Rates,
Vorsitzende/Vorsitzender des Schulausschusses als
politische Vertreterin/politischer Vertreter,
Dezernentin/Dezernent des Referates 44 der Bezirksregierung als Vertreterin/Vertreter der Schulaufsicht
und
Schulleitung der Gemeinschaftsschule.
Sofern diese Personen nicht als Ansprechpartnerin oder
Ansprechpartner zur Verfügung standen, wurde mit einer
Vertreterin bzw. einem Vertreter gesprochen. Da die Schulleitung an einigen Gemeinschaftsschulen zwischenzeitlich
gewechselt hat, wurden zum Teil mit deren Nachfolgerinnen und Nachfolgern oder aber mit Lehrkräften gesprochen, die stark in die Planungs- und Vorbereitungsphase
der Gemeinschaftsschule eingebunden waren und deshalb zu dem Entstehungsprozess Auskunft geben konnten.
Einige Kommunen haben hinsichtlich der Errichtung von
Gemeinschaftsschulen externe Beratung im Bereich der
Schulentwicklungsplanung in Anspruch genommen. In
diesen Fällen wurden ebenfalls Interviews mit den Verantwortlichen der jeweiligen Planungsbüros geführt.
Der Interviewleitfaden für die oben genannten
Gesprächspartner basiert auf den folgenden Aspekten:
Vorgeschichte zum Antrag,
Prozess der politischen Willensbildung vor Ort,
Kommunale Schulentwicklungsplanung,
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren der
Konsensbildung,
Prozess der Entwicklung des pädagogischen Konzeptes sowie
Externe Begleitung und Unterstützung durch Schulaufsicht und/oder Planungsbüros/Beratungsagenturen.
Die Interviewleitfäden für die verschiedenen Zielgruppen
sind jeweils im Anhang (C) dieser Dokumentation aufgeführt.
7
2. Schulporträts
Das folgende Kapitel enthält in alphabetischer Reihenfolge die Schulporträts der einzelnen Kommunen. Sie
dokumentieren den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen und wurden auf Grundlage der geführten
Interviews und unter Hinzuziehung weiterer Dokumente,
wie beispielsweise den Antragsunterlagen und den Genehmigungsbescheiden, verfasst. Die in den Schulporträts
genannten Zahlen und Daten wurden von den Kommunen
zur Verfügung gestellt.
Den Schulporträts liegt der gleiche Aufbau zugrunde:
Nach einer kurzen geografischen Einordnung, einigen
Grunddaten und Angaben zu den Schülerzahlen, zur Ratszusammensetzung und der Auflistung der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sowie deren Funktion
folgen Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule in zeitlicher Reihenfolge. Anschließend werden –
analog zu den im Gesprächsleitfaden enthaltenen Aspekten – Informationen zu den folgenden Bereichen gegeben:
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung,
Prozess politischer Willensbildung vor Ort,
Regionale Abstimmung und Verfahren der Konsensbildung und
Prozess der Entwicklung des pädagogischen Konzepts.
Die Unterstützung durch die Schulaufsicht und durch
externe Beraterinnen und Berater fließt jeweils in die einzelnen Abschnitte mit ein und wird deswegen nicht gesondert erläutert. Im Anschluss an diese Textabschnitte folgt
eine Tabelle, welche die Faktoren, die für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen relevant waren, noch
einmal zusammenfasst.
Nach den Porträts zu den zwölf Gemeinschaftsschulen
folgt im Kapitel 3 ein Interview mit Alois Brinkkötter, dem
Leiter der Fritz-Winter-Gesamtschule Ahlen, der verschiedene Kommunen pädagogisch beraten hat. Im 4. Kapitel
gibt eine Gesamttabelle einen Überblick über die relevanten Faktoren. Die Tabelle verdeutlicht, wo es Übereinstimmungen und Unterschiede gegeben hat. Anschließend
folgt eine Gesamtzusammenfassung (Kapitel 5).
In Kapitel 6 wird anhand von ausgewählten Artikeln eine
Übersicht über die Presseveröffentlichungen zur Gemeinschaftsschule gegeben.
8
2.1 Ascheberg
Grunddaten:
geografische Lage:
Ascheberg liegt im Süden des Münsterlandes
Gemeinde im Kreis Coesfeld mit den drei Ortsteilen
Ascheberg, Herbern und Davensberg
Einwohner: 15.000
Nachbarkommunen: Lüdinghausen, Nordkirchen und
Senden (Kreis Coesfeld), Drensteinfurt (Kreis Warendorf), Werne (Kreis Unna), Hamm (kreisfreie Stadt),
Münster (kreisfreie Stadt)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Insgesamt: 1.403 Schülerinnen und Schüler
Primarstufe:
zwei Grundschulen an drei Standorten: 676 Schülerinnen
und Schüler
Lambertusschule, Schulverbund Ascheberg-Davensberg, Standort Ascheberg: 361 Schülerinnen und
Schüler
Lambertusschule, Schulverbund Ascheberg-Davensberg, Standort Davensberg: 76 Schülerinnen und
Schüler
Marienschule Herbern: 239 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
zwei weiterführende Schulen: 620 Schülerinnen und
Schüler
Theodor-Fontane-Schule (Hauptschule): 202 Schülerinnen und Schüler
Realschule Ascheberg: 418 Schülerinnen und Schüler
Ferner: Burg-Schule Davensberg, Förderschule mit
dem Förderschwerpunkt Lernen: 107 Schülerinnen und
Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeister Dr. Bert Risthaus (CDU)
– Fraktion der CDU: 16
– Fraktion der Unabhängigen Wählergemeinschaft (UWG): 8
– Fraktion der SPD: 5
– Fraktion der FDP: 3
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Dr. Bert Risthaus (CDU), Bürgermeister
– Christian Ley (SPD), Vorsitzender des Schulausschusses
– Christian Ladleif, Dezernent der Bezirksregierung Münster
– Sylke Reimann-Perez, Schulleiterin
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
Ende 2006: Nach der Schulentwicklungsplanung bis zum
Jahr 2016 Einrichtung einer pädagogischen Planungsgruppe zur Erstellung eines pädagogischen Konzepts
Herbst 2007: Schulkonferenzen beschäftigen sich mit Errichtung einer neuen weiterführenden Schulform
Frühjahr 2008: Vertreter werden in pädagogische Planungsgruppe einbezogen, regelmäßige Treffen
April 2009: Fertigstellung des pädagogischen Konzepts mit
dem Ziel des längeren gemeinsamen Lernens
September 2009: Durchführung der Elternbefragung
6. Oktober 2009: Ratsbeschluss zur Errichtung einer Profilschule zum Schuljahr 2010/2011
13. November 2009: Erster Antrag zur Errichtung der Profilschule gestellt
5. Oktober 2010: erneuter Ratsbeschluss getroffen, sukzessives Auslaufen der Theodor-Fontane-Hauptschule und
der Realschule Ascheberg
12. Oktober 2010: Erneuter Antrag zur Teilnahme am Schulversuch gestellt, vierzügige Profilschule an zwei Standorten
(Ascheberg und Herbern) ohne eigene Oberstufe, Kooperation mit dem Joseph-Haydn-Gymnasium (Senden), dem
Richard-von-Weizsäcker-Berufskolleg (Lüdinghausen) und
der Johann-Conrad-Schlaun Gesamtschule (Nordkirchen)
17. November 2010: Genehmigung zur Teilnahme am Schulversuch; die „Profilschule Ascheberg, Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I“ startete zum Schuljahr 2011/2012 mit
125 Schülerinnen und Schülern (Klasse 5 bis 8 werden in
Ascheberg und 9 und 10 in Ascheberg-Herbern unterrichtet)
9
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Die überwiegend ländlich strukturierte Gemeinde Ascheberg liegt im Süden des Münsterlandes im Kreis Coesfeld,
der vom prognostizierten Schülerrückgang von 16 bis 20
Prozent (laut IT.NRW, dem statistischen Dienst des Landes)
bis zum Jahr 2016 besonders stark betroffen ist. Die stetig sinkende Schülerzahl führte dazu, dass es sowohl für
die Theodor-Fontane-Hauptschule als auch für die Realschule Ascheberg immer weniger Bedarf gab, was es der
Gemeinde erschwerte, ein vielfältiges weiterführendes
Schulangebot vor Ort zu erhalten.
„Die Schulentwicklungsplanung bis 2016 war Grundlage
unseres Handelns und zeigte uns bereits 2006 die Problematik auf“, sagt Bürgermeister Dr. Bert Risthaus. Besuchten im Schuljahr 2007/2008 noch 259 Kinder und
Jugendliche die Hauptschule, waren es im Schuljahr
2010/2011 nur noch 202. Lag die Zahl der Realschülerinnen und Realschüler im Schuljahr 2007/2008 bei 491,
waren es drei Jahre später nur noch 418. Laut den Antragsunterlagen zur Errichtung der Profilschule vom Herbst
2010 war die Hauptschule im Ortsteil Herbern in ihrem
Bestand gefährdet. Auch die Realschule sei – anders als
zunächst erwartet – nicht lang-, sondern bereits mittelfristig in Existenzgefahr, heißt es dort weiter. Christian Ley,
Vorsitzender des Schulausschusses, stellt fest: „2006 haben wir gerechnet und gemerkt, dass es mit der Zügigkeit
der Schulen knapp werden könnte.“ Laut dem Antrag drohte Ascheberg ohne Einrichtung der Profilschule „der Verlust des gesamten weiterführenden Schulangebots vor Ort“.
Neben den sinkenden Schülerzahlen gibt es Bürgermeister
Dr. Risthaus zufolge schon seit mehreren Jahren einen
deutlichen Trend zu Gymnasien und Gesamtschulen in
anderen Gemeinden. „Die Eltern wollen für ihre Kinder
mehr und mehr gymnasiale Standards“, erklärt er. Während im Jahr 2000 noch 60 Prozent der Kinder in Ascheberg zu weiterführenden Schulen gingen, waren es zehn
Jahre später nur noch 40 Prozent. Die verbleibenden Kinder pendelten zu weiterführenden Schulen in die Nachbargemeinden. Dr. Risthaus resümiert: „Wir haben weniger
Kinder, und die, die wir haben, laufen uns davon. Das Schulangebot in Ascheberg war auf Dauer nicht ausreichend.“
Nicht zuletzt sei man in Ascheberg auch aufgrund von
wirtschaftlichen Aspekten daran interessiert gewesen, die
weiterführenden Schulen – und damit auch die Menschen
und Käufer – vor Ort zu halten, wie Dezernent Christian
Ladleif von der Bezirksregierung Münster erläutert.
Folglich wurde in Ascheberg schon 2006 über eine perspektivische Lösung für den Schulstandort diskutiert,
nach dem Motto „Not macht erfinderisch“, wie Bürgermeister Dr. Risthaus es nennt. Im Auftrag der Gemeinde erstellte Dr. Ernst Rösner, Wissenschaftler vom Institut für
Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund,
einen Schulentwicklungsplan und gab Empfehlungen, wie
der Schulstandort Ascheberg zukünftig aussehen könnte.
„Dabei ging es nicht nur um die nackten Zahlen – das
hätten wir noch allein hinbekommen –, sondern um die
Ausarbeitung von Szenarien und darum, etwas grundsätzlich neu zu denken. Denn mit den bisherigen Möglichkeiten wären wir nicht weitergekommen“, sagt Dr. Risthaus.
Gemeinsam mit weiteren pädagogischen Experten, wie
Schulleitungen und Lehrkräften, aber auch Vertretern von
Lehrerverbänden, wurde Dr. Rösner beauftragt, das Konzept für eine neue Schule zu entwickeln, so Schulausschussvorsitzender Ley. Dies war ein entscheidender
Schritt auf dem Weg zu der Errichtung der Profilschule,
der sich auch positiv auf die politischen Entscheidungsträger auswirkte.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
In Ascheberg waren sich die Fraktionen schon sehr früh
einig und sprachen sich für das Vorhaben aus. Hier hat
sich zum einen das Gutachten von Wissenschaftler
Dr. Rösner positiv ausgewirkt, und zum anderen ist der
Prozess der Entwicklung eines neuen Schulangebotes
auch durch die CDU-Ratsfraktion vorangetrieben worden,
die einen „Runden Tisch“ errichtete. Mit dem Konzept sei
man erst an die Öffentlichkeit gegangen, als sich die Mitglieder des Schulausschusses einig waren.
„In der Gemeinde gab es einen großen Konsens“, bestätigt Christian Ladleif von der Bezirksregierung Münster.
„Anfangs war die Beschlussfassung bei der CDU schwierig“, schränkt Ley ein. Aber das von der Expertengruppe
erarbeitete Konzept, welches das längere gemeinsame
Lernen beinhaltet, sei so gut gewesen, dass es alle überzeugt habe. „Seit 2008 wurden alle Beschlüsse einstimmig gefasst“, so Ley. Er sei selbst erstaunt gewesen, wie
gut alles geklappt habe. „Der Vorteil war, dass die Expertengruppe breit aufgestellt war und es keinen Angriffspunkt gegeben hat, wo man hätte einhaken können“, erklärt er.
Bürgermeister Dr. Risthaus bestätigt, dass es bei der politischen Willensbildung vor Ort „keine Schwierigkeiten“
gegeben habe. Auf der einen Seite sei das Konzept sehr
überzeugend gewesen, auf der anderen Seite habe es
wegen der demografischen Einbrüche und der abwandernden Schülerinnen und Schüler einen hohen Handlungsdruck gegeben. Die Stimmung in den Gremien sei
„hoffungsvoll und positiv“ gewesen, und daran hätte auch
eine anfängliche Unstimmigkeit mit einer Nachbarkommune nichts geändert. Das bestätigt auch der schulfachliche Dezernent Ladleif: „Am Tag der offenen Tür der Profilschule war der ganze Schulausschuss beteiligt. Das
zeigt, wie wichtig der Gemeinde das Gelingen der Schule
war.“
10
Die Zusammenlegung der Haupt- und Realschule zu einer
Verbundschule wurde zwar überlegt, aber schließlich
fraktionsübergreifend abgelehnt. „Wir wollten einen Neuaufschlag“, bestätigt Bürgermeister Dr. Risthaus. Die
Errichtung einer Gemeinschaftsschule mit einer eigenen
Oberstufe kam ebenfalls nicht infrage, weil es nach Aussage von Bürgermeister Dr. Risthaus dafür zu wenig Kinder und Gebäude gibt. Außerdem hätten die Nachbargemeinden gut funktionierende weiterführende Schulen,
sodass klar gewesen sei, dass es in Ascheberg keine
Oberstufe geben sollte, bestätigt der Schulausschussvorsitzende Ley.
Folglich sprach sich der Rat der Gemeinde Ascheberg bereits am 6. Oktober 2009 – und damit rund ein Jahr früher als die anderen Kommunen in Nordrhein-Westfalen –
für die Errichtung einer Profilschule aus und stellte am
13. November 2009 den entsprechenden Antrag beim
Schulministerium. Im Januar 2010 reisten Vertreter der
Kommune nach Düsseldorf, bekamen aber von dort das
Signal, dass es „keine Chance“ gebe, eine Profilschule zu
errichten, wie Schulausschussvorsitzender Ley berichtet.
Das Ministerium unter der damaligen Landesregierung
hätte für eine Verbundschule plädiert, wogegen sich
Ascheberg aber fraktionsübergreifend aussprach. Dezernent Ladleif: „Die Ascheberger haben nur darauf gewartet, dass nach der Wahl grünes Licht aus Düsseldorf
kommt.“ Sie wiederholten ihren ersten Antrag vom November 2009 in einer zweiten Fassung am 12. Oktober 2010
und baten um die Genehmigung, eine Profilschule errichten zu dürfen.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Im Zuge der detaillierten Ausarbeitung eines Konzepts für
eine zukunftsfähige Schule in Ascheberg wurden auch die
Kollegien der beteiligten Schulen über das Vorhaben informiert. Die Schulkonferenz der Theodor-Fontane-Hauptschule sprach sich bereits am 16. Oktober 2007 einstimmig für das von der Expertengruppe vorgestellte Schulentwicklungsmodell der Gemeinschaftsschule aus. Am
30. September 2010 – kurz vor dem erneuten Antrag der
Stadt – wurde der Errichtung der Profilschule seitens der
Schulkonferenz einstimmig zugestimmt. „Das Kollegium
hat die Bestandsgefährdung gesehen und fand jedes
System besser als das, was bis dahin da war“, sagt Sylke
Reimann-Perez, frühere Leiterin der Hauptschule und derzeitige Leiterin der Profilschule. Die Lehrkräfte seien
etwas skeptisch gewesen, ob sie die neue Lehrerrolle mit
dem Fokus auf dem selbstgesteuerten Lernen erfüllen
können und baten um Fortbildungen. Insgesamt aber sei
die Hauptschule dem Vorhaben gegenüber „sehr positiv
gestimmt“, bestätigt auch Bürgermeister Dr. Risthaus.
Bei der Realschule sah das anders aus: Dort stand die
Frage im Raum, warum eine gut funktionierende Realschule aufgegeben werden sollte. Das zeigte sich bereits
in der Abstimmung in der Schulkonferenz vom 11. September 2007. Dort sprachen sich nur zwei Mitglieder für
die Profilschule aus, darüber hinaus gab es drei Neinstimmen sowie sieben Enthaltungen. Auf Wunsch der Eltern wurde über einen weiteren Antrag abgestimmt, die
neue Schulform ohne gemeinsamen Unterricht einzuführen. Dieser Antrag wurde mit neun Ja- zu drei Neinstimmen mehrheitlich befürwortet. In einem Protokoll der
Schulkonferenz, kurz vor dem zweiten Antrag im Herbst
2010, bedauern Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie
Lehrkräfte „die mit der Neugründung der Profilschule verbundene Auflösung der Realschule Ascheberg, weil damit
eine langjährige erfolgreiche Realschularbeit beendet
wird“. Darüber hinaus hoffen und bitten die Beteiligten,
dass das „bisher gewohnt hohe Niveau der Ausbildung
bis zum Auslaufen der Realschule Ascheberg bedingungslos zur Verfügung gestellt wird“. Dr. Risthaus erklärt: „In
der Realschule konnte man sich zwar die gymnasialen
Standards vorstellen, aber das Kollegium wollte eine Verbundlösung mit drei Zweigen. Deswegen blieb dort eine
Restenttäuschung, die die Gemeinde mangels ausreichender Kinderzahl nicht auffangen konnte. Solche Be
lange müssen dann zurückstehen“, sagt der Bürgermeister.
Neben den Lehrkräften wurden auch die Ascheberger Eltern frühzeitig in den Entstehungsprozess eingebunden
und in verschiedenen Veranstaltungen über das Vorhaben
informiert. „Wir haben extrem starke Öffentlichkeitsarbeit
geleistet, bei Schulpflegschaften, Kollegien und Eltern“,
sagt Dr. Risthaus und ergänzt: „Ohne die hätte es nicht
funktioniert.“ Schulleiterin Reimann-Perez zufolge gab es
bei den Eltern auch Vorbehalte, weil sie die Neuerungen
nicht kannten, die ein auf Eigenverantwortlichkeit und
Selbstständigkeit ausgerichteter Unterricht mit sich
bringt. An den Elternabenden musste deshalb diese Form
der Unterrichtgestaltung vielfach erklärt werden. Wie erfolgreich und überzeugend die Informationsveranstaltungen verliefen, zeigt dann die Elternbefragung mit einer
Rücklaufquote von 98 Prozent, von denen mehr als 75 Prozent die Errichtung einer Gemeinschaftsschule befürworten. „Bei den Eltern herrschte eine unfassbar gute Stimmung“, sagt Christian Ley, Vorsitzender des Schulausschusses. Dennoch räumt er ein: „Ohne so ein eindeutiges
Votum der Eltern hätte es schwer werden können. Versucht
man so etwas gegen den Willen der Eltern durchzusetzen,
geht so ein Projekt baden.“
Die Bezirksregierung Münster war nicht nur an den verschiedenen Informationsveranstaltungen beteiligt und
stand den Beteiligten bei Fragen Rede und Antwort, sondern kümmerte sich auch darum, „der Schule frühzeitig
ein Gesicht zu geben“, wie Dezernent Ladleif berichtet.
„Sobald die Entscheidung vom Rat getroffen worden ist,
11
ist eine wichtige Gelingensbedingung, dass es einen Ansprechpartner gibt, der Öffentlichkeitsarbeit betreibt.“ Es
sei wichtig, so der Schulfachmann, dass dies keine neutrale Person wie zum Beispiel ein Schulaufsichtsbeamter
sei, sondern eine Person, die die Schule leitet und der die
Eltern ihre Kinder anvertrauen. „Die Beziehungsebene ist
ausschlaggebend“, sagt er. Ebenso frühzeitig standen
auch die Kollegien der neuen Gemeinschaftsschule fest,
die sich regelmäßig trafen, um am pädagogischen Konzept zu feilen und es mit Leben zu füllen.
Gemäß dem Antrag für die Gemeinschaftsschule informierte Ascheberg auch die von der Schulerrichtung betroffenen Nachbarkommunen Lüdinghausen, Nordkirchen,
Werne und Senden – Kommunen, die in der Vergangenheit in einem wesentlichen Ausmaß Ascheberger Schülerinnen und Schüler aufgenommen haben – über ihr Vorhaben. Den Antragsunterlagen zufolge wurden die Nachbarkommunen bereits vor dem ersten Antrag im Herbst
2009 und dann noch mal im September 2010 über den
Schulversuch informiert und um Stellungnahme gebeten.
In den Unterlagen heißt es dazu, „dass die Gemeinde
Ascheberg aufgrund der vorliegenden Daten davon ausgeht, dass die Errichtung der Profilschule die jeweiligen
weiterführenden Schulen existenziell nicht gefährden
wird“. Weiter heißt es, dass seitens der Nachbargemeinden keine Stellungnahmen eingegangen seien, „aus denen eine Existenzgefährdung benachbarter weiterführender Schulen abgeleitet werden kann“.
Das sah die Stadt Lüdinghausen allerdings anders: Sie
gab unter anderem an, dass sich die Errichtung der Profilschule Ascheberg „erheblich“ auf ihre Hauptschule auswirken würde und diese in ihrem Bestand gefährdet werden würde.
Das von der Stadt Lüdinghausen in Auftrag gegebene Gutachten des Planungsbüros „Projektgruppe Bildung und
Region“ (Biregio) kam schließlich zu dem Ergebnis, dass
sich die Profilschule Ascheberg negativ auf die Schullandschaft in Lüdinghausen auswirkt und der Weiterbestand
der Hauptschule in diesem Fall als „akut gefährdet“ anzusehen sei. Auf dieser Grundlage stimmte Lüdinghausen
der Errichtung einer Profilschule in Ascheberg nicht zu.
„Aber das Gutachten war nicht haltbar“, urteilt Bürgermeister Dr. Risthaus. Das habe auch die Bezirksregierung
deutlich gemacht. Christian Ladleif bestätigt: „Wir haben
die Zahlen geprüft und sind zu dem Ergebnis gekommen,
dass die Schulen in Lüdinghausen nicht in Gefahr waren.“
Darüber hinaus habe Lüdinghausen auch nicht zwingend
das Recht auf zwei Gymnasien, ergänzt Schulausschussvorsitzender Ley.
Dennoch unterzeichnete der Bürgermeister der Stadt
Lüdinghausen gemeinsam mit den Bürgermeistern der
Kommunen Ahlen, Beckum, Borken, Coesfeld, Greven,
Ochtrup, Oelde, Steinfurt und Warendorf ein Positionspapier. Darin argumentierten sie, dass die Gymnasien zu
viele Schülerinnen und Schüler verlören und die Nachbarkommunen rechtzeitig in den Prozess eingebunden werden müssten. „Wir haben uns auf diese Diskussionen nicht
eingelassen, weil sie keine ernsthaften sachlichen Argumente hatten“, sagt Dr. Risthaus. „Wir haben den Vorwürfen andere positive Nachrichten entgegengesetzt.“ Natürlich habe die Gefahr bestanden, dass die Stimmung bezüglich der Profilschule in Ascheberg kippt und man habe
schon „schwitzige Hände bekommen“, sagt der Bürgermeister. Dennoch habe diese Aktion zu keinen „Irritationen“
in Ascheberg geführt, wie Schulausschussvorsitzender
Ley berichtet, alle Beschlüsse zur Profilschule seien klar
und einstimmig gefasst worden.
„Im Nachhinein hat es die Sache nur spannender gemacht“, sieht Bürgermeister Dr. Risthaus das Ganze inzwischen eher gelassen. Obwohl das Verhältnis zu der Stadtspitze in Lüdinghausen nicht ganz einfach war, gibt es
nun eine Kooperation mit dem Berufskolleg in Lüdinghausen, auf das die Schülerinnen und Schüler nach der
Profilschule gehen können. Solche Kooperationen gibt es
auch mit der Gesamtschule der Gemeinde Nordkirchen,
auch wenn diese das Modellvorhaben zunächst distanziert betrachtete. Dezernent Ladleif zufolge sei die Profilschule mit ihrem Angebot für die Gesamtschule in Nordkirchen durchaus eine Konkurrenz. Allerdings beriet die
Schulaufsicht sowohl Ascheberg als auch Nordkirchen
und versuchte Synergieeffekte zu nutzen. Schließlich gelang es sogar, eine Kooperation mit der gymnasialen
Oberstufe in Nordkirchen zu vereinbaren.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Das pädagogische Konzept der Profilschule wurde nach
der Gründung der Expertengruppe Ende 2006 entwickelt
und nach Rücksprache mit den Beteiligten schrittweise
ausformuliert. „Die Konzeptgruppe hat sich verschiedene
Schulen angeschaut und geguckt, was guten Unterricht
ausmacht“, so Schulleiterin Reimann-Perez.
Das pädagogische Konzept sei eine Mischung verschiedener Schulen, wobei der Schwerpunkt auf dem Projektunterricht und dem selbstständigen Lernen liege. Dafür habe man sich die Laborschule Bielefeld, die Reformschule
in Kassel-Waldau, die Hamburger Max-Brauer-Schule und
die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden angeschaut. Mit
Letzterer gibt es auch eine enge Kooperation, und die
ehemalige Leiterin kommt regelmäßig zur Beratung nach
Ascheberg. Bei der Konzepterstellung sei viel über den
Punkt „Leistungsbewertung“ diskutiert worden, sagt
Reimann-Perez. „Dass wir auf dem richtigen Weg sind,
bestätigen uns die Rückmeldungen der vielen Hospitanten und Kollegen unserer Schule.“
12
Darüber hinaus profitierte Ascheberg vom Patenmodell
der Bezirksregierung Münster: Erfahrene Schulpraktiker,
die bereits reformpädagogisch arbeiten, unterstützen
Schulen, die sich gerade auf den Weg machen. Pate der
Gemeinschaftsschule Ascheberg ist die Gesamtschule
Ahlen. Zum Tag der offenen Tür kamen auch Schülerinnen und Schüler, die den Eltern zeigten, wie die Methoden
der Profilschule, mit denen in Ahlen schon erfolgreich
gearbeitet wird, in der Praxis aussehen. Die Paten erfüllen
laut Ladleif verschiedene Funktionen: Erfahrene Schulleiterinnen und Schulleiter unterstützen beispielsweise in
organisatorischen Fragestellungen, Fachvertreter kommen zu Fortbildungen hinzu, um einen fachspezifischen
Austausch zu gewährleisten, der in den anfangs noch
kleinen Kollegien der Gemeinschaftsschulen kaum möglich ist. Ladleif resümiert: „Die Paten haben sich als sehr
nützlich und hilfreich herausgestellt.“
Schulleiterin Reimann-Perez ist mit der Unterstützung
durch die Schulaufsicht sehr zufrieden: Der Dezernent sei
immer gut erreichbar, habe gut beraten, und auch die
erforderlichen Fortbildungstage habe man bekommen.
Am 17. November 2010 bekam die Gemeinde Ascheberg
als erste Kommune in Nordrhein-Westfalen die Genehmigung, eine Gemeinschaftsschule errichten zu dürfen. Am
7. September 2011 wurden die ersten 125 Schülerinnen
und Schüler an der Profilschule begrüßt. Parallel dazu
nehmen die Realschule und die Hauptschule keine neuen
Kinder mehr auf und laufen sukzessive aus.
Insgesamt betonen alle Gesprächspartner, dass ein breiter Konsens für die Umsetzung der Gemeinschaftsschule
wichtig sei. „Wenn alle mitmachen, dann kann es klappen“,
fasst Schulausschussvorsitzender Ley zusammen. Das
gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für die Eltern,
die Lehrkräfte und die Verwaltung. Auch die Unterstützung
durch externe pädagogische Experten hat sich als vorteilhaft erwiesen. Ley: „In einem solchen Projekt muss man
Experten zu Wort kommen lassen, die sich mit der Materie auskennen.“ Dass das Implementieren einer neuen
Schule durchaus mühsam und kein Selbstläufer sei, räumt
Bürgermeister Dr. Risthaus ein. „Aber es bietet auch die
Chance, etwas Neues umzusetzen.“ Und das sei in Ascheberg geschehen. „Ascheberg hat mit seiner Profilschule
Ascheberg einen landesweiten Veränderungsprozess angestoßen“, sagt Dr. Risthaus. An deren Ende stehe die Erarbeitung des Schulfriedens. Besonders stolz ist er, dass
die parteiübergreifend ausgehandelte Lösung den Aufbau
einer verlässlichen, nachhaltigen Lernstruktur ermögliche, dass sie von Kommunen und Eltern mitgetragen und
auch den Herausforderungen des demografischen Wandels gerecht werde.
In der folgenden Tabelle sind die für den Entstehungsprozess der Profilschule in Ascheberg relevanten Faktoren
noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
Mehr als 75 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Enthaltung, mehrheitlich;
Empfehlung: Einführung einer Allgemeinen
Sekundarschule ohne gemeinsamen Unterricht
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Ja
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften Jahrgang
im Schuljahr 2010/2011
Rund 64 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um rund 15 Prozent
Raumangebot
Musste erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
13
2.2 Billerbeck
Grunddaten:
geografische Lage:
Billerbeck liegt im westlichen Münsterland
kreisangehörige Gemeinde im Kreis Coesfeld
Einwohner: knapp 11.700
Nachbarkommunen: Rosendahl, Laer (Kreis Steinfurt),
Altenberge (Kreis Steinfurt), Havixbeck, Nottuln
und Coesfeld
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Daten zum Entstehungsprozess der
Gemeinschaftsschule:
Insgesamt: 1.188 Schülerinnen und Schüler
23. März 2009: Planungsgespräche zum Schulstandort
Billerbeck in der Bezirksregierung Münster
16. November 2009: Gründung der pädagogischen Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines richtungsweisenden
Schulentwicklungsvorhabens für Billerbeck
Februar 2010 bis Juni 2010: Schrittweise Entwicklung
des Konzepts
August 2010: Erste Gespräche zur Teilnahme am Schulversuch im Ministerium für Schule und Weiterbildung
5. Oktober 2010: Ratsbeschluss zur Errichtung der Gemeinschaftsschule gestellt und sukzessive Schließung
der Don-Bosco-Hauptschule und der Geschwister-Eichenwald-Realschule
11. Oktober 2010: Antrag auf Teilnahme am Schulversuch zur Errichtung einer inklusiv arbeitenden vierzügigen Gemeinschaftsschule ohne eigene Oberstufe, in Kooperation mit dem Gymnasium Nottuln, dem Städtischen
Gymnasium Nepomucenum und dem Städtischen Heriburg-Gymnasium (beide Coesfeld) an einem Standort,
dem Schulzentrum „An der Kolvenburg“
Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I Billerbeck“ startete zum Schuljahr
2011/2012 mit 94 Schülerinnen und Schülern
Primarstufe:
eine Grundschule
Ludgerischule Billerbeck: 510 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
zwei weiterführende Schulen in einem Schulzentrum:
678 Schülerinnen und Schüler
Don-Bosco-Hauptschule Billerbeck: 236 Schülerinnen
und Schüler
Geschwister-Eichenwald-Realschule Billerbeck:
442 Schülerinnen und Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeisterin Marion Dirks (parteilos)
– Fraktion der CDU: 12
– Fraktion der SPD: 7
– Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen: 4
– Fraktion der FDP: 2
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Marion Dirks, Bürgermeisterin (parteilos),
(schriftliches Interview)
– Maggie Rawe (Bündnis 90/Die Grünen),
Vorsitzende des Schulausschusses
– Christian Ladleif, Dezernent der Bezirksregierung Münster
– Barbara van der Wielen, Schulleiterin
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Die überwiegend ländlich strukturierte Gemeinde Billerbeck liegt im Kreis Coesfeld, der vom prognostizierten
Schülerrückgang von 16 bis 20 Prozent (IT.NRW) bis zum
Jahr 2016 besonders stark betroffen ist.
Vor allem die Don-Bosco-Hauptschule verzeichnete stark
rückläufige Schülerzahlen. Sie wurde im Schuljahr 2010/2011
von 236 Schülerinnen und Schülern besucht und nur noch
14
mit zwei Klassen pro Jahrgang geführt. „Zum Schuljahr
2012/2013 hätte die Hauptschule die Zweizügigkeit nicht
mehr erreicht“, sagt Barbara van der Wielen, frühere Leiterin der Realschule und derzeitige Leiterin der Gemeinschaftsschule Billerbeck.
Aber nicht nur die Haupt-, sondern auch die Realschule
hatte unter zurückgehenden Schülerzahlen zu leiden. Die
Geschwister-Eichenwald-Realschule besuchten im Schuljahr 2010/2011 442 Schülerinnen und Schüler. Damit war
sie noch zweieinhalbzügig. „Die kommunale Schulentwicklungsplanung war schließlich der ausschlaggebende
Grund, einen Antrag für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule zu stellen, da dauerhaft der Bestand mindestens
einer der beiden weiterführenden Schulen gefährdet
schien“, erklärt Bürgermeisterin Marion Dirks.
Neben den stark rückläufigen Schülerzahlen pendeln
kontinuierlich Kinder aus Billerbeck zu weiterführenden
Schulen in Nachbarkommunen nach Coesfeld, Havixbeck
und Münster. „Früher wählten etwa 30 Prozent gymnasiale Formen, heute sind es schon 40 Prozent oder mehr“,
sagte Maggie Rawe, Vorsitzende des Schulausschusses.
„Wir hatten auf der einen Seite weniger Schüler, und auf
der anderen Seite wurden höhere Qualifikationen gewünscht. Uns allen war klar: Wenn wir jetzt nichts machen,
müssen wir irgendwann die Schulen schließen“, erzählt sie.
Deshalb wurde in Billerbeck schon früh über die Zukunft
des Schulstandortes diskutiert. Im März 2009 fanden
erste Beratungsgespräche mit der Bezirksregierung
Münster statt und im November 2009 wurde formell beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die ein pädagogisches Konzept für eine „Schule für alle“ und ein richtungsweisendes Schulentwicklungsvorhaben erarbeiten
sollte. In der Gruppe waren neben Professor Bernd Zymek
(Universität Münster) auch Lehrkräfte der Billerbecker
Schulen sowie Schulentwicklungsbegleiter aus Ahlen,
Enger und Vreden, die die Bezirksregierung empfohlen
hatte. Die Gruppe erarbeitete bereits im Februar 2010
Eckpunkte und anschließend konkrete Bausteine eines
Schulkonzepts.
„Wir waren schon bei der Landtagswahl 2010 mit allem
fertig und wären auch bei einer anderen Regierung an das
Ministerium herangetreten, um einen Antrag zu stellen“,
sagt Rawe und ergänzt selbstbewusst: „Wer hätte einen
Antrag stellen sollen, wenn nicht wir? Wir hatten eine Mensa, sanierte und behindertengerechte Räume und das
Konzept stand schon frühzeitig.“ Folglich kam der Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ genau zum richtigen Zeitpunkt und Billerbeck
stellte – nach Ascheberg – als zweite Schule den Antrag.
im Rat ein entsprechender Beschluss gefasst werden.
„Bis auf die FDP-Fraktion standen alle hundertprozentig
hinter dem Projekt“, erzählt Rawe. Gerade in kleineren
Orten brauche man die Mehrheit. „Die FDP hat sich von
Anfang an anders positioniert und konnte leider nicht
mehr mitgenommen werden“, erzählt sie. Das sagt auch
Bürgermeisterin Dirks: „Es gab zwar auch kritische
Stimmen und Ängste, leider brach die FDP kurzzeitig aus
dem Konsens aus und schlug andere Modelle vor, aber
durch direkte Kommunikation und jederzeitige Verfügbarkeit der Ansprechpartner gelang das Projekt.“ Bevor der
Entschluss, einen Antrag zu stellen, öffentlich gefasst
wurde, ist zunächst hinter verschlossenen Türen „viel
gestritten und schwer diskutiert“ worden, so Rawe, beispielsweise über das längere gemeinsame Lernen und
den Ganztag.
Bürgermeisterin Dirks zufolge war die Interessenlage in
den Gremien durchaus unterschiedlich: Während es den
konservativen Vertretern zunächst ausschließlich um die
Sicherung des Schulstandortes ging und sie sich „neuen
pädagogischen Konzepten schwer nähern konnten“, befürworteten andere von Anfang an den gemeinsamen
Unterricht. „Es war ein längerer Weg, sich inhaltlich hinsichtlich des pädagogischen Konzepts anzunähern.“ Über
offene und strittige Punkte diskutierten Fachleute der Arbeitsgruppe, Politiker, Lehrkräfte und Eltern gemeinsam.
Kritikern wurde laut Dirks aufgezeigt, dass der Schulstandort aufgrund der Zahlen ohnehin so nicht bestehen
bleiben könnte und neue pädagogische Konzepte erforderlich seien, um den hohen Anforderungen an die individuelle Förderung zu genügen. Dirks: „Die hohe Rücklaufquote von den Gymnasien, die geringe Durchlässigkeit
des Systems von unten nach oben, die Einbeziehung von
Schulsozialarbeit und die Ganztagsbetreuung waren weitere Argumente.“ Trotz aller Diskussionen sagt Rawe: „Wir
haben aber geschlossen einen Weg gefunden und nicht
für verschiedene Modelle gekämpft. Wir wollten mit
einem einheitlichen Konzept an die Öffentlichkeit, um sie
nicht zu verunsichern.“
Die Zusammenlegung der Haupt- und Realschule zu einer
Verbundschule sei zwar kurz überlegt, schließlich aber
abgelehnt worden. „Die Verbundschule macht keinen
Sinn“, sagt Schulleiterin van der Wielen. „Wir brauchen
eine Schule, die die gymnasialen Standards sichert und
eine Alternative zu den G8-Schulen bietet.“ Die Errichtung einer Schule mit einer eigenen Oberstufe kam ebenfalls nicht infrage. „Das war aufgrund der Schülerzahlen
unrealistisch“, sagt van der Wielen und ergänzt: „Coesfeld
hätte das nie zugelassen“. Laut Rawe wäre das auch „aus
pädagogischer Sicht nicht verantwortbar gewesen“, da es
keine ausreichende Auswahl bei den Oberstufenkursen
gegeben hätte.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Um den Antrag für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule stellen zu können, musste im Schulausschuss und
Die entscheidende Ratssitzung zur Gemeinschaftsschule
fand am 5. Oktober 2010 statt. Bis auf die FDP trugen alle
Fraktionen die Entscheidung einstimmig mit.
