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10_2010_G4-G5_GENERATIO 14.10.10 17:11 Seite 4 G4 g e n e r at i o n e n ver.di publik 10 | oktober 2010 ver.di publik 10 | oktober 2010 Es ist, wie es ist Es gibt noch viel zu tun broschüre | „Leben und Wohnen für alle Lebensalter – Bedarfsgerecht, barrieerefrei, selbstbestimmt“, so heißt eine neue Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie gibt mit zahlreichen Praxisbeispielen, Checklisten und weiteren Fundstellen Tipps und Hinweise, wie ein selbstständiges Leben und Wohnen im Alter erreicht und auch im Fall von Pflegebedürftigkeit aufrecht erhalten werden kann. Die Broschüre kann heruntergeladen werden unter: www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen Wohin mit Oma? Legislatives Theater | Theater, das direkt auf die Gesetzgeber einwirkt. Hier setzt das legislative Theater von Jens Clausen und Harald Hahn in Berlin an. Aktuelle gesellschaftliche Themen werden von Schauspielern und Laien auf die Bühne gebracht, die Zuschauer/innen können ihre Meinungen oder ihre Erfahrungen mit einbringen. Im Stück Wohin mit Oma? geht es um Verbesserungen für pflegende Angehörige. Rund 2,3 Millionen pflegebedürftige Menschen leben in Deutschland, die meisten werden zuhause von Verwandten versorgt. Künstlerisch umgesetzt werden Fragen wie: Welche ambulanten Hilfsangebote gibt es? Wie ist die Qualität der Pflegeheime? Am 26.10.2010 wird im Rahmen eines Theaterabends in der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Politikern und Experten über das Stück diskutiert. Weitere Aufführungen: am 2.11. im Heimathafen Neukölln, am 7.11 im Theater Coupè, Berlin, und am 10.11. im Stadttheater Cöpenick. Der Eintritt an allen Abenden ist frei. www.legislatives-theater.de von Josefa Thomas Barrierefreies Wohnen, schöne Architektur und günstig finanziert: Die Genossenschaftler haben genau geplant Zusammen ist man weniger allein wohnart | In Bad Kreuznach entsteht Nachbarscha per Genossenscha von Helma Nehrlich Am Wochenende besucht Toni Nissen die Baustelle. Im Bad Kreuznacher Musikerviertel, dort wo früher „Housings“ die US-Militärs beherbergten, entsteht eine Wohnanlage mit zehn barrierefreien Einheiten. Die Wände der 110-Quadratmeter-Wohung im Erdgeschoss stehen längst; im nächsten Juni will der 52-jährige ver.dianer mit seiner Frau Ulla einziehen. Ende Oktober soll Richtfest gefeiert werden. Auf der Internetseite des Projekts wohnart-kreuznach.de kann man alles mitverfolgen – dank der Bilder des ehemaligen Pressefotografen, der seit neun Jahren als it-Administrator in der hessischen Landesverwaltung arbeitet. Insgesamt 14 überzeugte Mitstreiter bauen hier gemeinsam an ihrer Zunkunft: 49 Jahre alt ist die Jüngste, 71 der Älteste. Jetzt kümmern wir uns selbst Zusammen leben zu können, steht für Heinz Zingen, 63, und seine Frau Marika beim generationenübergreifenden Wohnen im Vordergrund. Eva-Maria Knauthe, 69, betont neben der ressourcenschonenden Bauweise unter Nutzung von Erdwärme vor allem, „dass ich nicht alleine bin“. Die Idee zu diesem bezahlbaren Wohnsitz mit sozialer Mischung, gemeinschaftlich und selbstbestimmt, entstand, als sich einige engagierte Frauen der Initiative Lokale Agenda 21 in Bad Kreuznach Gedanken über innovative Wohnprojekte in der Kurstadt machten. Ulla Nissen war als Stadtplanerin dabei. Das war im November 2003. Ihr war schnell klar, dass der Generationenvertrag, der hier eingegangen werden soll, nicht umsonst zu haben ist, „dass ich erst etwas geben