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10_2010_G4-G5_GENERATIO 14.10.10 17:11 Seite 4
G4
g e n e r at i o n e n
ver.di publik 10 | oktober 2010
ver.di publik 10 | oktober 2010
Es ist, wie es ist
Es gibt noch viel zu tun
broschüre | „Leben und Wohnen für
alle Lebensalter – Bedarfsgerecht, barrieerefrei, selbstbestimmt“, so heißt
eine neue Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend. Sie gibt mit zahlreichen
Praxisbeispielen, Checklisten und weiteren Fundstellen Tipps und Hinweise,
wie ein selbstständiges Leben und Wohnen im Alter erreicht und auch im Fall
von Pflegebedürftigkeit aufrecht erhalten werden kann. Die Broschüre kann
heruntergeladen werden unter:
www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen
Wohin mit Oma?
Legislatives Theater | Theater, das direkt auf die Gesetzgeber einwirkt. Hier
setzt das legislative Theater von Jens
Clausen und Harald Hahn in Berlin an.
Aktuelle gesellschaftliche Themen werden von Schauspielern und Laien auf
die Bühne gebracht, die Zuschauer/innen können ihre Meinungen oder ihre
Erfahrungen mit einbringen. Im Stück
Wohin mit Oma? geht es um Verbesserungen für pflegende Angehörige.
Rund 2,3 Millionen pflegebedürftige
Menschen leben in Deutschland, die
meisten werden zuhause von Verwandten versorgt. Künstlerisch umgesetzt
werden Fragen wie: Welche ambulanten
Hilfsangebote gibt es? Wie ist die Qualität der Pflegeheime? Am 26.10.2010
wird im Rahmen eines Theaterabends
in der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Politikern und Experten über das Stück
diskutiert. Weitere Aufführungen: am
2.11. im Heimathafen Neukölln, am 7.11
im Theater Coupè, Berlin, und am 10.11.
im Stadttheater Cöpenick. Der Eintritt
an allen Abenden ist frei.
www.legislatives-theater.de
von Josefa Thomas
Barrierefreies Wohnen, schöne Architektur und günstig finanziert: Die Genossenschaftler haben genau geplant
Zusammen ist man
weniger allein
wohnart | In Bad Kreuznach entsteht Nachbarscha per Genossenscha
von Helma Nehrlich
Am Wochenende besucht Toni Nissen die
Baustelle. Im Bad Kreuznacher Musikerviertel, dort wo früher „Housings“ die
US-Militärs beherbergten, entsteht eine
Wohnanlage mit zehn barrierefreien Einheiten. Die Wände der 110-Quadratmeter-Wohung im Erdgeschoss stehen
längst; im nächsten Juni will der 52-jährige
ver.dianer mit seiner Frau Ulla einziehen.
Ende Oktober soll Richtfest gefeiert werden. Auf der Internetseite des Projekts
wohnart-kreuznach.de kann man alles
mitverfolgen – dank der Bilder des ehemaligen Pressefotografen, der seit neun
Jahren als it-Administrator in der hessischen Landesverwaltung arbeitet. Insgesamt 14 überzeugte Mitstreiter bauen
hier gemeinsam an ihrer Zunkunft: 49
Jahre alt ist die Jüngste, 71 der Älteste.
Jetzt kümmern wir uns selbst
Zusammen leben zu können, steht für
Heinz Zingen, 63, und seine Frau Marika
beim generationenübergreifenden Wohnen im Vordergrund. Eva-Maria Knauthe,
69, betont neben der ressourcenschonenden Bauweise unter Nutzung von Erdwärme vor allem, „dass ich nicht alleine
bin“. Die Idee zu diesem bezahlbaren
Wohnsitz mit sozialer Mischung, gemeinschaftlich und selbstbestimmt, entstand,
als sich einige engagierte Frauen der Initiative Lokale Agenda 21 in Bad Kreuznach
Gedanken über innovative Wohnprojekte
in der Kurstadt machten. Ulla Nissen war
als Stadtplanerin dabei. Das war im November 2003. Ihr war schnell klar, dass
der Generationenvertrag, der hier eingegangen werden soll, nicht umsonst zu
haben ist, „dass ich erst etwas geben
muss, bevor ich etwas nehmen kann“,
so die 54-Jährige.