15
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Die konkreten Planungen für die Gemeinschaftsschule
begannen Ende August 2010 mit Gesprächen im Schulministerium und der Information der Kollegien von
Haupt- und Realschule. „Die Reaktionen der Kollegien
waren durchaus divergierend“, erzählt Schulleiterin van
der Wielen. Einige hätten den Weg gut gefunden und wollten an der Schule arbeiten, andere konnten sich so eine
integrierte Schulform nicht vorstellen. In der Sitzung der
Schulkonferenz im November 2010 hat es an der Hauptschule keine Gegenstimmen und an der Realschule nur
eine Gegenstimme gegeben. „Jedem ist klar gewesen,
dass es keine andere Möglichkeit gibt“, sagt van der Wielen.
Christian Ladleif, schulfachlicher Dezernent der Bezirksregierung Münster, ist überzeugt, dass vor allem die damalige Realschulleiterin van der Wielen positiven Einfluss
auf den Willensbildungsprozess vor Ort genommen hat.
„Sie war der Motor“, so Ladleif, und dies sei vor allem bei
der Unterstützung des Realschulkollegiums für die Gemeinschaftsschule sehr hilfreich gewesen. Bei den Informationsveranstaltungen für die Kollegien sei die Bezirksregierung präsent gewesen und habe die personalrechtliche Situation und die Perspektiven für die Lehrkräfte
erläutert. „In Billerbeck hat es diesbezüglich keine Probleme gegeben“, so Ladleif.
Neben den Lehrkräften wurden auch die Eltern frühzeitig
in den Entstehungsprozess eingebunden und in insgesamt vier Veranstaltungen über das Vorhaben und die anstehende Elternbefragung informiert. „Das habe ich als
Bürgermeisterin persönlich vorgenommen“, erzählt Dirks.
„Bei den Eltern war die Stimmung unterschiedlich“, sagt
van der Wielen. Einige fanden die Ideen gut, anderen gingen sie nicht weit genug, und sie hätten sich eine Gesamtschule mit eigener Oberstufe gewünscht.
In Billerbeck wurden die Eltern aller Grundschülerinnen
und Grundschüler befragt. Dabei galt die Devise: Je mehr
Eltern man beteiligt, desto besser gelingt der Umbauprozess. „Wir wollten eine große Mehrheit haben und die Diskussion in einen breiten Raum tragen“, erklärt Schulausschussvorsitzende Rawe. An der Elternbefragung beteiligten sich rund 90 Prozent. Mehr als 75 Prozent der Eltern
gaben an, dass sie ihr Kind „sicher“ oder „vermutlich“ an
der Gemeinschaftsschule anmelden würden. Von den
Eltern der Dritt- und Viertklässlerinnen und -klässler der
Grundschule stimmten 76 Prozent entsprechend ab.
Bürgermeisterin Dirks betont, dass der Zeitpunkt, mit
dem Vorhaben der Gemeinschaftsschule an die Öffentlichkeit zu gehen, gut ausgesucht werden muss. „Die gesamte Öffentlichkeit muss früh genug mitgenommen
werden, allerdings auch nicht zu früh. Es sollten nach unseren Erfahrungen bereits Eckpunkte vorhanden sein,
über die überhaupt gesprochen werden kann.“ Außerdem
habe man Wert darauf gelegt, Begriffe wie „Gemeinschaftsschule“ zu vermeiden, um mögliche ideologische
Vorbehalte zu vermeiden, und stattdessen von einer
„Schule für alle“ gesprochen.
Gemäß dem Antrag für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule informierte Billerbeck auch die Nachbarkommunen Altenberge, Laer, Havixbeck, Legden/Rosendahl,
Nottuln und Coesfeld über das Vorhaben. Laer nahm das
Vorhaben ohne Stellungnahme zur Kenntnis, Altenberge
hatte keine Bedenken und auch Havixbeck erhob grundsätzlich keine Einwände und bot eine Kooperation mit der
Anne-Frank-Gesamtschule an. Aber es kam auch zu Unstimmigkeiten, wie Bürgermeisterin Dirks berichtet. „Es
gab erhebliche Konflikte, als es um den regionalen Konsens ging.“ Dass Widerstände existierten und einige Nachbarkommunen wie Nottuln und Coesfeld die Gemeinschaftsschule abgelehnt hätten, bestätigt auch Schulausschussvorsitzende Rawe. „Eine wirkliche Konsensfindung
gab es nicht.“ Ladleif von der Bezirksregierung erklärt:
„Die Nachbarkommunen konnten ein Veto einlegen,
mussten aber nachweisen, dass ihre Schulen durch die
Gemeinschaftsschule in der Existenz gefährdet sind. Das
war entscheidend für die schulrechtliche Genehmigung.“
Bürgermeisterin Dirks zufolge gelang dies den Nachbargemeinden Coesfeld, Nottuln und Legden/Rosendahl
nicht. Allerdings forderten sie eine Begrenzung der Gemeinschaftsschule auf drei Züge, der auch stattgegeben
wurde. Dies hat bei den Eltern auch zur Verunsicherung
geführt. Weil Billerbeck ausreichend ortseigene Kinder für
die Errichtung einer Gemeinschaftsschule hat, beurteilt
Ladleif die Abstimmung mit den Nachbarkommunen letztlich als „nicht so problematisch“. Obwohl das Verhältnis
zu den Nachbarn schwierig bleiben wird, wie Frau van der
Wielen vermutet, gibt es inzwischen mit dem Gymnasium
in Nottuln sowie dem Gymnasium Nepomucenum und
dem Heriburg-Gymnasium in Coesfeld Kooperationsvereinbarungen, die gewährleisten, dass Schülerinnen und
Schüler der Gemeinschaftsschule später dort ihr Abitur
machen können.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Das pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschule wurde seit Februar 2010 Schritt für Schritt von der Arbeitsgruppe entwickelt und dem Schulausschuss vorgestellt:
Auf Eckpunkte folgten ausformulierte Leitideen und konkrete Bausteine eines Schulkonzepts. Dafür habe man
sich bei anderen Schulen umgesehen, berichtet van der
Wielen. Besonders passend seien die Winterhuder Reformschule und die Evangelische Schule Berlin Zentrum gewesen. „Sie verfolgen auch den Grundansatz, dass jedes Kind
lernen will und die Lehrkräfte es begleiten“, erklärt sie.
16
„Die Schulleitung ist pädagogisch sehr versiert, hat sich
mit Reformschulen auseinandergesetzt und die Schulen
vom Deutschen Schulpreis als Vorlage für das eigene Profil genommen“, bestätigt Ladleif. In Billerbeck stehe beispielsweise der vernetzte Unterricht im Mittelpunkt. Darüber hinaus gebe es statt Ziffernnoten Lernberichte. Dies
ist Teil des besonderen pädagogischen Konzeptes der
Schule.
Um das Konzept mit Leben zu füllen, wurden Experten
und Praktiker eingeladen, die bereits Erfahrungen mit diesen Konzepten haben. Außerdem wurde ein Expertenrat
gegründet, der die Entwicklung der Schule konstruktiv
und kritisch begleitet. Ihm gehören Fachleute aus Schule,
Hochschule und schulischer Weiterbildung an.
Auch in Billerbeck kam das Patenmodell der Bezirksregierung Münster zum Tragen: Erfahrene Schulpraktiker, die
bereits reformpädagogisch arbeiten, unterstützen Schulen, die sich gerade auf den Weg machen. Pate der Gemeinschaftsschule Billerbeck ist die Willy-Brandt-Gesamtschule Marl. Die Paten erfüllen laut Ladleif verschiedene
Funktionen: Erfahrene Schulleiterinnen und Schulleiter
helfen bei organisatorischen Fragestellungen, Fachvertreter kommen zu Fortbildungen hinzu, um einen fachspezifischen Austausch zu gewährleisten, der in den anfangs
noch kleinen Kollegien der Gemeinschaftsschulen kaum
möglich ist. Ladleif resümiert: „Die Paten haben sich als
sehr nützlich und hilfreich herausgestellt.“
Van der Wielen betont, dass die Zusammenarbeit mit der
Schulaufsicht vorbildlich sei. Sie habe an verschiedenen
Fortbildungen teilnehmen können und werde bei Stellenzuweisungen frühzeitig einbezogen.
Im Januar 2011 erhielt Billerbeck die Genehmigung, eine
Gemeinschaftsschule errichten zu dürfen, und am 7. September 2011 wurde die „Schule für alle“ offiziell eingeweiht. Für das Schuljahr 2011/2012 hatten sich 94 Kinder
angemeldet. Parallel dazu nehmen die Real- und Hauptschule keine neuen Schülerinnen und Schüler mehr auf
und laufen sukzessive aus.
Insgesamt waren die demografische Entwicklung, das veränderte Elternwahlverhalten sowie die Auspendlerquoten
in die Nachbarkommunen wichtige Anstoßpunkte für
Billerbeck, eine Gemeinschaftsschule zu errichten. „Ein
Erfolgsgeheimnis der Billerbecker Schule ist, dass wir
nicht sofort öffentlich diskutiert haben, sondern uns erst
geeinigt haben und erst dann an die Öffentlichkeit gegangen sind“, resümiert Rawe. Ihr zufolge war der pädagogische Beirat mit externen Experten ein „großes Glück“. „Es
war anstrengend, aber es war auch ein positiver Prozess
für die Stadt. Und das Ergebnis ist eine Chance für Billerbeck und die Kinder“, so die Schulausschussvorsitzende.
In der folgenden Tabelle sind die für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule in Billerbeck relevanten
Faktoren noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
76 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, mehrheitlich
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Ja, mehrheitlich
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften Jahrgang
im Schuljahr 2010/2011
42,9 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 2,6 Prozent
Raumangebot
Ausreichend
Konsens mit Nachbarkommunen
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
17
2.3 Bochum
Grunddaten:
geografische Lage:
Bochum liegt im Zentrum des Ruhrgebiets und in der
Mitte des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen
kreisfreie Großstadt Bochum im Regierungsbezirk
Arnsberg
Einwohner: 380.000
Nachbarkommunen:
Herne (kreisfreie Stadt), Castrop-Rauxel (Kreis Recklinghausen), Dortmund (kreisfreie Stadt), Witten und
Hattingen (beide Ennepe-Ruhr-Kreis) sowie Essen und
Gelsenkirchen (beides kreisfreie Städte)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
(wegen des großen Angebots werden die Schulen hier
nicht im Einzelnen aufgeführt)
– Ulrich Wicking, Schulverwaltungsamtsleiter im Auftrag
der Oberbürgermeisterin
– Peter Reinirkens (SPD), Vorsitzender des Schulausschusses
– Burkhard Koller, Dezernent der Bezirksregierung
Arnsberg
– Birgit Linden, Schulleiterin
Insgesamt: 47.906 Schülerinnen und Schüler
Primarstufe:
55 Grundschulen, die wegen der Menge nicht einzeln aufgeführt werden: 11.316 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
30 Schulen, die wegen der Menge nicht einzeln aufgeführt werden: 22.356 Schülerinnen und Schüler
8 Hauptschulen: 2.313 Schülerinnen und Schüler
8 Realschulen: 4.377 Schülerinnen und Schüler
10 Gymnasien: 10.639 Schülerinnen und Schüler
4 Gesamtschulen: 5.027 Schülerinnen und Schüler
Ferner: 1 Weiterbildungskolleg, 5 Berufskollegs,
11 Förderschulen und 1 Schule für Kranke
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (SPD)
– Fraktion der SPD: 32
– Fraktion der CDU: 22
– Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: 10
– Fraktion Die Linke: 6
– Fraktion der Freien Bürger: 4
– Fraktion der Unabhängigen Wähler-Gemeinschaft (UWG): 3
– Fraktion der FDP: 2
– Fraktion Soziale Liste: 2
– Fraktion der NPD: 1
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
Herbst 2010: Erste Gespräche im Rat der Stadt
16. Dezember 2010: Mehrheitlicher Ratsbeschluss für
die Errichtung der Gemeinschaftsschule und gleichzeitig
sukzessive Auflösung der Hermann-Gmeiner-Hauptschule und der Helene-Lange-Realschule
21. Dezember 2010: Antrag zur Errichtung einer inklusiv
arbeitenden, vierzügigen Gemeinschaftsschule an zwei
Standorten in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Gesamtschule Bochum
Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I Bochum-Mitte“ startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 92 Schülerinnen und Schülern
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Der Rat der Stadt Bochum hatte sich aus verschiedenen
Gründen vorgenommen, seine Schulstandorte grundsätzlich neu zu ordnen. Zum einen spürten die Bochumer
Hauptschulen sehr deutlich das veränderte Elternwahlverhalten: 2009 hatte die Stadt an sieben Hauptschulstandorten nur noch rund 120 Anmeldungen, berichtet der Vorsitzende des Schulausschusses Peter Reinirkens. Besonders Eltern mit Migrationshintergrund lehnten die Schulform ab, ergänzt Schulverwaltungsamtsleiter Ulrich Wicking.
18
Burkhard Koller, schulfachlicher Dezernent der Bezirksregierung Arnsberg, bestätigt: „Das Hauptschulsterben
war dramatisch in Bochum.“ Hätten die Hauptschulen –
und langfristig auch die Realschulen – im Stadtbezirk
Mitte geschlossen werden müssen, hätte das für die Kinder des Viertels zukünftig lange Schulwege zu Schulen in
die anderen Stadtteile bedeutet, so Wicking.
Demgegenüber stieg die Anzahl der Eltern, die das Gymnasium für ihr Kind wählten, in den letzten Jahren in
Bochum auf rund 45 Prozent. Aber nur zwei Drittel der
Kinder machen dort tatsächlich ihren Abschluss. „Wir fanden, dass damit etwas schiefläuft für viele Schüler, und
wollten für diese Kinder ein Angebot schaffen, das mehr
individuelle Förderung verspricht“, sagt Reinirkens. Der
Rat war deshalb auf der Suche nach einem Schulkonzept,
das neue und passende pädagogische Antworten gab.
Hinzu kam die finanzielle Notlage der Stadt, sagt Wicking.
Vor diesem Hintergrund sei die Verwaltung ohnehin gezwungen gewesen, nicht genutzte Räume und Gebäude
zusammenzulegen oder besser zu nutzen.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Als es im Herbst 2010 schulpolitisch möglich wurde, an
dem Schulversuch der Gemeinschaftsschule teilzunehmen, war für die Stadt klar, dass sie zugreifen sollte: „Bei
der Gelegenheit konnten wir die Schullandschaft verbessern und unsere Gebäude besser nutzen“, sagt Wicking.
So klar wie für die Stadtverwaltung war die Lage in den
politischen Gremien aber erst einmal nicht. Eine Mehrheit
für die Gemeinschaftsschule war zwar vorhanden, trotzdem habe zunächst eine Lagerbildung stattgefunden,
sagt Ausschussvorsitzender Reinirkens. Einige hätten
keine Notwendigkeit für eine neue Schulform gesehen, da
die Stadt bereits Gesamtschulen hatte. Andere beharrten
auf der vorhandenen Struktur und wollten bestehende,
gut laufende Schulen nicht gefährden.
Einige Kritiker konnten mit dem Argument überzeugt werden, dass die Zusammensetzung der Schülerschaft sich
so verändert habe, dass neue Antworten gefunden werden müssten, erinnert sich Reinirkens. Andere brachte er
auf die Seite der Befürworter mit dem Hinweis, dass die
Bedingungen in dem Schulversuch optimal seien, wie
beispielsweise die kleinen Klassen, die insgesamt kleinere
Schule und die Mitspracherechte im Entwicklungsprozess. Die Debatten endeten fruchtbar: Mit einer großen
Mehrheit von 61 Stimmen gegenüber 16 Gegenstimmen
und vier Enthaltungen stimmte der Rat am 16. Dezember
2010 für die neue Schule.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Wegen der Lage der Schule im Zentrum der Stadt musste
die Stadt Bochum ihr Vorhaben mit keiner Nachbarkommune abstimmen. Konflikte gab es aber zwischen den
Schulen innerhalb der Stadt. Obwohl sich die beteiligte
Realschule für die Gemeinschaftsschule ausgesprochen
hatte, „haben aber einige Lehrkräfte gegen die neue Schule gearbeitet“, sagt Schulverwaltungsamtsleiter Wicking.
Das sei deutlich geworden, als die Anmeldephase abgeschlossen war und plötzlich Eltern auftauchten, die ihre
Kinder noch in der Gemeinschaftsschule anmelden wollten. „Auf die Frage, warum sie jetzt erst kommen würden,
erzählten sie, dass ihnen geraten worden sei, erst mal abzuwarten, bevor sie ihre Kinder anmeldeten, denn es sei
sehr unsicher, ob die Schule zustande kommen würde“,
erinnert sich Wicking.
Die Frage, wie sich die Eltern entscheiden würden, war in
Bochum, ähnlich wie in den ländlichen Kommunen, ein
Unsicherheitsfaktor. Auch die schriftliche Befragung
brachte kein eindeutiges Ergebnis: 47 Prozent der befragten 4.320 Eltern der Stadt bzw. rund 45 Prozent der
540 befragten Eltern des Bezirks stimmten für die Gemeinschaftsschule. Dass in der Befragung noch nicht einmal
die Hälfte der Eltern für die neue Schule gestimmt hatten,
bereitete Birgit Linden, kommissarische Schulleiterin der
Gemeinschaftsschule, kein Kopfzerbrechen. „Ich habe
schon früher Neuerungen eingeführt, wie Islamkunde
oder den Ganztag. Darauf haben die Eltern immer positiv
reagiert.“
Linden behielt recht, auch wenn die Anmeldungen zwischenzeitlich etwas schleppend eingingen. Wicking führt
das auch darauf zurück, dass die neue Schulform unter
den Grundschullehrkräften noch nicht besonders präsent
war. Als die vorgesehenen Plätze besetzt waren, erlebte
Schulleiterin Linden noch mal eine Überraschung: Die
Kinder kamen von 30 Grundschulen aus dem gesamten
Stadtgebiet. Burkhard Koller, Dezernent bei der Bezirksregierung Arnsberg, der in den unterschiedlichsten Kommunen unterwegs war, um über die neue Schulform zu
informieren, hält das für ein Zeichen der Offenheit der
Bochumer Eltern: „Ich habe sie als neugierig erlebt, die
sich mit der Thematik, ‚längeres gemeinsames Lernen’
auskennen.“
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Dasselbe galt auch für Schulleiterin Linden. Für die Pädagogin, die zu dieser Zeit noch eine Hauptschule leitete,
war „gemeinsames Lernen“ nichts Neues. Sie hatte
schon in den verschiedensten Schulformen gearbeitet.
Externe Experten band die Schulleitung deshalb nicht ein.
19
Die Steuergruppen der beteiligten Hauptschule und der
Realschule haben das Konzept gemeinsam erarbeitet.
Vorbilder waren ihre eigenen Programme. „Wir haben die
Eckpfeiler der beiden Systeme genommen und sie weiterentwickelt“, sagt Linden.
Rat bekamen die Lehrkräfte von Dezernent Koller. Er
hatte zwei Termine mit der Planungsgruppe, um zu klären, was sich hinter den elf Punkten des ministerialen
Leitfadens verbirgt, und um Fragen zu beantworten. „Ich
habe zwischendurch immer wieder viel mit der Planungsgruppe gesprochen, um vorzubeugen, dass im Nachhinein viel korrigiert werden musste.“ Das Konzept hatte
ihn aber schnell überzeugt: Es weise eine deutliche Ausrichtung in Hinblick auf umfangreiche individuelle Förderung vor, ebenso wie auf Kompetenzorientierung und
Binnendifferenzierung.
Dass die Arbeit am pädagogischen Konzept in der neuen
Schule im Vordergrund steht und nicht immer einfach ist,
ist für Linden klar. Und das machte sie auch von Anfang
an ihrem Kollegium deutlich. Ob die Lehrkräfte aus den
auslaufenden Schulen in die Gemeinschaftsschule wechseln möchten, müsse jeder und jede für sich selbst entscheiden, sagt sie. „Hier gibt es viel Arbeit und unsichere
Strukturen, das ist nicht unbedingt für jeden etwas.“
Die Lehrkräfte, die sich auf diesen Schulversuch einließen,
bekamen auch von der Bezirksregierung viel Unterstützung. Koller lud das Team so früh wie möglich ein, um mit
ihnen darüber zu sprechen, welche Fortbildungen sie zukünftig benötigen und wie sie ihre Schule weiterentwickeln
möchten. „Die neuen Schulen hatten großen Bedarf“,
sagt er. Viele brauchten beispielsweise Rat, wenn es darum ging, wie sie potenzielle Hauptschülerinnen und
Hauptschüler gemeinsam mit potenziellen Gymnasiasten
unterrichten.
Nach Anlaufschwierigkeiten habe die Bezirksregierung
die Beteiligten im Gründungsprozess sehr unterstützt,
sagt Schulausschussvorsitzender Reinirkens. Schulleiterin Linden fand die Unterstützung durch die Bezirksregierung sinnvoll. „Schon bevor die Schule an den Start
ging, konnten wir so Schwerpunkte bei den Fortbildungen
setzen. Wichtig waren für uns die Themen Unterrichtsentwicklung, Methoden und individuelle Förderung. Das
ist sehr förderlich, wenn die Fortbildungen so speziell auf
die Schule bezogen werden.“ Die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I Bochum-Mitte“ startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 92 Schülerinnen und Schülern. Parallel dazu nehmen die Realschule und die Hauptschule
keine neuen Kinder mehr auf und laufen sukzessive aus.
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Bochum noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
47 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, mehrheitlich
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Ja, mehrheitlich
Externe pädagogische Experten
Nein
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
Fällt wegen der Größe der Stadt weg
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 8 Prozent
Raumangebot
Ausreichend
Konsens mit Nachbarkommunen
Keine Abstimmung nötig, weil Nachbarkommunen
wegen der Lage im Stadtzentrum nicht betroffen
sind
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Nein
20
2.4 Burbach
Grunddaten:
geografische Lage:
Burbach liegt im südlichen Siegerland im Dreiländereck Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz
kreisangehörige Gemeinde im Kreis Siegen-Wittgenstein
Einwohner: 15.000
Nachbarkommunen: Wilnsdorf, Neunkirchen, Haiger
und Breitscheid (beide Lahn-Dill-Kreis/Hessen),
Liebenscheid, Stein-Neukirch (beide Westerwaldkreis/
Rheinland-Pfalz), Emmerzhausen und Daaden (Landkreis Altenkirchen/Westerwaldkreis/Rheinland-Pfalz)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Insgesamt: 1.180 Schülerinnen und Schüler
Primarstufe:
drei Grundschulen: 580 Schülerinnen und Schüler
Grundschule Burbach: 360 Schülerinnen und Schüler
Grundschule Holzhausen: 100 Schülerinnen und
Schüler
Grundschule Dresselndorf: 120 Schülerinnen und
Schüler
Sekundarstufe:
zwei weiterführende Schulen: 550 Schülerinnen und
Schüler
Gemeinschaftshauptschule Burbach:
260 Schülerinnen und Schüler
Realschule Burbach: 290 Schülerinnen und Schüler
Ferner: Hellertalschule Förderschule Lernen:
50 Schülerinnen und Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeister Christoph Ewers (CDU)
– Fraktion der CDU: 17
– Fraktion der SPD: 10
– Fraktion der FDP: 3
– Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen: 2
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Christoph Ewers (CDU), Bürgermeister
– Falk Heinrichs (SPD), Vorsitzender des Schulausschusses
– Burkhard Koller, Dezernent der Bezirksregierung
Arnsberg
– Jürgen Weber, Schulleiter
– Hubertus Schober, Planungsbüro „Projektgruppe
Bildung und Region“ (Biregio)
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
Anfang 2010: Erste Gespräche zwischen Schulleitungen
und Gemeinde
7. Dezember 2010: Ratsbeschluss zur Errichtung der Gemeinschaftsschule Burbach, gleichzeitig laufen die Gemeinschaftshauptschule Burbach und die Realschule
Burbach sukzessive aus
15. Dezember 2010: Antrag zur Teilnahme am Schulversuch gestellt, für eine drei- bis vierzügige Schule, ohne
eigene Oberstufe in Kooperation mit drei Berufskollegs in
Siegen
27. Januar 2011: Genehmigung für eine dreizügige Schule; die „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Burbach“ startete zum Schuljahr 2011/2012 jedoch wegen
der großen Nachfrage als vierzügige Schule mit 94 Schülerinnen und Schülern
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Lange bevor in der Landeshauptstadt Düsseldorf die Idee
geboren wurde, Gemeinschaftsschulen zu ermöglichen,
hatten die Burbacher in der südlichsten Gemeinde Westfalens schon über die Zukunft ihrer Hauptschule nachgedacht. Bereits 2005 überlegten die kommunalen Verant-
21
wortlichen, ihre Hauptschule mit der Hauptschule der
Nachbargemeinde Neunkirchen zusammenzulegen. Das
Projekt scheiterte an den unterschiedlichen Erwartungen
der Beteiligten, und so litt die Hauptschule Burbach weiterhin unter stetig sinkenden Schülerzahlen.
Das hatte vor allem zwei Gründe: Die Schülerzahlen gingen in Burbach insgesamt zurück – gab es im Jahr 2005
noch rund 1.500 Schülerinnen und Schüler, sank diese
Zahl im Jahr 2010 auf rund 1.200. Gleichzeitig wirkte sich
das veränderte Elternwahlverhalten negativ auf die Hauptschule aus. Im Jahr 2010 meldeten sich nur noch 17 Schülerinnen und Schüler für die Eingangsklasse an. Damit erfüllte die Schule nicht mehr die Bedingungen für den geordneten Schulbetrieb.
Zur selben Zeit stiegen die Schülerzahlen an der Realschule auf 70 Schülerinnen und Schüler, sodass erstmalig
seit vielen Jahren wieder drei Eingangsklassen gebildet
werden konnten.
Der Kommune war also klar, dass etwas geschehen musste, und so beauftragte sie bereits Mitte 2010 den Schulentwicklungsplaner Hubertus Schober von der „Projektgruppe Bildung und Region“ (Biregio) mit einer Analyse
zur Schulentwicklungsplanung. Die Ergebnisse flossen in
das Vorwort des späteren Konzepts zur Gemeinschaftsschule mit ein. Dort heißt es: „Diese überraschend hohen
Zahlen an der Realschule kamen so zustande, weil immer
mehr Eltern sich trotz Hauptschulempfehlung der Grundschule dazu entschieden, ihre Kinder an der Realschule
anzumelden. Gleichzeitig besuchten mehr Schülerinnen
und Schüler mit Gymnasialempfehlung die Realschule,
um den erhöhten Anforderungen der verkürzten Gymnasialzeit (G8) zu entgehen.“
Folge dieser Entwicklung der letzten Jahre war, dass das
Leistungsspektrum der Schülerinnen und Schüler der
Realschule immer größer wurde. „Das war problematisch,
weil die Schule weder personell noch konzeptionell noch
organisatorisch dafür ausgelegt war“, sagt Bürgermeister
Christoph Ewers.
Hinzu kam die verhältnismäßig hohe Auspendlerquote.
Das begrenzte Schulangebot im Bereich der Sekundarstufe I in Burbach führte nämlich dazu, dass 578 Schülerinnen und Schüler die Schulen in Nachbargemeinden besuchten, während nur 547 in die Real- und in die Hauptschule Burbach gingen.
Für Burbach war das kein guter Standortfaktor, sagt Bezirksregierungsdezernent Burkhard Koller. „Das hatte der
Bürgermeister im Blick.“ Der Ort sei so einfach nicht mehr
besonders attraktiv für junge Familien gewesen, fügt
Jürgen Weber, stellvertretender Hauptschulleiter hinzu.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Weber spürte die Veränderungen praktisch jeden Tag in
seiner Schule, während Bürgermeister Ewers die Schulentwicklungszahlen zum Handeln zwangen. „Noch bevor
die Möglichkeit entstand, eine Gemeinschaftsschule zu
gründen, also noch vor der Landtagswahl, hatte der Bürgermeister schon eingeladen, um über Schulreformen zu
sprechen“, erzählt Weber. Erst mal warteten die Verantwortlichen aber das Ergebnis der Landtagswahl ab, die im
Sommer 2010 zu einer neuen Landesregierung führte.
Die leitete im Herbst 2010 den Schulversuch zur „Gemeinschaftsschule“ ein.
Für Burbach standen damit die Ampeln auf Grün: Zusammen mit dem Bürgermeister entwickelte das Schulleitungsteam der Hauptschule erste Ideen zu einer eigenen
Gemeinschaftsschule.
In Politik und Öffentlichkeit wurden die Überlegungen
intensiv diskutiert, sagt der Bürgermeister. Ist es wirklich
möglich, alle Kinder gemeinsam zu unterrichten? Findet
der Ganztag Akzeptanz und wie gestalten wir den Ganztag? Das waren die Hauptfragen, die immer wieder aufkamen, sagt Schulausschussvorsitzender Heinrichs. Einige
Ratsmitglieder hätten außerdem dafür plädiert, eine eigene Oberstufe einzurichten. Bürgermeister Ewers hat einige Zeit gebraucht, bis diese Idee wieder ad acta gelegt
wurde. „Ich halte eine Oberstufe in unserer Kommune für
unrealistisch aufgrund der niedrigen Schülerzahlen.
Außerdem hätten wir damit den Gymnasien in den Nachbarkommunen geschadet.“
Auch Schulleiter Weber war in jeder Ausschusssitzung
dabei. „Zwei FDP-Mitglieder habe ich als Gegner erlebt.
Sie haben Flugblätter verteilt und versucht, die Eltern auf
ihre Seite zu ziehen.“ Im Ergebnis hatten sie jedoch keinen Erfolg: Die Mehrheit von CDU, SPD und Bündnis 90/
Die Grünen stimmte am 7. Dezember 2010 im Rat für die
Errichtung der Gemeinschaftsschule.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
„Die Termine häuften sich in diesen Monaten. Das war
eine spannende, arbeitsintensive Zeit, ich hatte kaum Zeit
für etwas anderes“, erinnert sich der Bürgermeister. Auch
mit den Nachbargemeinden hatte er einiges zu besprechen. Niemand stellte sich zwar gegen die Schule, Bedenken hatten jedoch einige.
Mit Wilnsdorf und Neunkirchen ging die Gemeinde Burbach deshalb Kooperationsvereinbarungen ein, in denen
sie sich verpflichtete, auf eine eigene Oberstufe zu verzichten und die Gemeinschaftsschule auf vier Züge zu begrenzen, „um auch in der Sekundarstufe I die Aufnahme
22
von Schülern zu begrenzen.“ Drei Berufskollegs in Siegen
wurden Kooperationspartner für die gymnasiale Oberstufe, nachdem sich die Kooperationsabsichten mit zwei
anderen Gymnasien in Wilnsdorf und in Neunkirchen bereits zerschlagen hatten. „Sie hatten Angst, durch die
neue Gemeinschaftsschule weniger Schülerinnen und
Schüler aus Burbach zu bekommen“, sagt Schulausschussvorsitzender Heinrichs. Die Gymnasien befürchteten offenbar die langfristige Abwicklung ihrer Schulform,
wenn die Gemeinschaftsschule käme, meint er. Darüber
hinaus hatte sich der Philologenverband gegen die Gemeinschaftsschule ausgesprochen. Das habe die „Dagegen-Position“ gestärkt, vermutet Heinrichs.
Groß war die Skepsis auch unter den Burbacher Realschullehrerinnen und Realschullehrern. Die meisten wollten lieber ihre Schule behalten, viele hätten sich als Verlierer der Entwicklung gesehen, sagt der Ratsherr. Die
Hauptschullehrkräfte dagegen wollten die neue Schule.
„Sie bot ihnen eine neue Perspektive“, so Heinrichs.
Bürgermeister Ewers stellte im Laufe des Prozesses fest,
dass die Spaltung der Lehrkräfte noch tiefer ging: Als
einer der Realschullehrer ihn durch das Hauptschulgebäude geführt habe, habe er erwähnt, dass er hier seit
Jahrzehnten nicht mehr gewesen sei und mit den Hauptschullehrkräften auch nicht zusammenarbeite. „Das hat
mich sehr gewundert“, sagt Ewers, zumal die Gebäude
direkt nebeneinanderlägen.
Wie tief der Graben zwischen den Schulformen in Burbach
anfangs war, beweisen auch die Berührungsängste der
Schülerinnen und Schüler untereinander. Ewers erzählt:
„Im Zuge der Planung der neuen Schule haben wir die
Räume der beiden Schulen neu aufgeteilt, sodass jetzt
einige Realschüler in dem Gebäude der Hauptschule unterrichtet werden. Einige Realschüler haben sich anfangs
sehr dagegen gewehrt und Leserbriefe an die Lokalpresse
geschrieben.“
Allen Anfangsschwierigkeiten zum Trotz: Als klar war, dass
der Entwicklungsprozess hin zur Gemeinschaftsschule
unumkehrbar war, entschied sich der Lehrerrat der Realschule für eine konstruktive Mitarbeit. „Da entwickelte
sich eine neue Haltung bei den Lehrkräften“, beobachtete
Ewers. Jeweils vier Lehrkräfte aus der Burbacher Hauptund der Realschule nahmen an der Arbeitsgruppe zur
Konzeptentwicklung teil.
Aber die gemeinsame Arbeit der Lehrerkollegien in der
Arbeitsgruppe erforderte Fingerspitzengefühl. Bürgermeister Ewers beauftragte deshalb den ehemaligen Siegener Schulrat Dieter Behninghaus damit, die Konzeptentwicklung zu moderieren. „Herr Behninghaus war ein
Schlüssel, vor allem als es darum ging, Hauptschule und
Realschule zusammenzubringen. Da herrschte häufig
eine spannungsgeladene Atmosphäre, die er lockern
konnte, weil er fachlich so anerkannt war und von außen
kam.“
Neben den Nachbarkommunen und den Lehrkräften galt
es, die Eltern der Burbacher Kinder von der neuen Schulform zu überzeugen. Dafür arbeiteten Bezirksregierung,
Kommune und die beteiligten Schulen eng zusammen.
Burkhard Koller, schulfachlicher Dezernent der Bezirksregierung, fuhr nach Burbach und begleitete die Informationsveranstaltung für die Grundschuleltern und Grundschullehrkräfte: Die Eltern erlebte Koller dabei als skeptisch. „Ich musste immer wieder deutlich machen, dass
hier das Rad nicht neu erfunden wird und wir keine Experimente durchführen“, sagt er.
Die Elternbefragung, die die Stadt unter den Eltern der
Dritt- und Viertklässlerinnen und -klässler anschließend
durchführte, ergab eine Zustimmung der Eltern von rund
60 Prozent. Auf dieser Basis konnten die Burbacher zwar
damit rechnen, dass ihre Schule von den Eltern und ihren
Kindern angenommen wurde, ob sich das auch in den Anmeldezahlen niederschlagen würde, war aber keineswegs
sicher, sagt Schulausschussvorsitzender Heinrichs. „Vor
der Anmeldephase hatten wir wieder Nervenflattern.
Denn wir konnten den Eltern ja nichts zeigen, weder Personal noch Räume. Wir hatten das Konzept und unsere
Ideen nur am Reißbrett erstellt, das schien aber alles
noch sehr unkonkret.“ Wie sich herausstellte, hatten sich
die Anstrengungen und die Aufregung aber gelohnt: Die
dreizügig genehmigte Schule hatte am Ende der Anmeldephase 94 Zusagen, sodass die Kommune sogar einen
vierten Zug beantragte.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
„Kinder sollten so spät wie möglich auf eine bestimmte
Schulform festgelegt werden“, erklärt Hauptschulleiter
Weber. Das sei bei der Entwicklung eines entsprechenden
Konzepts für die Gemeinschaftsschule sein wichtigster
Antrieb gewesen. Heranwachsende entwickelten sich
eben zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich schnell,
so Weber. Das beobachte er häufig. „Ich hatte gerade
einen Schüler, der mit Förderschulempfehlung zu uns
kam, und nun mit Realschulabschluss die Schule verlässt.“
Inhaltlich wurde viel über den Ganztag und die zweite
Fremdsprache diskutiert, erinnert sich Schulleiter Weber.
Schwerpunkt des Konzepts wurde das „miteinander und
voneinander Lernen“ und dies gefiel auch Burkhard
Koller, der das Konzept in der Bezirksregierung Arnsberg
beurteilen musste. „Das Konzept versprach eine Schule,
deren Entwurf auch umgesetzt werden konnte.“
23
Zwischendurch habe er immer wieder viel mit der Planungsgruppe gesprochen, damit im Nachhinein nicht zu
viel korrigiert werden musste, sagt er. Schulausschussvorsitzender Hinrichs war ebenfalls zufrieden mit dem
Ergebnis. „Wir haben es geschafft, dass unsere Idealvorstellung von der Schule verwirklicht werden konnte.“
Die „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Burbach“
erhielt im Januar 2011 ihre Genehmigung und startete
zum Schuljahr 2011/2012 mit 94 Schülerinnen und Schülern. Parallel dazu nehmen die Realschule und die Hauptschule keine neuen Kinder mehr auf und laufen sukzessive
aus.