muss, bevor ich etwas nehmen kann“, so die 54-Jährige. Anfangs hatten die Aktivisten versucht, eine der Kreuznacher Wohnungsbaugesellschaften als Träger für ihr Projekt zu gewinnen. Doch es blieb beim Alleingang: Eine Initiativgruppe wurde gebildet, Werbung betrieben, Kennenlerntreffen wurden veranstaltet. Dann wurde ein Konzept erarbeitet, eine Rechtsform gesucht, ein Architekt beauftragt, ein Grundstück gekauft und man wälzte Baupläne. Immerhin hatten sich die Kreuznacher vernetzt und schon während der Planung ähnliche Wohnprojekte in Darmstadt und Mainz besucht. Der lange Vorlauf jedoch wurde zur Geduldsprobe. „Wir gründen eine Genossenschaft!“, war man sich im Juli 2007 einig. Seit 2009 gibt es sie nun, die WohnArt eG. „Alles läuft mit mehr Schwung“, erzählt Ulla, die dem Vorstand angehört. Sie ist überzeugt von dieser „sichersten Gesellschaftsform“ (siehe Kasten). Die Mitglieder haben ein Dauernutzungsrecht an ihrer Wohnung, ein genossenschaftlicher Prüfverband sichert externe Bilanzprüfungen. Als besonders wichtig erwies sich der Beschluss, das Projekt in zwei Bauabschnitte zu teilen. Im Juni 2010, ein Jahr nach der Genossenschafts-Gründung, wurde der erste Spatenstich gemacht. In einem zweiten Abschnitt können noch weitere Bewohner hinzukommen, ohne das Rad ganz neu erfinden zu müssen. Denn es erwies sich als schwierig, jüngere Leute und Familien mit Kindern für WohnArt zu gewinnen. „Das liegt nicht am Konzept“, weiß Toni, der Werbetouren auch durch Kindertagesstätten unternommen sozial-kulturelles zentrum dresden-gorbitz | Mehrere Häuser unter einem Dach zept der „Sozialkulturellen Zentren“ entwickelt, das bedeutet mehrere Wohnund Betreuungsformen unter einem Dach, verbunden mit Serviceleistungen, hauswirtschaftlichen und kulturellen Angeboten und städtischer Vernetzung. Ein, wie sich zeigt, attraktives Konzept für ein so großes Haus wie in Gorbitz, das 2000 geschickt umgebaut und neu strukturiert wurde. Hoher Standard bei moderaten Preisen „Wir nutzen, dass praktisch verschiedene Bereiche aufeinandergestapelt und kommunikativ wie auch wirtschaftlich verbunden sind. Heute würde man einzelne Häuser in einem Park bauen, hätte dann aber nicht diese gute Mischung“, erklärt Elke Keiner, Geschäftsführerin Sozialer Bereich. In der Regel haben die Bewohner/innen jetzt Einzelzimmer mit Bad – „ein vergleichsweise hoher Standard bei vergleichsweise mo- Die eingetragene Genossenschaft (eG) ist aufgrund ihrer demokratischen Struktur eine günstige Rechtsform für kleinere Kooperationen und solidarische Selbsthilfe. Die Personenvereinigungen sind nach dem Genossenschaftsgesetz sowie dem von den Mitgliedern verabschiedeten Geschäftskonzept und der Satzung allein der Förderung ihrer Mitglieder verpflichtet. In der Regel gilt: ein Mitglied – eine Stimme. Beschlussgebendes Gremium ist die Mitgliederversammlung. Ein Prüfverband, in dem jede Genossenschaft Pflichtmitglied ist, sichert umfassende Prüfung und Beratung sowie regelmäßige Kontrolle der Geschäftsführung. Eine Mindestkapitaleinlage ist nicht vorgeschrieben, die eG haftet in Höhe ihres Vermögens. Ausscheidende Genossenschafter haben Anspruch auf Auszahlung ihrer Guthaben. Hier erfährt man mehr über die Planung gemeinschaftlicher Wohnprojekte: www.wohnprojekte-portal.de www.fgwa.de www.stiftung-trias.de Alles meins gibt’s hier nicht Wenn der Alltag nicht mehr allein zu schaffen ist Annemarie Freudenberg blickt gern aus ihrem Fenster im siebenten Stock weit über Dresden hinweg. Die 83-Jährige musste vor zwei Jahren ihre Wohnung aufgeben und ist in ein Zimmer im Bereich „Wohnen mit Pflege“ des „Sozial-kulturellen Zentrums“ Gorbitz gezogen. Einige vertraute Möbel hat sie mitgenommen. „Hier habe ich alles, was ich brauche, werde gut betreut, habe Gesellschaft und gleichzeitig mein Refugium. Ich fühle mich wohl. In meiner alten Wohnung habe ich den Alltag allein nicht mehr bewältigt.