Anfangs hatten die Aktivisten versucht,
eine der Kreuznacher Wohnungsbaugesellschaften als Träger für ihr Projekt zu
gewinnen. Doch es blieb beim Alleingang:
Eine Initiativgruppe wurde gebildet, Werbung betrieben, Kennenlerntreffen wurden veranstaltet. Dann wurde ein Konzept
erarbeitet, eine Rechtsform gesucht, ein
Architekt beauftragt, ein Grundstück gekauft und man wälzte Baupläne. Immerhin
hatten sich die Kreuznacher vernetzt und
schon während der Planung ähnliche
Wohnprojekte in Darmstadt und Mainz
besucht. Der lange Vorlauf jedoch wurde
zur Geduldsprobe. „Wir gründen eine Genossenschaft!“, war man sich im Juli 2007
einig. Seit 2009 gibt es sie nun, die WohnArt eG. „Alles läuft mit mehr Schwung“,
erzählt Ulla, die dem Vorstand angehört.
Sie ist überzeugt von dieser „sichersten
Gesellschaftsform“ (siehe Kasten). Die
Mitglieder haben ein Dauernutzungsrecht
an ihrer Wohnung, ein genossenschaftlicher Prüfverband sichert externe Bilanzprüfungen.
Als besonders wichtig erwies sich der Beschluss, das Projekt in zwei Bauabschnitte
zu teilen. Im Juni 2010, ein Jahr nach der
Genossenschafts-Gründung, wurde der
erste Spatenstich gemacht. In einem zweiten Abschnitt können noch weitere Bewohner hinzukommen, ohne das Rad
ganz neu erfinden zu müssen. Denn es
erwies sich als schwierig, jüngere Leute
und Familien mit Kindern für WohnArt
zu gewinnen. „Das liegt nicht am Konzept“, weiß Toni, der Werbetouren auch
durch Kindertagesstätten unternommen
sozial-kulturelles zentrum dresden-gorbitz | Mehrere Häuser unter einem Dach
zept der „Sozialkulturellen Zentren“ entwickelt, das bedeutet mehrere Wohnund Betreuungsformen unter einem Dach,
verbunden mit Serviceleistungen, hauswirtschaftlichen und kulturellen Angeboten und städtischer Vernetzung. Ein,
wie sich zeigt, attraktives Konzept für
ein so großes Haus wie in Gorbitz, das
2000 geschickt umgebaut und neu strukturiert wurde.
Hoher Standard
bei moderaten Preisen
„Wir nutzen, dass praktisch verschiedene
Bereiche aufeinandergestapelt und kommunikativ wie auch wirtschaftlich verbunden sind. Heute würde man einzelne Häuser
in einem Park bauen, hätte dann aber nicht
diese gute Mischung“, erklärt Elke Keiner,
Geschäftsführerin Sozialer Bereich. In der
Regel haben die Bewohner/innen jetzt Einzelzimmer mit Bad – „ein vergleichsweise
hoher Standard bei vergleichsweise mo-
Die eingetragene Genossenschaft (eG)
ist aufgrund ihrer demokratischen
Struktur eine günstige Rechtsform für
kleinere Kooperationen und solidarische
Selbsthilfe. Die Personenvereinigungen
sind nach dem Genossenschaftsgesetz
sowie dem von den Mitgliedern verabschiedeten Geschäftskonzept und der
Satzung allein der Förderung ihrer Mitglieder verpflichtet. In der Regel gilt:
ein Mitglied – eine Stimme. Beschlussgebendes Gremium ist die Mitgliederversammlung. Ein Prüfverband, in dem
jede Genossenschaft Pflichtmitglied ist,
sichert umfassende Prüfung und Beratung sowie regelmäßige Kontrolle der
Geschäftsführung. Eine Mindestkapitaleinlage ist nicht vorgeschrieben, die eG
haftet in Höhe ihres Vermögens. Ausscheidende Genossenschafter haben
Anspruch auf Auszahlung ihrer Guthaben.
Hier erfährt man mehr über die Planung
gemeinschaftlicher Wohnprojekte:
www.wohnprojekte-portal.de
www.fgwa.de
www.stiftung-trias.de
Alles meins gibt’s hier nicht
Wenn der Alltag nicht mehr
allein zu schaffen ist
Annemarie Freudenberg blickt gern aus
ihrem Fenster im siebenten Stock weit
über Dresden hinweg. Die 83-Jährige
musste vor zwei Jahren ihre Wohnung
aufgeben und ist in ein Zimmer im Bereich
„Wohnen mit Pflege“ des „Sozial-kulturellen Zentrums“ Gorbitz gezogen. Einige
vertraute Möbel hat sie mitgenommen.