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Burbach noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
60 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, mehrheitlich
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Ja, mehrheitlich
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Ja
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
50 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 25 Prozent
Raumangebot
Umbauten nötig, musste um eine Mensa
erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
24
2.5 Kalletal
Grunddaten:
geografische Lage:
Kalletal ist eine kreisangehörige Gemeinde im Kreis
Lippe
Einwohner: 14.228
Nachbarkommunen: Rinteln (Kreis Schaumburg/
Niedersachsen), Extertal, Dörentrup, Lemgo, Vlotho
(Kreis Herford), Porta Westfalica (Kreis MindenLübbecke)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Insgesamt: 1.337 Schülerinnen und Schüler
Primarstufe:
drei Grundschulen: 563 Schülerinnen und Schüler
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Andreas Karger (CDU), Bürgermeister Kalletal
– Annegret Slotta (SPD), stellvertretende Vorsitzende des
Ausschusses für Bildung, Jugend, Kultur und Freizeit
– Mechthild Krämer, Dezernentin der Bezirksregierung
Detmold
– Dr. Eike Stiller, Schulleiter
Gemeinschaftsgrundschule Am Teimer: 143 Schülerinnen und Schüler
Gemeinschaftsgrundschule Hohenhausen: 225 Schüle-
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
rinnen und Schüler
Gemeinschaftsgrundschule Unteres Kalletal: 195 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
drei weiterführende Schulen: 605 Schülerinnen und
Schüler
August-Dreves-Hauptschule: 255 Schülerinnen und
Schüler
Stephan-Ludwig-Jacobi-Realschule: 350 Schülerinnen
und Schüler
Ferner: Fröbelschule, Förderschule für Lernbehinderte:
84 Schülerinnen und Schüler
Ferner: Realschulinternat „Schloss Varenholz“
Ratszusammensetzung
(Stand: 3. September 2012):
– Bürgermeister Andreas Karger (CDU)
– Fraktion der CDU: 14
– Fraktion der SPD: 13
– Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: 2
– Fraktion der Unabhängigen Kalletaler Bürger (UKB): 3
August 2007: Verwaltungsinterne Diskussion der aktuellen Entwicklung der Schülerzahlen an Real- und Hauptschule
Vertragsabschluss mit Dr. Ernst Rösner, Institut für
Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund,
zur Erstellung einer Schulentwicklungsplanung einschließlich eines möglichen Antrags eines Schulversuchs
Sommer 2010: Spezielle Arbeitskreissitzungen „Schulentwicklung Kalletal“, Schulleitungen und Verwaltung beraten über eine Antragstellung zur Gemeinschaftsschule
16. Dezember 2010: Einstimmiger Ratsbeschluss zur
Errichtung der Gemeinschaftsschule, gleichzeitig sukzessives Auslaufen der August-Dreves-Hauptschule und der
Stephan-Ludwig-Jacobi-Realschule
20. Dezember 2010: Antrag zur Errichtung einer drei- bis
vierzügig inklusiv arbeitenden Gemeinschaftsschule ohne
eigene Oberstufe, in Kooperation mit dem Weser-Gymnasium Vlotho, an einem Standort, dem Schulzentrum
Kalletal
11. Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Kalletal“ startete zum Schuljahr
2011/2012 mit 75 Schülerinnen und Schülern
25
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Schon im Jahr 2007 hat die Gemeinde Kalletal im Regierungsbezirk Detmold den Wissenschaftler Dr. Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an
der TU Dortmund beauftragt, ein Gutachten zu ihrer Schulentwicklung zu erstellen. Es war in der Kommune im
Nordosten Nordrhein-Westfalens damals allen Verantwortlichen bekannt, dass die Schülerzahlen sehr stark zurückgingen. Gutachter Dr. Rösner schrieb in seiner Schulentwicklungsplanung für die Gemeinde, dass der Landestrend
in Kalletal offenbar vorweggenommen werde. Zur Einordnung dieser Entwicklung zog er den Zeitraum von den
Schuljahren 1999/2000 bis 2006/2007 heran: Während
dieser Zeit sei die Zahl der Grundschülerinnen und Grundschüler in Kalletal um 25 Prozent zurückgegangen, in
Nordrhein-Westfalen dagegen um elf Prozent. „Kalletal ist
folglich durch die demografische Entwicklung besonders
früh und stark getroffen worden“, resümierte der Forscher.
So hatte es in Kalletal zu einem verhältnismäßig frühen
Zeitpunkt, bereits 2006, Diskussionen über alternative
Schulmodelle gegeben. Ergebnisse gab es zuerst keine.
Für Bürgermeister Andreas Karger stand die Schulentwicklung aber weiterhin ganz oben auf der Agenda. „Wir müssen unsere Schulen attraktiv erhalten.“ Und damit waren
vor allem die weiterführenden Schulen, die Realschule
und die Hauptschule, gemeint. Denn es sei ein ebenso
schlechter Standortfaktor, wenn Schulen wegfallen, als
wenn eine Gemeinde eine schlechte Einzelhandelslandschaft vorweist, ist sich Karger sicher.
Dabei waren die kommunalen Rahmenbedingungen für
die weiterführenden Schulen insgesamt gar nicht schlecht:
Die Kommune hatte in den letzten Jahren viel Geld in die
Gebäude investiert. Dazu Bürgermeister Andreas Karger:
„Wir haben die kompletten Mittel in Höhe von 1,6 Millionen aus dem Konjunkturpaket II in die energetische Sanierung der Schulgebäude und in eine neue Turnhalle investiert.“ Und die Realschule hatte 2010 noch ausreichend
Anmeldungen für drei Klassen.
Wissenschaftler Dr. Rösner schreibt dazu in seinem Gutachten: „Dies könnte für eine feste Verankerung der Realschule in ihrem kommunalen Einzugsbereich sprechen,
erlaubt aber auch andere Deutungen: Vorstellbar ist, dass
– wie in ländlichen Regionen oft üblich – mit dem Besuch
einer wohnungsnah erreichbaren Realschule die Erwartung verbunden wird, den eigenen Kindern könne mit
einer entsprechenden Abschlussqualifikation der Realschule doch noch der Übergang in die Oberstufe eines
auswärtigen Gymnasiums gelingen, ohne schon in der Sekundarstufe I den belastenden Schülertransport in Kauf
nehmen zu müssen. In diesem Fall wird ländlich gelegenen Realschulen auch bisweilen die Rolle eines Ersatzgymnasiums zugesprochen.“
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Langfristig war es jedoch keine Lösung, die Realschule zu
einer „Schule für alle“ im Ort zu machen, denn sie war
weder organisatorisch noch personell dafür aufgestellt.
Schon im Januar 2010 rief die Gemeinde Kalletal deshalb
einen Arbeitskreis Schulentwicklungsplanung (SEP) ins
Leben.
Die Entwicklung der Schülerzahlen brachten zunächst
Hauptschulleiter Dr. Eike Stiller in Bedrängnis. Dabei wies
Kalletal eine ganz eigene Entwicklung auf: Die Anzahl der
Kinder war zwar insgesamt rückläufig, aber – im Gegensatz zum Landestrend – veränderten sich die Übergangsquoten zwischen den einzelnen Schulformen gar nicht so
deutlich. Dennoch hatte der Rückgang der absoluten Zahl
der Kinder Auswirkungen auf jede der einzelnen Schulformen.
Als die neue Landesregierung im Herbst 2010 die rechtlichen Möglichkeiten schuf, um die Gemeinschaftsschule
umzusetzen, hatten Hauptschulleiter Dr. Stiller und seine
Kollegen ihr Vorhaben bereits entwickelt und daran gearbeitet, einen lokalen Konsens herzustellen. In der Kommune wurden Arbeitskreise organisiert, an denen auch
die Dezernentin der Bezirksregierung Mechthild Krämer
teilnahm.
2007 lief die Hauptschule zwar noch zweizügig, aber Schulleiter Dr. Stiller erkannte den Trend, den er bereits bei anderen Hauptschulen beobachtet hatte. „Erst mal werden
die Schüler weniger, dann gehen die guten Lehrer weg
oder werden abgeworben. Ich wollte der Entwicklung vorbeugen, dass meine Schule nach und nach zerfällt.“
Dr. Stiller nahm sich vor gegenzusteuern, – und zwar so
schnell wie möglich, – „um aus einer Position der Stärke“
heraus Veränderungen anzustoßen. Mechthild Krämer,
schulfachliche Dezernentin der Bezirksregierung Detmold,
sah das ebenso: Langfristig seien beide Schulen existenziell bedroht gewesen. Wenn hier nichts getan worden wäre,
hätte man bald gar keine Schule mehr am Ort gehabt.
Den Kalletaler Rat interessierte bei allen Neuerungen vor
allem eine langfristige Stärkung des Schulstandortes. Unter der früheren Landesregierung hatte die Mehrheit der
Ratsmitglieder unter anderem die Verbundschule favorisiert, aber diese Schulform bot nach Auffassung vieler im
Ort keine Garantie dafür, die Schülerinnen und Schüler im
Ort zu halten. Bürgermeister Karger, selbst CDU-Mitglied,
sagt: „Die CDU war erst nicht so sehr für die Gemeinschaftsschule und hat dann intern viel diskutiert.“ Immer
mehr kristallisierte sich jedoch heraus, dass die Gemeinschaftsschule die beste Lösung für die lokalen Probleme
bot. „Als das klar war, haben die Parteien konstruktiv zusammengearbeitet.“ Die Stimmung sei sachlich-professionell
26
gewesen, sagt der Bürgermeister. Das bestätigt auch die
stellvertretende Schulausschussvorsitzende Annegret
Slotta. Allerdings deutete die Stimmung zu dieser Zeit auf
Kreis- und Landesebene bei den Fraktionen von CDU und
FDP noch in eine andere Richtung. Bürgermeister Karger
betont die konstruktive Stimmung in Kalletal. Auch diejenigen, die schon immer dafür gewesen seien, hätten sich
nicht damit gebrüstet, dass sie es ja schon immer gewusst hätten, sagt der Bürgermeister. Im Rat habe man
sich schließlich einstimmig für die Gemeinschaftsschule
ausgesprochen. Aufregend sei es noch einmal wegen der
Elternbefragung geworden. Der Puls sei deswegen bei
allen in die Höhe geschossen, sagt er. Niemand wagte das
Ergebnis vorauszusagen, hing doch das ganze Projekt davon ab.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Und tatsächlich, die Eltern wollten alles ganz genau wissen, bevor sie sich ihre Meinung bildeten, berichtet Dezernentin Krämer von der Bezirksregierung. Wo wird mein
Kind landen? Wer wird es unterrichten? Wie kann Binnendifferenzierung funktionieren? Letzteres war eines der
Themen, die am meisten nachgefragt wurden. Dabei seien die Eltern der Hauptschülerinnen und Hauptschüler
sehr neugierig und offen gewesen, die Realschuleltern dagegen eher vorsichtig, erinnert sich Schulleiter Dr. Stiller.
Sie sahen eben nicht die Notwendigkeit, ihre Schule zu
ändern, weil die Realschule ja noch gut lief. „Grundsätzlich
ist das nicht verkehrt, aber warum unsere gute Realschule?“, beschreibt er die Stimmung bei den Eltern. Einige
hätten die Befürchtung geäußert, dass die neue Schule
nur eine Hauptschule im neuen Gewand werden würde,
ergänzt Ratsfrau Slotta.
Das Ergebnis war dann jedoch eindeutig: 64 Prozent der
Eltern der Viertklässlerinnen und Viertklässler gaben an,
dass sie ihr Kind tendenziell an einer Gemeinschaftsschule im Ort anmelden würden, sollte es im nächsten Jahr
eine solche Schule geben. Bei den Eltern der Drittklässlerinnen und Drittklässler waren es 61 Prozent.
Das Hauptschulkollegium sprach sich einstimmig für das
Vorhaben aus, während sich die Lehrkräfte der Realschule dagegen entschieden.
Um zu verhindern, dass die geplante Gemeinschaftsschule Schulen in den Nachbargemeinden gefährdet, stimmte
die Kommune ihr Vorhaben mit den umliegenden Gemeinden ab. Eine ausdrückliche Zustimmung der Nachbarkommune benötige sie aber nur, wenn tatsächlich eine Gefährdung vorliegt, erklärt Krämer. In dieser Hinsicht sei Kalletal deshalb unproblematisch gewesen. Die Nachbarkommunen hatten keine Einwände gegen die Gemeinschaftsschule. Für die Oberstufe wollte die Kalletaler Schule mit
den Gymnasien in der Nachbargemeinde Vlotho kooperieren. Vlotho war hocherfreut über diese Kooperation,
wie es in einer Stellungnahme der Stadt heißt. „… das
Weser-Gymnasium Vlotho hat bei insgesamt sinkenden
Schülerzahlen größte Sorge um den Bestand eines differenzierten Angebots seiner Oberstufe zu tragen … und ist
dabei auf die Kalletaler Schülerinnen und Schüler angewiesen.“ Die Kooperation mit den beiden Lemgoer Oberstufen des Engelbert-Kaempfer-Gymnasiums und des
Marianne-Weber-Gymnasiums kamen hingegen nicht zustande, obwohl die Schulleiter untereinander schon alles
geklärt hatten. Die Zustimmung des Schulträgers ließ
aber so lange auf sich warten, dass man den Antrag ohne
die Lemgoer stellte, erklärt Ratsfrau Slotta.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Vorbilder für das Kalletaler Konzept waren die Gemeinschaftsschulen der westfälischen Gemeinden Ascheberg
und Billerbeck. „Daran konnten wir uns orientieren“, sagt
Schulleiter Dr. Stiller.
Das Konzept erstellte Dr. Stiller mit dem Hauptschulkollegium und mit etwa einem Drittel des Realschulkollegiums. „Die anderen Realschulkollegen haben das Ganze
aus der Distanz verfolgt“, sagt er. Das sei in Ordnung gewesen. Dezernentin Krämer zeigt für diese Haltung ebenfalls Verständnis. „Keine Schule ist hundertprozentig mit
ihrer Auflösung einverstanden“, sagt sie. Für die Realschullehrerinnen und Realschullehrer habe die Schulaufsicht
Alternativen bereitgehalten, keinesfalls alle könnten und
müssten langfristig in die Gemeinschaftsschule wechseln,
sofern sie dies nicht wünschten.
Die Entwicklung des pädagogischen Konzepts wurde
immer wieder mit den Eltern rückgekoppelt. Aus Erfahrung hätten die Lehrkräfte bereits um einige heikle Punkte gewusst. 2008 hatte das Hauptschulkollegium etwa
schon einmal vorgeschlagen, ganztägigen Unterricht an
fünf Tagen in der Woche einzuführen. Das hätten die Eltern damals nicht gewollt. „Deshalb wussten wir, wir müssen bei diesem Thema sensibel sein. Jetzt haben wir nur
noch den dreitägigen Ganztag angestrebt, das gab gar
keine Diskussionen mehr“, sagt Schulleiter Dr. Stiller.
Die Abstimmungen und die Sensibilität scheinen sich gelohnt zu haben. Dezernentin Krämer war mit dem erstellten und abgestimmten Konzept schnell einverstanden.
„Ich prüfe beispielsweise, ob das, was die Schule sich pädagogisch vornimmt, auch finanzierbar ist“, sagt sie.
Manche Schulen schrieben utopische Planungen in ihr
Konzept, in denen die Lehrerstunden nicht zu den Schulstunden passen. Das sei gefährlich, denn das Konzept
dürfe nicht nur aus formalen Gründen keine utopischen
Versprechen machen, sondern auch, um die Eltern nicht
27
zu enttäuschen. Viele Eltern würden sich eben daran
orientieren.
Aus einer Hauptschule und einer Realschule eine Schule
des längeren gemeinsamen Lernens zu machen, erfordert
Umdenken der Schulleitung und der Lehrkräfte, wie Dezernentin Krämer berichtet. Deshalb hat sie der Schule
den pensionierten Gesamtschulleiter Alexander Scheck
aus einer Nachbarkommune vorgeschlagen, der sie bei
der Umsetzung des pädagogischen Konzepts unterstützen sollte. Schulleiter Dr. Stiller war dafür dankbar. „Mir
hat Herr Scheck viel geholfen, zu reflektieren und neue
Ideen zu entwickeln. Dass die Gemeinde dann alles in
Gang setzte, um dies auch finanziell zu ermöglichen, war
noch einmal ein deutliches Zeichen der Unterstützung.“
Die Finanzierung des Beraters war nämlich erst mal schwierig: Die Kommune befand sich im Nothaushalt. „Wir hatten
alles auf eine Karte gesetzt, nämlich die Gemeinschaftsschule so schnell wie möglich einzuführen, deshalb setzten wir alle Hebel in Bewegung, damit Herr Scheck uns
unterstützte“, bestätigt Bürgermeister Karger.
Die „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Kalletal“
startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 75 Schülerinnen
und Schülern. Parallel dazu nehmen die Realschule und
die Hauptschule keine neuen Kinder mehr auf und laufen
sukzessive aus.
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Kalletal noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
62,5 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Nein, mehrheitlich
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Ja
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
50,3 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 10,6 Prozent
Raumangebot
Musste um eine Mensa erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Ja, von Anfang an
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
28
In Köln wurden drei Anträge auf die Errichtung von Gemeinschaftsschulen zum Schuljahr
2011/2012 gestellt. Von diesen wurden zwei genehmigt: die Gemeinschaftsschule an der
Ferdinandstraße und die Gemeinschaftsschule am Standort Wuppertaler Straße. Im ersten Teil
werden die gemeinsamen Entwicklungen beider Kölner Gemeinschaftsschulen dargestellt. Im
Anschluss daran werden die jeweiligen Spezifika der einzelnen Schulen gesondert erläutert.
2.6 Köln
Grunddaten:
geografische Lage:
Köln liegt im Südwesten Nordrhein-Westfalens
Einwohner: mehr als 1.036.100, damit größte Stadt
Nordrhein-Westfalens
Nachbarkommunen: Leverkusen (kreisfreie Stadt),
Bergisch Gladbach und Rösrath
(Rheinisch-Bergischer Kreis), Troisdorf und Niederkassel (Rhein-Sieg-Kreis), Wesseling, Brühl, Hürth,
Frechen und Pulheim (alle Rhein-Erft-Kreis), Dormagen (Rhein-Kreis Neuss) und Monheim (Kreis Mettmann)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Insgesamt: 149.701 Schülerinnen und Schüler
Primarstufe:
147 Grundschulen, die wegen der Menge nicht einzeln
aufgeführt werden: 34.042 Schülerinnen und Schüler
– Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen: 20
– Fraktion der FDP: 9
– Fraktion von Bürgerbewegung pro Köln: 5
– Fraktion von Die Linke: 1
– Fraktion von Kölner Bürger Bündnis (KBB): 1
– Fraktion von Deine Freunde: 1
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Sekundarstufe:
160 weiterführende Schulen, die wegen der Menge nicht
einzeln aufgeführt werden: 115.659 Schülerinnen und
Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
Viele nordrhein-westfälische Kommunen leiden unter zurückgehenden Schülerzahlen und haben dadurch Schwierigkeiten, ein vielfältiges weiterführendes Schulangebot
vor Ort zu halten. Bei der Stadt Köln ist dies nicht der Fall.
„Eine solche existenzielle Bedrohung eines wohnortnahen
Sek-I-Angebots gibt es im Ballungsgebiet Köln nicht“,
heißt es in der anlassbezogenen Schulentwicklungsplanung, die für den Schulversuch erstellt wurde. „Köln verzeichnet entgegen dem Landestrend seit 2007 steigende
Kinder- und Schülerzahlen“, sagt Dr. Agnes Klein, Leiterin
des Dezernats IV – Bildung, Jugend und Sport der Stadt
Köln, in Vertretung für Oberbürgermeister Jürgen Roters.
Laut der Schulentwicklungsplanung hat sich die Geburtenzahl in Köln um rund 500 bis 700 Geburten pro Jahr
erhöht.
– Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD)
– Fraktion der CDU: 25
– Fraktion der SPD: 25
Trotz der steigenden Schülerzahlen geht auch in der
Stadt Köln die Zahl der Anmeldungen für die Hauptschulen zurück. „Die Hauptschule wird trotz der oft sehr guten
27 Hauptschulen: 7.797 Schülerinnen und Schüler
24 Realschulen: 12.359 Schülerinnen und Schüler
35 Gymnasien: 30.580 Schülerinnen und Schüler
13 Gesamtschulen: 11.117 Schülerinnen und Schüler
4 Weiterbildungskollegs: 3.051 Schülerinnen und
Schüler
28 Berufskollegs: 45.583 Schülerinnen und Schüler
29 Förderschulen: 5.172 Schülerinnen und Schüler
29
Pädagogik und Förderung abgelehnt“, sagt Dr. Klein. So
sollen laut Schulentwicklungsplanung bis Mitte 2012 13
der ursprünglich 30 Hauptschulen geschlossen werden.
„Es gibt ein verändertes Elternwahlverhalten mit Präferenz zu Schulformen, die längeres gemeinsames Lernen
anbieten, um die Bildungschancen zu verbessern“, sagt
die Dezernatsleiterin der Stadt. Das zeigt auch eine Umfrage aus dem Jahr 2009, der zufolge 66 Prozent der Eltern der Drittklässlerinnen und Drittklässler sich das längere gemeinsame Lernen für ihre Kinder wünschen. „Die
bestehenden Gesamtschulen können diese Nachfrage
seit Jahren nicht decken“, erklärt Dr. Klein. Die Folge: Viele
Kinder müssen von den Gesamtschulen abgelehnt werden.
Dezernatsleiterin Dr. Klein stellt klar: „Der Bedarf an Gemeinschaftsschulen war in Köln keine Notlösung zur
Existenzsicherung, sondern begründete sich in der inhaltlichen Konzeption und dem Elternwillen.“ Ziel der Gründung von Gemeinschaftsschulen in Köln sei es gewesen,
bedarfsgerecht und wohnortnah Schülerplätze sicherzustellen. Darüber hinaus sei auch die flächendeckende Verbesserung eines inklusiven Unterrichts ein Grund gewesen, weil der Bedarf daran stetig steige.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Um den Antrag für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule stellen zu können, musste im Schulausschuss und
im Rat ein entsprechender Beschluss gefasst werden.
Seitens der Stadt und der Politik gab es Unterstützung
für das Vorhaben, wie die Schulleitungen und die beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen unabhängig voneinander berichten. Insgesamt stellte die Stadt drei Anträge,
von denen zwei genehmigt wurden, nämlich die Gemeinschaftsschule in der Ferdinandstraße und die am Standort Wuppertaler Straße.
Dass die Stadt – neben diesen drei Anträgen – noch weitere stellen wollte, bestätigt auch Dezernentin Schlott von
der Bezirksregierung Köln. Da habe man allerdings ein
bisschen gegengesteuert, weil man ohnehin schon ein
wenig „Bauchschmerzen“ hatte, dass die Gemeinschaftsschulen allein aus einer Hauptschule und nicht unter Beteiligung einer Realschule entstanden. Die Schulaufsicht
wollte sichergehen, dass tatsächlich eine Schulentwicklung vorwärtsgebracht wird. Gern hätte man seitens der
schulfachlichen Aufsicht auch eine vierzügige Gemeinschaftsschule an einem Standort gesehen und nicht zwei
nah beieinanderliegende dreizügige Gemeinschaftsschulen in der Ferdinandstraße und der Wuppertaler Straße.
Ganz einheitlich war die Stimmung und Haltung gegenüber der Gemeinschaftsschule auch im Schulausschuss
der Stadt nicht. „Wir haben im Schulausschuss viel diskutiert und sachlich gesprochen“, sagt Gisela Manderla,
Vorsitzende des Schulausschusses. Während die SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sich sehr stark für die Gemeinschaftsschule ausgesprochen hätten, haben CDU und FDP
diese eher abgelehnt. „Diese Haltung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich der Schulfrieden, den ich als
sehr gut ansehe, in Nordrhein-Westfalen abzeichnete und
damit eine grundsätzliche Entscheidung versprach. Wir
wollten vorher nicht noch einen weiteren Schulversuch,
sondern wollten, dass mal zehn Jahre Ruhe in die Schulen
einkehrt“, begründet die Vorsitzende, die selbst der CDU
angehört, ihre Ablehnung gegenüber der Gemeinschaftsschule. Trotz reger Diskussionen konnte man sich in Köln
nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. „Es gab zwei
Standpunkte“, betont Manderla. Schließlich fiel am 14. Dezember 2010 mit den Stimmen der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Stimme des Oberbürgermeisters sowie bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mehrheitlich der Entschluss, eine Gemeinschaftsschule zu errichten.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Im Zuge der regionalen Abstimmung wurden – neben den
Kollegien – die Eltern in den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule einbezogen. Bereits 2009 hatte eine
Umfrage gezeigt, dass sich die Mehrheit der Eltern längeres
gemeinsames Lernen wünscht. Die Elternbefragung für den
Standort Wuppertaler Straße erfolgte gemeinsam mit der
Abfrage für die Gemeinschaftsschule an der Ferdinandstraße und für den Standort an der Rochusstraße, für den
keine Genehmigung erteilt wurde. Insgesamt nahmen 2.417
Eltern von Dritt- und Viertklässlerinnen und -klässlern an
der Befragung teil, davon entfielen auf die Standorte
Wuppertaler Straße und Ferdinandstraße für das dritte und
vierte Schuljahr 1.383 Rückmeldungen. Im Stadtbezirk
Mühlheim, in dem die Wuppertaler Straße und die Ferdinandstraße liegen, sagten 289 Eltern (20,9 Prozent), dass
sie ihre Kinder „ganz bestimmt“ an einer Gemeinschaftsschule anmelden würden, und 437 Eltern (31,6 Prozent)
würden dies „eher“ machen. So waren für die Errichtung
beider Schulen ausreichend Anmeldungen vorhanden.
Im Gegensatz zu den meisten anderen nordrhein-westfälischen Kommunen, die eine Gemeinschaftsschule errichten wollten, war in Köln aufgrund der Lage der Schule keine Abstimmung mit den Nachbarkommunen erforderlich.
„Von einer Abstimmung mit benachbarten Schulträgern
konnte in Absprache mit der Bezirksregierung Köln abgesehen werden“, erklärt Dr. Agnes Klein von der Stadt Köln.
Trotz der unmittelbaren Nähe und teilweise guten Anbindung durch den öffentlichen Nahverkehr sei „keine Gefährdung“ von Schulen anderer Schulträger zu befürchten gewesen. Insofern habe es diesbezüglich „kein Konfliktpotenzial“ gegeben. Dem stimmt auch Dezernen-tin Schlott
von der Bezirksregierung zu. „Innerhalb von Köln gab es
keine Konflikte, die unmittelbar an uns herangetragen
worden sind“, sagt sie.
30
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Hinsichtlich des pädagogischen Konzepts war laut Dezernentin Schlott schulübergreifend der teilweise sehr
enge Blick auf die schwachen Schülerinnen und Schüler
etwas schwierig. Auch die Einbeziehung gymnasialer
Standards sei anfangs nicht immer erkennbar gewesen.
„Da mussten wir nachsteuern und es waren mehrere Abstimmungsrunden erforderlich“, sagt sie. Insgesamt habe
man die Schule seitens der Bezirksregierung mit mehrtätigen Fortbildungsveranstaltungen, Besuchen vor Ort und
ständigem E-Mail- und Telefonkontakt unterstützt.
In den beiden folgenden Abschnitten werden zunächst
die Besonderheiten der Gemeinschaftsschule an der Ferdinandstraße und daran anschließend die Spezifika der
Gemeinschaftsschule am Standort „Wuppertaler Straße“
erläutert.
2.6.1 Ferdinandstraße
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Dr. Agnes Klein (SPD), Leiterin des Dezernats IV –
Bildung, Jugend und Sport der Stadt Köln, in Vertretung
für Oberbürgermeister Jürgen Roters (schriftliches
Interview)
– Gisela Manderla (CDU), Vorsitzende des Schulausschusses
– Christel Schlott, Dezernentin der Bezirksregierung Köln
– Heiner Sürth, Schulleiter der Montessori-Hauptschule
Daten zum Entstehungsprozess der
Gemeinschaftsschule:
2009: Erarbeitung eines Kurzkonzepts für eine „Schule
für alle Kinder“ mit Montessori-Ausrichtung
Herbst 2009: stadtweite Elternbefragung bei allen Drittklässlerinnen und Drittklässlern: 66 Prozent wünschen
sich längeres gemeinsames Lernen
Sommer 2010: Anpassung des bestehenden Kurzkonzepts an den Leitfaden des Schulministeriums zur Errichtung einer Gemeinschaftsschule
22. September 2010: Abschließendes Votum der Schulkonferenz für die Errichtung der Gemeinschaftsschule
14. Dezember 2010: Ratsbeschluss für die Errichtung
der Gemeinschaftsschule mehrheitlich gefasst, gleichzeitig sukzessive Auflösung der Montessori-Hauptschule
15. Dezember 2010: Antrag auf Teilnahme am Schulversuch zur Errichtung einer dreizügigen Gemeinschaftsschule ohne eigene Oberstufe, in Kooperation mit der Katharina-Henoth-Gesamtschule und dem Erich-GutenbergBerufskolleg an dem Standort „Ferdinandstraße“
Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I Köln, Ferdinandstraße“ startete zum
Schuljahr 2011/2012 mit 73 Schülerinnen und Schülern
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Wie in dem vorangegangenen Abschnitt erwähnt, war die
Gründung einer Gemeinschaftsschule in der Ferdinandstraße keine Notlösung, um die Existenz der Schule zu
sichern. Das bestätigt auch Heiner Sürth, Leiter der Montessori-Hauptschule Ferdinandstraße. „Wir hatten haupt-
schultypisch einen leichten Schülerrückgang, waren aber
nicht gefährdet. Die Idee zur Entwicklung eines Konzepts
zum längeren gemeinsamen Lernen kam aus rein pädagogischen Erwägungen.“ Man habe den Eltern, deren Kinder
die nahe gelegene Montessori-Grundschule besuchen, eine
„Anschlussperspektive“ für ihre Kinder bieten wollen und
überlegt, eine Art Montessori-Zentrum zu gründen, erzählt
Sürth. „Ich halte es für Unsinn, die Montessori-Pädagogik
nur auf die Hauptschule anzuwenden“, sagt er. Folglich
habe man sich die Frage gestellt, wie so eine „Schule für
alle“ entstehen könne.
Deshalb entwarf eine Steuergruppe der Schule gemeinsam
mit Kolleginnen und Kollegen, die an Schulentwicklung interessiert waren, bereits 2009 ein Kurzkonzept für eine
Montessori-Schule, die die Klassen 1 bis 10 bzw. 1 bis 13
umfasste, um ihre pädagogische Arbeit auf eine breitere
Basis zu stellen, so Sürth. Seitens des Schulträgers sei das
Signal gekommen, dass vor der Landtagswahl 2010 keine
Entscheidung in dieser Sache fallen werde. Nach der Wahl
habe sich die Arbeitsgruppe dann noch einmal zusammengesetzt und gesehen, dass die Gemeinschaftsschule, wie
sie die rot-grüne Landesregierung plante, „in die Richtung
geht, die wir wollen“, so der Rektor. Man habe an dem bestehenden Konzept weitergearbeitet und es in Abstimmung
mit dem Schulträger und der Schulaufsicht an den Leitfaden der Landesregierung zur Errichtung der Gemeinschaftsschulen angepasst.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Da einige Lehrkräfte sowie die Steuergruppe bereits 2009
ein Konzept für eine „Schule für alle“ erarbeitet hatten und
der Schulversuch der „Gemeinschaftsschule“ eine Umsetzung dieses Konzepts erlaubte, fanden sich im Hauptschulkollegium viele Befürworter der Gemeinschaftsschule. „Es
gab an der Schule, in der Eltern- und Schülerschaft sowie in
den Gremien ein sehr großes positives Echo, weil man die
Idee gut fand und sie umsetzen wollte“, beschreibt Schulleiter Sürth die Stimmung und Einstellung gegenüber dem
Vorhaben. Die entscheidenden Beschlüsse seien in allen
Gremien einstimmig gefasst worden.
31
Christel Schlott von der Bezirksregierung Köln erzählt,
dass einige Kolleginnen und Kollegen der aufzulösenden
Schule in der Ferdinandstraße davon ausgingen, dass sie
komplett in das Kollegium der zukünftigen Gemeinschaftsschule übernommen würden. „Da mussten wir gegensteuern“, sagt die schulfachliche Dezernentin. Man habe erklärt, dass sukzessiv Versetzungen stattfinden könnten,
aber dies kein Automatismus sei und auch neue Lehrkräfte
an die Schule kommen würden. Einige Lehrkräfte seien darüber „sicher nicht immer fröhlich gewesen“, aber dies sei
vor Ort gut aufgefangen worden. Man habe mit den Kolleginnen und Kollegen gesprochen und Fragen geklärt. Schulleiter Sürth sagt, dass dies schon zu einem „gewissen Unmut“ und auch zu Enttäuschungen geführt habe.
Wie bereits beschrieben war in Köln aufgrund der Lage der
Schule keine Abstimmung mit den Nachbarkommunen erforderlich. Schulleiter Sürth erläutert, dass wegen der Montessori-Ausrichtung die meisten Schülerinnen und Schüler
traditionell aus dem rechtsrheinischen Gebiet kämen und
nicht nur aus Mühlheim. Folglich habe die Abstimmung mit
den Nachbarstadtbezirken oder die benachbarte Schulentwicklung keine Rolle bei der Errichtung der Gemeinschaftsschule gespielt.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
„Schon seit 40 Jahren arbeitet die Hauptschule nach Montessori-Methoden“, sagt Schulleiter Sürth. Insofern lag dort
auch der Schwerpunkt des pädagogischen Konzepts für
die Gemeinschaftsschule. Man habe keine Unterstützung
durch externe Experten gehabt, sondern die Steuergruppe
der Hauptschule sowie einige Kolleginnen und Kollegen
hätten das Konzept selbst entwickelt. Aufgrund des engen
Zeitrahmens von der Veröffentlichung der Leitlinien bis zu
dem Zeitpunkt, an dem der Antrag eingereicht werden
musste, habe man „keine Chance“ gehabt, einen außenstehenden Partner einzubeziehen, erzählt er. Die schulinterne
Arbeitsgruppe habe überlegt, wie sie der individuellen Förderung, der Inklusion und den sehr heterogenen Lerngruppen gerecht werden könne, und habe versucht, die zu erwartenden Schülerprofile an die Anforderungen der Landesregierung anzupassen.
Christel Schlott, Dezernentin der Bezirksregierung, bestätigt, dass die Kolleginnen und Kollegen der auslaufenden
Schule an der Konzepterstellung beteiligt waren. „Die Ferdinandstraße hatte schon ein gutes pädagogisches Konzept erarbeitet, das man akzeptieren konnte“, sagt sie. Die
Hilfe seitens der Bezirksregierung hält Schulleiter Sürth für
zentral: Die professionelle und intensive Unterstützung der
Bezirksregierung und der Schulträger sei wichtig, weil die
Errichtung einer solchen Schule ein anstrengender und anspruchsvoller Prozess sei, so der Schulleiter.
Im Januar 2011 erhielt Köln die Genehmigung für die Errichtung der Schule. Am 8. September 2011 wurden 71 Kinder an der „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Köln,
Ferdinandstraße“ eingeschult. Parallel dazu nimmt die Montessori-Hauptschule keine neuen Schülerinnen und Schüler
mehr auf und läuft sukzessive aus.
In der folgenden Tabelle sind die für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule in der Ferdinandstraße
in Köln relevanten Faktoren noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
52,5 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Keine Realschule beteiligt
Externe pädagogische Experten
Nein
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
Fällt wegen der Größe der Stadt weg
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Anstieg um rund 10 Prozent
Raumangebot
Ausreichend
Konsens mit Nachbarkommunen
Keine Abstimmung nötig, weil Nachbarkommunen
wegen der Lage im Stadtzentrum nicht betroffen sind
Beteiligte Schulformen
Hauptschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Nein
32
2.6.2 Wuppertaler Straße
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Dr. Agnes Klein (SPD), Leiterin des Dezernats IV Bildung, Jugend und Sport der Stadt Köln, in Vertretung
für Oberbürgermeister Jürgen Roters (schriftliches
Interview)
– Gisela Manderla (CDU), Vorsitzende des Schulausschusses
– Christel Schlott, Dezernentin der Bezirksregierung Köln
– Matthias Braunisch, kommissarischer Schulleiter
(von April 2011 bis Sommer 2012, also nach der Antragstellung, an der Schule)
– Monika Raabe, ehemalige Lehrerin an der Hauptschule
Wuppertaler Straße (während der Phase der Antragstellung an der Schule)
Daten zum Entstehungsprozess der
Gemeinschaftsschule:
Herbst 2009: stadtweite Elternbefragung bei allen Drittklässlerinnen und Drittklässlern: 66 Prozent wünschen sich
längeres, gemeinsames Lernen
Sommer 2010: Erste Überlegungen auf Teilnahme am
Schulversuch
13. Juli 2010: Ratsbeschluss, dass die Hauptschule
Wuppertaler Straße zum 31. Juli 2011 geschlossen wird
2. November 2010: Abschließendes Votum der Schulkonferenz für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule
14. Dezember 2010: Ratsbeschluss für die Errichtung der
Gemeinschaftsschule mehrheitlich gefasst
15. Dezember 2010: Antrag auf Teilnahme am Schulversuch zur Errichtung einer dreizügigen Gemeinschaftsschule ohne eigene Oberstufe, in Kooperation mit dem Genoveva-Gymnasium und dem Erich-Gutenberg-Berufskolleg
an dem Standort „Wuppertaler Straße“
Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule der
Sekundarstufe I Köln, Wuppertaler Straße“ startete zum
Schuljahr 2011/2012 mit 75 Schülerinnen und Schülern
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Wie in dem einleitenden Abschnitt erläutert, müssen in Köln
aufgrund der zurückgehenden Schülerzahlen im Hauptschulbereich einige Hauptschulen geschlossen werden. Die
Hauptschule Wuppertaler Straße ist eine der betroffenen
Schulen. Sie sollte zum 31. Juli 2011 wegen zu geringer
Schülerzahlen geschlossen werden, erzählt Monika Raabe,
ehemalige Lehrerin und stellvertretende Leiterin der Hauptschule.
Sie bestätigt, dass parallel zu dem Schülerrückgang an der
Hauptschule auch das längere gemeinsame Lernen immer
stärker nachgefragt wird. „In Köln gibt es zahlreiche Gesamtschulen, und dennoch gibt es an einigen Gesamtschulen einen deutlichen Überhang“, berichtet Pädagogin Raabe.
Laut der Schulentwicklungsplanung sind in den vergangenen Jahren zwischen 600 und 900 Schülerinnen und Schüler an dieser Schulform abgelehnt worden.
Die Hauptschule Wuppertaler Straße liegt im Stadtteil
Buchheim. Nach Aussage des im Schuljahr 2011/2012
kommissarisch bestellten Schulleiters der Gemeinschaftsschule Matthias Braunisch ging es „in diesem schwierigen
Stadtteil darum, eine Schule zu etablieren, die die pädagogischen Herausforderungen, die durch die Schülerinnen
und Schüler in diesem schwierigen sozialen Umfeld entstehen, wahrnimmt und in Zusammenarbeit mit den im Stadtteil ansässigen Institutionen und Vereinen in eine Kontinuität überführt.“ Das bestätigt auch die ehemalige Hauptschullehrerin Raabe, die bis zum Ende des Schuljahres
2010/2011 an der Schule tätig war. „Wir wollten eine Stadtteilschule aufbauen“, sagt sie. Dabei sei es darum gegangen, mit Einrichtungen vor Ort zusammenzuarbeiten. „Wir
haben bei der Konzeption der Schule überlegt, wie wir die
gut funktionierenden Strukturen nutzen und gewinnbringend einsetzen können.“ Raabe erklärt gleichzeitig, dass es
ein eher pragmatischer Gedanke war, nach dem Motto: Die
Hauptschule würde sowieso schließen und nun habe man
die Chance, etwas Neues aufzubauen.