“ Der 1986 eröffnete, in typischer Großblockweise als kommunales Feierabendheim errichtete Bau im Neubaugebiet Gorbitz vereint heute die Konzepte „Wohnen mit Pflege“ für 204 alte Menschen, davon 154 mit Demenz, „Wohnen mit Betreuung“ für 63 mit geringem Pflegebedarf und fünf Wohnungen „Wohnen in Geborgenheit“. Schon Mitte der 90er Jahre hat die Volkssolidarität das Kon- Wieso Genossenschaft? deraten Kosten“, wie sie sagt. „Wir legen Wert darauf, nicht nur neue Begriffe zu kreieren, sondern Alltag so zu leben. Das heißt, dass die Bewohner ihre Privatheit haben, auch wenn die Wohnung kleiner geworden ist, dazu die Pflege, die sie brauchen, und die Gemeinschaft, die sie wünschen.“ Das Konzept des Hauses wird ständig überprüft, an demografische Entwicklungen angepasst. „Unser Bewohnerprofil hat sich verändert, die Menschen kommen in höherem Alter und betreuungsbedürftiger zu uns“, erläutert Elke Keiner. „Große Feste im Speisesaal beispielsweise finden keine Resonanz mehr, wir bieten deshalb kleinere Programme in den Wohnbereichen an.“ Auch das Café soll nach einer sommerlichen Versuchsphase auf der Terrasse wieder genutzt werden. Bettina Erdmann Kontakt: www.wohnen-im-alter.de/ altenheim-pflegeheim-sozial-kultu relles-zentrum-gorbitz-14522.html hat. „Junge Familien suchen für sich und ihre Kinder eine schnelle Lösung, sie haben nicht den Atem, womöglich Jahre zu warten.“ Bei mancher alleinerziehenden Mutter ist der Traum an der Finanzierung gescheitert. Bei anderen waren Kinder, Neffen oder Enkel die Bedenkenträger: „Es ist eben nicht wie bei einem eigenen Haus. Unsere Mitglieder erwerben Anteile, die werden auch vererbt, aber niemand kann sagen: Das alles hier gehört mir“, sagt Toni Nissen. Ohne Eigenkapital geht nichts: 1 000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche sind als Einlage in die Genossenschaft zu zahlen, die Baukosten wurden mit 2 000 Euro pro Quadratmeter hart kalkuliert und sind zur Hälfte kreditfinanziert. Das Wohngeld, das für künftige WohnArtGenossenschafter monatlich anfällt, beträgt 4,65 Euro pro Quadratmeter. Alles ist so berechnet und konzipiert, dass Förderkriterien eingehalten sind und Zuschüsse vom Land Rheinland-Pfalz in Anspruch genommen werden können. Das betrifft etwa den Energiesparstandard und ökologische Vorgaben. „Angenehme Wohnatmosphäre, schöne Architektur, günstige Finanzierung“, machen für den 66-jährigen Rudi Herrmann und seine Frau die Attraktivität des Projektes aus. Bei der Planung mussten freilich immer wieder Wünsche und Zwänge in Einklang gebracht, Kompromisse gefunden werden. Nicht jeder kann in den begehrteren Obergeschossen wohnen, dafür lassen sich die Einheiten mit 55 bis 114 Quadratmetern sehr flexibel gestalten. Ulla und Toni Nissen haben in ihrem künftigen Reich quasi alles doppelt: Zwei Eingänge, zwei Terrassen und zwei Bäder. Wenn mal einer allein bleibt, ließe sich alles praktisch halbieren. Die geplante WohnArt-Gemeinschaftswohnung, die auch für Gäste zur Verfügung stehen sollte, ist im Laufe der Debatten allerdings auf einen Gemeinschaftsraum geschrumpft. Dort sollen ab nächsten Sommer Treffen und