„Hier habe ich alles, was ich brauche,
werde gut betreut, habe Gesellschaft und
gleichzeitig mein Refugium. Ich fühle
mich wohl. In meiner alten Wohnung
habe ich den Alltag allein nicht mehr
bewältigt.“
Der 1986 eröffnete, in typischer Großblockweise als kommunales Feierabendheim errichtete Bau im Neubaugebiet
Gorbitz vereint heute die Konzepte „Wohnen mit Pflege“ für 204 alte Menschen,
davon 154 mit Demenz, „Wohnen mit Betreuung“ für 63 mit geringem Pflegebedarf und fünf Wohnungen „Wohnen in
Geborgenheit“. Schon Mitte der 90er
Jahre hat die Volkssolidarität das Kon-
Wieso Genossenschaft?
deraten Kosten“, wie sie sagt. „Wir legen
Wert darauf, nicht nur neue Begriffe zu
kreieren, sondern Alltag so zu leben. Das
heißt, dass die Bewohner ihre Privatheit
haben, auch wenn die Wohnung kleiner
geworden ist, dazu die Pflege, die sie brauchen, und die Gemeinschaft, die sie wünschen.“
Das Konzept des Hauses wird ständig
überprüft, an demografische Entwicklungen angepasst. „Unser Bewohnerprofil hat
sich verändert, die Menschen kommen in
höherem Alter und betreuungsbedürftiger
zu uns“, erläutert Elke Keiner. „Große Feste
im Speisesaal beispielsweise finden keine
Resonanz mehr, wir bieten deshalb kleinere
Programme in den Wohnbereichen an.“
Auch das Café soll nach einer sommerlichen
Versuchsphase auf der Terrasse wieder genutzt werden.
Bettina Erdmann
Kontakt: www.wohnen-im-alter.de/
altenheim-pflegeheim-sozial-kultu
relles-zentrum-gorbitz-14522.html
hat. „Junge Familien suchen für sich und
ihre Kinder eine schnelle Lösung, sie
haben nicht den Atem, womöglich Jahre
zu warten.“ Bei mancher alleinerziehenden
Mutter ist der Traum an der Finanzierung
gescheitert. Bei anderen waren Kinder,
Neffen oder Enkel die Bedenkenträger:
„Es ist eben nicht wie bei einem eigenen
Haus. Unsere Mitglieder erwerben Anteile,
die werden auch vererbt, aber niemand
kann sagen: Das alles hier gehört mir“,
sagt Toni Nissen.
Ohne Eigenkapital geht nichts: 1 000
Euro pro Quadratmeter Wohnfläche sind
als Einlage in die Genossenschaft zu zahlen, die Baukosten wurden mit 2 000
Euro pro Quadratmeter hart kalkuliert
und sind zur Hälfte kreditfinanziert. Das
Wohngeld, das für künftige WohnArtGenossenschafter monatlich anfällt, beträgt 4,65 Euro pro Quadratmeter. Alles
ist so berechnet und konzipiert, dass
Förderkriterien eingehalten sind und
Zuschüsse vom Land Rheinland-Pfalz in
Anspruch genommen werden können.
Das betrifft etwa den Energiesparstandard
und ökologische Vorgaben.
„Angenehme Wohnatmosphäre, schöne
Architektur, günstige Finanzierung“, machen für den 66-jährigen Rudi Herrmann
und seine Frau die Attraktivität des Projektes aus. Bei der Planung mussten freilich
immer wieder Wünsche und Zwänge in
Einklang gebracht, Kompromisse gefunden werden. Nicht jeder kann in den begehrteren Obergeschossen wohnen, dafür
lassen sich die Einheiten mit 55 bis 114
Quadratmetern sehr flexibel gestalten.
Ulla und Toni Nissen haben in ihrem künftigen Reich quasi alles doppelt: Zwei Eingänge, zwei Terrassen und zwei Bäder.
Wenn mal einer allein bleibt, ließe sich
alles praktisch halbieren. Die geplante
WohnArt-Gemeinschaftswohnung, die
auch für Gäste zur Verfügung stehen
sollte, ist im Laufe der Debatten allerdings
auf einen Gemeinschaftsraum geschrumpft. Dort sollen ab nächsten Sommer Treffen und Kurse veranstaltet werden.