Regionale Abstimmung und Verfahren der
Konsensbildung:
Über die Gemeinschaftsschule wurde auch in dem Kollegium der von der Schließung betroffenen Hauptschule gesprochen. In der Schulkonferenz am 2. November 2010
wurde einstimmig der Beschluss zur Errichtung einer Gemeinschaftsschule am Standort der Hauptschule in der
Wuppertaler Straße gefasst. „Allerdings sind viele Kollegen
mit der Schließung der Schule in Pension gegangen oder
hatten bereits Versetzungsanträge gestellt“, erzählt Raabe.
Schulleiter Braunisch bestätigt, dass die „Lehrer der Hauptschule in der Entwicklung der Schule im Prinzip keine Rolle
gespielt haben“, abgesehen von Pädagogin Raabe und den
Leitern umliegender Grundschulen. Dass keine Lehrkräfte
der Hauptschule an der neuen Gemeinschaftsschule übernommen wurden, habe die Stimmung in den Kollegien
schon gebremst, räumt Braunisch ein. „Man hatte sich bemüht, etwas auf die Beine zu stellen, aber ohne eine Perspektive in der neuen Schule zu haben, war das nicht
immer leicht“, sagt Raabe.
Sehr gut war die Stimmung hingegen bei den Institutionen,
die im Sinne der Stadtteilschule ebenfalls eng in den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule eingebunden
waren. „Es war ein Aufbruch zu spüren, weniger bei den Eltern, sondern bei den Vereinen und Einrichtungen im Stadtteil“, erzählt Braunisch. Auch die Reaktionen seitens der
umliegenden Grundschulen seien positiv gewesen. Dort
war man – sagt der Schulleiter – der Ansicht, dass etwas
„Neues mit neuen Ideen und Lehrkräften und nicht etwas
Altbackenes“ käme. Von dort habe er auch die Rückmeldung bekommen, dass die Kinder vor Ort in der Gemeinschaftsschule „eine Heimat finden, und die pädagogische
Arbeit in der Schule begonnen und in den Institutionen,
Sportvereinen und Einrichtungen, etwa der Diakonie, kontinuierlich weitergeführt wird“. Dies hätten auch die Eltern so
gesehen.
33
Schulleiter Braunisch erzählt, dass es gute Kooperationen
mit den umliegenden Grundschulen gebe und die Gesamtschule Holweide Patenschule sei. „Das war schon in vielerlei Hinsicht eine Unterstützung“, resümiert er, ganz gleich,
ob es um fehlende Zeugnisformulare oder Hilfe bei der
Stunden- und Unterrichtsverteilung ging. Braunisch: „Überall, wo es schul- und verwaltungsrechtliche Dinge zu besprechen gab, konnte ich mich mit der Patenschule kurzschließen.“
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
„Frau Raabe und drei bis vier Schulleitungen benachbarter
Grundschulen waren die tragenden Stützen und haben das
Konzept erarbeitet“, sagt Schulleiter Braunisch. „Bei der
Entwicklung des pädagogischen Konzepts haben wir auch
geschaut, was wir von anderen Konzepten adaptieren können“, erzählt Pädagogin Raabe. So habe man zum Beispiel
auf das Konzept der Profilschule Ascheberg und die Konzepte einiger Kölner Gesamtschulen Bezug genommen.
Externe pädagogische Experten seien nicht dabei gewesen,
so die Lehrerin.
Braunisch hat gemeinsam mit der damaligen Schulleiterin
noch weiter an der Konzeption gefeilt. Da er im Rahmen
seiner vorherigen Tätigkeit als Fach- und Hauptseminarleiter an einem Studienseminar die Gelegenheit hatte, zahlreiche Schulen wie beispielsweise das Institut Beatenberg in
der Schweiz, die Max-Brauer-Schule in Hamburg, die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden und die Integrierte Gesamtschule Hamm/Sieg zu besuchen, hat dies auch Einfluss auf
die Konzeption genommen. Auch die Arbeiten von Journalist und Filmemacher Reinhard Kahl hätten ihn inspiriert,
betont Braunisch.
Im pädagogischen Konzept stehen neben der Inklusion
auch die Orientierung an Stärken sowie fächerübergreifende Lernarrangements mit selbstständigem Lernen im Vordergrund.
Seitens der Schulaufsicht gab es Unterstützung, mit der
Schulleiter Braunisch sehr zufrieden ist. „Wir haben die
Unterstützung, die wir eingefordert haben, bekommen und
das in sehr angenehmer Weise“, sagt er und fährt fort: „Da
gab es nichts, was wir kritisieren könnten.“ Im Nachhinein
betrachtet wäre nur noch ein komplett durchgängiges Coaching nützlich gewesen, sagt Braunisch. „Manchmal ist
man selbst in den eigenen Gedanken gefangen, und da
wäre es hilfreich, bei dem für die Schulentwicklung wichtigen Prozess einen Perspektivwechsel einzunehmen, den
man selbst nicht immer hinbekommt“, erklärt er.
Seiner Meinung nach braucht man für solche Vorhaben wie
die Gründung einer Gemeinschaftsschule „Keimzellen“ und
„Überzeugungstäter, die für bestimmte Ideale einstehen“.
Während man im Stadtteil Lindenthal wahrscheinlich eher
für das „Ideal Gymnasium“ eintrete, sei es in einem ganz
schwierigen, herausfordernden Stadtteil wie Buchheim, in
dem die Menschen nicht alles aus sich heraus gestalten
könnten und einen Anstoß bräuchten, wichtig, dass es Menschen mit Idealen gebe. Dies habe gut funktioniert. Die Menschen mit Idealen würden Entwicklungsprozesse anstoßen.
Braunisch: „Denn nur dann kann etwas Neues entstehen.“
Im Januar 2011 erhielt Köln die Genehmigung für die neue
Schule. Am 8. September 2011 wurden 71 Kinder an der
„Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Köln, Wuppertaler Straße“ eingeschult. Die Hauptschule wurde zum
31. Juli 2011 planmäßig geschlossen.
In der folgenden Tabelle sind die für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in der Wuppertaler Straße in Köln relevanten Faktoren noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
52,5 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Keine Realschule beteiligt
Externe pädagogische Experten
Nein
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
Fällt wegen der Größe der Stadt weg
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Anstieg um rund 10 Prozent
Raumangebot
Muss sukzessive erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Keine Abstimmung nötig, weil Nachbarkommunen
wegen der Lage im Stadtzentrum nicht betroffen sind
Beteiligte Schulformen
Hauptschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Nein
34
2.7 Langenberg
Grunddaten:
geografische Lage:
Langenberg ist eine kreisangehörige Gemeinde im
Kreis Gütersloh
Einwohner: 8.500
Nachbarkommunen: Rheda-Wiedenbrück, Rietberg,
Wadersloh und Oelde (beide Kreis Warendorf)
und Lippstadt (Kreis Soest)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
Insgesamt: 675 Schülerinnen und Schüler
28. Oktober 2010: Steuerungsgruppe der Schule gibt
den Auftrag an die Lehrerkonferenz, ein Konzept zu entwickeln
16. Dezember 2010: Ratsbeschluss zur Errichtung der
Gemeinschaftsschule, gleichzeitig sukzessives Auslaufen
der Konrad-Adenauer-Haupt- und -Realschule im Organisatorischen Verbund
17. Dezember 2010: Antrag zur Errichtung einer dreizügigen und inklusiv arbeitenden Gemeinschaftsschule, ohne
eigene Oberstufe, in Kooperation mit dem Ems-Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung des Kreises Gütersloh in Rheda-Wiedenbrück, dem Gymnasium Johanneum
Wadersloh und Einstein-Gymnasium Rheda-Wiedenbrück,
an dem Standort der existierenden Verbundschule
31. Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule Langenberg der Sekundarstufe I“ startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 70 Schülerinnen und Schülern
Primarstufe:
zwei Grundschulen: 377 Schülerinnen und Schüler
Schmeddingschule: 116 Schülerinnen und Schüler
Brinkmannschule: 261 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe: I
eine weiterführende Schule
Konrad-Adenauer-Verbundschule: 298 Schülerinnen
und Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeisterin Susanne Mittag (UWG)
– Fraktion der CDU: 11
– Fraktion der Unabhängigen Wählergemeinschaft (UWG): 9
– Fraktion der SPD: 3
– Fraktion der FDP: 2
– Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: 1
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Susanne Mittag (UWG), Bürgermeisterin
– Norbert Heinrichsmeier (UWG), Vorsitzender des
Schulausschusses
– Hildegard Tittel, Dezernentin der Bezirksregierung
Detmold
– Anette Drescher (ehemals Westhoff), Schulleiterin
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Langenberg ist eine Gemeinde, deren Hauptschule sich
seit Jahren in einem Reformprozess befindet. Sie wurde
2009 durch Neugründung eines Realschulzweiges zur
Verbundschule, die parallel zum Aufbau der Gemeinschaftsschule ab dem Schuljahr 2011/2012 ausläuft. Die Kommune ist die einzige Gemeinde mit Verbundschule, die
einen Antrag für eine Gemeinschaftsschule gestellt hat.
Die rückläufigen Schülerzahlen der letzten Jahre zwangen
die Gemeinde Langenberg perspektivisch eine Lösung für
ihre Hauptschule zu finden. Die kleine Kommune ist die
südlichste des Kreises Gütersloh und hat neben zwei
Grundschulen nur eine einzige weiterführende Schule im
Ort. „Uns Politikern war klar, dass etwas passieren musste,
35
als es nur noch gut 30 Kinder pro Jahrgang in der Hauptschule gab“, sagt Norbert Heinrichsmeier, Vorsitzender
des Schulausschusses der Gemeinde. So führte die Kommune bereits 2006 den gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ein
und zwei Jahre später (2008) den Ganztagsunterricht.
Die Schule entwickelte sich damit zwar qualitativ weiter,
aber – entgegen den Hoffnungen – änderte sich das Wahlverhalten der Eltern nicht wesentlich. „Viele Jahre haben
die Eltern etwa gleichgewichtig zwischen den Schulformen gewählt“, sagt Bürgermeisterin Susanne Mittag. In
den letzten Jahren hätten sich die Vorstellungen der Eltern für ihre Kinder aber immer mehr in Richtung Gymnasien und Realschulen verschoben.
2009 ergriff die Gemeinde schließlich die zu diesem Zeitpunkt einzige schulrechtlich vorhandene Gelegenheit und
erweiterte die Hauptschule durch Neugründung eines
Realschulzweiges zu einer Schule im Organisatorischen
Verbund der Sekundarschule I. Die Verbundschule startete mit einer Besonderheit. „Wir wollten, dass die Schüler
länger gemeinsam lernen, und haben auf Antrag für die
Verbundschule eine Sondergenehmigung für den gemeinsamen Unterricht von Real- und Hauptschülern in den
fünften und sechsten Jahrgangsstufen erhalten“, sagt
Schulleiterin Anette Drescher, bis 2011 Schulleiterin der
Verbundschule und seitdem Leiterin der Gemeinschaftsschule. Außer in Deutsch, Mathematik und Englisch durften die Schülerinnen und Schüler der Verbundschule somit schon seit 2009 gemeinsam in der Erprobungsstufe
unterrichtet werden.
Dabei setzte sich das Kollegium ehrgeizige Ziele: Es wollte beweisen, dass damit höhere Übergangsquoten erreicht werden als mit dem schulformgetrennten Unterricht. Offenbar ist das gelungen. Schulleiterin Drescher
sagt: „In der Erprobungsstufe haben sich bereits circa
25 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Hauptschulempfehlung auf Realschulniveau verbessert“.
Mit diesem positiven Ergebnis war der Funke im Kollegium gezündet und die Lehrkräfte mussten nur noch auf
die schulrechtlichen Veränderungen aus dem Düsseldorfer Schulministerium warten, um ihre weitergehenden
Ideen zum gemeinsamen Lernen umsetzen zu dürfen. Als
es dann im Herbst 2010 tatsächlich möglich wurde, eine
Gemeinschaftsschule zu gründen, gaben die Lehrkräfte
den Anstoß für den Antrag. Das Ziel war klar: Sie wollten
eine Schule für alle Kinder am Ort, sagt Schulleiterin
Drescher.
Aber nicht nur die Lehrkräfte waren aktiv, auch die Kommune zog mit. Langenberg sollte auch zukünftig als Wirtschafts- und Lebensstandort attraktiv bleiben und dazu
gehört eine moderne und intakte Schullandschaft, sagt
Bürgermeisterin Mittag. „Unser erklärtes politisches Ziel
war und ist es, unseren Kindern ein gutes Schulangebot
von der ersten bis zum Ende der zehnten Klasse in unserer Gemeinde zu bieten. Mit der Gemeinschaftsschule
können alle Kinder – egal welche Empfehlung sie von der
Grundschule bekommen – vor Ort zur Schule gehen und
länger gemeinsam lernen. Das hat auch Auswirkungen
auf die Freizeitgestaltung, die dann vermehrt in der Gemeinde stattfindet, in der die Kinder auch wohnen. Auch
für den Übergang von Schule in den Beruf ist eine weiterführende Schule vor Ort von großer Bedeutung. Durch die
enge Zusammenarbeit mit der heimischen Wirtschaft
konnten große Erfolge bei der Suche nach passgenauen
Ausbildungsplätzen auf der einen Seite und qualifizierten
Auszubildenden auf der anderen Seite erzielt werden.“
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Für die politischen Gremien sei die Idee zum Antrag keine
Überraschung gewesen, erklärt Schulausschussvorsitzender Heinrichsmeier. „Nach der Gründung der Verbundschule war keine Reformmüdigkeit an der Schule zu spüren“, so der Ratsherr. Während es bei der Verbundschule
von vornherein ein Einvernehmen unter den Fraktionen
gab, so wurden bei der Gemeinschaftsschule doch unterschiedliche Sichtweisen deutlich. Diskussionen habe es
zwar einige gegeben, erklärt Bürgermeisterin Mittag, letztendlich habe sich der Rat der Gemeinde aber überzeugen
lassen, da das Schulkollegium so hinter den Plänen gestanden habe, „dass man sich gar nicht dagegenstellen
konnte.“
Motor der Entwicklung war die Schule. Schulleitung, Lehrerkollegium, aber auch Eltern der Verbundschule haben
diesen Entwicklungsprozess Schritt für Schritt vorangetrieben. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung der
Idee war die frühzeitige Einbindung der Verwaltung und
der politischen Gremien.
Natürlich haben sich im Rat Nachfragen ergeben, beispielsweise, wie eine Schule des gemeinsamen Lernens
mit der Vielfalt an Begabungen ihrer Schülerschaft umgeht. Auch von Elternseite gab es viel Klärungsbedarf:
„Für Eltern ist es wichtig, dass die Lehrerschaft insgesamt
hinter einer solchen Idee steht, damit sie ihr Vertrauen
schenken können“, sagt die Schulleiterin. „Wir haben uns
viel Zeit im Vorfeld genommen, um die Eltern der zukünftigen Schülerinnen und Schüler zu informieren und aufzuklären.“ Mit eingebunden in diesen Prozess waren auch
die Lehrerinnen und Lehrer der Grundschulen.
Die Eltern waren auch für den Schulausschussvorsitzenden Heinrichsmeier der größte Unsicherheitsfaktor. „Es
war erst mal recht schwierig herauszufinden, was die Eltern wollen“, sagt er. Nach der schriftlichen Elternbefragung und Informationsabenden wussten die Verantwort-
36
lichen aber, dass die Eltern dem Projekt positiv gegenüberstehen. Über 70 Prozent der Eltern der befragten
Viertklässlerinnen und Viertklässler haben sich dabei für
die Gemeinschaftsschule entschieden. Bei den Eltern der
Drittklässlerinnen und Drittklässler waren es etwas weniger. Folglich konnte die Gemeinde damit rechnen, die Mindestschülerzahl zu erreichen.
„Ich glaube, es hat vertrauensbildend gewirkt, dass wichtige Entwicklungsschritte in der Vergangenheit bereits
erfolgreich von der Schule umgesetzt werden konnten“,
sagt Schulleiterin Drescher. Als einzige Unsicherheit für
alle Beteiligten blieb die Frage, ob die Gemeinschaftsschule die benötigten Anmeldezahlen tatsächlich erreichen würde, um zustande zu kommen.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Während das Kollegium der Verbundschule sich einstimmig für das Vorhaben aussprach, beurteilten die Nachbarkommunen die Idee zur Gründung der Gemeinschaftsschule unterschiedlich. So wünschte die Gemeinde Rietberg zur Absicherung ihrer dortigen Hauptschule die Zusage, dass in Langenberg keine Kinder aus Rietberg aufgenommen werden. Rietberg habe aber nicht dargelegt,
inwiefern von der Gemeinschaftsschule eine Gefährdung
ihrer Hauptschule ausgehen könnte, heißt es in der offiziellen Genehmigung des Ministeriums. Einwendungen
habe auch die private Marienschule in Lippstadt erhoben.
Das sei aber unbeachtlich, wie aus der Genehmigung hervorgeht, da es sich dabei nicht um einen öffentlichen
Schulträger handele. Bürgermeisterin Mittag bemerkt
dazu, dass die Errichtung des neuen Realschulzweiges in
Langenberg im Jahr 2009 der Schritt mit den größeren
Auswirkungen auf die Schullandschaft der Nachbarkommunen gewesen sei, aber ein Jahr später – bei der Gründung der Gemeinschaftsschule – habe es deutlich mehr
Gesprächsbedarf mit den Nachbarkommunen gegeben.
Zu einem Konflikt kam es wegen der Frage der Schülerbeförderungskosten mit einer Nachbargemeinde. Diese warf
die Frage auf, ob die Gemeinschaftsschule nicht als Realschule anzusehen sei und sie deshalb die Fahrtkosten der
Schülerinnen und Schüler aus Langenberg zu einer Realschule der Nachbarkommune nicht tragen müsste. Langenberg war anderer Ansicht. Entschieden wurde letztlich
zu ihren Gunsten. Die Bezirksregierung Detmold hat in
Abstimmung mit dem nordrhein-westfälischen Schulministerium keinen Zweifel daran gelassen, dass die Gemeinschaftsschule nur im Rahmen eines Schulversuchs errichtet werden kann und daher keine Schulform in Sinne
von § 9 Schülerfahrtkostenverordnung darstellt. Sie kann
im Bereich der Sekundarstufe I nicht mit der einer Hauptoder Realschule oder eines Gymnasiums gleichgesetzt
werden. Daher musste die Nachbarkommune die Fahrtkosten der Schülerinnen und Schüler aus Langenberg tragen.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
„Unsere Vorbilder bei der Konzeptentwicklung waren etwa die Montessori-Schule Potsdam oder die Max-BrauerSchule aus Hamburg“, erzählt Schulleiterin Drescher.
Auch nach Ascheberg und Billerbeck habe man geschaut,
auf die Gemeinden in der westfälischen Nachbarschaft,
die schon länger dabei waren, eine Gemeinschaftsschule
zu planen.
Das Konzept wurde von der Schule selbst entwickelt und
dokumentiert. Die schulfachliche Dezernentin der Bezirksregierung, Hildegard Tittel, war von dem Konzept
schnell überzeugt, auch wenn es einige Besonderheiten
aufwies. Sie habe das Konzept erst im Dezember zu sehen bekommen. „Das war überraschend, da im Vorfeld
keine Beratungen stattgefunden hatten“, sagt sie. Hinzu
sei die nicht optimal gespreizte Heterogenität der voraussichtlichen Schülerschaft gekommen. „Die Mischung war
gerade so hinreichend.“ Die Dezernentin beurteilt diesen
Faktor aber im Nachhinein milde und führt dazu aus: „Die
Schulleiterin Frau Drescher beherrscht das Fordern und
Fördern so gut, dass ich ihr zugetraut habe, trotz dieser
Ausgangsbedingungen die gymnasialen Standards einzuhalten.“
Außerdem müsse man Grundschulempfehlungen im ländlichen Raum anders beurteilen als in einer Stadt. Eine
Note „Drei“ auf dem Land sei unter Umständen vergleichbar mit einer Note „Zwei“ in der Stadt. Darüber hinaus
durfte Langenberg auf der Grundlage entsprechender
Vereinbarungen auch Kinder aus Nachbarkommunen aufnehmen.
Drescher bemühte sich bei der Entwicklung des Konzepts,
die Eltern nicht aus dem Blick zu verlieren. Sie müssten
immer nachvollziehen können, was geplant werde und in
den Entwicklungsprozess eingebunden sein.
Es sei zwar befriedigend, aber nicht einfach, immer wieder für Neuerungen zu kämpfen, gibt Drescher im Nachhinein unumwunden zu. „Wir wünschen uns, dass es
mehr Schulen des gemeinsamen Lernens gibt, damit es
für alle selbstverständlicher wird und somit auch für uns
einfacher.“ Dezernentin Tittel sieht das ähnlich und ist
froh über die aktive Rolle der Langenberger. Sie hat auch
andere Erfahrungen gemacht. „Andere Bürgermeister
scheitern daran, wenn sie sich zu spät umorientieren.“ Es
kommt vor, dass es nicht mehr klappt, die Schülerströme,
die sich schon von der Gemeinde wegbewegt haben, wieder zurückzulenken.
Die „Gemeinschaftsschule Langenberg der Sekundarstufe I“ startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 70 Schülerinnen und Schülern. Parallel dazu nimmt die Verbundschule
keine neuen Kinder mehr auf und läuft sukzessive aus.
37
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Langenberg noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
67 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule/
hier als Teil der Verbundschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule/
hier als Teil der Verbundschule
Ja, einstimmig
Externe pädagogische Experten
Nein
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
45 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 4 Prozent
Raumangebot
Muss erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Ja, von Anfang an
Beteiligte Schulformen
Verbundschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
38
2.8 Lippetal
Grunddaten:
geografische Lage:
Lippetal ist eine kreisangehörige Gemeinde im
Kreis Soest
Einwohner: circa 12.300
Nachbarkommunen: Bad Sassendorf, Beckum (Kreis
Warendorf), Hamm, Lippstadt, Soest, Welver sowie
Wadersloh, Beckum und Ahlen (alle drei Kreis Warendorf)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Daten zum Entstehungsprozess der
Gemeinschaftsschule:
Insgesamt: 1.284 Schülerinnen und Schüler
9. September 2010: gemeinsamer Antrag aller Ratsfraktionen zur Weiterentwicklung der Schullandschaft
27. September 2010: Erste Gespräche im Rat zur Prüfung der Weiterentwicklung der Schullandschaft
8. November 2010: Ratsbeschluss zur Errichtung der
Gemeinschaftsschule, gleichzeitig laufen die Realschule
Lippetal und die Hermann-Thormilten Hauptschule sukzessive aus
30. November 2010: Antrag zur Errichtung einer fünfzügigen Gemeinschaftsschule, mit eigener Oberstufe, an
einem Standort, in zwei unmittelbar nebeneinanderliegenden Gebäuden
20. Januar 2011: Genehmigung; die „Lippetalschule –
Gemeinschaftsschule der Gemeinde Lippetal“ startete
zum Schuljahr 2011/2012 mit 144 Schülerinnen und
Schülern
Primarstufe:
drei Grundschulen: 502 Schülerinnen und Schüler
Katholische Grundschule Herzfeld: 204 Schülerinnen
und Schüler
Katholische Grundschule Lippborg: 165 Schülerinnen
und Schüler
Katholische Grundschule Oestinghausen: 133 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
zwei weiterführende Schulen: 782 Schülerinnen und
Schüler
Hermann-Thormilten-Hauptschule: 240 Schülerinnen
und Schüler
Realschule Lippetal: 542 Schülerinnen und Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeister Matthias Lürbke (parteilos)
– Fraktion der CDU: 18
– Fraktion der SPD: 8
– Fraktion der Bürgergemeinschaft (BG): 4
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Matthias Lürbke (parteilos), Bürgermeister
– Michael Rennekamp (SPD), Vorsitzender des Schulausschusses
– Ulrike Schulz, Dezernentin der Bezirksregierung Arnsberg
– Erich Zajac, Schulleiter
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
In Lippetal, einer westfälischen Gemeinde mit 12.300
Einwohnern, diskutierte man schon seit 2008 darüber,
wie das Schulangebot im Ort weiterentwickelt werden
kann. „Wir rechneten bereits seit Jahren damit, dass die
Hauptschule nur noch einzügig angeboten werden konnte“, sagt der frühere Realschulleiter Erich Zajac, der heute
die Gemeinschaftsschule leitet.
Parallel dazu erarbeitete die Verwaltung die kommunale
Schulentwicklungsplanung, die zu dem Ergebnis kam, dass
die Gemeinde etwas tun kann, um die Schullandschaft in
Lippetal weiterzuentwickeln. „Die zurückgehenden Geburtenzahlen machten uns dabei zu schaffen. Hatten wir
2002 noch rund 200 Grundschüler pro Jahrgang, haben
wir heute nur noch rund 140“, erklärt Bürgermeister
39
Matthias Lürbke. Die Schulentwicklungszahlen zeigen
deutlich: Immer weniger Schülerinnen und Schüler werden in Lippetal geboren, und von ihnen besuchen nur noch
rund 45 Prozent die Lippetaler Schulen der Sekundarstufe I. Alle übrigen pendeln zu Gymnasien und Gesamtschulen in die Nachbargemeinden.
Für Schulleiter Zajac waren aber nicht nur die zurückgehenden Schülerzahlen ausschlaggebend. Eine wichtige
Motivation war, für mehr soziale Chancengleichheit zu
sorgen. „Wir dürfen nicht länger ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an den Rand drängen.“ Zajac sagt: „Wir
wollten eine Schule für alle Schüler, bei der wir niemanden mehr ablehnen oder aussortieren müssen.“ Schon
unter der Landesregierung, die bis zum Sommer 2010 im
Amt war, hatte die Kommune deshalb bereits mehrfach
angefragt, inwieweit sich ihre Schullandschaft weiterentwickeln könne. Allerdings konnten zur damaligen Zeit der
Gemeinde keine Wege eröffnet werden.
Die damals einzige schulpolitische Möglichkeit, die Verbundschule, sei nicht infrage gekommen, sagt Bürgermeister Lürbke. Alternativ eine Gesamtschule oder ein
Gymnasium zu gründen, sei wegen der zu geringen Schülerzahlen ebenfalls nicht möglich gewesen. Weil die Hauptschule gleichzeitig generell immer weniger nachgefragt
wurde, befand sich die Gemeinde in einer Zwickmühle.
„Hätten wir nichts gemacht, hätten immer mehr Eltern
ihre Kinder an den Gesamtschulen der Nachbargemeinden oder an der Realschule angemeldet“, vermutet Lürbke.
Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Landesregierung die
Möglichkeit des Schulversuchs eröffnete, waren den Lippetaler Fachleuten die Hände gebunden.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Bürgermeister Lürbke hielt während dieser Zeit immer den
Kontakt mit den Schulleitern des Ortes, und als die neue
Landesregierung im Herbst 2010 die Errichtung einer Gemeinschaftsschule ermöglichte, lud er alle Fraktionen zu
Gesprächen ein. Den Prozess der politischen Willensbildung habe vor allem der Bürgermeister vorangetrieben,
bestätigt der Vorsitzende des Schulausschusses, Michael
Rennekamp. Anschließend hätten die drei Ratsfraktionen
ihm den Auftrag gegeben, die Möglichkeiten zu analysieren.
Die Beratungen seien überraschend einfach gewesen,
wundert sich Rennekamp noch heute, dessen eigene Partei, die SPD, sowieso für die Gemeinschaftsschule war.
„Die örtliche CDU hat eine enorme Wandlung durchgemacht.“ Im Schulausschuss wurde natürlich diskutiert.
Vor allem das kooperative System, das im Konzept ab der
siebten Jahrgangsstufe als Möglichkeit vorgesehen ist, sei
ein Thema gewesen. Als der Rat sich schließlich für die
Gemeinschaftsschule entschied, habe es zunächst politischen Gegenwind auf Landesebene gegeben. „Davon ha-
ben wir uns aber nicht irritieren lassen“, sagt Lürbke. Die
Lokalpolitiker hätten sich pragmatisch verhalten. Der
mehrheitlich gefasste Ratsbeschluss für die Errichtung
einer Gemeinschaftsschule fiel am 8. November 2010.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Die Kollegien der Haupt- und der Realschule entschieden
sich beide mehrheitlich für das Projekt. Auch zwischen der
Gemeinde Lippetal und ihren Nachbarkommunen gab es
keine Konflikte. Aber es habe enormen Abstimmungsbedarf gegeben, sagt die schulfachliche Dezernentin der Bezirksregierung Arnsberg, Ulrike Schulz. Denn Schülerinnen
und Schüler aus der Nachbargemeinde Bad Sassendorf
wollten ebenfalls die Gemeinschaftsschule in Lippetal besuchen, obwohl eigentlich nur der Besuch von Lippetaler
Kindern vorgesehen war, um eine Konkurrenz zwischen
den Gemeinden zu vermeiden. Für Lippetal war dies kein
Problem, für die Bad Sassendorfer aber umso mehr.
Schließlich hatte die Kommune erst kürzlich in ein neues
Gebäude ihrer Hauptschule investiert, das vermutlich zukünftig leer stehen werde, berichtet Schulausschussvorsitzender Rennekamp und zeigt Verständnis für das Verhalten der Nachbarn. Die Absicht der Gemeinde Bad
Sassendorf, Kindern ihrer Gemeinde den Besuch der Gemeinschaftsschule Lippetal nicht zu ermöglichen, erntete
Protest der Sassendorfer Eltern. „Mein Kollege hat mich
angerufen und mich darum gebeten, diese Sassendorfer
Kinder doch noch aufzunehmen. Wir brauchten dafür eine
Sondergenehmigung. Als wir die bekamen, haben wir die
Kinder aufgenommen“, sagt Bürgermeister Lürbke.
Neben den Lokalpolitikerinnen und -politikern sowie den
Nachbarkommunen waren die Eltern die wichtigste Personengruppe für den Erfolg des Projekts. Die Kommune
organisierte einen Elterninformationsabend, an dem auch
Vertreter des Schulministeriums und der Bezirksregierung
Arnsberg teilnahmen, um die Eltern über die entsprechenden Rahmenbedingungen auf Landesebene zu informieren.
In den folgenden Wochen führte die Kommune, wie vom
Ministerium vorgesehen, eine schriftliche Elternbefragung
unter den Erziehungsberechtigten der Dritt- und Viertklässlerinnen und -klässler durch. Die Ergebnisse bestätigten Zajacs Eindruck: 85 Prozent der Eltern fanden die Gemeinschaftsschule gut. Wie die Anmeldezahlen später
zeigten, war die Überzeugung offenbar nachhaltig. Selbst
viele Eltern, deren Kinder eine Gymnasialempfehlung vorweisen konnten, schickten ihre Kinder auf die Gemeinschaftsschule. Schulausschussvorsitzender Rennekamp
glaubt, dass der kürzere Schulweg eines der entscheidenden Argumente für viele Eltern gewesen sei. „Die Kinder
gewinnen 30 bis 45 Minuten pro Weg.“
40
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Im Vorfeld der Entwicklung des pädagogischen Konzepts
galt es erst einmal, die Lehrerschaft Lippetals einzubinden
und den Lehrkräften Antworten auf ihre zahlreichen Fragen zu geben. Dafür hatte die Kommune zusammen mit
der Bezirksregierung Arnsberg alle Lehrerinnen und Lehrer des Ortes eingeladen. Drei Stunden lang habe man
Alternativen diskutiert, sagt Lürbke. Viele Lehrkräfte hätten sich Sorgen gemacht: Was steckt pädagogisch hinter
dem Konzept der Gemeinschaftsschule? Was bedeutet
das für meinen Arbeitsplatz als Lehrerin oder Lehrer?
Dezernentin Schulz hatte dafür Verständnis. Sie sorgte
frühzeitig für eine kompetente Beratung der am Entscheidungsprozess Beteiligten, unter anderem durch eine erfahrene Gesamtschulkollegin.
Hinzu kamen spezielle Bedenken einzelner Gruppen, sagt
Schulausschussvorsitzender Rennekamp. Ältere Kollegen
etwa waren beunruhigt und fragten sich, was aus dem
werden solle, was sie in der Realschule und in der Hauptschule aufgebaut hatten. Dass ihre Arbeit mit den beteiligten Schulen jetzt ebenfalls auslief, enttäuschte sie.
Personalfragen spielten bei der Neuerrichtung von Schulen generell eine große Rolle, sagt Schulz. Dies gelte auch
in umgekehrter Richtung, wenn beispielsweise Personal
für die sukzessiv auslaufenden Schulen gebraucht werde:
„Junge Kollegen sind schwer für eine Schule zu gewinnen,
die demnächst aufgelöst wird.“
Das Konzept der Gemeinschaftsschule wurde im nächsten Schritt in einer Planungsgruppe entwickelt, in der
Lehrkräfte der weiterführenden Schulen eingebunden waren. Es sieht, unter anderen, eine Profilbildung in den Naturwissenschaften, Kunst und Musik sowie eine Zusammenarbeit mit Musikschulen und Vereinen vor.
Schulleiter Zajac hält diese Kooperationen für sinnvoll in
Bezug auf den Zusammenhalt im Ort. Dieselbe Funktion
werde die Oberstufe erfüllen, hofft er. „Bisher mussten die
Oberstufenschüler nach Soest, Beckum, Wadersloh oder
Lippstadt fahren und waren dementsprechend völlig verstreut.“ Die geplante Oberstufe habe gute Aussichten auf
Erfolg, denn schon 2009 hätten rund 30 Prozent der
Fünftklässlerinnen und Fünftklässler der Realschule eine
Gymnasialempfehlung gehabt.
Der Beratungsbedarf bei der Einführung einer neuen
Schulform ist erfahrungsgemäß hoch. Das war auch den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bezirksregierung
Arnsberg klar. Um eine eigene Fortbildungskonzeption zu
erstellen, luden sie die Lehrkräfte der neuen Schule frühzeitig ein, um zu klären, was die Schule zukünftig an Unterstützung benötigt und wie die Lehrerinnen und Lehrer
ihre Schule weiterentwickeln möchten. Außerdem bot die
Bezirksregierung den Schulen die Möglichkeit, sich Beratung von anderen Schulen zu holen. Schulleiter Zajac begrüßte das. „Die Schulaufsicht hat uns gut unterstützt.“
Die „Lippetalschule – Gemeinschaftsschule der Gemeinde
Lippetal“ startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 144 Schülerinnen und Schülern. Parallel dazu nehmen die Realschule und die Hauptschule keine neuen Kinder mehr auf
und laufen sukzessive aus.
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Lippetal noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
85 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, mehrheitlich
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Ja, mehrheitlich
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
55 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 8,6 Prozent
Raumangebot
Muss um eine Mensa erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Ja, von Anfang an
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
41
2.9 Morsbach
Grunddaten:
geografische Lage:
Morsbach liegt in der Südspitze des Oberbergischen
Kreises an der Grenze von Nordrhein-Westfalen zu
Rheinland-Pfalz
Einwohner: 11.300
Nachbarkommunen: Waldbröl, Reichshof,
Friesenhagen, Birken-Honigsessen und Wissen
(alle drei Landkreis Altenkirchen/Westerwald/
Rheinland-Pfalz) sowie Windeck (Rhein-Sieg-Kreis)
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Insgesamt: 1.101 Schülerinnen und Schüler
Primarstufe:
drei Grundschulen: 461 Schülerinnen und Schüler
GGS Morsbach, Standort Morsbach: 281 Schülerinnen
und Schüler
GGS Morsbach, Standort Holpe: 92 Schülerinnen
und Schüler
GGS Lichtenberg: 88 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
zwei weiterführende Schulen: 640 Schülerinnen und
Schüler
Janusz-Korczak-Realschule Morsbach: 416 Schülerinnen und Schüler
Erich-Kästner-Schule, Gemeinschaftshauptschule
Morsbach: 224 Schülerinnen und Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeister Jörg Bukowski (parteilos)
– Fraktion der CDU: 10
– Fraktion der SPD: 9
– Fraktion der Bürgerbewegung für Morsbach (BFM): 6
– Fraktion der FDP: 3
– Fraktion der unabhängigen Bürgervertretung Morsbach/ Unabhängige Wählergemeinschaft (UBV/UWG): 2
– Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen: 2
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Jörg Bukowski (parteilos), Bürgermeister
– Tobias Schneider (SPD), Vorsitzender des Schulausschusses
– Christel Schlott, Dezernentin der Bezirksregierung Köln
– Jürgen Greis, Schulleiter
– Tilman Bieber, Planungsbüro „Kommunale Planung“
(Komplan)
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
November 2008: Antrag auf Errichtung einer Gesamtschule
Februar 2010: Gesamtschule scheitert aufgrund zu geringer Anmeldezahlen
Juni 2010: Machbarkeitsstudie zusammen mit Nachbarkommunen in Auftrag gegeben; sie prüft zum einen die
Realisierung einer Gesamtschule im Rahmen einer
„Dependancelösung“ und zum anderen die Errichtung
einer Gemeinschaftsschule
Oktober/November 2010: Abschließende Voten der
Schulkonferenzen, Einrichtung der pädagogischen Arbeitsgruppe
7. Dezember 2010: Ratsbeschluss für die Errichtung der
Gemeinschaftsschule mehrheitlich gefasst, gleichzeitig
sukzessive Auflösung der Erich-Kästner-Hauptschule und
Janusz-Korczak-Realschule
17. Dezember 2010: Antrag auf Teilnahme am Schulversuch zur Errichtung einer vierzügigen Gemeinschaftsschule mit eigener Oberstufe an einem Standort, im Schulzentrum „Hahner Straße“
Anfang Februar 2011: Genehmigung auf Teilnahme am
Schulversuch
23. Februar 2011: Waldbröl reicht wegen der Sekundarstufe II an der Morsbacher Gemeinschaftsschule Klage
beim Verwaltungsgericht Köln ein
42
4. März 2011: Gespräch zwischen dem Bürgermeister
der Stadt Waldbröl und dem der Gemeinde Morsbach in
der Bezirksregierung, Einigung zwischen den beiden
Kommunen, Klage wird zurückgezogen
11. März 2011: Änderungsbescheid; Genehmigung einer
gymnasialen Oberstufe für die Gemeinschaftsschule
Morsbach wird aufgehoben
März 2011: Kooperationsvereinbarung mit dem Hollenberg-Gymnasium und der Gesamtschule Waldbröl sowie
der Gesamtschule Reichshof; die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I Morsbach“ startete zum Schuljahr
2011/2012 mit 96 Schülerinnen und Schülern
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Die ländlich strukturierte Gemeinde Morsbach ist bereits
seit Jahren von den zurückgehenden Schülerzahlen betroffen, was auch eine 2007 in Auftrag gegebene Schulentwicklungsplanung zeigte. „In Morsbach wurde bereits im
April 2008 beschlossen, dass wir wegen der demografischen Entwicklungen eine Gesamtschule gründen möchten“, erzählt Bürgermeister Jörg Bukowski. Der Antrag
auf Errichtung einer Gesamtschule zum Schuljahr 2009/
2010 wurde im Herbst 2008 gestellt, aber vor Weihnachten von der Bezirksregierung abgelehnt. Daraufhin reichte
Morsbach Klage ein. Im Dezember 2009 entschied das
Gericht in einer mündlichen Verhandlung, dass Morsbach
eine Gesamtschule errichten darf, wenn sich 112 Schülerinnen und Schüler anmelden. Die Realisierung der Gesamtschule scheiterte jedoch, weil sich im Februar 2010
nur 107 Kinder angemeldet haben. Die Klage selbst wurde
in der Hauptsache nie entschieden.