Kurse veranstaltet werden. Ein pc wird für alle zur Nutzung bereit stehen, wie im Innenhof ein Gartenfreisitz mit Grill. Bis dahin könnte Toni Nissen noch mehr als vierzigmal den Baufortschritt fotografieren. Er stammt übrigens aus einer Großfamilie. Von WohnArt erhofft er sich „deren Vorteile – ohne die Nachteile“. www.wohnart-kreuznach.de F OTO : G E R H A R D W E B E R Selbstbestimmt Wohnen pflegeheim | Wenn die Mutter nicht selbst betreut werden kann. Ein persönlicher Blick F OTO S : TO N I N E M E S / T R A N S I T ver.di-senior/innen | Es ist leider eine traurige Wahrheit: Der Ruhestand schützt nicht vor einer unsozialen Politik. Längst sind alle Errungenschaften rund um die Alterssicherung ins Visier der Regierung geraten. Geht es nach cdu/csu und fdp, dann lässt sich die Zukunft der Seniorinnen und Senioren auf einen Nenner bringen: Weniger Leistungen, aber mehr Zuzahlungen. Und zwar unabhängig davon, ob man unfreiwillig oder auf eigenen Wunsch hin aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist. Es ist also nötig, sich auch im Ruhestand nicht schutzlos den Angriffen auf soziale Errungenschaften auszuliefern. Senior/innen brauchen einen starken Partner. Und der ist ver.di. Denn ver.di macht mobil für soziale Gerechtigkeit, eine solide Alterssicherung und ein Gesundheitswesen, das für alle bezahlbar bleibt. www.verdi-senioren.de g e n e r a t i o n e n G5 Was machst du mit dem Knie, lieber Hans Wir leben länger, also wollen wir auch länger was vom Leben haben. Aber was er- Für „Ursula und Siegfried M.“, die auf dem Siegerfoto von Gerhard Weber zu se- warten wir von den gewonnenen Lebensjahren? Blockieren überholte Bilder vom hen sind, gehört zum Alter auch das ungebremste Bedürfnis nach Körperlichkeit Älterwerden unsere Köpfe? Werden sie den neuen Möglichkeiten gewonnener und Sexualität. Für viele noch immer ein gesellschaftliches Tabu, das einschüchtert Lebensjahre noch gerecht? „Neue Bilder vom Alter(n)“ wollte die Nationale Aka- und manch einem vorzeitig den Spaß verdirbt. demie der Wissenschaften sehen und hat einen Fotowettbewerb ausgeschrieben. Nach dem Auftakt in Braunschweig ist die Ausstellung der eindrucksvollen und Zeigt uns Lebensentwürfe und Perspektiven des Altwerdens heute und in Zukunft, überraschenden Fotografien bis zum 31.10.2010 in der vhs-photogalerie im Treff- lautete die Aufgabe. Und die Resonanz war groß. 400 Arbeiten wurden einge- punkt Rotebühlstraße in Stuttgart zu sehen. Anschließend geht sie auf Wander- reicht; von professionellen- und Hobbyfotografen zwischen 16 und 83 Jahren. schaft nach München, Berlin und Bonn: www.altern-in-deutschland.de Das Erste seiner Art Nach eigener Fasson lebensort vielfalt | Berliner Haus für schwule Senioren beginenhof | In Berlin teilen sich 53 Frauen ein Haus Das Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt” in Berlin-Charlottenburg wird das erste seiner Art sein: Die Berliner Schwulenberatung baut bis 2012 eine ehemalige Kita zu einem Mehrgenerationenhaus mit 25 Wohnungen vor allem für schwule Senioren, aber auch für Heterosexuelle, Frauen und Familien aus. Dazu wird eine Wohngemeinschaft für acht demenzkranke Schwule gehören, ein Nachbarschaftstreffpunkt mit Café und ein großer Garten. 2,7 Millionen Euro fließen aus der Stiftung Klassenlotterie, 2 Millionen investiert die Schwulenberatung selbst, die mit ihren Büros ins Erdgeschoss ziehen wird. Ein Erbbaurechtsvertrag fürs Grundstück ist unterzeichnet. 