Ein pc wird für alle zur Nutzung bereit
stehen, wie im Innenhof ein Gartenfreisitz
mit Grill. Bis dahin könnte Toni Nissen
noch mehr als vierzigmal den Baufortschritt
fotografieren. Er stammt übrigens aus einer Großfamilie. Von WohnArt erhofft er
sich „deren Vorteile – ohne die Nachteile“.
www.wohnart-kreuznach.de
F OTO : G E R H A R D W E B E R
Selbstbestimmt Wohnen
pflegeheim | Wenn die Mutter
nicht selbst betreut werden kann.
Ein persönlicher Blick
F OTO S : TO N I N E M E S / T R A N S I T
ver.di-senior/innen | Es ist leider
eine traurige Wahrheit: Der Ruhestand
schützt nicht vor einer unsozialen Politik. Längst sind alle Errungenschaften
rund um die Alterssicherung ins Visier
der Regierung geraten. Geht es nach
cdu/csu und fdp, dann lässt sich die
Zukunft der Seniorinnen und Senioren
auf einen Nenner bringen: Weniger
Leistungen, aber mehr Zuzahlungen.
Und zwar unabhängig davon, ob man
unfreiwillig oder auf eigenen Wunsch
hin aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist. Es ist also nötig, sich
auch im Ruhestand nicht schutzlos
den Angriffen auf soziale Errungenschaften auszuliefern. Senior/innen
brauchen einen starken Partner. Und
der ist ver.di. Denn ver.di macht mobil
für soziale Gerechtigkeit, eine solide
Alterssicherung und ein Gesundheitswesen, das für alle bezahlbar bleibt.
www.verdi-senioren.de
g e n e r a t i o n e n G5
Was machst du mit dem Knie, lieber Hans
Wir leben länger, also wollen wir auch länger was vom Leben haben. Aber was er-
Für „Ursula und Siegfried M.“, die auf dem Siegerfoto von Gerhard Weber zu se-
warten wir von den gewonnenen Lebensjahren? Blockieren überholte Bilder vom
hen sind, gehört zum Alter auch das ungebremste Bedürfnis nach Körperlichkeit
Älterwerden unsere Köpfe? Werden sie den neuen Möglichkeiten gewonnener
und Sexualität. Für viele noch immer ein gesellschaftliches Tabu, das einschüchtert
Lebensjahre noch gerecht? „Neue Bilder vom Alter(n)“ wollte die Nationale Aka-
und manch einem vorzeitig den Spaß verdirbt.
demie der Wissenschaften sehen und hat einen Fotowettbewerb ausgeschrieben.
Nach dem Auftakt in Braunschweig ist die Ausstellung der eindrucksvollen und
Zeigt uns Lebensentwürfe und Perspektiven des Altwerdens heute und in Zukunft,
überraschenden Fotografien bis zum 31.10.2010 in der vhs-photogalerie im Treff-
lautete die Aufgabe. Und die Resonanz war groß. 400 Arbeiten wurden einge-
punkt Rotebühlstraße in Stuttgart zu sehen. Anschließend geht sie auf Wander-
reicht; von professionellen- und Hobbyfotografen zwischen 16 und 83 Jahren.
schaft nach München, Berlin und Bonn: www.altern-in-deutschland.de
Das Erste seiner Art
Nach eigener Fasson
lebensort vielfalt | Berliner Haus für schwule Senioren
beginenhof | In Berlin teilen sich 53 Frauen ein Haus
Das Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt” in
Berlin-Charlottenburg wird das erste
seiner Art sein: Die Berliner Schwulenberatung baut bis 2012 eine ehemalige Kita
zu einem Mehrgenerationenhaus mit
25 Wohnungen vor allem für schwule
Senioren, aber auch für Heterosexuelle,
Frauen und Familien aus. Dazu wird eine
Wohngemeinschaft für acht demenzkranke Schwule gehören, ein Nachbarschaftstreffpunkt mit Café und ein großer Garten.
2,7 Millionen Euro fließen aus der Stiftung
Klassenlotterie, 2 Millionen investiert die
Schwulenberatung selbst, die mit ihren
Büros ins Erdgeschoss ziehen wird. Ein
Erbbaurechtsvertrag fürs Grundstück ist
unterzeichnet.