Gleichzeitig nahm der Druck auf die Schulen vor Ort zu.
„Die Hauptschule hatte Existenzprobleme“, sagt Tobias
Schneider, Vorsitzender des Schulausschusses. „Wir
mussten uns anders aufstellen, weil es ein starkes Wanderungsverhalten zu den Gesamtschulen und nach Rheinland-Pfalz an andere Schulformen gibt“, erklärt Jürgen
Greis, früherer Rektor der Hauptschule und derzeitiger
Leiter der Gemeinschaftsschule. So habe man damals
beispielsweise den Ganztag ausgebaut. „Die Hauptschule
hat versucht zu punkten, aber alle Maßnahmen, die wir
durchgeführt haben, brachten uns die Schüler nicht wieder“, sagt er.
Aber nicht nur die Hauptschule war von den sinkenden
Schülerzahlen betroffen, sondern auf längere Sicht auch
die Realschule. Das zeigten die Prognosen der Schulentwicklungsplanung sehr eindeutig. „Die Befürchtung war,
dass der Ort an Attraktivität einbüßt, wenn die letzte weiterführende Schule vor Ort nicht mehr existiert“, erklärt
Christel Schlott, schulfachliche Dezernentin der Bezirksregierung Köln.
Deshalb gab Morsbach im Juni 2010 eine Schulentwicklungsplanung für das Schuljahr 2011/2012 mit den Nachbargemeinden Reichshof und Waldbröl bei dem Planungsbüro „Komplan“ in Auftrag, das auf Fragen der Schulentwicklungsplanung spezialisiert ist. Diese prüfte zum einen
die Realisierung einer Gesamtschule mit einer „Dependancelösung“ von Waldbröl oder Reichshof und zum anderen die Errichtung einer Gemeinschaftsschule in Morsbach. Letzteres wurde als Ergänzung zum Planungsauftrag später von der Gemeinde Morsbach beauftragt. Bürgermeister Bukowski beurteilt die Unterstützung durch
externe Experten als hilfreich und hält einen „sachkundigen Dritten“ für die Umsetzung und Akzeptanz für
„äußerst wichtig“. Bukowski: „Ende Oktober 2010 entschied der Schul- und Sozialausschuss auf der Grundlage
des Gutachtens von ,Komplan’ die Errichtung einer Gemeinschaftsschule weiterzuverfolgen. Der Schulversuch,
der kleinere Klassen vorsieht als die Gesamtschule, war
interessant für uns“, sagt er. Tilman Bieber von dem Planungsbüro „Komplan“ sprach sich damals ebenfalls für
die Gemeinschaftsschullösung aus. „Die Gemeinschaftsschule ist eine eigenständige Schule und nicht nur eine
Zweigniederlassung. Eine Dependancelösung ist nur ein
Standort, aber keine Schule im rechtlichen Sinne“, erklärt er.
Als die rot-grüne Landesregierung im Herbst 2010 die
Errichtung von Gemeinschaftsschulen möglich machte,
sei dies für Morsbach laut Schulleiter Greis ein „Glück“
gewesen. „Den Zug wollten wir nicht verpassen“, erzählt er.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Um den Antrag für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule stellen zu können, musste auch der Rat zustimmen. Dies war insofern nicht besonders schwierig, weil
sich die Mehrheit der vertretenen Parteien in den Jahren
zuvor bereits für die Gesamtschule ausgesprochen hatte.
„Wir haben uns die Schülerzahlen angesehen und wussten, wo es hingeht. Wenn wir das Beste für unseren Ort
wollen, dann blieb uns nichts anderes übrig, als die Gesamtschule zu fordern“, sagt Schulausschussvorsitzender Schneider. „Auch die Errichtung der Gemeinschaftsschule war bei allen Fraktionen keine Frage, nur bei der
CDU, die auch schon gegen die Gesamtschule war“, sagt er.
Das bestätigt Bürgermeister Bukowski: „Die CDU hat den
Prozess negativ begleitet.“ Der Widerstand aus der CDU
sei „sehr, sehr erheblich“ gewesen. Die Kritiker konnten
auch mit keinen Argumenten überzeugt werden. „Die
CDU hat sich bis heute nicht zu der Schule bekannt“, resümiert Schneider. „Zweifler“ habe man hingegen mit
dem Argument der kleineren Klassen überzeugen können, sagt Bürgermeister Bukowski. Er argumentierte: „Wir
werden nicht in ein Korsett gezwungen, sondern haben im
Schulversuch die Möglichkeit, ein neues, eigenes Konzept
zu entwickeln.“ Das habe gewirkt.
43
Diskutiert wurde im Schulausschuss aber trotzdem, zum
Beispiel über das integrative Konzept und eine eigene
Oberstufe. Diese hätten einige unbedingt haben wollen,
aber auf sie wurde nach Auseinandersetzungen mit der
Nachbarstadt Waldbröl schließlich verzichtet. „Wir haben
solche Diskussionen aber aus den Gremien rausgehalten“,
sagt Bürgermeister Bukowski. „Alles, was an Kritik aus
den eigenen Reihen kam, wurde hinter verschlossenen
Türen diskutiert.“
Schulausschussvorsitzender Schneider fasst zusammen:
„Alles in allem hat uns das Konzept nahtlos politisch überzeugt. Bei einer knappen politischen Mehrheit wäre es
bestimmt schwieriger geworden.“ Auch Schulleiter Greis
bestätigt, dass der Zuspruch für die Gemeinschaftsschule sehr wichtig für den Gründungsprozess gewesen ist.
Am 7. Dezember 2010 fiel mehrheitlich der Ratsbeschluss,
zum Schuljahr 2011/2012 eine Gemeinschaftsschule errichten zu wollen.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Neben dem Rat beschäftigten sich im Oktober und November 2010 auch die Schulkonferenzen der beteiligten
Schulen mit der Errichtung einer Gemeinschaftsschule.
Zwar waren die Eltern zunächst skeptisch und die Lehrkräfte verunsichert. Dennoch beschloss die Schulkonferenz der Hauptschule am 27. Oktober 2010 einstimmig die
Zustimmung zur Errichtung der Gemeinschaftsschule.
Die Schulkonferenz der Realschule sprach sich am 9. November 2010 einstimmig gegen das Vorhaben aus. Sie
favorisierte eine Verbundschule, falls die Realschule in
Morsbach nicht weiter bestehen könne. „Sowohl Eltern
als auch Kollegen aus der Realschule waren gegen die Gemeinschaftsschule. Da gab es Vorbehalte gegen den Ganztag und das längere gemeinsame Lernen“, sagt Schulausschussvorsitzender Schneider. Der Zwiespalt habe dem
kleinen Ort nicht gutgetan. „Es gab eine erheblich negative Stimmung und starke Gegenwehr seitens der Realschule“, bestätigt Bürgermeister Bukowski.
Im April 2011, als es einen personellen Wechsel an der Realschule gab und die Gemeinschaftsschule kurz vor der
Gründung stand, änderte sich die Stimmung. Es wurde
ein Arbeitskreis aus Kolleginnen und Kollegen beider Schulen sowie aus Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinde gegründet. Man habe hier „intensiv gearbeitet“ und
beispielsweise über die Nutzung von Fachräumen gesprochen und die Zeiten für Busabfahrten abgestimmt, berichtet Schulleiter Greis.
Neben den Kollegien wurden auch die Eltern frühzeitig in
den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule eingebunden und im November 2010 zu dem Vorhaben be-
fragt. Mit 64,4 Prozent sprach sich die Mehrheit der Eltern der Dritt- und Viertklässlerinnen und -klässler für die
Gemeinschaftsschule aus. „Es gab eine deutliche Zustimmung und das zeigte uns, dass wir nach Meinung der
Bevölkerung auf dem richtigen Weg sind“, betont Bürgermeister Bukowski.
Gleichzeitig gab es aber auch Widerstand von einigen Eltern der Realschulkinder. Bei einem Elternabend für die
Gemeinschaftsschule seien Plakate hochgehalten worden,
auf denen stand, dass die Kinder nicht zu „Versuchskaninchen“ werden sollen, erinnert sich Bukowski. Tilman
Bieber von „Komplan“ bestätigt: „In Morsbach gab es
eine kleine Gegenbewegung, aber die war nicht übermäßig stark.“ Laut Schulleiter Greis habe das aber zur
Folge gehabt, dass die Gruppe, die sich nun in der Elternschaft der Gemeinschaftsschule engagiert, noch stärker
zusammengebracht wurde.
Dennoch hat die Auseinandersetzung zur Verunsicherung
im Ort beigetragen. Dieser ist die Gemeinde dem Bürgermeister zufolge vor allem mit Transparenz begegnet. Man
habe den Konflikt offen angesprochen und klar Position
bezogen. Er selbst habe als Bürgermeister bewusst nicht
von „Versuchsschule“ gesprochen, sondern immer von
einem „Schulversuch“, damit der Begriff positiv besetzt sei.
„Insgesamt war die Stimmung geteilt: auf der einen Seite
wollten Eltern die Gesamt- und später dann die Gemeinschaftsschule, und auf der anderen Seite standen CDU
und Realschule“, fasst Schulausschussvorsitzender Schneider zusammen. „Der Elternwille und die politische Seite
waren für die Umsetzung der Schule wichtig. Außerdem
waren wir gezwungen, etwas zu tun, um den Schulstandort zu halten und auch attraktiv für die Zukunft zu gestalten“, sagt er. Auch Schulleiter Greis betont, dass man
sich davon nicht habe irritieren lassen. „Wir haben weitergemacht. Alles andere wäre Unsinn gewesen, denn eine
gute Sache muss man unterstützen.“
Konflikte gab es auch mit der Nachbarkommune Waldbröl. „Waldbröl hatte die Befürchtung, dass die Kinder
nach Morsbach abwandern, und machte sich Sorgen um
sein Gymnasium“, erklärt Christel Schlott, schulfachliche
Dezernentin der Bezirksregierung Köln. Dabei ging es
nach Auffassung von Bürgermeister Bukowski aber auch
um die Schülerinnen und Schüler, die bisher von Morsbach nach Waldbröl zur Gesamtschule fuhren. „In Waldbröl ist man der neuen Schule mit viel Vorbehalt begegnet, sie wurde als direkte Konkurrenz angesehen“, sagt
Schulleiter Greis. Weil die Gemeinschaftsschule Morsbach im Februar 2011 zunächst mit eigener Oberstufe genehmigt wurde, reichte Waldbröl im Februar Klage beim
Verwaltungsgericht Köln ein. „Meiner Meinung nach waren die Schulen in Waldbröl nicht in ihrer Existenz gefährdet“, sagt Bürgermeister Bukowski. Aber er habe ein
44
erneutes Verfahren vermeiden wollen, weil das zu Verzögerungen geführt hätte und die Gemeinschaftsschule
eventuell zum Schuljahr 2011/2012 nicht hätte starten
können. „Der Widerstand aus Waldbröl lief ins Leere, weil
wir immer sagen konnten, die Schüler, die zukünftig die
Gemeinschaftsschule besuchen werden, sind genau die,
die in der Vergangenheit die Real- und die Hauptschule
besucht haben“, erklärt Tilman Bieber von dem Planungsbüro „Komplan“. „Es findet nur eine Umschichtung statt,
es werden keine Schüler weggenommen“, so der Schulentwicklungsplaner.
Schließlich gab es wegen der Unstimmigkeiten mit Waldbröl einen Moderationsprozess unter Federführung der
Bezirksregierung Köln. Im Laufe der Gespräche in der Bezirksregierung einigten sich die beiden Bürgermeister darauf, dass Morsbach auf die eigene Oberstufe verzichtet
und die Stadt Waldbröl im Gegenzug erlaubt, dass ihre
Schülerinnen und Schüler sich auch in Morsbach anmelden dürfen. „Ich persönlich konnte mit dem Kompromiss
gut leben, es gab bisher ja auch keine eigene Oberstufe in
Morsbach“, erklärt Bukowski. Dennoch sei die Gemeinschaftsschule ein Mehrwert, weil die Kinder bewusst auf
die Oberstufe vorbereitet werden und wegen der Kooperationsvereinbarung nach der Gemeinschaftsschule gesicherte Plätze an der Gesamtschule und dem Gymnasium
Waldbröl sowie der Reichshofer Gesamtschule haben. Der
Mehrwert sei teilweise schwer zu kommunizieren gewesen und es habe durchaus Kritik gegeben, dass letztendlich doch keine Oberstufe errichtet wurde. Insgesamt hat
der Kompromiss aber wohl zu einer „Beruhigung“ beigetragen. „Dass Morsbach auf die Sekundarstufe II verzichtet hat, war die bessere Lösung“, resümiert Schulentwicklungsplaner Bieber. „Die Errichtung einer Oberstufe in
Morsbach hätte das ganze regionale Gefüge dort ganz
schön durcheinandergebracht. Es hätte alle anderen
Kommunen geschwächt, und Morsbach hätte für das
Überleben der Schule nicht genug Schüler gehabt.“
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Das pädagogische Konzept wurde von einer Arbeitsgruppe entwickelt, die aus Lehrkräften der Gesamtschule
Reichshof sowie aus denen der beteiligten Real- und der
Hauptschule bestand. „Wir haben geschaut, was die
Haupt- und Realschule machen, und haben viel Wert darauf gelegt, diese gute Arbeit in das Konzept einzubinden“,
sagt Schneider, Vorsitzender des Schulausschusses. So
ist es beispielsweise den Vertreterinnen und Vertretern
der Haupt- und Realschulkollegien zu verdanken, dass
„lokale Gegebenheiten mit in das Konzept eingeflossen
sind“, beispielsweise die Zusammenarbeit mit der Musikschule und Theatergruppe des Ortes. Geleitet wurde die
Arbeitsgruppe von dem Schulleiter der Gesamtschule
Gummersbach-Derschlag. Er wurde von der Bezirksregierung empfohlen, von deren Seite man bei der Konzepterstellung, aber auch während des gesamten Prozesses
„klasse“ begleitet worden sei, sagt Schulleiter Greis.
Darüber hinaus habe man das Konzept von Ascheberg
„zum Teil übernommen“, sagt der Schulleiter. Man habe
aber auch darauf geachtet, die Punkte zu berücksichtigen, die für Morsbach notwendig sind, und Schwerpunkte
bei der Berufsorientierung gesetzt. „Die Hauptschule und
Realschule bereiten beide gut auf den Beruf vor. Es wäre
Unsinn gewesen, das nicht zu nutzen und einzubinden.“
Neben der Berufsorientierung ist der Gedanke „Schule
vor Ort“ der zweite Schwerpunkt des Konzepts. Beispielsweise gebe es in der ländlichen Region Kooperationen mit
ortsansässigen Vereinen und Betrieben. „Wenn man hier
im ländlichen Bereich Menschen für sich gewinnt, dann
hat man die volle Unterstützung und es gibt eine enge Zusammenarbeit“, so der Schulleiter.
Strittig sei laut Greis die Kombination der Stundentafel
mit den gymnasialen Standards gewesen. Dezernentin
Schlott beurteilt es als äußerst hilfreich, dass die zukünftige Gemeinschaftsschule eine Patenschule bekommen
hat. Außerdem habe man die Schulleitungen stets per
E-Mail und Telefon, aber auch in persönlichen Gesprächen
vor Ort und bei Informationsveranstaltungen und Fortbildungen unterstützt. „Es gab eine Rundumversorgung“,
sagt sie.
Im Februar 2011 erhielt Morsbach die Genehmigung, eine
Gemeinschaftsschule errichten zu dürfen. Einen Monat
später erfolgte der Änderungsbescheid, dass die Genehmigung einer gymnasialen Oberstufe aufgehoben wird.
Am 8. September 2011 wurden 96 Kinder an der „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Morsbach“ eingeschult. Parallel dazu nehmen die Real- und die Hauptschule keine neuen Schülerinnen und Schüler mehr auf und
laufen sukzessive aus.
45
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Morsbach noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
64,4 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Nein, einstimmig
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Ja
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
50 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Rückgang um 21,5 Prozent
Raumangebot
Reicht aus, muss um eine Mensa/Aula erweitert
werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
46
2.10 Neuenrade
Grunddaten:
geografische Lage:
Neuenrade liegt im nordwestlichen Sauerland
kreisangehörige Gemeinde im Märkischen Kreis
Einwohner: 12.400
Nachbarkommunen: Sundern (Hochsauerlandkreis),
Plettenberg, Werdohl, Altena, Hemer, Balve
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
Insgesamt: 674 Schülerinnen und Schüler
April 2010: Erste Gespräche zwischen Rat und Stadt
5. Oktober 2010: Ratsbeschluss zur Errichtung der
Gemeinschaftsschule, gleichzeitig sukzessive Schließung
der Hauptschule Gertrudenschule
9. Dezember 2010: Antrag zur Teilnahme am Schulversuch gestellt, dreizügige und inklusiv arbeitende Schule
ohne eigene Oberstufe, in Kooperation mit dem Burggymnasium Altena, am Standort der Hauptschule Gertrudenschule „Auf der Niederheide“
Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I Neuenrade“ startete zum Schuljahr
2011/2012 mit 76 Schülerinnen und Schülern
Primarstufe:
eine Grundschule
Burgschule – Gemeinschaftsgrundschule der Stadt
Neuenrade (Grundschulverbund mit einem Standort
in Altenaffeln): 500 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
eine weiterführende Schule
Gertrudenschule „Auf der Niederheide“ – Gemeinschaftshauptschule der Stadt Neuenrade: 174 Schülerinnen und Schüler
Ferner: eine Waldorfschule
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeister Klaus-Peter Sasse (CDU)
– Fraktion der CDU: 18
– Fraktion der Freien Wählergemeinschaft (FWG): 6
– Fraktion der SPD: 4
– Fraktion der FDP: 2
– Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen: 2
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
– Dierk Rademacher, Leiter des Schulverwaltungsamtes
und Stellvertreter des Bürgermeisters Klaus-Peter Sasse
– Andreas Becker (FWG), Vorsitzender des Schulausschusses
– Ulrike Schulz, Dezernentin der Bezirksregierung Arnsberg
– Astrid Tillmann, Schulleiterin
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
„Die Anmeldesituation an der Hauptschule wurde im Jahr
2010 zunehmend problematischer“, sagt Dierk Rademacher, Leiter des Schulverwaltungsamtes Neuenrade.
Wie sehr die Gemeinde unter Druck stand, macht auch
der Brief des Bürgermeisters Klaus-Peter Sasse vom
7. September 2010 an Schulministerin Sylvia Löhrmann
deutlich. Dort heißt es: „Aufgrund der perspektivlosen
Situation der Hauptschule in Neuenrade soll die Gemeinschaftsschule möglichst schon zum Schuljahr 2011/2012
ihren Betrieb aufnehmen.“ Bereits am 6. September 2010
hatte der Rat der Stadt entschieden, sich in der nächsten
Sitzung – Anfang Oktober – für die Gemeinschaftsschule
auszusprechen.
Tatsächlich kam die einzige weiterführende Schule im Ort,
die Hauptschule Gertrudenschule, im Schuljahr 2010/2011
nur noch auf 18 Anmeldungen. Und selbst diese Zahl sei
nur zustande gekommen, weil der Schulleiter sich sehr
engagiert habe, sagt Rademacher. Die meisten Kinder des
47
Ortes pendelten dagegen in die umliegenden Gemeinden
aus und nahmen meist lange Schulwege in Kauf. 835 Schülerinnen und Schüler, also rund 86 Prozent, seien es im
Jahr 2010 gewesen, sagt Rademacher.
Nach dem Regierungswechsel waren sich die Fraktionen
schnell einig: Anfang Oktober entschieden sie einstimmig,
dass die Kommune einen Antrag auf Errichtung einer Gemeinschaftsschule stellen sollte.
Diese Entwicklung war für die Kommune allerdings nichts
Neues. Drei Jahre lang habe die Verwaltung nach Lösungen gesucht, sagt Rademacher. Bis dahin ohne Erfolg.
Auch die Fraktionen des Rates hätten sich Gedanken gemacht, erinnert sich Schulausschussvorsitzender Andreas
Becker, seien aber nicht weitergekommen.
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
In dieser Situation warteten die Verantwortlichen gespannt auf die Ergebnisse der Landtagswahl im Sommer
2010, die einen Umschwung zugunsten neuer Schulformen erwarten ließ. Sobald klar war, dass es zum Regierungswechsel kommen würde, „begann man zu träumen“,
sagt Rademacher. Die Kommune engagierte Dr. Ernst
Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung
(IFS) der TU Dortmund als Berater. „Das ist eure Chance,
das müsst ihr machen“, sagte der bereits beim ersten Telefonat zu Rademacher. Sie hätten das erst gar nicht glauben können, so gut hörte sich das an, sagt der Schulfachmann. Doch so einfach sollte es dann auch wieder nicht
werden, erinnert er sich. Zur Unterstützung holte sich die
Verwaltung Achim Körbitz von der Universität Bielefeld
und den ehemaligen Gesamtschulleiter Fritz Schmid als
externe Berater. Schmid und Körbitz gaben dem Projekt
aufgrund der Kürze der Zeit wenige Chancen, erinnert
sich Rademacher. Spätestens im Dezember hätten das
Konzept und der Antrag eingereicht werden müssen. Erst
nachdem die Kommune hartnäckig an ihrem Vorhaben
festhielt („Wir wussten ja nicht, ob es das Modellvorhaben
im nächsten Jahr noch geben würde“, so Rademacher),
ließen sich die Berater auf das Experiment ein.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Auch den Ratsfraktionen war klar, dass die letzte weiterführende Schule des Ortes auslaufen würde, wenn nichts
getan werde. Sie warteten deshalb ebenso gespannt wie
die Verwaltung auf den Regierungswechsel in Düsseldorf,
der die Entscheidung bringen sollte. „Schon im April 2010
hatten wir als Fraktionen die Lage im Blick“, sagt Andreas
Becker, Vorsitzender des Schulausschusses. Auch die örtliche Wirtschaft habe sich früh in die Debatte eingeklinkt.
Der Arbeitgeberverband meldete sich bei Stadt und Rat,
um das Vorhaben zu unterstützen. „Sie haben schon
lange darauf gewartet, dass sie guten Nachwuchs direkt
aus Neuenrade bekommen würden, und unterstützten
das Projekt“, sagt Becker. Unternehmen würden sich mit
einer weiterführenden Schule vor Ort tatsächlich leichter
entscheiden, sich dort auch anzusiedeln, ist Beckers Erfahrung.
Einigkeit gab es auch bei den Lehrkräften des Ortes, die
hinter der neuen Schule standen. „Für sie stand im Vordergrund, dass es auch zukünftig noch eine weiterführende Schule im Ort gibt“, sagt Schulleiterin Astrid Tillmann.
So votierte die Schulkonferenz der Hauptschule einstimmig für die neue Schule.
Umso schwieriger sollte es mit den Eltern werden. „Wir
wollten ihnen ja eine Schule verkaufen, die es noch nicht
gibt“, sagt Schulverwaltungsamtsleiter Rademacher. Und
die Eltern waren tatsächlich skeptisch, sagt die heutige
Gemeinschaftsschulleiterin Tillmann, die zu dieser Zeit
noch eine Hauptschule in der Nachbargemeinde Hemer
leitete. Was in Neuenrade geschah, verfolgte sie jedoch
ganz genau. „Die Eltern befürchteten, dass wir nur die
Verpackung änderten, aber es eigentlich bei der Hauptschule bliebe.“ Dementsprechend wurde auf den Informationsveranstaltungen, zu denen die Stadt zwischen
November 2010 und Februar 2011 einlud, das Thema
„gymnasiale Standards“ besonders intensiv diskutiert.
Die Öffentlichkeitsarbeit von Stadt und Schule trug Früchte: Einige Eltern gründeten eine Initiative, die die Kommunikation mit der Öffentlichkeit begleitete. Die Elternbefragung, die für die Antragstellung erforderlich war und
im November 2010 stattfand, endete positiv: 81 Prozent
der Eltern der Viertklässlerinnen und Viertklässler sowie
rund 77 Prozent der Eltern der Drittklässlerinnen und
Drittklässler bekundeten Interesse an der Gemeinschaftsschule.
Pädagogische Gründe hätten viele Eltern überzeugt, und
ebenso viele seien sicherlich auch von praktischen Erwägungen geleitet worden, vermutet Ausschussvorsitzender
Becker. „Viele Kinder müssen um Viertel vor sieben das
Haus verlassen, wenn sie in die Nachbargemeinden pendeln. Mit einer Schule hier im Ort gewinnen sie mindestens eine halbe Stunde.“ Neben dem frühen Aufstehen
sind es die langen Schulwege, die man zehnjährigen Kindern ersparen könne, hieß es später auch im Konzept. Oft
würden Freundschaften aus der Grundschulzeit durch
das Pendeln in die verschiedenen Orte rasch beendet, soziale Aktivitäten vor Ort kämen zu kurz. Wenn Kinder eine
Schule in Neuenrade besuchen können, werde es für die
Eltern außerdem leichter, deren schulische Entwicklung
zu beobachten und zu unterstützen.
48
Darüber hinaus entwirft das Konzept eine Vision für das
Leben in Neuenrade. „Die Schülerinnen und Schüler der
Gemeinschaftsschule Neuenrade können in ganz anderer
Weise am Kultur- und Vereinsleben ihrer Heimatstadt teilnehmen. Auch Neuenrade wird seine Kinder und Jugendlichen wieder ganz anders erleben können.“
Schulverwaltungsamtsleiter Rademacher sagt im Rückblick: „Das ganze Verfahren war unglaublich anstrengend,
aber es war auch der größte Erfolg, den ich mir vorstellen
kann.“ Denn die Stadt überzeugte die Eltern und damit
stand der gesamte Ort hinter dem Schulversuch.
Ein Konsens konnte allerdings zunächst nicht mit allen
Nachbarkommunen hergestellt werden. Die Nachbarkommunen Lüdenscheid, Menden und Werdohl hatten keine
Einwendungen, Altena und Plettenberg hatten sich nicht
zu dem Vorhaben geäußert. Aber die Stadt Balve sprach
sich gegen das Vorhaben aus, weil sie eine Bestandsgefährdung ihrer Realschule und ihrer Hauptschule befürchtete.
Neuenrade äußerte sich dazu zunächst nicht, sondern
ließ die übergeordnete Verwaltung den Einspruch prüfen.
Das zahlte sich aus, denn das Ministerium kommt in der
Genehmigung für Neuenrade zu dem Schluss, dass die
Argumente der Stadt Balve für den Neuenrader Antrag
unbeachtlich seien. „Die Gemeinschaftshauptschule
Balve besuchen gegenwärtig über 271 Schülerinnen und
Schüler. Im aktuellen Jahrgang 5 der Hauptschule Balve
befinden sich insgesamt nur fünf Schülerinnen und Schüler aus Neuenrade. Als ursächlich für den Schülerrückgang
in der Gemeinschaftshauptschule Balve ist daher nicht
unmittelbar die Errichtung der Gemeinschaftsschule in
Neuenrade zu sehen. Vielmehr ist der allgemeine demografische Wandel sowie das geänderte Schulwahlverhalten der Eltern dafür ausschlaggebend.“ Eine Bestandsgefährdung der Schule, die zu einer Ablehnung des Antrags
der Stadt Neuenrade geführt hätte, sei somit nicht gegeben.
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Die externen Berater Schmid und Körbitz bekamen schließlich von der Stadt den Auftrag, gemeinsam mit Vertretern
der Grund- und der Hauptschule, das pädagogische Kon-
zept zu erarbeiten. Rademacher sagt: „Wir wollten nicht
einfach von den Vorreitern in Ascheberg oder Billerbeck
abkupfern, sondern unser eigenes Papier erstellen.“
Ulrike Schulz, schulfachliche Dezernentin bei der Bezirksregierung Arnsberg, musste das Konzept beurteilen und
wurde auch erst zu diesem Zeitpunkt in den Prozess miteinbezogen. Ungewöhnlich, denn normalerweise wird sie
schon vorher für Beratungen herangezogen. Nach anfänglicher Skepsis, ob es gelingen würde, Gymnasiasten und
Realschülerinnen und Realschüler für die Gemeinschaftsschule zu gewinnen, kam sie zu der Überzeugung, dass
das vorgelegte Konzept umfangreich und durchdacht
gewesen sei. Es sah integrierten Unterricht und einen gut
rhythmisierten Ganztag vor. Dass der ehemalige Gesamtschulleiter Schmid mit in die Konzeptentwicklung eingebunden worden war, fand Schulz besonders hilfreich. Denn
ihrer Erfahrung nach müssten „besonders Menschen, die
noch nie im integrierten System gearbeitet haben, umdenken“. Das fange beispielsweise bei der Rhythmisierung
im Ganztag an. So sei es etwa nicht empfehlenswert, vormittags nur „harte“ Fächer und nachmittags nur Sport zu
unterrichten. Das Konzept bekam schließlich grünes Licht
von der Bezirksregierung. Währenddessen kümmerte sich
die Stadt um die Raumsituation und konnte auf Bestehendes zurückgreifen. Die neue Schule sollte das Gebäude
der Hauptschule bekommen, auf deren Gelände sich bereits drei Turnhallen, eine Bibliothek, ein Jugendzentrum
und ein Schwimmbad befanden. Nur die Mensa musste
neu eingerichtet werden.
Auch wenn anfangs alle Berater skeptisch waren, hat
Neuenrade alle Hürden genommen. Die „Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I Neuenrade“ wurde im Januar
2011 genehmigt und startete zum Schuljahr 2011/2012
mit 76 Schülerinnen und Schülern. Parallel dazu nimmt
die Hauptschule keine neuen Kinder mehr auf und läuft
sukzessive aus. Die Anmeldezahlen, die die Stadt vorlegte, zerstreuten sogar die letzten Bedenken bezüglich der
Heterogenität. „Heute hat die Schule 30 Anmeldungen
mit Gymnasialempfehlung, zehn mit Hauptschulempfehlung und 28 mit Empfehlung zur Realschule“, stellt Dezernentin Ulrike Schulz fest.
49
In der folgenden Tabelle sind die relevanten Faktoren für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Neuenrade noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
79 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, einstimmig
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Realschule nicht vorhanden
Externe pädagogische Experten
Ja
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
86 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung bis zum Jahr 2015/2016 (in Prozent)
Rückgang um 11,3 Prozent
Raumangebot
Reicht aus, eine Mensa wurde nachträglich
eingerichtet
Konsens mit Nachbarkommunen
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Beteiligte Schulformen
Hauptschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
50
2.11 Rheinberg
Grunddaten:
geografische Lage:
Rheinberg liegt am unteren Niederrhein im Nordwesten des Ruhrgebiets
mittlere kreisangehörige Stadt des Kreises Wesel
Einwohner: 32.242
Nachbarkommunen: Alpen, Kamp-Lintfort, Moers,
Voerde, Wesel, Dinslaken, Duisburg
Schülerzahlen und Schulangebot im Schuljahr
2010/2011:
– Fraktion der FDP: 4
– Fraktion Die Linke: 2
Insgesamt: 3.330 Schülerinnen und Schüler
Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner:
Primarstufe:
– Hans-Theo Mennicken (parteilos), Bürgermeister
– Barbara Ettwig (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzende
des Schulausschusses
– Heinz Gniostko, Dezernent der Bezirksregierung
Düsseldorf
– Norbert Giesen, Schulleiter
sechs Grundschulen, an sieben Standorten: 1.242
Schülerinnen und Schüler
GGS Borth-Wallach: 286 Schülerinnen und Schüler
GGS Millingen: 160 Schülerinnen und Schüler
GGS Rheinberg, Standort Grote Gert: 115 Schülerinnen und Schüler
GGS Rheinberg, Standort Schulstraße: 171 Schülerinnen und Schüler
KGS St. Peter: 169 Schülerinnen und Schüler
Lindenschule Budberg: 203 Schülerinnen und Schüler
GGS Orsoy: 138 Schülerinnen und Schüler
Sekundarstufe:
zwei weiterführende Schulen in einem Schulzentrum und
eine an einem weiteren Schulstandort: 2.023 Schülerinnen und Schüler
Realschule Rheinberg: 660 Schülerinnen und Schüler
Hauptschule Rheinberg: 264 Schülerinnen und Schüler
Amplonius-Gymnasium: 1.099 Schülerinnen und
Schüler
Ferner: Maria-Montessori-Schule, Förderschule Rheinberg: 65 Schülerinnen und Schüler
Ratszusammensetzung
(Stand: 22. Dezember 2010):
– Bürgermeister Hans-Theo Mennicken (parteilos)
– Fraktion der CDU: 18
– Fraktion der SPD: 13
– Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen: 7
Daten zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule:
September 2010: Kommunale Schulentwicklungskonferenz, Vorstellung der neuen Schulform auf der Schulkonferenz und in der Schulpflegschaft, Beratungsgespräch in der Bezirksregierung Düsseldorf
Oktober 2010: Gründung der Arbeitsgruppe mit dem
Ziel, ein pädagogisches Konzept zu erstellen
Dezember 2010: Abschließende Voten der beteiligten
Schulkonferenzen und Fertigstellung des pädagogischen
Konzepts
13. Dezember 2010: Antrag auf Teilnahme am Schulversuch, sukzessive Auflösung der Rheinberger Gemeinschaftshauptschule und der Realschule Rheinberg
15. Dezember 2010: Ratsbeschluss zur Errichtung einer
sechszügigen, inklusiv arbeitenden Gemeinschaftsschule
mit eigener Oberstufe, an einen Standort, dem Schulzentrum Rheinberg
Januar 2011: Genehmigung; die „Gemeinschaftsschule
der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II Rheinberg“
startete zum Schuljahr 2011/2012 mit 160 Schülerinnen
und Schülern
51
Vorgeschichte und kommunale Schulentwicklungsplanung:
Die ländlich strukturierte Stadt Rheinberg ist auch von
der stetig sinkenden Geburtenrate betroffen. Durch immer
weniger Schülerinnen und Schüler wird es der Stadt erschwert, ein vielfältiges Schulangebot vor Ort zu erhalten.
Vor allem die Hauptschulen verzeichneten stark rückläufige Schülerzahlen. 2007 musste die Gemeinschaftshauptschule Borth aufgelöst werden. Die verbleibende Hauptschule Rheinberg wurde im Schuljahr 2010/2011 von 264
Schülerinnen und Schülern besucht und nur noch mit einer Klasse pro Jahrgang geführt. Die prognostizierte Übergangsquote in die fünfte Klasse der Hauptschule beträgt
laut Antragsunterlagen nur noch knapp sieben Prozent.
Aber nicht nur die Hauptschulen hatten unter zurückgehenden Schülerzahlen zu leiden, auch die Anmeldezahlen
an der Realschule haben sich seit dem Schuljahr 2006/2007
von 821 auf 660 Schülerinnen und Schüler zurückentwickelt. Nach der Schulentwicklungsplanung werden sie
bis zum Schuljahr 2015/2016 um circa weitere 100 Schülerinnen und Schüler abnehmen. Das benachbarte Amplonius-Gymnasium hingegen ist fünfzügig und wird voraussichtlich auch noch bis zum Schuljahr 2015/2016 entsprechend nachgefragt.
Neben der sinkenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern gibt es in Rheinberg schon seit mehreren Jahren mit
etwa 25 Prozent eine hohe Auspendlerquote der Jugendlichen in benachbarte Kommunen. Im Jahr 2010 wanderten von den 316 Viertklässlerinnen und Viertklässlern der
Rheinberger Grundschulen 81 Kinder zu auswärtigen
Schulen. Die Auspendlerinnen und Auspendler besuchen
vor allem Gesamtschulen mit einem G9-Bildungsgang,
etwa in Kamp-Lintfort oder Moers, oder Schulen mit besonderen Angeboten, wie zum Beispiel die katholische
Mädchenrealschule in Xanten. Einige wählen deswegen
die nächstgelegene Schule, weil sie nah an den Ortsgrenzen wohnen. Unter den Auspendlerinnen und Auspendlern sind viele Realschülerinnen und Realschüler, die die
Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe haben. „Rund
65 Prozent der Realschülerinnen und Realschüler erreichen regelmäßig diesen Abschluss, und von denen gehen
fast alle auf die Oberstufen in den Nachbargemeinden“,
sagt Norbert Giesen, früher Leiter der Realschule Rheinberg und derzeitiger Direktor der Gemeinschaftsschule.
Aus diesen Gründen wurde in Rheinberg bereits vor Jahren eine kommunale Schulentwicklungskonferenz aus
Schul- und Verwaltungsexperten einberufen, die ein vielfältiges und zukunftsfähiges Schulmodell für die Stadt
entwickeln sollte. „Dass etwas passieren muss, ist schon
vor dem Modellprojekt Gemeinschaftsschule klar gewesen“, sagt Bürgermeister Hans-Theo Mennicken. Mit dieser Ausgangssituation fiel der Schulversuch „Längeres
gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ in Rheinberg auf fruchtbaren Boden.
„Die Bedingungen hier waren ideal“, bestätigt Barbara
Ettwig, Vorsitzende des Schulausschusses. Zum einen
konnten die Gebäude der Haupt- und Realschule sowie
die Mensa, die schon auf einem Gelände standen, weiter
genutzt werden, und zum anderen hätten die Lehrkräfte
bereits Erfahrungen mit den geforderten Konzepten gehabt. So arbeiteten sie beispielsweise seit längerer Zeit
inklusiv, förderten individuell und unterrichteten im Ganztag. Darüber hinaus seien die Menschen ausschlaggebend gewesen: Verwaltung und Lehrerkollegien waren
neuen Ideen gegenüber sehr aufgeschlossen, berichtet
Ettwig.
Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Um den Antrag auf Errichtung einer Gemeinschaftsschule
stellen zu können, mussten sich die Befürworter der Gemeinschaftsschule die politische Mehrheit im Rat der
Stadt sichern. Während sich die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke unmittelbar einig waren und das Vorhaben unterstützten, gab es Diskussionen
in den Fraktionen von FDP und CDU.
Die CDU-Ratsmitglieder argumentierten laut des entsprechenden Protokolls in der Schulausschusssitzung am
7. Dezember 2010, dass „zwei miteinander konkurrierende
Schulsysteme“ mit gymnasialer Oberstufe, also das G8Amplonius-Gymnasium und die G9-Gemeinschaftsschule, „nicht förderlich für eine gesunde Schullandschaft“
seien. Außerdem hatten die Vertreter der CDU Bedenken,
dass der Unterricht nach gymnasialen Standards nicht
für alle Kinder einer fünften Klasse geeignet sei, heißt es
in dem Protokoll weiter. Eine Binnendifferenzierung sei
„äußerst schwierig durchzuführen“, fand die CDU-Fraktion. Darüber hinaus stellte sie die Frage, warum eine gut
funktionierende Realschule aufgegeben werden sollte.
Die Beibehaltung der Realschule bei gleichzeitiger Zusammenlegung mit der Hauptschule zu einer Verbundschule
kam in Rheinberg nicht infrage, obwohl die beiden Schulen bereits seit 1972 unter einem Dach beheimatet sind.
„Das wäre keine Lösung für uns gewesen“, sagt Bürgermeister Mennicken und erklärt: „Denn wenn die Hauptschule gestorben wäre, wäre damit auch gleich die ganze
Verbundschule aufzulösen gewesen und man hätte von
vorne anfangen müssen.“ Darüber hinaus hätte sich durch
die Verbundschule auch nichts daran geändert, dass viele
Jugendliche wegen des G9-Bildungsgangs in die Nachbarkommunen auspendeln.
Die entscheidende Ratssitzung zur Gemeinschaftsschule
fand im Dezember 2010 statt. „Die breite Zustimmung
der Eltern zur Gemeinschaftsschule hat die FDP-Fraktion
schließlich überzeugt und auch sie stimmte dem Antrag
zu“, sagt Bürgermeister Mennicken. Die Christdemokraten hingegen beschlossen, mit Nein zu stimmen. Schließlich kam eine Mehrheit im Rat durch den parteilosen Bürgermeister Mennicken und die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Die Linke zustande.
52
Regionale Abstimmungsprozesse und Verfahren
der Konsensbildung:
Die konkreten Planungen für die Gemeinschaftsschule in
Rheinberg begannen im Spätsommer 2010. Schulleiter
Giesen und sein Kollege Heiner Morsch, Leiter der Hauptschule, sprachen im September 2010 zunächst mit ihren
Kollegien. In den kommenden Wochen folgten Gespräche
mit dem zuständigen Dezernenten der Bezirksregierung
Düsseldorf und dem Schulministerium. Parallel wurde die
Einführung einer Gemeinschaftsschule in den Ausschüssen und Gremien der Stadt diskutiert.
Beide Schulkonferenzen haben sich letztendlich mehrheitlich für die Gemeinschaftsschule ausgesprochen. Während es in der Schulkonferenz der Hauptschule neun
Jastimmen und zwei Enthaltungen gab, befürworteten die
Mitglieder der Schulkonferenz der Realschule die Gemeinschaftsschule einstimmig. Die Lehrkräfte waren sich einig,
dass die Gemeinschaftsschule eine eigene G9-Oberstufe
bekommen sollte. Sie wollten sie auf die Real- und Hauptschule aufsatteln, um konkurrenzfähig zu werden, betont
Direktor Giesen. Damit würde die Gemeinschaftsschule
attraktiv werden für die offenbar zahlreichen (auspendelnden) Jugendlichen, für die gymnasiale Standards wichtig
sind und die ihr Abitur erst nach 13 Jahren ablegen wollen.
Eine solche Oberstufe würde die Schullandschaft bereichern und dem Amplonius-Gymnasium mit seinem G8-Bildungsgang keine Konkurrenz machen, so die Position der
Schulleiter.
Auch Heinz Gniostko, schulfachlicher Dezernent in der
Bezirksregierung Düsseldorf, beschreibt die Stimmung in
den Kollegien als sehr konstruktiv. Anfangs habe es auch
Ängste gegeben, wie das häufig bei tief greifenden Veränderungen der Fall sei. Die Lehrerinnen und Lehrer hätten
vor allem Fragen beschäftigt wie beispielsweise: Wer kann
in der Schule mitarbeiten? Wer bleibt an den auslaufenden Schulen? Wer wird die Leitung übernehmen? Die
Schulaufsicht der Bezirksregierung Düsseldorf hat diese
Unsicherheiten aufgefangen, indem sie die Lehrkräfte intensiv mit in den Prozess eingebunden hat, an Lehrerkonferenzen teilgenommen hat und für Fragen zur Verfügung
stand.
Darüber hinaus hat die Bezirksregierung der Schule zur
Unterstützung ein Team von Schulentwicklungsberaterinnen und Schulentwicklungsberatern zur Verfügung gestellt, die die Lehrkräfte coachen und ihnen Supervision
anbieten. Gniostko: „Schulentwicklungsprozesse werden
meist von Menschen mit vielen sprühenden Ideen vorangetrieben. Es muss verhindert werden, dass die Lehrkräfte ausbrennen.“ Stattdessen gelte es, die Lehrkräfte zu
begleiten und zu unterstützen.
Neben den Kollegien wurden auch die Eltern in den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule eingebunden.
Im November 2010 wurde eine schriftliche Befragung von
620 Eltern zum Modellvorhaben von der Verwaltung durchgeführt, deren Kinder die dritten und vierten Klassen der
Rheinberger Grundschulen besuchen. Insgesamt sprach
sich die Mehrheit der Eltern für die Gemeinschaftsschule
aus. Schulleiter Giesen sagt: „Viele Eltern entschieden
sich für die Gemeinschaftsschule, weil die Kinder ein Jahr
mehr Zeit zum Abitur haben als im G8-Bildungsgang.“
In Rheinberg wurde großer Wert darauf gelegt, die Eltern
von Beginn an mit in die Planungen einzubeziehen.
Gniostko sagt: „Neben den Lehrkräften ist es wichtig, die
Eltern als Partner zu beteiligen.“ Auch auf ihrer Seite
habe es Sorgen und Ängste gegeben. Sie wollten vor allem
verhindern, dass ihre Kinder zu „Versuchskaninchen“ werden. Um diese Befürchtungen aufzufangen und zu entkräften, konnten die Eltern beispielsweise in der Steuergruppe und in Workshops mitarbeiten, deren Ergebnisse
ins Schulkonzept einflossen. Diese Entwicklungen und die
gemeinsame Arbeit von Eltern und Fachleuten wurden
ständig kommuniziert, zum Beispiel über die Schulhomepage. Gniostko erklärt: „Beteiligung und Transparenz sind
von großer Bedeutung. Meine Erfahrung als Schulentwickler ist, dass solch ein Prozess nur funktionieren kann,
wenn alle Betroffenen beteiligt werden.“
Das betrifft auch die Nachbarkommunen. Wie im Antrag
für die Gemeinschaftsschule vorgesehen, informierte
Rheinberg mit einem Schreiben am 8. November 2011
auch die Nachbarkommunen Alpen, Kamp-Lintfort,
Moers, Wesel und Xanten über das Modellvorhaben der
Gemeinschaftsschule und bat sie um Stellungnahme. Bis
auf die Gemeinde Alpen waren alle Nachbarkommunen
mit der Einführung der Gemeinschaftsschule einverstanden und hatten keine Bedenken. Alpen fürchtete um
seine Schulstandorte, wenn die Auspendlerinnen und
Auspendler aus Rheinberg fernblieben oder einige Alpener Kinder gegebenenfalls zur Gemeinschaftsschule
nach Rheinberg abwandern würden. Deshalb bat die Gemeinde darum, das Projekt aufzuschieben.
Es stellte sich jedoch heraus, dass die Alpener Schwierigkeiten wenig mit den Rheinberger Kindern zu tun hatten.
In ihrer Begründung für die Genehmigung des Antrags
schreibt das Schulministerium im Januar 2011: „Mit einer
Bestandsgefährdung der Schulen in Alpen aufgrund der
Gründung der Schule in Rheinberg ist jedoch nicht zu
rechnen.“ Laut dem Schreiben besuchen lediglich drei
Kinder aus Rheinberg die fünfte Klasse der Hauptschule
in Alpen, und nur vier Schülerinnen und Schüler die
Klasse 5 der Realschule. Auch wenn die Hauptschule Alpen einzügig geführt werde, werde sie nicht unter die
Mindestgröße einer einzügigen Hauptschule fallen, wenn
Kinder aus Rheinberg ausbleiben. Gleiches gelte für die
Realschule.
Um die Sorgen der Nachbarn zu berücksichtigen, versprach Rheinberg, bei der weiteren Schulentwicklung eng
mit den Nachbargemeinden zu kooperieren.
53
Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzepts:
Das pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschule
wurde im Oktober 2010 innerhalb von nur drei Wochen
erarbeitet, nachdem eine spezielle Arbeitsgruppe mit Lehrkräften der beteiligten Schulen gegründet wurde. Das war
möglich, weil man dabei auf der bisherigen pädagogischen
Arbeit aufbauen und auf Konzepte der Haupt- und der
Realschule als Vorbilder zurückgreifen konnte.
Individuell gesteuertes Lernen, Ganztagsunterricht, Neigungsdifferenzierung und sogenannte Klassenlehrerstunden waren kein Neuland für die Kollegien. Bereits im
Juli 2011 wurde die Realschule Rheinberg für ihre pädagogische Leistung mit dem „Gütesiegel Individuelle Förderung“ ausgezeichnet und die Hauptschule arbeitete seit
Jahren erfolgreich inklusiv. Gniostko bestätigt: „Die Rheinberger sahen die Heterogenität im Unterricht, die in den
Gemeinschaftsschulen obligatorisch ist, nicht als Problem an, sondern als Chance, weil das sowieso schon ihr
Ansatz war.“ Externe Experten wurden bei der Erstellung
des pädagogischen Konzepts nicht hinzugezogen.
Im Januar 2011 erhielt die Stadt Rheinberg die Genehmigung, die Gemeinschaftsschule errichten zu dürfen. Am
7. September 2011 wurde die „Gemeinschaftsschule der
Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II Rheinberg“ eingeweiht, die im Schuljahr 2011/2012 von 160 Kindern besucht wurde. Parallel dazu nehmen Realschule und Hauptschule keine neuen Schülerinnen und Schüler mehr auf
und laufen sukzessive aus.
Dass ein breiter Konsens für die Umsetzung der Gemeinschaftsschule wichtig ist, betonen Bürgermeister
Mennicken ebenso wie Dezernent Gniostko. Ausgehend
von der demografischen Entwicklung, dem Wunsch der
Eltern nach einem G9-Bildungsgang sowie den hohen
Auspendlerquoten in die Nachbarkommunen hat sich der
Bürgermeister selbst an die Spitze der Reformer gesetzt
und zahlreiche Gespräche angestoßen, erklärt Gniostko.
Die starke Wirkung des Engagements des Bürgermeisters
betonen auch Schulleiter Giesen und die Schulausschussvorsitzende Ettwig. Der Kontakt unter den Beteiligten sei
sehr eng gewesen, was vor allem im Hinblick auf die sehr
kurze Antragszeit von Vorteil gewesen wäre. Die Konsensfindung reichte über Rheinberg hinaus in die Nachbarkommunen, sodass mit der Gemeinde Alpen, die das Vorhaben zuerst kritisch betrachtete, ein Kompromiss gefunden werden konnte. Heute plant die Gemeinde Alpen sogar, die zukünftigen Oberstufenschüler ihrer Sekundarschule künftig auf die Gemeinschaftsschule Rheinberg zu
schicken.
Die Präsenz der Bezirksregierung vor Ort sorgte dafür,
dass Bedenken der Lehrkräfte und der Eltern ausgeräumt
werden konnten. Nicht zuletzt überzeugte die pädagogische Arbeit, die schon vorher an der Real- und der Hauptschule in Rheinberg geleistet wurde und aufgrund derer
man sich schnell auf ein pädagogisches Konzept einigen
konnte. Schulleiter Giesen sah und sieht darin eine große
Möglichkeit. „Die Gemeinschaftsschule hat uns die
Chance gegeben, eine Reformschule zu werden und viele
Dinge zu erneuern.“
In der folgenden Tabelle sind die für den Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule in Rheinberg relevanten
Faktoren noch einmal zusammengefasst:
Elternumfrage
56,52 Prozent Zustimmung
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Ja, mehrheitlich
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Ja, einstimmig
Externe pädagogische Experten
Nein
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Nein
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften
Jahrgang im Schuljahr 2010/2011
25,63 Prozent
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Anstieg um 2,60 Prozent
Raumangebot
Muss für die Oberstufe erweitert werden
Konsens mit Nachbarkommunen
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Beteiligte Schulformen
Hauptschule und Realschule
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Nein
54
3. Interview mit dem Schulberater und Gesamtschulleiter Alois Brinkkötter
zum Entstehungsprozess
der Gemeinschaftsschulen
in Nordrhein-Westfalen
Nachdem in dem vorangegangenen Kapitel näher auf die
Entstehungsprozesse der einzelnen Kommunen und Gemeinschaftsschulen eingegangen wurde, folgt nun ein Interview mit Alois Brinkkötter, dem Leiter der Fritz-WinterGesamtschule in Ahlen. Als pädagogischer Experte hat er
mehrere Kommunen beraten.
Zur Person:
Alois Brinkkötter
Geboren am 12. Mai 1956 in Emsdetten
Studium der Sekundarstufen I und II
(Fächer: Mathematik und Katholische Religionslehre)
Seit dem 1. Juli 2003 Schulleiter der Fritz-WinterGesamtschule in Ahlen
Ausgewählte berufliche Stationen:
31. Juli 1991 bis 4. Mai 2000: Mitglied der Fachkommission zur Curriculumentwicklung „Katholische
Religionslehre – Sekundarstufe I“
Seit Dezember 1996: Vorsitzendes Mitglied für Erste
Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen in Münster
Seit August 2003: Vorsitzendes Mitglied für Zweite
Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen in Nordrhein-Westfalen
Seit Dezember 2006: Arbeit in pädagogischen Planungsgruppen zur Errichtung von Gemeinschafts-,
Sekundar- und Gesamtschulen (unter anderem
Schöppingen-Horstmar, Ascheberg, Schalksmühle,
Werl und Telgte) mit zahlreichen Informationsveranstaltungen zu diesem Themenbereich
1. Welche Rolle haben Sie bei dem Schulversuch
„Gemeinschaftsschule“ gespielt?
Meine zentrale Rolle war, dass ich meine umfangreichen,
fast 25-jährigen Erfahrungen aus der Arbeit in einem integrierten Schulsystem, der Gesamtschule, in die Entwicklung pädagogischer Konzepte für die Gemeinschaftsschule einbringen konnte.
Dabei war es nie mein Ziel, die Gesamtschule eins zu eins
zu übertragen, sondern ein Schulkonzept zu entwickeln,
das erstens aktuelle schulpädagogische Bemühungen berücksichtigt, also das Konzept einer Schule der Wertschätzung, der Vielfalt und der individuellen Förderung, einer
Schule mit Kompetenz- und Leistungsanforderungen,
einer Schule als Gemeinschaft und als lernende Schule zu
erarbeiten. Zweitens sollten sich die Stärken der Schulen
vor Ort, in der Regel waren das Haupt- und Realschulen,
im neuen Konzept wiederfinden, sodass zum Beispiel angeknüpft werden kann an ein von der Hauptschule differenziert ausgearbeitetes Konzept der Berufsorientierung.
Drittens sollte die neue Schule standortspezifisch ausgestaltet sein, also beispielsweise mit einem MINT-Profil, weil
die Wirtschaft vor Ort genau die damit verbundenen Kompetenzen unterstützen und abschöpfen kann. Und viertens
sollte das neue Schulkonzept maximale Zustimmung aller
Beteiligten erreichen.
Konkret gestaltete sich diese Arbeit in regelmäßigen Arbeitskreissitzungen, in denen um ein pädagogisches Konzept gerungen wurde, und in der die Ebenen Politik und Verwaltung durch regelmäßige Informationen und auch durch
Bildungsreisen für alle Beteiligten einbezogen wurden, um
durch neue Erfahrungen neue Sichtweisen zu ermöglichen.
So gesehen war meine Rolle die eines Kommunikators zwischen allen Beteiligten auf dem Weg zu einem zukunftsweisenden, pädagogischen Konzept einer Gemeinschaftsschule.
2. Welche Rahmenbedingungen waren Ihrer Meinung nach im Jahr 2010 für Schulen und Kommunen wichtig, damit eine Gemeinschaftsschule entstehen konnte?
An erster Stelle würde ich den Zeitfaktor nennen. Um ein
solches Konzept auf den Weg bringen zu können, bedarf es
einer geraumen Vorlaufzeit. Die Gemeinschaftsschule gab
es in Nordrhein-Westfalen 2010 noch nicht. Es gab noch
nicht einmal ein pädagogisches Konzept. Ja, es war sogar
55
bis dato unklar, wie ein solches pädagogisches Konzept gestaltet sein sollte. So viele Unsicherheiten schaffen nicht
unbedingt Vertrauen. Überzeugungsarbeit war auf fast
allen Ebenen zu leisten und die braucht Zeit, viel Zeit. In
Ascheberg begann der Prozess beispielsweise schon im
März 2008, die erste Arbeitsgruppensitzung fand am
12. Juni 2008 statt. Der erste Schultag der Profilschule war
der 7. September 2011. Die intensive Phase der Konzeptarbeit dauerte gut zwei Jahre. In dieser Zeit ist es gelungen,
ein tragfähiges Konzept zu erstellen, das den Anforderungen des Genehmigungsverfahrens durch das Schulministerium genügen konnte.
Natürlich waren auch die ausgesprochen bescheidenen Anmeldezahlen an den Hauptschulen ein wesentlicher Anstoß
für das Nachdenken über neue Schulstrukturen. Aber dieser Umstand, für sich genommen, hat noch nicht die Gemeinschaftsschule auf den Weg gebracht. Nur der erklärte
Wille und die offene Bereitschaft, aus dem Scheitern der
Hauptschule als Teil eines gegliederten und auf Selektion
beruhenden Systems zu lernen und sich auf etwas Neues
einzulassen, haben den Weg frei gemacht für die Gemeinschaftsschule.
3. Wenn man mal von den formalen Bedingungen
absieht: Welche Voraussetzungen erfüllen aus
Ihrer Sicht die Kommunen, die erfolgreich Gemeinschaftsschulen etabliert haben?
Ich glaube, dass von einem parteiübergreifenden Konsens
vor Ort eine ausgesprochen positive Ausstrahlung ausgeht.
Viele Eltern sind die jahrelang geführten Strukturdebatten
über Schule leid und wünschen sich Orientierung. Sie
wollen jedoch auch mit ihren Sorgen und Ängsten ernst genommen werden. Deshalb ist eine umfassende Information
der Eltern über das Konzept der Gemeinschaftsschule, wie
es vor Ort realisiert werden soll, über das Prozedere der
Schulgründung und alle weiteren Vorgehensweisen ausgesprochen wichtig. Und die Eltern wollen ein Mitspracherecht. Die Elternbefragung darf deshalb auch nicht als rein
formale Notwendigkeit gesehen werden, sondern als echter
Prüfstein für die weitere Entwicklung in der Schullandschaft vor Ort.
4. Sie haben eine ganze Reihe von Entwicklungsprozessen begleitet. An welchen Stellen im Prozess hakte es nach Ihrer Einschätzung bei den
Kommunen?
Nicht jede Kommune wünscht sich eine risikoreiche Vorreiterrolle. Man wiegt sich in Sicherheit, weil die Anmeldezahlen an den eigenen Schulen vor Ort noch stabil sind, und
möchte zunächst einmal die Entwicklung der neuen Schulform abwarten. Ob diese zögerliche Grundhaltung empfehlenswert ist, möchte ich bezweifeln. Nicht selten steht diese Grundhaltung auch in enger Verbindung mit dem Wunsch,
die vorhandenen Schulen, die jahrelang gute Arbeit geleistet haben, zu bewahren. Das ist gut nachvollziehbar, ob da-
mit aber den Mädchen und Jungen vor Ort die bestmöglichen Bildungschancen geboten werden, bezweifle ich.
5. Und wo hakte es bei den Schulen?
Die Schulen sind ja zumeist nicht die Initiatoren des Schulentwicklungsprozesses. Die Verantwortung liegt eindeutig
beim Schulträger. Hauptschulen tun sich in der Regel nicht
schwer mit der möglichen Veränderung in Richtung Gemeinschaftsschule. Bei den Realschulen ist das schon anders. Ihre Anmeldesituation ist meist auch noch nicht so
problematisch. Es bedarf schon einer gewissen Weitsichtigkeit, um die Schulform, an der man jahrelang aus Überzeugung gearbeitet hat, aufzugeben für eine Gemeinschaftsschule, die noch keine mindestens sechsjährige Erfolgsbilanz in Nordrhein-Westfalen aufweisen kann. Und für die
Kolleginnen und Kollegen ist auch nicht sicher, ob und
wann sich ihr Einsatz für die neue Schule durch eine Versetzung an diese auszahlt. Es gibt also viele nachvollziehbare Gründe für eine Zurückhaltung an den Schulen.
6. Einige Gründungsprozesse sind gescheitert.
Woran lag das Ihrer Ansicht nach?
Da muss man eindeutig sagen, dass es zwei zentrale Gründe gegeben hat: zum einen durch entsprechende Urteile
des Oberverwaltungsgerichts Münster und zum anderen
durch mangelnden Zuspruch vonseiten der Eltern, sodass
die Mindesthürde der Anmeldezahl nicht erreicht worden
ist. Auf die Rechtsprechung hat das Ministerium unmittelbar reagiert. Die zu geringen Anmeldezahlen resultieren
zum einen aus der an einigen Standorten sehr hohen Übergangsquote zum Gymnasium, sodass von der Gesamtzahl
der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs für die Gründung einer Gemeinschaftsschule nicht genügend übrig
bleiben. Zum anderen hat es heftige Diskussionen vor Ort
über die neue Schulform gegeben, die Betroffenen fühlten
sich nicht gut informiert und erst recht nicht mitgenommen. Das Vertrauen in die neue Schulform ist also erst gar
nicht entstanden und deshalb scheiterte das Vorhaben.
7. Wie beurteilen Sie die Entwicklungsmöglichkeiten der Gemeinschaftsschulen nach Auslaufen
des Schulversuchs?
Zunächst einmal sollte die Entwicklung der Gemeinschaftsschule kontinuierlich begleitet und wissenschaftlich ausgewertet werden. Mit der Sekundarschule haben wir inzwischen eine neue Schulform, die eine große Ähnlichkeit zur
Gemeinschaftsschule haben kann, und so hoffe ich, dass
die positiven Erfahrungen mit dem Schulversuch „Längeres
gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ auf die
Sekundarschulen übertragen werden können.
Ja, einstimmig
Enthaltung, mehrheitlich
Ja
Ja
Rund 64 Prozent
Rückgang um rund
15 Prozent
Musste erweitert werden
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Hauptschule
und Realschule
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Externe pädagogische Experten
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften Jahrgang
im Schuljahr 2010/2011
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung
vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Raumangebot
Konsens mit Nachbarkommunen
Beteiligte Schulformen
Ja
Mehr als 75 Prozent
Zustimmung
Elternumfrage
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ascheberg
Relevante Faktoren für den Entstehungsprozess
Ja
Hauptschule
und Realschule
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Ausreichend
Rückgang um 2,6 Prozent
42,9 Prozent
Nein
Ja
Ja, mehrheitlich
Ja, mehrheitlich
76 Prozent Zustimmung
Billerbeck
Nein
Hauptschule
und Realschule
Keine Abstimmung nötig, weil
Nachbarkommunen wegen der
Lage im Stadtzentrum nicht
betroffen sind
Ausreichend
Rückgang um 8 Prozent
Fällt wegen der Größe
der Stadt weg
Nein
Nein
Ja, mehrheitlich
Ja, mehrheitlich
47 Prozent Zustimmung
Bochum
56
4. Vergleichende Gesamtübersicht
Ja, mehrheitlich
Ja, mehrheitlich
Ja
Ja
50 Prozent
Rückgang um 25 Prozent
Umbauten nötig, musste um
eine Mensa erweitert werden
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Hauptschule
und Realschule
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Externe pädagogische Experten
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften Jahrgang
im Schuljahr 2010/2011
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung
vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Raumangebot
Konsens mit Nachbarkommunen
Beteiligte Schulformen
Ja
60 Prozent Zustimmung
Elternumfrage
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Burbach
Relevante Faktoren für den Entstehungsprozess
Ja
Hauptschule
und Realschule
Ja, von Anfang an
Musste um eine Mensa
erweitert werden
Rückgang um 10,6 Prozent
50,3 Prozent
Ja
Ja
Nein, mehrheitlich
Ja, einstimmig
62,5 Prozent Zustimmung
Kalletal
Nein
Hauptschule
Keine Abstimmung nötig, weil
Nachbarkommunen wegen der
Lage im Stadtzentrum nicht
betroffen sind
Ausreichend
Anstieg um rund 10 Prozent
Fällt wegen der Größe
der Stadt weg
Nein
Nein
Keine Realschule beteiligt
Ja, einstimmig
52,5 Prozent Zustimmung
Köln – Ferdinandstraße
57
Köln – Wuppertaler
Straße
52,5 Prozent Zustimmung
Ja, einstimmig
Keine Realschule beteiligt
Nein
Nein
Fällt wegen der Größe
der Stadt weg
Anstieg um rund
10 Prozent
Muss sukzessive
erweitert werden
Keine Abstimmung nötig,
weil Nachbarkommunen
wegen der Lage im Stadtzentrum nicht betroffen sind
Hauptschule
Nein
Relevante Faktoren für den Entstehungsprozess
Elternumfrage
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Externe pädagogische Experten
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften Jahrgang
im Schuljahr 2010/2011
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung
vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Raumangebot
Konsens mit Nachbarkommunen
Beteiligte Schulformen
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Ja
Verbundschule
Ja, von Anfang an
Muss erweitert werden
Rückgang um 4 Prozent
45 Prozent
Nein
Nein
Ja, einstimmig
Ja, einstimmig
67 Prozent Zustimmung
Langenberg
Ja
Hauptschule und Realschule
Ja, von Anfang an
Muss um eine Mensa
erweitert werden
Rückgang um 8,6 Prozent
55 Prozent
Nein
Ja
Ja, mehrheitlich
Ja, mehrheitlich
85 Prozent Zustimmung
Lippetal
58
Ja, einstimmig
Nein, einstimmig
Ja
Ja
50 Prozent
Rückgang um 21,5 Prozent
Reicht aus, muss um eine
Mensa/Aula erweitert werden
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Hauptschule
und Realschule
Votum der Schulkonferenz der Hauptschule
Votum der Schulkonferenz der Realschule
Externe pädagogische Experten
Externe Experten für Schulentwicklungsplanung
Auspendlerquote, bezogen auf den fünften Jahrgang
im Schuljahr 2010/2011
Prognostizierte Veränderungen der Schülerzahlen
des fünften Jahrgangs nach der Schulentwicklungsplanung
vom Schuljahr 2010/2011 bis 2015/2016
Raumangebot
Konsens mit Nachbarkommunen
Beteiligte Schulformen
Ja
64,4 Prozent Zustimmung
Elternumfrage
Gemeinschaftsschule als letzte öffentliche
weiterführende Schule vor Ort
Morsbach
Relevante Faktoren für den Entstehungsprozess
Ja
Hauptschule
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Reicht aus, eine Mensa wurde nachträglich eingerichtet
Rückgang um 11,3 Prozent
86 Prozent
Nein
Ja
Realschule nicht vorhanden
Ja, einstimmig
79 Prozent Zustimmung
Neuenrade
Nein
Hauptschule und Realschule
Nach Abstimmungsprozessen erzielt
Muss für die Oberstufe
erweitert werden
Anstieg um 2,6 Prozent
25,63 Prozent
Nein
Nein
Ja, einstimmig
Ja, mehrheitlich
56,52 Prozent Zustimmung
Rheinberg
59
60
5. Zusammenfassung und Ausblick
Die vorliegende Dokumentation beschäftigt sich mit dem
Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen. Eines der Ziele der Dokumentation ist es,
Faktoren herauszuarbeiten und zu benennen, die für den
Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschulen von zentraler Bedeutung gewesen sind. In Kapitel 4 sind die relevanten Faktoren bereits in der Überblickstabelle aufgezeigt worden.
Die folgende Zusammenfassung gibt nun noch einmal
Auffälligkeiten, Gemeinsamkeiten und deutliche Unterschiede wieder, die in den elf Kommunen aufgetreten
sind, die zum Schuljahr 2011/2012 Gemeinschaftsschulen gegründet haben.
Der Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ ist eine schulpolitische Reaktion auf
unterschiedliche landesweite Entwicklungen: Zum einen
reagiert die Landesregierung damit auf den Rückgang der
Geburtenzahlen und zum anderen darauf, dass immer
mehr Eltern ihren Kindern die Abituroption möglichst
lange offenhalten möchten und deshalb immer seltener
die Hauptschule als weiterführende Schule wählen.
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen wird bis zum Jahr 2019 um mehr als 300.000 zurückgehen. Das sind rund 16 Prozent. In den untersuchten
Kommunen ist der demografische Wandel höchst unterschiedlich ausgeprägt: Die Gemeinde Burbach im Siegerland rechnet bis zum Jahr 2015/2016 mit einem Rückgang
der Fünftklässlerinnen und Fünftklässler um 25 Prozent,
während es in Billerbeck voraussichtlich nur 2,6 Prozent
weniger Kinder sein werden. Der Schülerrückgang ist
nicht nur auf dem Land zu beobachten, sondern teilweise
auch in der Stadt. In Bochum liegt der voraussichtliche
Rückgang der Fünftklässlerinnen und Fünftklässler bis
zum Schuljahr 2015/2016 bei acht Prozent. Entgegen
dem Landestrend ist am Standort Köln hingegen ein Schülerzuwachs von rund zehn Prozent zu verzeichnen.
Doch auch dort sind zum Schuljahr 2011/2012 Gemeinschaftsschulen gegründet worden. Denn in Städten wie
Köln und Bochum kommt – ebenso wie auf dem Land –
hinzu, dass sich immer mehr Eltern gegen die Hauptschule und für Schulformen entscheiden, die längeres gemeinsames Lernen anbieten. Selbst in Köln müssen bis Mitte
2012 13 der ursprünglich 30 Hauptschulen geschlossen
werden. In Bochum hatte die Stadt im Jahr 2010 nur
noch 120 Anmeldungen für ihre sieben Hauptschulstandorte. In Neuenrade im Sauerland kam die einzige weiterführende Schule des Ortes, die Hauptschule Gertrudenschule „Auf der Niederheide“, im selben Jahr nur noch
auf 18 Anmeldungen.
Bei acht der elf am Schulversuch teilnehmenden Kommunen ist die Gemeinschaftsschule die letzte weiterführende Schule vor Ort. Bei der überwiegenden Mehrheit ist
sie aus der Zusammenlegung der Haupt- und der Realschule entstanden. Der drohende Verlust der letzten weiterführenden Schule vor Ort bedeutet für die Kommunen
grundsätzlich weniger Lebensqualität, wie beispielsweise
im siegerländischen Burbach: Der Ort sei ohne weiterführende Schulen einfach nicht mehr besonders attraktiv für
junge Familien, sagt Jürgen Weber, stellvertretender
Hauptschulleiter im Ort. Die positiven Auswirkungen mindestens einer weiterführenden Schule erklärt die Langenberger Bürgermeisterin Susanne Mittag mit den Worten: „Das hat Auswirkungen auf die Freizeitgestaltung, die
dann vermehrt in der Gemeinde stattfindet, in der die
Kinder auch wohnen. Auch für den Übergang von der
Schule in den Beruf ist eine weiterführende Schule vor
Ort von großer Bedeutung. Durch die enge Zusammenarbeit mit der heimischen Wirtschaft können so große
Erfolge bei der Suche nach passgenauen Ausbildungsplätzen auf der einen Seite und qualifizierten Auszubildenden auf der anderen Seite erzielt werden.“
61
Dass der Handlungsdruck in vielen Kommunen im Jahr
2010 groß war, verdeutlichen auch die Auspendlerquoten.
In den meisten der elf Kommunen, die eine Gemeinschaftsschule erfolgreich gegründet haben, pendelten im Schuljahr 2010/2011 rund 50 Prozent der Schülerinnen und
Schüler des fünften Jahrgangs in Nachbargemeinden, um
dort eine Schule zu besuchen. Ausreißer sind die Kommunen Neuenrade mit rund 86 Prozent und Rheinberg mit
etwa 25 Prozent. Der extreme hohe Wert erklärt sich dadurch, dass Neuenrade die einzige der elf Kommunen gewesen ist, in der es – vor der Errichtung der Gemeinschaftsschule – lediglich die Hauptschule als letzte weiterführende Schule vor Ort gegeben hat. Hingegen war in
Rheinberg – vor der Gründung der Gemeinschaftsschule
– neben der Haupt- und der Realschule, sogar noch ein
eigenes Gymnasium vorhanden. Weil es dort noch ein vergleichsweise umfassendes Schulangebot vor Ort gab,
pendelten entsprechend weniger Schülerinnen und Schüler in Nachbarorte aus.
Die vorliegende Broschüre dokumentiert, dass die Einführung der Gemeinschaftsschulen mit einer großen Unterstützung aus der Politik einherging. In den meisten der
elf Kommunen wurde das Vorhaben von den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, persönlich vorangetrieben. In Burbach lud
etwa Bürgermeister Christoph Ewers (CDU), noch bevor
die Möglichkeit entstand, eine Gemeinschaftsschule zu
gründen, also noch vor der Landtagswahl, die Beteiligten
aus Schule und Verwaltung ein, um über Schulreformen
zu sprechen. Der Neuenrader Bürgermeister Klaus-Peter
Sasse (CDU) schrieb am 7. September 2010 an die neu
gewählte Schulministerin Sylvia Löhrmann (Bündnis
90/Die Grünen): „Aufgrund der perspektivlosen Situation
der Hauptschule in Neuenrade soll die Gemeinschaftsschule möglichst schon zum Schuljahr 2011/2012 ihren
Betrieb aufnehmen.“ Auch in Ascheberg (CDU), Rheinberg (parteilos) und Morsbach (parteilos) setzten sich die
Bürgermeister an die Spitze der Bewegung.
Ähnlich positiv wie die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister standen auch die Hauptschulkollegien der elf
Kommunen dem Schulversuch gegenüber. Für sie war es
eine Chance, die Schulen weiterzuentwickeln und deren
Existenz zu sichern. Der ehemalige Realschulleiter und
derzeitige Gemeinschaftsschulleiter Erich Zajac aus
Lippetal im westfälischen Kreis Soest erklärt beispielsweise: „Wir wollten eine Schule für alle Schüler, bei der
wir niemanden mehr ablehnen oder aussortieren müssen.“ Sylke Reimann-Perez, frühere Leiterin der Hauptschule und derzeitige Leiterin der Profilschule Ascheberg
sagt: „Das Kollegium hat die Bestandsgefährdung gesehen und fand jedes System besser als das, was bis dahin
da war.“ In allen elf Kommunen stimmten die Schulkonferenzen der Hauptschulen (mehrheitlich oder einstimmig)
für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule und für das
sukzessive Auslaufen der Hauptschule.
Anders sah es hingegen bei den meisten Realschulkollegien aus: Dort reichen die Voten von mehrheitlicher Zustimmung über Enthaltungen bis hin zur einstimmigen
Ablehnung. Viele Realschullehrkräfte sahen die neue Schulform als Konkurrenz an, verhielten sich abwartend oder
arbeiteten sogar dagegen.
Kommunenübergreifend betonen die Verantwortlichen,
dass es von großer Bedeutung ist, die Eltern für das Vorhaben zu gewinnen. So sagt beispielsweise Christian Ley,
Vorsitzender des Ascheberger Schulausschusses, zu der
hohen Beteiligung an der Elternbefragung: „Ohne so ein
eindeutiges Votum der Eltern hätte es schwer werden
können. Versucht man so etwas gegen den Willen der Eltern durchzusetzen, geht so ein Projekt baden.“ Für einige Verantwortliche der Kommunen waren die Eltern nicht
nur einer der wichtigsten, sondern auch einer der unsichersten Faktoren im Prozess des Aufbaus der neuen
Schule. Schulausschussvorsitzender Falk Heinrichs aus
Burbach beschreibt die Gefühlslage der Verantwortlichen
folgendermaßen: „Vor der Anmeldephase hatten wir Nervenflattern. Denn wir konnten den Eltern ja nichts zeigen,
weder Personal noch Räume. Wir hatten das Konzept und
unsere Ideen nur am Reißbrett erstellt, das schien aber
alles noch sehr unkonkret.“ Um das Konzept abzusichern
und den Antrag stellen zu können, organisierten alle Kommunen mehrere Informationsveranstaltungen. Eines der
am häufigsten nachgefragten Themen dabei war die Einführung gymnasialer Standards. Offenbar war die Öffentlichkeitsarbeit, die beispielsweise in Ascheberg und
Billerbeck sehr stark betrieben wurde, erfolgreich: Die für
den Antrag vorgesehene schriftliche Elternbefragung ergab in allen Kommunen – mit Ausnahme der Stadt
Bochum – eine (teilweise weit) über 50-prozentige Zustimmung.
Eine zunächst durchwachsene Akzeptanz ernteten die
Pläne zum Schulversuch bei den meisten Nachbarkommunen. Viele fürchteten die Konkurrenz durch die neue
Schulform, wie etwa die Gemeinde Bad Sassendorf, eine
Nachbargemeinde Lippetals. Die Kommune hatte erst
kürzlich in ein neues Gebäude ihrer Hauptschule investiert, das vermutlich zukünftig leer stehen werde, berichtet der Lippetaler Schulausschussvorsitzende Michael
Rennekamp. So wollte die Gemeinde Bad Sassendorf
ihren Kindern den Besuch der Gemeinschaftsschule
Lippetal zuerst nicht ermöglichen. Das erntete Protest
der Bad Sassendorfer Eltern, sodass die Gemeinde ihre
harte Haltung aufgab. Ähnlich erging es auch den westfälischen Billerbeckern mit ihrer Nachbarkommune Coesfeld. Letztendlich konnten sich alle elf Kommunen, soweit
nötig, mit ihren Nachbarn einigen.