150 Bewerber stehen bereits auf der Warteliste. „Das Interesse ist groß“, sagt Projektleiter Marco Pulver. Vor allem ältere Schwule, die noch die Stigmatisierung durch den § 175 in sich trügen und sich zu ihrer Homosexualität nicht öffentlich bekennen könnten, wollten nicht in ein normales Altersheim ziehen. Allein wollen sie aber auch nicht leben. Als ehrenamtlicher Mitarbeiter der mobilen Schwulen- Statistisch gesehen stehen Frauen irgendwann allein da: Sie haben die höhere Lebenserwartung und sind oft mit älteren Männern liiert. In Berlin, die als Hauptstadt der Singles gilt, wohnt knapp eine Million Menschen solo, fast zwei Drittel davon sind Frauen. Im Beginenhof haben 53 Frauen eine Möglichkeit gefunden, ein Dasein nach eigener Fasson zu führen und sich dennoch in einer Gemeinschaft aufgehoben zu fühlen. Sie sind alle über 40 und bezogen hier 2007 ihre Eigentumswohnungen. Zentral in Kreuzberg gelegen und doch ruhig, mit viel Grün. Der geschwungene Bau der Leipziger Architektin Barbara Brakenhoff strahlt Leichtigkeit aus. Er erlaubt Individualität und Gemeinsinn. Die Grundrisse der Wohnungen konnten nach Wunsch angepasst werden. Zufrieden zeigt etwa eine Bewohnerin, die aus Hessen nach Berlin gezogen ist, ihre Wohnung: Ein zusätzlich eingebauter Pfeiler bietet einerseits Platz für Bücher, andererseits untergliedert er den Raum optisch. Der großzügige Balkon macht die Wohnung luftig. Gemeinschaftliches findet im Kleinen statt − jeweils beratung kennt Bernd Gaiser Ängste vor Einsamkeit im Alter genau und engagiert sich auch deshalb als Sprecher des bereits existierenden Mieterrates für das neue Haus. Der 65-jährige ehemalige Buchhändler wird eine Maisonette-Wohnung beziehen. Er freut sich auf mehrere Generationen unter einem Dach. „Mir liegt viel daran, noch das Leben zu genießen und statt einer eigenen Familie im Alter eine Wahlfamilie zu haben.“ Auch wenn das Haus nicht als Pflegeheim konzipiert ist, wird mit barrierearmem Standard, einer Concierge und wählbaren ambulanten Servicediensten ans hohe Alter gedacht. Wie das Experiment ausgehen wird, kann Marco Pulver noch nicht sagen. Die große Resonanz zeige aber, dass es der richtige Weg sei. „Ob und wie wir unser Engagement weitertreiben, hängt natürlich auch von Finanzierungsmöglichkeiten ab.“ Pulver kann sich vorstellen, dass es irgendwann in jeder Großstadt ein solches Wohnprojekt gibt. Bettina Erdmann Infos: www.lebensort-vielfalt.de vier Frauen teilen sich einen Laubengang − und im Großen: Im Erdgeschoss gibt es Tanzkurse, er dient auch dem monatlichen Jour fixe, bei dem alles besprochen wird, was im Beginenhof passiert. Für Besucher gibt es ein Gästeappartement und für alle zum Schwatzen und Chillen eine große holzgedeckte Terrasse. Ja, anfangs habe es auch Konflikte zwischen den Frauen gegeben. Aber man hat Kompromisse gefunden. Die räumliche Nähe schafft gegenseitige Unterstützung. Einige Frauen leben mit ihren Ehemännern hier, sie dürfen mieten, aber nicht besitzen. Jutta Kämper, die selbst im Beginenhof wohnt, gründete 1992 den Verein Beginenwerk nach Vorbild der mittelalterlichen flandrischen Beginenhöfe. Weil viele weitere Frauen sich für ein Leben in Gemeinschaft interessieren, entsteht inzwischen ein zweiter Bau in Berlin-Friedrichshain. Er soll im Februar 2011 bezugsfertig sein. Ute Bauer Kontakt: 030 / 615 91 77; E-Mail info@ beginenwerk.de www.frauenwohnen-berlin.de „Du gehst nie ins Heim, du doch nicht.