150 Bewerber stehen bereits auf der
Warteliste. „Das Interesse ist groß“, sagt
Projektleiter Marco Pulver. Vor allem ältere
Schwule, die noch die Stigmatisierung
durch den § 175 in sich trügen und sich
zu ihrer Homosexualität nicht öffentlich
bekennen könnten, wollten nicht in ein
normales Altersheim ziehen. Allein wollen
sie aber auch nicht leben. Als ehrenamtlicher Mitarbeiter der mobilen Schwulen-
Statistisch gesehen stehen Frauen irgendwann allein da: Sie haben die höhere Lebenserwartung und sind oft mit älteren
Männern liiert. In Berlin, die als Hauptstadt
der Singles gilt, wohnt knapp eine Million
Menschen solo, fast zwei Drittel davon
sind Frauen. Im Beginenhof haben 53
Frauen eine Möglichkeit gefunden, ein
Dasein nach eigener Fasson zu führen
und sich dennoch in einer Gemeinschaft
aufgehoben zu fühlen. Sie sind alle über
40 und bezogen hier 2007 ihre Eigentumswohnungen. Zentral in Kreuzberg
gelegen und doch ruhig, mit viel Grün.
Der geschwungene Bau der Leipziger
Architektin Barbara Brakenhoff strahlt
Leichtigkeit aus. Er erlaubt Individualität
und Gemeinsinn. Die Grundrisse der Wohnungen konnten nach Wunsch angepasst
werden. Zufrieden zeigt etwa eine Bewohnerin, die aus Hessen nach Berlin
gezogen ist, ihre Wohnung: Ein zusätzlich
eingebauter Pfeiler bietet einerseits Platz
für Bücher, andererseits untergliedert er
den Raum optisch. Der großzügige Balkon
macht die Wohnung luftig. Gemeinschaftliches findet im Kleinen statt − jeweils
beratung kennt Bernd Gaiser Ängste vor
Einsamkeit im Alter genau und engagiert
sich auch deshalb als Sprecher des bereits
existierenden Mieterrates für das neue
Haus. Der 65-jährige ehemalige Buchhändler wird eine Maisonette-Wohnung
beziehen. Er freut sich auf mehrere Generationen unter einem Dach. „Mir liegt
viel daran, noch das Leben zu genießen
und statt einer eigenen Familie im Alter
eine Wahlfamilie zu haben.“
Auch wenn das Haus nicht als Pflegeheim konzipiert ist, wird mit barrierearmem Standard, einer Concierge und wählbaren ambulanten Servicediensten ans
hohe Alter gedacht. Wie das Experiment
ausgehen wird, kann Marco Pulver noch
nicht sagen. Die große Resonanz zeige
aber, dass es der richtige Weg sei. „Ob
und wie wir unser Engagement weitertreiben, hängt natürlich auch von Finanzierungsmöglichkeiten ab.“ Pulver kann
sich vorstellen, dass es irgendwann in
jeder Großstadt ein solches Wohnprojekt
gibt.
Bettina Erdmann
Infos: www.lebensort-vielfalt.de
vier Frauen teilen sich einen Laubengang
− und im Großen: Im Erdgeschoss gibt
es Tanzkurse, er dient auch dem monatlichen Jour fixe, bei dem alles besprochen
wird, was im Beginenhof passiert. Für
Besucher gibt es ein Gästeappartement
und für alle zum Schwatzen und Chillen
eine große holzgedeckte Terrasse.
Ja, anfangs habe es auch Konflikte zwischen den Frauen gegeben. Aber man
hat Kompromisse gefunden. Die räumliche
Nähe schafft gegenseitige Unterstützung.
Einige Frauen leben mit ihren Ehemännern
hier, sie dürfen mieten, aber nicht besitzen.
Jutta Kämper, die selbst im Beginenhof
wohnt, gründete 1992 den Verein Beginenwerk nach Vorbild der mittelalterlichen
flandrischen Beginenhöfe. Weil viele weitere Frauen sich für ein Leben in Gemeinschaft interessieren, entsteht inzwischen
ein zweiter Bau in Berlin-Friedrichshain.
Er soll im Februar 2011 bezugsfertig sein.