62
6. Übersicht über die Presseveröffentlichungen – eine Auswahl
Der folgende Pressespiegel fasst die Reaktionen der überregionalen Medien und der Presseagenturen hinsichtlich
der Gemeinschaftsschulen zusammen. Er bildet beispielhaft die Berichterstattung und die öffentliche Meinung
über die wesentlichen Ereignisse auf Landesebene ab und
liefert ein Stimmungsbild. Die Artikel, aus denen im Folgenden zitiert wird, stammen aus dem Pressearchiv des
Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes
Nordrhein-Westfalen.
Als wesentliche Ereignisse liegen dieser Auswahl diejenigen zugrunde, die durch Pressemitteilungen des Schulministeriums begleitet oder initiiert wurden. Die Ereignisse ergeben sich darüber hinaus aus den tatsächlichen
Entwicklungen und sind im Pressespiegel aufgenommen
worden, weil sie Wende- und Zielpunkte markieren. Es
handelt sich um Start- und Zielzeitpunkte des Schulversuchs, um Weiterentwicklungen des Prozesses, wie zum
Beispiel das Ende der Bewerbungsphase, und um politische und juristische Konflikte, die während der Umsetzungsphase auftauchten.
1. Start des Schulversuchs und Bewerbungsphase der Schulen
8. September 2010:
Ministerin Sylvia Löhrmann teilt dem Schulausschuss im
Landtag mit, dass sie in zwei Wochen ein Konzept zur
Gemeinschaftsschule vorlegen wird. Die Zeitungen berichten nüchtern. Tenor ist, dass die Ministerin den Konsens
unter den Parteien suche und keine Schulform abschaffen wolle. Nur die „Welt am Sonntag“ zitiert am 12. September den Vorsitzenden des Philologenverbands, Peter
Silbernagel, als Kritiker der Regierungspläne, mit den
Wor-ten „seid wachsam“, die Regierungspläne zur
Durchset-zung einer „Schule für alle“ würden als solche
gar nicht mehr erkannt.
20. September 2010:
Die Eckpunkte des Schulversuchs werden vom Kabinett
gebilligt.
23. September 2010:
Die Bildungskonferenz, die zur Zukunft des Schulsystems
berät, trifft sich zum ersten Mal. Im Anschluss an diese
Ereignisse polarisieren die Meinungen: Die „Gemeinschaftsschule als Versuch sei ein Spiel auf Zeit“ schreibt
etwa die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“. Vom „Bildungsexperiment am offenen Herzen“ schreibt „Die Welt“.
„Konsens oder Nonsens?“ fragt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und meint damit, dass die Landesregierung zwar öffentlich auf den Diskurs setze, durch die Hintertür aber bereits mit dem Umbau des Schulsystems
beginne.
26. Oktober 2010:
IT.NRW, der statistische Dienst des Landes, legt eine
Schülerprognose vor, die den anhaltenden Rückgang der
Geburten abbildet. Die Meldung, dass es immer weniger
Schülerinnen und Schüler geben wird, geht durch alle
Zeitungen, der Ton ist mal nüchtern, mal dramatisch. Die
„Neue Westfälische“ fordert Löhrmann auf, sich „keinen
schlanken Fuß“ zu machen und neue Konzepte auch für
die Grundschulen vorzulegen. Viele Zeitungen zitieren
Löhrmanns Antwort und scheinen damit der Landesregierung insofern beizupflichten, dass die Gemeinschaftsschule die Lösung für die Probleme sei, die mit dem Schülerrückgang einhergehen. Die „gemeinsame Schule sei
eine Chance“ schreibt etwa der „Kölner Stadt-Anzeiger“.
63
2. Genehmigungsphase durch das
Schulministerium bis März 2011
17. November 2010:
Die erste Gemeinschaftsschule in Ascheberg wird genehmigt. Außerdem wird ein Rechtsgutachten im Auftrag des
Philologenverbands veröffentlicht, das den Schulversuch
als verfassungswidrig ansieht. Die Medien nehmen die
Genehmigung der ersten Gemeinschaftsschule euphorisch auf. „Die Zukunft beginnt in Ascheberg“ schreibt
„Spiegel Online“, „Aufbruchstimmung im Münsterland“
nennt es der Bonner „General-Anzeiger“. Ein weiterer Aspekt, der breit diskutiert wird, ist die nun vermutlich beginnende Konkurrenz unter den Kommunen. So schreibt
die „Westfalenpost“: „Der regionale Schulkonsens ist beendet“ und meint damit, dass sich ab sofort ländliche
Kommunen Schülerinnen und Schüler abwerben, um ihre
Schulen vor Ort zu retten.
Auf das Gutachten im Auftrag des Philologenverbands reagieren die Zeitungen mit Mahnungen: „keine Experimente“ fordert die „Aachener Zeitung“, die „Recklinghäuser
Zeitung“ nennt das Agieren der Regierung „Angst vor der
Nagelprobe“ und fordert eine gesetzliche Grundlage für
die Schulpolitik.
22. Dezember 2010:
19 Anträge aus Altenbeken, Ascheberg, Bad Honnef,
Billerbeck, Blankenheim/Nettersheim, Bochum, Bornheim,
Burbach, Finnentrop, Kalletal, Köln (drei mal), Langenberg,
Lippetal, Morsbach, Neuenrade, Rheinberg und Sprockhövel liegen dem Schulministerium vor. Die Zeitungen bewerten die Anzahl der Bewerbungen höchst unterschiedlich. So schreibt das „Westfalenblatt“ von „geringem
Interesse an NRW-Schulreformen“, die „Rheinische Post“
nennt die Bewerbungen dagegen „ein Weihnachtsgeschenk für Löhrmann“. Das Projekt sei erfolgreich. Die
Düsseldorfer Zeitung sieht deshalb Diskussionsbedarf bei
den Gegnern, besonders bei der CDU.
10. März 2011:
14 Gemeinschaftsschulen an den Standorten Ascheberg,
Billerbeck, Blankenheim/Nettersheim, Bochum, Burbach,
Finnentrop, Kalletal, Köln (Ferdinandstraße und Wuppertaler Straße), Langenberg, Lippetal, Morsbach, Neuenrade, Rheinberg sind genehmigt. Die in Bornheim und
Sprockhövel geplanten Gemeinschaftsschulen erreichen
nicht die erforderliche Zahl von Anmeldungen. Ob die Gemeinschaftsschule Bad Honnef die erforderliche Anmeldezahl erreichen wird, ist nicht sicher; das Anmeldeverfahren endet am Freitag, den 11. März 2011. Weil weitere
40 Anträge vorlägen, sei es Ziel der Landesregierung, die
Gemeinschaftsschule auf eine schulgesetzliche Grundlage zu stellen, meldet das Ministerium. Die Medien informieren nüchtern darüber. „WDR.de“ berichtet in diesem
Zusammenhang über den juristischen Kleinkrieg in den
Kommunen und sieht die Hauptschule als Schulform vor
dem Ende. Kontroverser wird dagegen die Entwicklung
der CDU kommentiert, die mit ihrem Parteitag Anfang
März im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Der „Kölner
Stadt-Anzeiger“ zitiert den CDU-Generalsekretär Oliver
Wittke mit den Worten „wir machen Frieden mit der Gesamtschule“. Die „Welt am Sonntag“ kündigt an, dass die
CDU ihre Schulpolitik der Realität anpassen wolle und
Rot-Grün ein verführerisches Angebot zum Schulfrieden
machen werde.
3. Juristische und politische Entwicklungen
6. Dezember 2010:
Veröffentlichung des Gutachtens des Verbandes Bildung
und Erziehung (VBE), das den Schulversuch für rechtens
im Sinne § 25 des Schulgesetzes hält. „Jetzt steht es ein
zu eins“, schreiben die „Westfälischen Nachrichten“ und
spielen damit auf das Gutachten des Philologenverbands
an, das behauptet, der Schulversuch sei nicht rechtmäßig.
Das Gutachten stärke die rot-grüne Bildungspolitik, finden die „Aachener Nachrichten“ und der „Kölner StadtAnzeiger“.
11. Januar 2011:
Die CDU beschließt ein neues Schulkonzept. Die Zeitungen berichten ausführlich darüber, zeigen aber wenig Verständnis für die „späte Einsicht“, wie etwa die „Aachener
Nachrichten“ die neue Ausrichtung der christdemokratischen Schulpolitik nennt. Ebenso die „Westfalenpost“:
„CDU wagt in der Schulpolitik nur Trippelschritte“ spottet
das Blatt. Drei Tage später heißt es dann schon in der
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“: „NRW-Parteien
wollen Schulfrieden schließen“.
15. Februar 2011:
Das Verwaltungsgericht Aachen hat den Antrag, die in
Blankenheim/Nettersheim geplante Gemeinschaftsschule zu stoppen, zurückgewiesen, soweit er sich gegen die
Durchführung des Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“
richtet. Der Schulversuch selbst ist nicht infrage gestellt
worden. Stattgegeben worden ist dem Antrag insoweit,
als er sich gegen die Errichtung einer Sekundarstufe II in
Blankenheim/Nettersheim aus Anlass des Schulversuchs
richtet. Auch in Finnentrop und Sprockhövel hakt es. In
Finnentrop klagt eine Nachbargemeinde, in Sprockhövel
mangelt es an Anmeldungen. Die Ereignisse erregen landesübergreifend Aufsehen: „Streitfall Gemeinschaftsschule“ schreibt die „Rheinische Post“; „Ein Experiment
mit Nebenwirkungen“ nennt die „Westfalenpost“ die Ereignisse; „Immer härtere Bandagen“ würden im Schulstreit aufgefahren. Und selbst die überregionale „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt über die Verhältnisse
im sauerländischen Finnentrop, in dem unabhängig von
Parteigrenzen nicht klar zu sein scheine, was rechtens sei.
64
12. April 2011:
Das Verwaltungsgericht Arnsberg entscheidet gegen die
Gemeinschaftsschule Finnentrop. Das Ministerium teilt
mit, dass es gegen den Beschluss Beschwerde einlegen
werde.
13. April 2011:
Insgesamt wurden 14 Gemeinschaftsschulen genehmigt:
Ascheberg, Billerbeck, Blankenheim/Nettersheim, Bochum, Burbach, Finnentrop, Kalletal, Köln (Ferdinandstraße und Wuppertaler Straße), Langenberg, Lippetal,
Morsbach, Neuenrade, Rheinberg. In zwei Fällen gibt es
Klagen: In Blankenheim/Nettersheim wurde in einer Eilentscheidung des Verwaltungsgerichtes Aachen die Errichtung der Sekundarstufe I bestätigt, im Hauptsacheverfahren wird noch über die in sechs Jahren anstehende
Einrichtung der gymnasialen Oberstufe entschieden.
Die Berichterstattung zu den Konflikten ist enorm. Nach
Meldungen am 12. April zur Gerichtsentscheidung gegen
die Schule in Finnentrop diskutieren die Blätter die Optionen der Landesregierung. Dabei sieht „Die Welt“ „das
Prestigeprojekt wackeln“, wie die Zeitung die Gemeinschaftsschule nennt. Rund zwei Wochen später schreibt
das Blatt darüber, „warum die Union die Gemeinschaftsschule eigentlich doch ganz gut findet“. „WDR.de“ spricht
ebenfalls Ende April schon von einem möglichen Schulfrieden und auch das Fachmagazin „Pädagogik“ sieht
CDU-Überzeugungen erodieren.
9. Juni 2011:
Das Oberverwaltungsgericht Münster stoppt die
Einrichtung der Gemeinschaftsschule Finnentrop.
20. Juni 2011:
Das Schulministerium zieht, wegen einer Klage der Nachbargemeinde und der zu geringen Anmeldezahlen, die
Genehmigung für Blankenheim/Nettersheim zurück.
22. Juni 2011:
Es findet eine Sondersitzung des Schulausschusses im
Landtag zur Zukunft der Gemeinschaftsschule statt. Anlass ist das ablehnende Urteil für die Gemeinschaftsschule Finnentrop.
In der Folge:
Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause am
20. Juli einigen sich die Fraktionen von CDU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf einen Schulkonsens, der für
zwölf Jahre Ruhe in die traditionell hitzige Diskussion um
die richtige Schulstruktur – gegliedert oder gemeinsam –
bringen soll.
Die Berichterstattung erreicht in den Wochen davor ihren
quantitativen Höhepunkt. Als Konsequenz aus dem Urteil
müsse die Landesregierung jetzt für Planungssicherheit
sorgen und ein wasserdichtes Gesetz beschließen, fordert
etwa die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ am 10. Juni.
Ähnlich sieht es auch die „Westdeutsche Zeitung“: Damit
die Kinder nicht am Ende die Dummen seien, müsse die
Regierung ihre nachlässigen und überhasteten Entscheidungen korrigieren. Die „Aachener Nachrichten“ stoßen
in dasselbe Horn und fordern am 15. Juni einen „Abrüstungsvertrag“ der Parteien. „CDU und SPD müssen den
Schulkonsens schaffen“ fordert die Zeitung. Der Streit
zwischen den Parteien ist auch in den folgenden beiden
Wochen das Hauptthema der Medien. Heißt es am
21. Juni noch in der „Neuen Rhein Zeitung“ die CDU bleibe bei ihrer Absage für den sogenannten Bildungsgipfel
„Offiziell wegen der Linkspartei. Inoffiziell aus Angst vor
den eigenen Wählern“. CDU-Fraktionschef Karl-Joseph
Laumann halte sich jedoch eine Hintertür offen, ergänzt
die Nachrichtenagentur „dapd“. „Es dürfte nur noch eine
Frage der Zeit sein, bis es zu einem rot-grün-schwarzen
Schulgipfel in Nordrhein-Westfalen kommt“, prognostiziert dann auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am
25. Juni. Denn: Die CDU wolle den Schwarzen Peter als
Blockierer loswerden, während Rot-Grün ihr Prestigeprojekt retten wolle. Knapp einen Monat vor der offiziellen
Verkündung des Schulkonsenses in Nordrhein-Westfalen
ist dann noch mal die Entscheidung des CDU-Präsidiums,
die Hauptschule endgültig zu beerdigen, Thema in den
Zeitungen. „Überfällige Modernisierung“ nennt das „Handelsblatt“ den Vorgang, „Abschied vom hässlichen Entlein“ heißt es dazu in der „Frankfurter Rundschau“.
65
Anhang
(A)
Zentrale Eckpunkte für das Modellvorhaben „Gemeinschaftsschule”
(B)
„Auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule" ? Ein Leitfaden für Schulen und Gemeinden, die sich
am Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“ beteiligen wollen
(C)
Interviewleitfaden für die Dokumentation zum Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule
in Nordrhein-Westfalen
A) Zentrale Eckpunkte für das Modellvorhaben
„Gemeinschaftsschule"
(Schulversuch gem. § 25 Abs. 1 und 4 SchulG)
Beirat
Zielsetzung
Bestellung durch MSW
Ziel des Modellvorhabens ist es, zu erproben, wie durch
längeres gemeinsames Lernen in der Sekundarstufe I die
Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit des Schulwesens erhöht werden kann und Kinder dadurch zu besseren Abschlüssen geführt werden können. Außerdem
soll erprobt werden, wie im Hinblick auf die demografische Entwicklung und der sich wandelnden Abschlussorientierung der Eltern weiterhin ein wohnortnahes Schulangebot ermöglicht werden kann.
Wissenschaftliche Begleitung
Zeitdauer
Errichtung in der Regel durch Zusammenführung
Sechs Jahre beginnend mit dem Schuljahr 2011/2012
(1. August 2011); danach auslaufend für die während des
Versuchszeitraums eingeschulten Schülerinnen und
Schüler
Gewährleistung auch gymnasialer Standards
Integrierter Unterricht in Klassen 5 und 6
Ab Klasse 7 oder später Unterricht in integrierter oder
Bestellung durch MSW; Zwischenevaluation des Vorhabens nach einer Laufzeit von drei Jahren
Grundlegende Vorgaben
In der Regel Schule der Sekundarstufe I
In der Regel gebundener Ganztag, ausnahmsweise
offene, flexible Angebote
bestehender Schulen
Bezeichnung
Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I; Gemeinschaftsschule der Primarstufe und der Sekundarstufe I, Gemeinschaftsschule der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II
Projektgruppe
Einrichtung einer Projektgruppe beim Ministerium für
Schule und Weiterbildung (MSW)
kooperativer Form (Einrichtung von schulformspezifischen Bildungsgängen)
Erreichbarkeit aller für die Sekundarstufe I vorgesehenen Abschlüsse (Anerkennung der Abschlüsse muss
gesichert sein)
Eigene gymnasiale Oberstufe oder Kooperation mit
Gymnasium oder einer anderen Gemeinschaftsschule
mit Sekundarstufe II, und/oder Gesamtschule und/
oder Berufskolleg, das den Erwerb der allgemeinen
Hochschulreife ermöglicht
Abitur nach neun Jahren (G9); bei herausragenden
Leistungen Übergang nach der Sekundarstufe I in die
Qualifikationsphase möglich
66
Schulgröße, Klassengröße
Antrag auf Teilnahme an dem Schulversuch
Für eine Gemeinschaftsschule sind vier Parallelklassen
pro Jahrgang wünschenswert, mindestens erforderlich
sind drei Parallelklassen pro Jahrgang (Sicherung wohnortnaher Beschulung im ländlichen Raum).
Einbindung in anlassbezogene Schulentwicklungsplanung
einschließlich vorangegangener förmlicher Elternbeteiligung. Standardisierte Bausteine für die Schulentwicklungsplanung, Formblätter für die Elternbeteiligung und
ein Muster für einen Kooperationsvertrag zwischen Schulträgern werden entwickelt.
Mindestklassengröße bei Errichtung: 23 Schülerinnen
und Schüler statt der gesetzlich ansonsten vorgesehenen
Mindestklassengröße von 28 Schülerinnen und Schüler
Klassenfrequenzhöchstwert beträgt für die integrative
Form 25; in der kooperativen Form ab Klasse 7 zur Erreichung vertretbarer Klassengrößen 29. Der Klassenfrequenzrichtwert beträgt 24 Schülerinnen und Schüler.
Diese Werte orientieren sich an der Hauptschule. Sie tragen der Heterogenität der Schülerschaft Rechnung und
berücksichtigen, dass in der Gemeinschaftsschule unterschiedliche Schulformen zusammenwachsen.
Lehrerarbeitszeit
Die Lehrkräfte haben unabhängig von ihrem Lehramt eine
Pflichtstundenzahl von 25,5. Dies entspricht der Pflichtstundenzahl an der Gesamtschule und am Gymnasium.
Besoldungsstruktur
Sie orientiert sich an der Bewertung der Ämter an
Gesamtschulen:
Verpflichtung zur überregionalen Abstimmung der Schulentwicklungsplanung (regionaler Konsens im Sinne der
Herstellung des Benehmens, regionale Zusammenarbeit).
Der Versuchsantrag ist abzulehnen, wenn eine Bestandsgefährdung einer Schule eines anderen Schulträgers
durch die Errichtung eintritt. Eine solche Bestandsgefährdung liegt vor, wenn die konkurrierende Schule des Nachbarschulträgers voraussichtlich unter die für die betreffende Schulform zur Fortführung grundsätzlich erforderliche Mindestzügigkeit fällt. Die Erreichbarkeit einer Hauptschule bzw. eines Hauptschulbildungsgangs in zumutbarer Entfernung muss gewährleistet sein.
Die Bildung von Teilstandorten nach § 83 Abs. 4 SchulG
ist möglich. In Ballungsgebieten müssen sich Gesamtkonzepte auf die einzelnen Stadtteile beziehen. Im Rahmen der Schulentwicklungsplanung ist darzulegen, wie
die Leistungsheterogenität der Schülerschaft in dem
Planungszeitraum von fünf Jahren gesichert werden kann.
Nachweis ausreichenden und geeigneten Schulraums.
Vorlage eines pädagogischen Konzepts, das die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler sichert.
Als Eingangsämter können der Gemeinschaftsschule
A-12-Stellen (gehobener Dienst) und A-13-Stellen
(höherer Dienst; bis zu 33 v. H.) zugewiesen werden.
Für die Schulleiterinnen und Schulleiter sind – je nach
Ausbauzustand der Schule – Ämter der Besoldungsgruppe A 15, A 15 mit Zulage und A 16 vorgesehen.
Als allgemeine Beförderungsämter ergeben sich für
die Lehrkräfte des gehobenen Dienstes die Besoldungsgruppe A 13 und für den höheren Dienst die
Besoldungsgruppen A 14 und A 15.
Ab einem bestimmten Ausbauzustand werden darüber hinaus spezifische Beförderungsämter zur Verfügung gestellt entsprechend der Ausbringung vergleichbarer Funktionen an Gesamtschulen.
Auswirkungen auf den Haushalt/Lehrerstellenberechnung für die Gemeinschaftsschule
Stellenzuschlag in Höhe von 0,5 Stunden je Klasse je
Woche wegen des erhöhten Differenzierungs-/Förderbedarfs
„Versuchszuschlag“ in Höhe von 0,5 Stellen pro Schule wegen des erhöhten Schulentwicklungsaufwands
Zusätzliches Fortbildungsbudget in Höhe von 2.500 ¤
pro Schule wegen des erhöhten Fortbildungsbedarfs
Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht
behinderten Schülerinnen und Schülern soll im Modellversuch an mindestens einer Schule exemplarisch erprobt werden. Hierzu ist ein entsprechendes pädagogisches Konzept vorzulegen.
67
(B)„Auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule?“ Ein
Leitfaden für Schulen und Gemeinden, die sich am
Schulversuch „Längeres gemeinsames Lernen –
Gemeinschaftsschule“ beteiligen wollen
(Stand: 10. Dezember 2010)
Sehr geehrte Damen und Herren,
jedes Kind hat das Recht darauf, dass seine Stärken und
Schwächen, seine Einzigartigkeit in der Schule gesehen
und berücksichtigt werden. Derzeit gelingt eine optimale
Förderung jedes Kindes nur unzureichend. Wir müssen
daher alles tun, um die Leistungen und Chancen aller Kinder zu verbessern.
Besonders begabte Kinder brauchen genauso individuelle
Förderung wie Schülerinnen und Schüler mit besonderem
Unterstützungsbedarf. Zu viele Talente bleiben unerkannt
oder werden nicht gefördert. In vielfältigen Lerngruppen
sind die Chancen für diese Förderung am besten. Wenn
leistungsstärkere Kinder in der Klasse etwas erklären,
nutzt das beiden Seiten: Die Kinder, die noch nicht so
weit sind, lernen etwas dazu, und die Kinder, die schon
weiter sind, verfestigen oder erweitern ihr Wissen.
Die demografische Entwicklung in Verbindung mit der
sich wandelnden Schulabschlussorientierung der Eltern
zwingt uns zum Handeln. Vor allem in ländlichen Regionen zeigen sich Probleme: Um ein wohnortnahes, umfassendes Schulangebot zu ermöglichen, brauchen wir hier
eine Schule, die zusammenwächst und die alle weiterführenden Bildungsangebote in dieser Schule verankert, und
zwar unter Einschluss gymnasialer Standards. Alternative
Schulangebote gewinnen aber auch in den Ballungszonen
an Bedeutung. Auch hier sind Bildungsangebote gefragt,
die gymnasiale Standards enthalten und damit klare
Perspektiven für einen späteren Erwerb der allgemeinen
Hochschulreife aufweisen.
In dieser neuen Schule, der Gemeinschaftsschule, die wir
ab dem Schuljahr 2011/12 im Rahmen eines Schulversuchs erproben, werden die Schülerinnen und Schüler in
der fünften und sechsten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet. Die Planung des Unterrichts orientiert sich an
den Lehrplänen aller Schulformen, insbesondere auch
des Gymnasiums. Der Schulträger entscheidet mit allen
Beteiligten, wie es nach der sechsten Klasse weitergeht:
Lernen alle gemeinsam weiter oder werden die Schulformen durch verschiedene Zweige abgebildet? Die Landesregierung ist offen für die verschiedenen Ansätze, solange
es pädagogisch sinnvolle Lösungen sind. Diese Lösungen
werden vor Ort erarbeitet. Wichtig ist dabei, dass von
einer Gemeinschaftsschule der bruchlose Übergang in die
Sekundarstufe II möglich ist. Eltern müssen von Beginn
an wissen, wo ihr Kind später eine Oberstufe besuchen
und das Abitur erwerben kann.
Als Ganztagsschule bietet die Gemeinschaftsschule durch
ihre größeren Zeitfenster Raum für eine andere Kultur
des Lernens mit zusätzlichen Bildungs- und Freizeitangeboten. Sie ist ein ganztägiger Lern- und Lebensort, an
dem die Schülerinnen und Schüler ihre Potenziale entfalten können.
Die Landesregierung will alle Kinder zu besseren Abschlüssen führen, mehr Chancengerechtigkeit herstellen
und der Einzigartigkeit unserer Kinder gerecht werden.
Dafür sieht die Landesregierung in der Ermöglichung von
Gemeinschaftsschulen einen entscheidenden Schritt.
Der vorliegende Leitfaden soll die Akteure vor Ort bei
ihren Planungen unterstützen. Er richtet sich daher gleichermaßen an die Schulen, indem die Eckpunkte der pädagogischen Konzeption der Gemeinschaftsschule aufgezeigt werden, als auch an die Schulträger, denen die Einbettung der Gemeinschaftsschule als eine Möglichkeit für
die regionale Schulentwicklungsplanung dargestellt wird.
Sylvia Löhrmann
Ministerin für Schule und Weiterbildung
des Landes Nordrhein-Westfalen
68
Pädagogische Leitidee
Die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien
haben unter anderem deutlich gemacht, dass durch längeres gemeinsames Lernen ein Bildungssystem gerechter
und leistungsstärker gestaltet werden kann.
Dass längeres gemeinsames Lernen in heterogenen Lerngruppen sinnvoll ist, belegen Ergebnisse der IGLU-Grundschulstudie. Die Befunde zeigen, dass es bei der Verteilung der Kinder auf die verschiedenen Schulformen nach
der Klasse 4 erhebliche Überlappungen zwischen den
Leistungen gibt. Kinder aus bildungsfernen Schichten besuchen bei gleichen Leistungen vergleichsweise seltener
als Schülerinnen und Schüler aus bildungsnahen Schichten einen höherwertigen Bildungsgang. Mit der Stärkung
des gemeinsamen Lernens soll erreicht werden, dass
möglichst viele Kinder ihr Leistungspotenzial voll entfalten können.
Die Gemeinschaftsschule ist daher eine Schule für alle
Kinder mit unterschiedlichen Biografien und Begabungen.
Um eine Gemeinschaftsschule besuchen zu können, bedarf es keiner „Bringschuld“ der Kinder. Alle sind willkommen. Ausgehend von der Annahme, dass Kinder am Ende
der Grundschulzeit die dort erwarteten Kompetenzen in
individueller Ausprägung auf unterschiedlichen Niveaus
entwickelt haben, werden sie dort abgeholt, wo sie stehen. Die individuellen Potenziale – kognitiv, sozial und
personal – bilden den Ausgangspunkt für die weiteren
Lernprozesse.
In der Gemeinschaftsschule lernen Schülerinnen und
Schüler mit günstigen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen und auch besonderen Begabungen gemeinsam
mit Schülerinnen und Schülern, deren Kompetenzen und
Fähigkeiten noch nicht so weit entwickelt sind. Langsam
lernende Schülerinnen und Schüler und solche, die
schneller lernen oder besondere Begabungen aufweisen,
sollen individuell und gezielt gefördert werden. Damit
baut die Gemeinschaftsschule einer in vielen Fällen falschen frühzeitigen Zuordnung zu einem bestimmten Bildungsgang vor. Im Verlauf des Besuchs der Gemeinschaftsschule werden die Stärken der Kinder und Jugendlichen durch zunehmend differenzierende Angebote ausgebaut und ihre Schwächen abgebaut. Dies kann besonders gut gelingen, wenn über den Unterricht hinaus mehr
Zeit zur Verfügung steht. Die Gemeinschaftsschule ist daher eine Schule für alle Kinder mit unterschiedlichen Biografien und Begabungen. Als Schule mit in der Regel gebundenem Ganztag bietet sie mehr Zeit und Raum für
individuelle Förderung und trägt somit zu einer Verbesserung der Bildungschancen bei, auch im Zusammenspiel
mit unterschiedlichen Professionen und außerschulischen
Partnern. An der Gemeinschaftsschule führt der Weg
innerhalb von neun Jahren zum Abitur, besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler können durch individuelle Lernzeitverkürzung das Abitur nach acht Jahren
erreichen.
Gemeinschaftsschulen können auch gemeinsamen Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen anbieten.
Pädagogische Konzeption
Ein Auswahlverfahren beim Übergang von der Grundschule zur Klasse 5 findet nicht statt. Im Rahmen der Kapazität werden alle angemeldeten Kinder aufgenommen.
Im Sinne der Zielsetzung des Modellversuchs ist darauf
zu achten, dass heterogen zusammengesetzte Lerngruppen gebildet werden können.
Die Gemeinschaftsschule knüpft an die Erziehungsarbeit
der Grundschule an. Neben der Vermittlung von Wissen
greift sie die vielfältigen Anlässe für Erziehung auf, die
sich aus Unterricht und Schulleben heraus entfalten. Unterricht, Erziehung und Schulleben schaffen verbindliche
gemeinsame Lern- und Lebensbezüge. Bildung, Erziehung,
individuelle Förderung und soziales Lernen werden in der
pädagogischen Konzeption miteinander verzahnt, um
Kindern mehr Bildungsqualität und bessere Chancen zu
ermöglichen.
Jeder Antrag auf Errichtung einer Gemeinschaftsschule
muss ein pädagogisches Konzept enthalten mit Aussagen
insbesondere zu den folgenden Aspekten:
Lehren und Lernen (Lehrereinsatz, Lerngruppen,
Unterrichtsorganisation)
Ganztagskonzept
Sicherstellung der individuellen Förderung und
Förderung einer Lernkultur
Kompetenzorientierung
Gewährleistung auch gymnasialer Standards
Inhaltliche Schwerpunkte in den
Doppeljahrgangsstufen 5/6, 7/8 und 9/10
Fachliche und überfachliche Lernangebote einschließlich der Fremdsprachen- und Wahlpflichtangebote
Maßnahmen und Formen der Differenzierung
Fortführung in der Sekundarstufe II in einer eigenen
Oberstufe oder durch verbindliche Kooperation
Ausgestaltung der Leistungsnachweise und der
Leistungsbewertung
Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern
Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung
Interne Evaluationsverfahren
69
Der Unterricht orientiert sich in allen Jahrgangsstufen
auch an gymnasialen Standards, sodass auch ein späterer Eintritt in die gymnasiale Oberstufe curricular unterstützt wird. Die Planung des Unterrichts orientiert sich an
den Lehrplänen aller Schulformen, insbesondere auch
des Gymnasiums.
Gymnasium/Realschule/Hauptschule) ist eine Entscheidung, die der Schulträger unter Beteiligung der Schulkonferenz vor Ort trifft.
Kompetenzorientierter Unterricht und Aufgaben
der Lehrkräfte
Der Fokus der Gemeinschaftsschule liegt auf dem längeren gemeinsamen Lernen und einer konsequenten individuellen Förderung im Anschluss an eine weiterhin vierjährige Grundschule. Damit einher geht eine veränderte Sichtweise auf das Lehren und Lernen in der Gemeinschaftsschule. Lernen wird verstanden als aktiver, situativer und
konstruktiver auf Kompetenzerwerb ausgerichteter Prozess, in dem die Schülerinnen und Schüler – unter Einbeziehung der in der Grundschule erworbenen Fähigkeiten
– anwendbares Wissen erwerben und so ihre Kompetenzen erweitern. Dazu brauchen die Kinder und Jugendlichen gute Lernanleitungen, gute Aufgabenstellungen,
klare Instruktionen und eine begleitende Unterstützung.
In einem kompetenzorientierten, gut strukturierten Unterricht hat die Lehrkraft unter anderem die Aufgaben,
eine ansprechende Lernumgebung zu gestalten,
interessante Lernaufgaben zu stellen,
Selbstlern- und Gruppenlernprozesse anzubahnen,
individuelles Lernen zu beobachten und zu dokumentieren,
Aufgaben nach Neigungen und Niveau zu differenzieren,
Rückmeldungen zu Lernprozessen und Ergebnissen
zu geben.
In der integrierten Form kann der Wahlpflichtbereich ab
Klasse 7 die folgenden Schwerpunkte anbieten:
Zweite Fremdsprache
Naturwissenschaften/Informatik
Arbeitslehre
Musik/Kunst
Sozialwissenschaft/Ökonomie
Technik
Sport
Neben dem verpflichtenden Angebot der zweiten Fremdsprache müssen mindestens zwei weitere dieser Schwerpunkte angeboten werden. Der Unterricht in der Gemeinschaftsschule ist der individuellen Förderung verpflichtet.
Dazu gehört der reflektierte Einsatz von Maßnahmen der
inneren und äußeren Differenzierung:
In der Doppeljahrgangsstufe 5/6 wird das gemeinsa-
Unterrichtsorganisation und Unterrichtsinhalte
me Lernen der Grundschule mit Binnendifferenzierung fortgeführt.
Ab der Doppeljahrgangsstufe 7/8 erfolgt – in der Regel unter Beibehaltung der Klassenverbände – eine
erste Schwerpunktsetzung durch unterschiedliche
Anforderungsebenen in den Kernfächern sowie in
einem neu gestalteten Wahlpflichtbereich (zweite
Fremdsprache, Wirtschaft, Naturwissenschaften, Arbeitslehre, erste Praktika …).
In der Doppeljahrgangsstufe 9/10 erfolgt eine zweite
Schwerpunktsetzung durch abschlussbezogene Profilbildung – nach Entscheidung der Schulkonferenz
durch Bildung entsprechender Profilklassen oder
durch modulare Angebote – unter anderem unter
Einbeziehung von Praktika.
Am Ende der Klasse 10 werden alle Abschlüsse der
Sekundarstufe I vergeben.
Bei entsprechenden Leistungen wird die Übergangsberechtigung in die gymnasiale Oberstufe erteilt.
Die Doppeljahrgangsstufe 5/6 führt die Arbeit der Grundschule weiter in heterogenen Klassenverbänden, allerdings mit dem in der Sekundarstufe I notwendigen verstärkten Fachlehrereinsatz.
Die Stundentafel der Gemeinschaftsschule umfasst in der
Doppeljahrgangsstufe 5/6 die Fächer und das Stundenvolumen des Gymnasiums. Werden im weiteren Verlauf ab
Klasse 7 oder später schulformspezifische Bildungsgänge
eingerichtet (kooperative Form), sind die Stundentafeln
der jeweiligen Schulformen maßgeblich. Dabei kann die
Schule auch gemeinsame bildungsgangübergreifende Angebote organisieren. Ob die Gemeinschaftsschule weiter
mit heterogenen Klassenverbänden und je nach Fach mit
innerer oder auch äußerer Differenzierung in Fachleistungskursen arbeitet oder mit zwei oder drei festen Bildungsgängen (beispielsweise Gymnasium und Realschule
und Hauptschule als gemeinsamer Bildungsgang oder
Werden ab Klasse 7 oder später getrennte Bildungsgänge
eingerichtet, entscheiden die Eltern nach Beratung durch
die Schule über die Wahl des Bildungsgangs. Analog zu
den Regelungen in § 13 der APO S I kann diese Entscheidung nach einem Jahr auf Antrag der Eltern korrigiert
werden, wenn die Leistung nicht dem Bildungsgang entspricht. Bei einer positiven Leistungsentwicklung empfiehlt die Versetzungskonferenz den Eltern den Wechsel in
den jeweils höheren Bildungsgang.
Ab Klasse 6 lernen alle Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule eine weitere moderne Fremdsprache.
Wenn diese Sprache bis zum Ende der Sekundarstufe I
70
mit insgesamt mindestens 14 Wochenstunden fortgeführt
wird, sind die Bedingungen für die zweite Fremdsprache
für die gymnasiale Oberstufe erfüllt. Als Alternative kann
ab Klasse 7 ein anderes Wahlpflichtfach (naturwissenschaftlich, technisch, musisch-künstlerisch oder Ähnliches) gewählt werden. Die Gemeinschaftsschule kann
weitere Fremd-sprachen (zum Beispiel Latein) ab Klasse
8 und in der gymnasialen Oberstufe anbieten.
Die in der Gemeinschaftsschule erreichbaren Abschlüsse
richten sich nach den geltenden Bildungsstandards und
werden auf die gleiche Weise vergeben wie in den übrigen
Schulformen, das heißt auf der Basis von Leistungsbewertung mit Ziffernnoten, von Kurs- bzw. Bildungsgangzugehörigkeit und von Ergebnissen zentraler Prüfungen.
Dabei zählen nur die erbrachten Leistungen des Einzelnen; die Organisationsform (integrierte oder kooperative
Form) der Gemeinschaftsschule ist dabei nicht relevant.
Der mittlere Schulabschluss mit Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe ermöglicht den Übergang
in die gymnasiale Oberstufe. Führt die Gemeinschaftsschule eine eigene Oberstufe, ist diese vergleichbar mit
den gymnasialen Oberstufen an Gymnasien und Gesamtschulen.
Die Vergleichbarkeit der Schulleistungen wird auch durch
die Teilnahme an den Lernstandserhebungen gesichert.
Da die Bedingungen der Kultusministerkonferenz für die
gegenseitige Anerkennung von Schulabschlüssen eingehalten werden, ist ein Schulwechsel in eine andere Schulform und auch in ein anderes Bundesland sowohl während
der Sekundarstufe I (zum Beispiel bedingt durch Wohnortwechsel) als auch nach Abschluss der Sekundarstufe I
möglich. Die Gemeinschaftsschule stellt dazu ein bundesweit anerkanntes Überweisungszeugnis mit der Berechtigung für den Besuch einer bestimmten Schulform bzw.
ein Abschlusszeugnis aus. Maßgeblich ist die jeweils erbrachte Schulleistung.
Schulorganisatorische Rahmenbedingungen
Wünschenswert sind für die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule in der Sekundarstufe I vier oder mehr parallele Züge, mindestens erforderlich ist die Dreizügigkeit.
Die Mindestklassengröße bei Errichtung beträgt 23 Schülerinnen und Schüler. Der Klassenfrequenzhöchstwert
beträgt für die integrative Form 25. In der kooperativen
Form ab Klasse 7 beträgt der Klassenfrequenzhöchstwert
29. Dieser Wert ermöglicht vertretbare Klassengrößen
und berücksichtigt, dass in der Regel auch in der kooperativen Form bestimmte Fächer und Lernangebote bildungsgangübergreifend unterrichtet werden. Der Klassenfrequenzrichtwert beträgt 24 Schülerinnen und Schüler.