“ Ich war zehn, als ich diesen Satz zum ersten Mal gesagt habe. Nichts war leichter zu geben als dieses Versprechen, bei meiner schicken, erfolgreich berufstätigen Mutter. Lange her. Seit einem halben Jahr wohnt sie jetzt in einem teuren Seniorenheim, Versprechen hin oder her. Es gab keine Wahl. Sie ist Ende 70, immer noch elegant, geistig klar, aber nach einer schweren Krankheit körperlich nicht mehr gesund. Das Haus hat eine ideale Lage, urban genug für Berlin, dicht an einem schönen Park, von meiner Wohnung aus zu Fuß zu erreichen. Es steht mitsamt seinem Garten in ihrer vertrauten Gegend. Bestens. Und schlimm zugleich. Was ihr täglich fehlt, worauf sie gehofft hatte, sind Gesprächspartner. Die Pflegerinnen haben wenig Zeit, andere Bewohner brauchen viel mehr Pflege und Betreuung. Die Tischnachbarn in dem kleinen Speisesaal sind mehr oder minder wach im Kopf. Viele leiden unter Demenz. Frau Berger, die meine Mutter bei ihrem Einzug munter empfing, hat einen Schlaganfall erlitten und entgleitet unserer Welt zusehends. Vor ein paar Tagen hat meine Mutter ihr beim Essen zum ersten Mal geholfen, hat Frau Berger gefüttert. An ein Gespräch ist nicht mehr zu denken. Sicher, das Zimmer meiner Mutter ist groß, wir haben es mit ihren schönsten Möbeln eingerichtet, nichts erinnert an ein Krankenhaus. Aber der Gedanke, dies sei die letzte Station... Was macht sie noch melancholisch? All die Pfleger und Hilfskräfte – meist Männer – die sich nicht darauf einstellen können, mit wem sie gerade reden, sondern ständig einen falsch-aufmunternden und viel zu lauten Ton beibehalten. Das Essen, das natürlich nicht so ist, als würden wir zu Hause kochen. Nicht so abwechslungsreich, nicht so international, eher altdeutsch und altmodisch. Und sehr knapp kalkuliert. Zeit heilt nicht alle Wunden Es ist wie es ist. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben und meine Mutter kann sich von dem Verlust nicht erholen. Zeit heilt alle Wunden – ein unsinniger Spruch, wenn die Partnerschaft so eng war, der Gesprächsfaden nie abriss, das Füreinander-da-sein gut tat. Ohne ihn hielt sie es in der einst gemeinsamen Wohnung nicht mehr aus, fand nicht die Kraft, sich um alles zu kümmern. Deshalb die Einsicht: Ich muss hier raus. Die Suche nach einer neuen Lebensvariante ergab wenig: Eine Krankenschwester in die Wohnung aufzunehmen, konnte meine Mutter sich nicht vorstellen: so eng mit einer Fremden zusammen, auf Gedeih und Verderb auf sie angewiesen sein. Ihre Freundinnen eignen sich nicht für eine selbst organisierte Alten-wg. Das „betreute Wohnen“ bietet zu wenig Angebote und Anregung, organisiert nur Wäschewaschen und Anlieferung des Essens. Also die Residenz, das Heim, die Stiftung. Es sei gut, sagen Fachleute, sich rechtzeitig dafür zu entscheiden. Das hat meine Mutter getan. Aber ihre Gedanken sind nicht gefragt, wo die meisten Menschen im Haus viel medizinische Pflege brauchen. Sie könnte praktikable Verbesserungsvorschläge machen, für die aber kein Zuhörer da ist. Der Heimbeirat ist dankbar für alles – und unkritisch. Das ist meine Mutter nicht. Trotzdem wird sie nicht zu mir ziehen. Sie will mir keine Last sein. Und ginge es ihr bei mir besser? Ich bin das einzige Kind, berufstätig und ungeeignet als Pflegerin. Eine Ärztin hat mir gesagt, dass es die meisten Familien überfordert, wenn Töchter oder Schwiegertöchter Arbeit und bisheriges Leben aufgeben und stattdessen rund um die Uhr betreuen. Die wenigsten können das, der Druck wächst dann, der Ton wird rau. Es ist oft für alle zu viel – und dann für keinen gut. Sicher ist das so. Trotzdem, das schlechte Gewissen bleibt mir.