Ute Bauer
Kontakt: 030 / 615 91 77; E-Mail info@
beginenwerk.de
www.frauenwohnen-berlin.de
„Du gehst nie ins Heim, du doch nicht.“
Ich war zehn, als ich diesen Satz zum
ersten Mal gesagt habe. Nichts war
leichter zu geben als dieses Versprechen,
bei meiner schicken, erfolgreich berufstätigen Mutter. Lange her. Seit einem
halben Jahr wohnt sie jetzt in einem
teuren Seniorenheim, Versprechen hin
oder her. Es gab keine Wahl. Sie ist
Ende 70, immer noch elegant, geistig
klar, aber nach einer schweren Krankheit
körperlich nicht mehr gesund. Das Haus
hat eine ideale Lage, urban genug für
Berlin, dicht an einem schönen Park,
von meiner Wohnung aus zu Fuß zu erreichen. Es steht mitsamt seinem Garten
in ihrer vertrauten Gegend. Bestens.
Und schlimm zugleich. Was ihr täglich
fehlt, worauf sie gehofft hatte, sind Gesprächspartner. Die Pflegerinnen haben
wenig Zeit, andere Bewohner brauchen
viel mehr Pflege und Betreuung. Die
Tischnachbarn in dem kleinen Speisesaal
sind mehr oder minder wach im Kopf.
Viele leiden unter Demenz. Frau Berger,
die meine Mutter bei ihrem Einzug munter empfing, hat einen Schlaganfall erlitten und entgleitet unserer Welt zusehends. Vor ein paar Tagen hat meine
Mutter ihr beim Essen zum ersten Mal
geholfen, hat Frau Berger gefüttert. An
ein Gespräch ist nicht mehr zu denken.
Sicher, das Zimmer meiner Mutter ist
groß, wir haben es mit ihren schönsten
Möbeln eingerichtet, nichts erinnert an
ein Krankenhaus. Aber der Gedanke,
dies sei die letzte Station...
Was macht sie noch melancholisch?
All die Pfleger und Hilfskräfte – meist
Männer – die sich nicht darauf einstellen
können, mit wem sie gerade reden,
sondern ständig einen falsch-aufmunternden und viel zu lauten Ton beibehalten. Das Essen, das natürlich nicht
so ist, als würden wir zu Hause kochen.
Nicht so abwechslungsreich, nicht so
international, eher altdeutsch und altmodisch. Und sehr knapp kalkuliert.
Zeit heilt nicht alle Wunden
Es ist wie es ist. Mein Vater ist vor drei
Jahren gestorben und meine Mutter
kann sich von dem Verlust nicht erholen.
Zeit heilt alle Wunden – ein unsinniger
Spruch, wenn die Partnerschaft so eng
war, der Gesprächsfaden nie abriss, das
Füreinander-da-sein gut tat. Ohne ihn
hielt sie es in der einst gemeinsamen
Wohnung nicht mehr aus, fand nicht
die Kraft, sich um alles zu kümmern.
Deshalb die Einsicht: Ich muss hier raus.
Die Suche nach einer neuen Lebensvariante ergab wenig: Eine Krankenschwester in die Wohnung aufzunehmen, konnte meine Mutter sich nicht
vorstellen: so eng mit einer Fremden
zusammen, auf Gedeih und Verderb
auf sie angewiesen sein. Ihre Freundinnen eignen sich nicht für eine selbst
organisierte Alten-wg. Das „betreute
Wohnen“ bietet zu wenig Angebote
und Anregung, organisiert nur Wäschewaschen und Anlieferung des Essens.
Also die Residenz, das Heim, die Stiftung. Es sei gut, sagen Fachleute, sich
rechtzeitig dafür zu entscheiden. Das
hat meine Mutter getan. Aber ihre Gedanken sind nicht gefragt, wo die meisten Menschen im Haus viel medizinische
Pflege brauchen. Sie könnte praktikable
Verbesserungsvorschläge machen, für
die aber kein Zuhörer da ist. Der Heimbeirat ist dankbar für alles – und unkritisch. Das ist meine Mutter nicht.
Trotzdem wird sie nicht zu mir ziehen.
Sie will mir keine Last sein. Und ginge
es ihr bei mir besser? Ich bin das einzige
Kind, berufstätig und ungeeignet als
Pflegerin. Eine Ärztin hat mir gesagt,
dass es die meisten Familien überfordert,
wenn Töchter oder Schwiegertöchter
Arbeit und bisheriges Leben aufgeben
und stattdessen rund um die Uhr betreuen. Die wenigsten können das, der
Druck wächst dann, der Ton wird rau.
Es ist oft für alle zu viel – und dann für
keinen gut. Sicher ist das so. Trotzdem,
das schlechte Gewissen bleibt mir.