Auf dieser Basis wird auch die Stellenzuweisung berechnet. Diese Werte orientieren sich an denen der Haupt-
schule. Sie tragen der Heterogenität der Schülerschaft
Rechnung und berücksichtigen, dass in der Gemeinschaftsschule unterschiedliche Schulformen zusammenwachsen.
Da die Gemeinschaftsschule als Schule für eine oder
mehrere Gemeinden eingerichtet wird, soll sich die Aufnahmekapazität an den zu erwartenden Anmeldungen
aus dem Gebiet, für das die Schule von dem oder den
Schulträgern vorgesehen ist, orientieren. Kinder aus diesem Gebiet haben einen Anspruch auf Aufnahme. Sind
darüber hinaus im Rahmen der festgelegten Kapazität
Plätze frei, können nach Entscheidung der Schulleiterin
oder des Schulleiters auch Kinder aus benachbarten Regionen aufgenommen werden.
Die Gemeinschaftsschule gewährleistet gymnasiale Standards. In größeren Gemeinschaftsschulen werden in der
Regel so viele Schülerinnen und Schüler die Qualifikation
zum Übergang in die Oberstufe erreichen, dass eine eigene gymnasiale Oberstufe eingerichtet werden kann. Bei
geringerem Schüleraufkommen kann der Erwerb der allgemeinen Hochschulreife auch im Rahmen einer verbindlichen Vereinbarung mit einer anderen Gemeinschaftsschule mit Sekundarstufe II, einer Gesamtschule, einem
Gymnasium oder einem Berufskolleg, das den Erwerb der
allgemeinen Hochschulreife ermöglicht, sichergestellt
werden. Wichtig ist, dass Eltern bereits bei Anmeldung
zur Gemeinschaftsschule Klarheit darüber erhalten, unter
welchen Bedingungen und wo ihr Kind später eine Oberstufe besuchen und das Abitur erwerben kann. Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule erwerben
die allgemeine Hochschulreife (Abitur) bei entsprechender Qualifikation nach neun Jahren (G9). Bei herausragenden Leistungen ist nach der Sekundarstufe I auch der
Übergang in die Qualifikationsphase möglich.
Für die Gemeinschaftsschule können bestehende Schulgebäude, am besten Schulzentren, aber auch nicht zu
weit voneinander entfernt liegende Schulgebäude, genutzt werden. Die Gemeinschaftsschule kann nach pädagogischen Gesichtspunkten auch auf vorhandene Gebäude aufgeteilt werden, zum Beispiel Klassen 5/6, 7–10 und
die Oberstufe in je einem eigenen Gebäudeteil (Dependancen).
Gemeinschaftsschulen sind in der Sekundarstufe I gebundene Ganztagsschulen mit einem Lehrerstellenzuschlag
von 20 Prozent. Das muss bei der Auswahl und gegebenenfalls beim Ausbau der Schulgebäude berücksichtigt
werden. Zu jeder Gemeinschaftsschule, die den Ganztag
anbietet, gehören eine Mensa und Räume für den gebundenen Ganztag. Bei Dependancelösungen sind diese
Voraussetzungen auch für die einzelnen Standorte maßgeblich.
71
Kollegium und Schulleitung
In der Gemeinschaftsschule arbeiten Lehrkräfte mit Lehrämtern der Sekundarstufen I und II gemeinsam in einem
Kollegium zusammen. In der gymnasialen Oberstufe unterrichten ausschließlich Lehrkräfte mit dem Lehramt für
die Sekundarstufe II. Unabhängig von ihrem Lehramt beträgt die Pflichtstundenzahl für alle Lehrkräfte einheitlich
25,5 Stunden pro Woche. Dies entspricht der geltenden
Unterrichtsverpflichtung für Lehrkräfte an Gesamtschulen und Gymnasien.
Die Besoldung der Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen
orientiert sich an der Bewertung der Ämter an Gesamtschulen. Als Eingangsämter können sowohl Stellen des
gehobenen Dienstes (A 12) als auch bis zu 33 Prozent
Stellen des höheren Dienstes (A 13) zugewiesen werden.
Als allgemeine Beförderungsämter ergeben sich für die
Lehrkräfte des gehobenen Dienstes die Besoldungsgruppe A 13 und für die Lehrkräfte des höheren Dienstes die
Besoldungsgruppe A 14 und A 15. Ab einem bestimmten
Ausbauzustand werden außerdem analog zur Ausbringung vergleichbarer Funktionen an Gesamtschulen spezifische Beförderungsämter zur Verfügung gestellt.
Für Schulleiterinnen und Schulleiter sind – je nach Ausbauzustand der Schule – Ämter der Besoldungsgruppe
A 15, A 15 mit Zulage und A 16 vorgesehen. Für stellvertretende Schulleiterinnen und Schulleiter ergeben sich Ämter der Besoldungsgruppe A 14 mit Zulage, A 15 und A 15
mit Zulage.
Für die Akzeptanz der Gemeinschaftsschule mit Blick auf
die Gewährleistung gymnasialer Standards ist es wichtig,
dass bereits in der Sekundarstufe I Lehrkräfte mit der
Qualifikation für die Sekundarstufe I und II eingesetzt werden können. Darüber hinaus soll ein Leitungsmodell entwickelt werden, bei dem Lehrkräfte unterschiedlicher
Schulformen in der Schulleitung zusammenwirken. Leitungskräfte aus Schulen, die wegen der Gründung der
Gemeinschaftsschule auslaufen, sollen Leitungsaufgaben
in der Gemeinschaftsschule übernehmen können.
Im Zuge der Errichtung und des Aufbaus der Gemeinschaftsschule und des Auslaufens einer oder mehrerer
Schulen wird den Lehrkräften der auslaufenden Schulen
die Option einer Versetzung an die Gemeinschaftsschule
angeboten. Ein automatischer Übergang ist nicht vorgesehen.
Für die Lehrkräfte und die Schulleitung werden vor Einrichtung und in der Aufbauphase der Gemeinschaftsschule Fortbildungsmaßnahmen angeboten. Sie sollen sicherstellen, dass ein gemeinsames Schulverständnis entsteht,
ein Schulprogramm entwickelt und die fachbezogenen
Unterrichtsangebote und Differenzierungsformen ge-
meinsam gestaltet werden können. Darüber hinaus soll
mit der Fortbildung die Entwicklung von Angeboten
außerhalb des Unterrichts, in der Ganztagsschule und in
Vernetzung mit anderen örtlichen Jugend- und Bildungsangeboten gefördert werden.
Im Rahmen des Schulversuchs erhalten die teilnehmenden Schulen wegen des erhöhten Schulentwicklungsaufwands einen „Versuchszuschlag“ von 0,5 Stellen pro Schule und wegen des erhöhten Differenzierungs- und Förderbedarfs einen zusätzlichen Stellenzuschlag von 0,5 Stunden pro Klasse.
Die Gemeinschaftsschule in der regionalen
Schulentwicklung
Rückläufige Schülerzahlen und gravierende Veränderungen bei der Wahl der weiterführenden Schulen haben erhebliche Auswirkungen auf das regionale Schulangebot in
den Sekundarstufen. Während Gymnasien vergleichsweise stabil nachgefragt werden und Gesamtschulen sogar
erhebliche Anmeldeüberhänge verzeichnen und damit im
Bestand nicht gefährdet sind, beträgt die Übergangsquote in die fünften Klassen der Hauptschulen inzwischen
nur noch 13,3 Prozent. Damit können vielerorts nicht
mehr die Bedingungen für einen geordneten Schulbetrieb
nach den Landesvorgaben erfüllt werden. Realschulen
konnten über längere Zeit den Schülerrückgang und die
höheren Übergangsquoten zum Gymnasium durch verstärkten Zugang von Kindern, die traditionell Hauptschulen besuchen, auffangen. Inzwischen sind die Schülerzahlen teilweise auch an Realschulen rückläufig. Großstädte können dieser Entwicklung durch die Zusammenlegung von Schulen begegnen. Häufig ist dies allerdings
mit einem Verlust des wohnungsnahen Schulangebots
verbunden und daher kommunalpolitisch schwer durchsetzbar.
Die Bemühungen, durch Ganztagsbetrieb und pädagogische Profilierung Hauptschulstandorte zu stärken, haben
trotz engagierter Arbeit der Schulen insgesamt nicht zu
einer Stabilisierung der Übergangsquoten geführt. Diese
Entwicklung ist nicht auf Nordrhein-Westfalen beschränkt,
sondern bundesweit zu beobachten. Die Akzeptanz insbesondere der Hauptschule ist weiter gesunken, immer
mehr Schulstandorte sind gefährdet. Kleine Gemeinden,
die nur über eine Hauptschule oder eine Hauptschule und
eine Realschule verfügen, müssen zu Recht befürchten, in
wenigen Jahren kein weiterführendes Schulangebot nach
der Grundschule vor Ort anbieten zu können. Dass sich
diese Entwicklung auch negativ auf die Gemeinde als
Wirtschaftsstandort, als attraktiver Lebensraum für Familien und als kultureller Mittelpunkt auswirken wird, ist
abzusehen. Der Versuch, mit der Einrichtung von Verbundschulen aus Hauptschule und Realschule, bei dem in der
Regel nicht zwei Systeme zusammengefasst, sondern
72
eine Hauptschule um den Realschulbildungsgang erweitert
wurde, „die Schule im Dorf zu lassen“, hat diese Entwicklung nicht stoppen können. Verbundschulen entsprechen
nicht dem immer stärker werdenden Trend, Kinder nach
der Klasse 4 auf einer weiterführenden Schule anzumelden, die einen bruchlosen Weg zum Abitur zumindest ermöglicht und bereits in den unteren Klassen der Sekundarstufe I gymnasiale Standards anbieten kann.
Die Gemeinschaftsschule ist die Antwort auf genau diese
Bedarfslage. Die ersten Planungen und Konzepte zur Einführung von Gemeinschaftsschulen sind in kleinen Gemeinden entstanden. Die Landesregierung greift diese
Entwicklung auf und verfolgt das Ziel, im größtmöglichen
Konsens mit den Betroffenen solche neuen Wege auf der
Grundlage eines Schulversuchs zu öffnen.
Durch die Erweiterung der Entscheidungsmöglichkeiten
zur Errichtung einer Gemeinschaftsschule auf die Ebene
der Schulträger wird die Handlungsfähigkeit der Kommunen gestärkt und die Eigenverantwortung der Schulen
ernst genommen.
Die Errichtung einer Gemeinschaftsschule muss eine
langfristig sinnvolle Entwicklung des kommunalen bzw.
regionalen Schulangebots ermöglichen. Dies setzt nicht
nur eine lokale Schulentwicklungsplanung voraus, sondern erfordert in vielen Fällen eine abgestimmte interkommunale oder regionale Planung. Das gilt vor allem
dann, wenn die organisatorischen Voraussetzungen zur
Errichtung einer Gemeinschaftsschule nur durch Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mehrerer Gemeinden gesichert werden können.
Eine kleinere Gemeinde, die mit einem Schüleraufkommen zwischen 100 und 150 Kindern je Jahrgang eine Gemeinschaftsschule als einzige weiterführende Schule im
Ort plant und damit eine zu klein werdende Hauptschule
und gegebenenfalls eine Realschule ersetzen möchte,
kann diese Planung nur realisieren, wenn dieses Schulangebot tatsächlich für eine deutliche Mehrheit der Eltern
so attraktiv gestaltet ist, dass auch diejenigen Eltern ihre
Kinder dort anmelden, die eine gymnasiale Bildung für
ihre Kinder anstreben. Deshalb ist das pädagogische und
organisatorische Konzept der Gemeinschaftsschule so
gestaltet, dass es alle Bildungswege anbietet, der Vielfalt
von Interessen und Neigungen der Kinder entspricht und
sie schrittweise und individuell zu den passenden Schulabschlüssen führen kann.
Vor Ort kann dieses Konzept nur dann seine volle Wirkung
entfalten, wenn es von einem breiten Konsens getragen
ist. Sind wesentliche gesellschaftliche Gruppen darüber
zerstritten, ob das Angebot einer Gemeinschaftsschule
im Ort sinnvoll ist, hat das zwangsläufig eine geringere
Akzeptanz des neuen Angebots zur Folge und stellt damit
infrage, ob die Schule überhaupt eingerichtet werden
kann. Wenn beispielsweise bei einer Jahrgangsbreite von
120 Kindern in der Gemeinde nur 30 Prozent die Gemeinschaftsschule des Ortes besuchen wollen, macht ihre Errichtung keinen Sinn, selbst wenn durch Einpendler die
Schülerzahl für eine Dreizügigkeit gerade erreicht werden
sollte. Im Antrag auf Errichtung einer Gemeinschaftsschule muss daher schlüssig dargelegt werden, dass die
erforderliche Mindestzügigkeit über einen überschaubaren Zeitraum von fünf Jahren gesichert ist. Dazu kann
eine anonyme Elternbefragung wichtige Aufschlüsse geben. Wenn sich dies im Anmeldeverfahren nicht bestätigt,
kann die Schule nicht errichtet werden.
Gerade bei kleinen Gemeinden ist die Konsensbildung mit
Nachbargemeinden nicht nur ein formales Erfordernis,
sondern auch planerisch sehr wichtig. Es ist nicht sinnvoll, das eigene Schulangebot ohne Berücksichtigung von
benachbarten Angeboten zu planen. Alle kleineren Gemeinden haben Ein- und Auspendler. Familien, die im Bereich der Gemeindegrenzen wohnen, erreichen nicht selten die Schulangebote der Nachbargemeinde einfacher
als die der eigenen Gemeinde. Hier sinnvolle Bewegungen
zu unterbinden wäre kontraproduktiv. Ebenso wäre es
auch nicht akzeptabel, das Schulangebot zulasten einer
Nachbargemeinde auszuweiten oder zu stabilisieren und
damit vorhandene Schulen in ihrem Bestand zu gefährden.
Im Idealfall einer überörtlichen Schulentwicklungsplanung werden so viele Schulplätze bereitgehalten, wie Kinder in der Gemeinde wohnen. Dabei werden sich Ein- und
Auspendler die Waage halten. Auf dieser Basis kann eine
Abstimmung zwischen Nachbargemeinden erarbeitet
werden. Dabei ist vor allem der vorhandene Schulraum zu
berücksichtigen. In Zeiten rückläufiger Schülerzahlen
wäre es kaum vertretbar, auf der einen Seite neuen Schulraum zu bauen, während andernorts qualitativ gute Schulgebäude leer stehen.
Kleine Gemeinden, die trotz hoher Akzeptanz des neuen
Angebots vor Ort nicht die absoluten Zahlen für die dauerhafte Mindestzügigkeit einer Gemeinschaftsschule erreichen, sollten prüfen, ob sie mit einer benachbarten Gemeinde zusammen das notwendige Schüleraufkommen
erreichen können. In diesem Fall können Lösungen mit
zwei Standorten, die die Nutzung vorhandener Schulräume ermöglichen, sinnvoll sein. Wichtig ist aber auch in
diesem Fall, dass die Erreichbarkeit und die Attraktivität
der Schulgebäude so gut sind, dass die Schule tatsächlich angenommen wird.
Vor allem in kleinen Gemeinden, die auf hohe Akzeptanz
angewiesen sind, reicht ein rein technokratischer Planungsprozess für die Errichtung einer Gemeinschaftsschule nicht aus. Um planerisch zu ermitteln, ob der Bedarf für eine Gemeinschaftsschule am Ort gegeben ist,
73
sollten die Eltern von Grundschülern vor einer Befragung
so umfangreich informiert werden, dass ihnen eine realistische Einschätzung darüber möglich ist, wie das neue
Schulangebot für sie ganz konkret aussehen könnte, welche Schulwege zu erwarten sind und wie das pädagogische Konzept der Schule aussehen soll.
Es ist davon auszugehen, dass in größeren Gemeinden,
auch bei Errichtung einer Gemeinschaftsschule, die anderen Schulformen weiterhin Bestand haben. Es ist davon
abzuraten, eine Gemeinschaftsschule ausschließlich auf
der Basis existenzgefährdeter Hauptschulstandorte zu
bilden. Damit würde der gewünschte Effekt, die Gemeinschaftsschule als wohnortnahes, umfassendes Angebot
für gemeinsames Lernen einzurichten, verfehlt. Vielmehr
bietet es sich an, die Gemeinschaftsschule als Stadtoder Ortsteilschule einzurichten, die für die nähere Schulumgebung ein vollständiges und attraktives Schulangebot
darstellt. In Konkurrenz zu den anderen weiterführenden
Schulen vor Ort muss sie mit ihrem Konzept genügend
Attraktivität entfalten. Als eine Schule, die lediglich die
Funktion hat, Kinder aufzunehmen, die an bestehenden
Realschulen oder Gymnasien keine Chance haben, würde
sie mittelfristig unter den gleichen Effekten leiden wie
zurzeit die Hauptschulen.
Im städtischen Raum ist es daher besonders wichtig,
einen geeigneten Standort auszuwählen. Das kann zum
Beispiel ein Schulzentrum in zentraler Lage sein, in dem
bisher eine Hauptschule und eine Realschule untergebracht waren. Einzeln liegende kleine Hauptschulgebäude
sind dagegen in der Regel nicht geeignet. Die Bildung von
Dependancen muss im städtischen Raum kritischer gesehen werden als in kleinen Gemeinden. Sie müssen in Konkurrenz zu bestehenden Schulen, die in der Regel in
einem Gebäude untergebracht sind, bestehen können.
Daher kommt einer fundierten kleinräumigen Schulentwicklungsplanung und insbesondere der Frage einer optimalen Nutzung des Schulraums besondere Bedeutung zu.
Umsetzungsschritte
Schulträger können ab sofort Anträge auf Errichtung
einer Gemeinschaftsschule im Schulversuch zum
1. August 2011 stellen. Der Antrag muss Aussagen zu
einer anlassbezogenen umfassenden Schulentwicklungsplanung, zu der geplanten organisatorischen Ausrichtung
der Gemeinschaftsschule (Zügigkeit, integrative oder
kooperative Form, Fortführung in der Sekundarstufe II)
sowie ein pädagogisches Konzept (s. oben) enthalten.
Dabei hat der Schulträger eine förmliche Elternbeteiligung durchzuführen und ist verpflichtet, die Planungen
mit den betroffenen Nachbarkommunen und mit den in
der Gemeinschaftsschule aufgehenden Schulen abzustimmen.
Sofern durch die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule
eine Bestandsgefährdung einer Schule eines anderen
Schulträgers eintritt, ist eine Teilnahme am Schulversuch
nicht möglich. Eine solche Bestandsgefährdung liegt vor,
wenn die konkurrierende Schule des Nachbarschulträgers voraussichtlich unter die für die betreffende Schulform zur Fortführung grundsätzlich erforderliche Mindestzügigkeit fällt. Die Erreichbarkeit einer Hauptschule bzw.
eines Hauptschulbildungsganges in zumutbarer Entfernung muss gewährleistet sein.
Anträge sind bei der jeweils zuständigen Bezirksregierung einzureichen. Diese wird auch die Schulaufsicht
wahrnehmen und die Schulträger im Vorfeld beraten.
Die Genehmigung erfolgt im Rahmen eines Schulversuchs
gem. § 25 Abs. 1 und Abs. 4 SchulG durch das Ministerium für Schule und Weiterbildung.
Neben einer wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs ist auch die Einrichtung eines Beirats beim Ministerium für Schule und Weiterbildung vorgesehen.
Folgende Unterlagen sind als Hilfestellung für
die Antragstellung beigefügt:
Anlage 1: Zeitplan
Anlage 2: Fragebogen für Eltern – Muster
Anlage 3: Gymnasiale Oberstufe/Vereinbarungen
74
Anlage 1:
Zeitplan für den Start des Modellvorhabens „Gemeinschaftsschule“ zum Schuljahr 2011/2012
Beratung von Kommunen, die sich am
Modellversuch beteiligen wollen
Läuft zurzeit
Abstimmung mit Nachbarkommunen
Oktober/November 2010
Entscheidung der Schulkonferenzen
unter
Oktober/November 2010
Entscheidung der kommunalen Gremien
über Beteiligung an dem Modellversuch
November 2010
Antragstellung über die Bezirksregierung
an das MSW
Eingang im MSW bis 31. Dezember 2010
Entscheidung des MSW über die Teilnahme
am Modellversuch (Genehmigung)
Bis Mitte Januar 2011
Organisationsentscheidung der Schulträger
Bis Anfang Februar 2011
Bestellung einer kommissarischen
Schulleitung durch die Bezirksregierung
Bis Mitte Februar 2011 (Anmeldeverfahren)
Anmeldeverfahren
Februar 2011
Organisatorische und pädagogische
Vorbereitung des ersten Schuljahres
Ab Januar 2011 (Zeitpunkt der Genehmigung)
Personalmaßnahmen durch Bezirksregierung
Ab Januar 2011 (Zeitpunkt der Genehmigung)
Start des Modellvorhabens
7. September 2011
Anlage 2:
Erläuterungen zum Muster eines Fragebogens für die Elternbefragung vor Errichtung von
Gemeinschaftsschulen
Der nachfolgende Fragebogen ist ein Muster, das vom
Schulträger entsprechend angepasst werden sollte.
Mit der Befragung muss eine ausführliche Information
der befragten Eltern über die geplante Gemeinschaftsschule verbunden werden.
Der Fragebogen orientiert sich an den Grundsätzen für
Elternbefragungen, wie sie in der Rechtsprechung ihren
Niederschlag gefunden haben und in Nr. 2.1 Buchstabe
a–d des Runderlasses zur Errichtung und Auflösung von
weiterführenden allgemeinen Schulen und Berufskollegs
vom 6. Mai 1997 (BASS 10-02 Nr. 9), der insoweit auch
für die Gründung von Gemeinschaftsschulen anwendbar ist, zusammengefasst sind. Die Befragung sollte
sich an die Eltern der vierten (die den Eingangsjahrgang der künftigen Schule bilden würden) und der
dritten Grundschulklasse richten. Sie kann auch erweitert werden um die Eltern der ersten und zweiten
Grundschulklasse.
Eine Hochrechnung des Ergebnisses auf eine fiktive
volle Wahlbeteiligung ist zulässig, muss aber vor der
Befragung angekündigt werden.
75
Fragebogen für Eltern
1.
Muster
Mein Kind ist …
ein Junge
ein Mädchen
2.
Mein Kind besucht seit diesem Schuljahr in der Grundschule
den dritten Jahrgang
(3. Schuljahr)
den vierten Jahrgang
(4. Schuljahr)
3.
Wenn es keine Gemeinschaftsschule in NN geben sollte: An welche Schulform
werden Sie das Kind wahrscheinlich anmelden?
(Hier können Sie bis zu zwei Antworten ankreuzen.)
Hauptschule
Realschule
Gymnasium
Gesamtschule
das weiß ich noch nicht
4.
Falls es in NN vom nächsten Schuljahr an eine Gemeinschaftsschule gäbe –
würden Sie Ihr Kind dort anmelden?
ganz bestimmt
eher ja
eher nein
bestimmt nicht
Wir danken Ihnen sehr herzlich für Ihre Bemühungen. Über das Ergebnis der Befragung
informieren wir Sie so schnell wie möglich. Bitte leiten Sie den ausgefüllten Fragebogen im
verschlossenen Umschlag durch Ihr Kind an seine Schule zurück!
76
Anlage 3:
Muster und Hinweise für eine Vereinbarung „Gemeinschaftsschule“ zwischen verschiedenen
Schulträgern bzw. zwischen beteiligten Schulen
I. Vereinbarung zwischen verschiedenen Schulträgern
Wird eine Gemeinschaftsschule ohne eigene gymnasiale
Oberstufe errichtet, bedarf es einer Kooperation mit
einem Gymnasium, einer anderen Gemeinschaftsschule
mit Sekundarstufe II, einer Gesamtschule oder einem Berufskolleg, das den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife ermöglicht.
Befindet sich die Schule mit gymnasialer Oberstufe in anderer Trägerschaft als die Gemeinschaftsschule, muss die
Kooperation auch zum Gegenstand einer Verwaltungsvereinbarung zwischen den beteiligten Schulträgern gemacht werden.
Folgende Bestimmungen sind zwingend in diese Vereinbarung aufzunehmen:
Präambel
Die nachfolgende Vereinbarung dient der Sicherstellung
der Weiterbeschulung der Absolventinnen und Absolventen der Gemeinschaftsschule der Gemeinde/der Stadt/
des Kreises A, sofern diese die Berechtigung zum Besuch
der gymnasialen Oberstufe haben.
Um dieses Ziel zu erreichen haben der Rat der Gemeinde/
der Stadt/der Kreistag des Kreises A am xx.xx.2010 und
der Rat der Gemeinde/der Stadt/des Kreises B am
xx.xx.2010 die nachfolgende Vereinbarung geschlossen:
Aufnahmeverpflichtung
Kommune B verpflichtet sich, Plätze zur Aufnahme der
Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule der
Kommune A in die gymnasiale Oberstufe/das berufliche
Gymnasium der x-Schule bereitzustellen, sofern diese die
Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe
haben.
Schülerfahrkosten
Mit Übernahme der Aufnahmeverpflichtung gilt die Schule mit gymnasialer Oberstufe/das berufliche Gymnasium
für die aufgenommenen Schülerinnen und Schüler der
Gemeinschaftsschule als nächstgelegene Schule im
Sinne des § 9 der Schülerfahrkostenverordnung (SchfkVO).
Laufzeit der Vereinbarung
Die Vereinbarung gilt ab dem Beginn des Schuljahres
2011/2012 und endet mit Ablauf des Schuljahres 2025/2026.
II. Vereinbarung zwischen beteiligten Schulen
Um die Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaftsschule und der Schule mit gymnasialer Oberstufe (sei es
in gleicher oder in anderer Trägerschaft) in pädagogischer
Hinsicht mit Leben zu füllen, sollte zwischen den beteiligten Schulen eine Kooperationsvereinbarung gemäß § 4
Abs. 2 SchulG abgeschlossen werden. Sinnvolle Inhalte
sind:
Kooperation in Fragen des Fachunterrichts durch
gemeinsame Fachkonferenzen, Lehrerfortbildungsveranstaltungen, Vereinbarungen zur Weiterführung
von Fächern aus der Sekundarstufe I und Ähnlichem,
Austausch von Lehrkräften zwischen den beteiligten
Schulen im Wege von Teilabordnungen,
Beteiligung bei Veranstaltungen außerhalb des
Unterrichts,
gemeinsame Tagungen von Mitwirkungsgremien etc.
Vereinbarungen über die Zusammenarbeit von Schulen
bedürfen der Zustimmung der beteiligten Schulkonferenzen (§ 4 Abs. 3 S. 3 SchulG). Das Einvernehmen mit dem
Schulträger ist herzustellen, soweit für ihn zusätzliche
Kosten durch die Zusammenarbeit der Schulen entstehen
(§ 4 Abs. 5 SchulG).
77
(C) Interviewleitfaden für die Dokumentation zum
Entstehungsprozess der Gemeinschaftsschule in
Nordrhein-Westfalen
Interviewpartner sind: Schulleitungen, Schulaufsicht (Bezirksregierungen), (Ober-)Bürgermeisterin/Bürgermeister in
der Funktion als Leiterin/Leiter der Verwaltung und Vorsitzende/Vorsitzender des Rates, Vorsitzende/Vorsitzender des
Schulausschusses als politische Vertreterin/Vertreter und teilweise externe Beraterinnen und Berater von
Schulentwicklungsplanungsbüros.
Interviewleitfaden für die Zielgruppe: Schulleitung
1. Vorgeschichte zum Antrag:
Gab es in der Kommune einen spezifischen Grund,
eine Gemeinschaftsschule errichten zu wollen?
Welche Gründe gab es neben dem veränderten Elternwahlverhalten und über die demografischen Entwicklungen hinaus, die Errichtung einer Gemeinschaftsschule zu beantragen? Wie war die Stimmung in den
Kollegien vor dem Antrag und während der Antragstellung? Wie war die Stimmung bei den Eltern zu
dem Vorhaben der Gemeinschaftsschule? Gab es
Zusammenschlüsse von Interessengruppen?
1.1 Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Wie hat der Prozess der politischen Willensbildung
vor Ort die Haltung der Lehrkräfte, der Schülerinnen
und Schüler sowie der Eltern zum Schulversuch
„Gemeinschaftsschule“ beeinflusst?
1.2 Kommunale Schulentwicklungsplanung:
Welche Auswirkung hatte die kommunale Schulentwicklungsplanung auf die Haltung der Lehrkräfte, der
Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern zum
Schulversuch „Gemeinschaftsschule“?
1.3 Regionale Abstimmungsprozesse und
Verfahren der Konsensbildung:
Wie haben sich die regionalen Abstimmungsprozesse
und das Verfahren der Konsensbildung zwischen den
Schulen in den Gemeinden und/oder innerhalb der
Gemeinde auf die Haltung der Lehrkräfte, der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern zum Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ ausgewirkt? Wie haben
sich die beteiligten Schulen untereinander geeinigt
(zum Beispiel im Hinblick auf Gebäude, Schulleitung,
Kollegium)? Welche Rolle hat die Bezirksregierung
gespielt (war beispielsweise eine Art „Moderation“
nötig)?
1.4 Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzeptes:
Gab es Vorbilder für das pädagogische Konzept?
Wenn ja, welche und warum? Wer hat das Konzept
entwickelt? Welche Schwerpunkte standen warum im
Vordergrund? Gab es strittige Punkte? Wenn ja, welche und warum?
1.5 Externe Begleitung und Unterstützung durch
Schulaufsicht und/oder Planungsbüros/
Beratungsagenturen:
Wer hat warum extern begleitet (Beraterinnen/Berater
oder/und Schulaufsicht)? An welcher Stelle im
Prozess wurden die externen Begleiterinnen/Begleiter
eingebunden? Nur bei Schwierigkeiten oder generell
während des ganzen Prozesses? Wurden sie auch bei
der Entwicklung des pädagogischen Konzeptes einbezogen? Wie bewerten Sie das (im Nachhinein)?
78
Interviewleitfaden für die Zielgruppe: Schulaufsicht/Bezirksregierung
1. Vorgeschichte zum Antrag:
Gab es in der Kommune einen spezifischen Grund,
eine Gemeinschaftsschule errichten zu wollen?
Welche Gründe gab es neben dem veränderten Elternwahlverhalten und über die demografischen Entwicklungen hinaus, die Errichtung einer Gemeinschaftsschule zu beantragen?
1.1 Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Wie haben Sie Einfluss auf den Willensbildungsprozess genommen? Durch (formelle oder informelle)
Beratungen?
1.2 Kommunale Schulentwicklungsplanung:
Waren Sie in den Prozess der Schulentwicklungsplanung eingebunden und wenn ja, in welcher Form?
1.3 Regionale Abstimmungsprozesse und
Verfahren der Konsensbildung:
Welche Rolle haben Sie als Vertreterin/Vertreter der
Bezirksregierung gespielt? Wie sind die Lösungen zustande gekommen, informell oder formell in Sitzungen und wie sahen die Lösungen/Kompromisse aus?
1.4 Prozess der Entwicklung des pädagogischen
Konzeptes:
Welche Punkte im pädagogischen Konzept waren entscheidend für Sie, die Genehmigung des Antrags zu
befürworten und warum? Gab es strittige Punkte, wie
hat man sich geeinigt? Gab es mehrere Abstimmungsrunden?
1.5 Externe Begleitung und Unterstützung durch
Schulaufsicht und/oder Planungsbüros/
Beratungsagenturen:
Wie haben Sie die Schulen und Kommunen neben der
„reinen“ Beratung noch unterstützt (zum Beispiel
durch Supervision, Coaching, Fortbildung, weitere
Unterstützungssysteme)? In welchen Situationen war
Ihre Unterstützung besonders wichtig?
Gab es Konflikte zwischen den Gemeinden und/oder
innerhalb der Gemeinde und zwischen den Schulen?
Interviewleitfaden für die Zielgruppe:
Externe Beratungsagenturen/Schulentwicklungsplanungsbüros
1.2 Kommunale Schulentwicklungsplanung:
Wie waren Sie als Beraterin/Berater eingebunden?
Welche Aufgaben hatten Sie? Wie beurteilen Sie Ihre
Rolle im Nachhinein? Wie hat Ihre Arbeit die Entstehung der Gemeinschaftsschule beeinflusst?
1.3 Regionale Abstimmungsprozesse und
Verfahren der Konsensbildung:
Welche Aspekte waren wichtig, damit der Prozess zur
Entwicklung der Gemeinschaftsschule angestoßen
werden konnte (abgesehen von politischen Rahmenbedingungen aus Düsseldorf)?
1.5 Externe Begleitung und Unterstützung durch
Planungsbüros/Beratungsagenturen:
Wen haben Sie beraten (die Stadt als Schulträger
oder auch die Schule selbst)? An welcher Stelle im
Prozess wurden Sie eingebunden, nur bei Schwierigkeiten oder generell während des ganzen Prozesses?
79
Interviewleitfaden für die Zielgruppe:
(Ober-)Bürgermeisterin/(Ober-)Bürgermeister als Leiterin/Leiter der Verwaltung
und Vorsitzende/Vorsitzender des Rates
1. Vorgeschichte zum Antrag:
Gab es in der Kommune einen spezifischen Grund,
eine Gemeinschaftsschule errichten zu wollen? Wie
sah die demografische Entwicklung der Kommune
aus? War die Entscheidung, eine Gemeinschaftsschule zu errichten, eine „perspektivische Lösung“ oder
gab es einen aktuellen Anlass? Welche Gründe gab es
neben dem veränderten Elternwahlverhalten und
über die demografischen Entwicklungen hinaus, die
Errichtung einer Gemeinschaftsschule zu beantragen? Wie war die Stimmung in den Gremien vor dem
Antrag und während der Antragstellung? Wie war die
Stimmung bei den Eltern? Gab es zum Beispiel Zusammenschlüsse von Interessengruppen? Wie beschreiben Sie die Stimmung in der Kommune hinsichtlich des Schulversuchs: eher als aufsteigende Gerade
oder als Zickzackkurs? Durch welche Kriterien wurde
diese Entwicklung beeinflusst?
1.2 Kommunale Schulentwicklungsplanung:
Wie hat die kommunale Schulentwicklungsplanung
die Entstehung der Gemeinschaftsschule beeinflusst? Wurden Sie als Schulträger bei der kommunalen Schulentwicklungsplanung extern unterstützt?
1.3 Regionale Abstimmungsprozesse und
Verfahren der Konsensbildung:
Gab es Konflikte zwischen den Gemeinden und/oder
innerhalb der Gemeinde und zwischen den Schulen?
Welche Rolle hat die Bezirksregierung gespielt? Wie
sind Sie zu den Lösungen gekommen, informell oder
formell in Sitzungen? Mit welchen Argumenten konnten Kritiker überzeugt werden?
1.5 Externe Begleitung und Unterstützung durch
Schulaufsicht und/oder Planungsbüros/
Beratungsagenturen:
1.1 Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Gab es Schwierigkeiten und wenn ja, an welcher
Stelle? Wie sind Sie zu den Lösungen gekommen,
informell oder formell in Sitzungen? Wie sah der
„Konsens“ aus (Zwischenergebnisse)? Welche positiven Ergänzungen gab es, welche Abstriche mussten
in Kauf genommen werden? Mit welchen Argumenten
konnten Kritiker überzeugt werden?
Wurden Sie extern unterstützt und begleitet? Wenn
ja, an welcher Stelle im Prozess wurden die externen
Begleiter eingebunden? Nur bei Schwierigkeiten oder
generell während des ganzen Prozesses? Wie bewerten Sie das (im Nachhinein)?
Interviewleitfaden für die Zielgruppe:
Vorsitzende/Vorsitzender des Schulausschusses als politische Vertreterinnen/Vertreter
1. Vorgeschichte zum Antrag:
Gab es in der Kommune einen spezifischen Grund,
eine Gemeinschaftsschule errichten zu wollen? Welche Gründe gab es neben dem veränderten Elternwahlverhalten und über die demografischen Entwicklungen hinaus, die Errichtung einer Gemeinschaftsschule zu beantragen? Wie war die Stimmung in den
Gremien vor dem Antrag und während der Antragstellung? Wie war die Stimmung bei den Eltern? Gab
es zum Beispiel Zusammenschlüsse von Interessengruppen? Wie beschreiben Sie die Stimmungskurve in
der Kommune: eher als aufsteigende Gerade oder
Zickzackkurs?
1.1 Prozess politischer Willensbildung vor Ort:
Gab es Schwierigkeiten und wenn ja, an welcher
Stelle? Wie sind Sie zu den Lösungen gekommen,
informell oder formell in Sitzungen? Wie sah der
„Konsens“ aus (Zwischenergebnisse)? Welche positiven Ergänzungen gab es, welche Abstriche mussten
in Kauf genommen werden? Mit welchen Argumenten
konnten Kritiker überzeugt werden?
1.2 Regionale Abstimmungsprozesse und
Verfahren der Konsensbildung:
Gab es Konflikte zwischen den Gemeinden und/oder
innerhalb der Gemeinde und zwischen den Schulen?
Welche Rolle hat die Bezirksregierung gespielt? Wie
sind die Schulen und Gemeinden zu den Lösungen
gekommen, informell oder formell in Sitzungen? Mit
welchen Argumenten konnten Kritiker überzeugt
werden?
80
Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des
Landes Nordrhein-Westfalen herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern oder Wahlhelferinnen und Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet
werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags- und Kommunalwahlen sowie für die Wahl der Mitglieder des Europäischen
Parlaments. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der
Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt
ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Eine Verwendung dieser Druckschrift durch
Parteien oder sie unterstützende Organisationen ausschließlich zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder bleibt hiervon unberührt. Unabhängig davon, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Schrift verteilt worden ist, darf sie
auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme
der Landesregierung zugunsten einzelner Gruppen verstanden werden könnte.
Impressum
Herausgeber:
Ministerium für Schule und Weiterbildung
des Landes Nordrhein-Westfalen
Völklinger Straße 49
40221 Düsseldorf
Telefon 0211 5867-40
Telefax 0211 5867-3220
E-Mail: [email protected]
Internet: www.schulministerium.nrw.de
Redaktion:
Rainer Michaelis, Friedhelm Jennessen
(beide Referat 524)
Autorinnen und Konzeption:
Nina Braun, Frauke König
Foto Titelseite:
Alex Büttner
Gestaltung:
Elke Steinrötter, Visuelle Kommunikation, Düsseldorf
Druck:
Düssel-Druck & Verlag GmbH, Düsseldorf
81
82
Ministerium für Schule und Weiterbildung
des Landes Nordrhein-Westfalen
Völklinger Straße 49
40221 Düsseldorf
Telefon 0211 5867-40
Telefax 0211 5867-3220
[email protected]
www.schulministerium.nrw.de