Animierte Linien
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Animierte Linien
Animierte Linien Entwicklung und Analyse eines Animationsstils Esther Kremslehner DIPLOMARBEIT eingereicht am Fachhochschul-Masterstudiengang Digitale Medien in Hagenberg im Juni 2006 c Copyright 2006 Esther Kremslehner Alle Rechte vorbehalten ii Erklärung Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus anderen Quellen entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet habe. Hagenberg, am 23. Juni 2006 Esther Kremslehner iii Inhaltsverzeichnis Erklärung iii Kurzfassung vii Abstract viii 1 Einleitung 1.1 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Definition der Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 Linie im unbewegten Bild Höhlenmalerei . . . . . . . . . Piktogramme . . . . . . . . . Kalligrafie . . . . . . . . . . . Skizze . . . . . . . . . . . . . Zeichnung . . . . . . . . . . . Druckverfahren . . . . . . . . Comic und Karikatur . . . . . Bedeutende Künstler . . . . . 2.8.1 Leonardo Da Vinci . . 2.8.2 Albrecht Dürer . . . . 2.8.3 Pablo Picasso . . . . . 2.8.4 Wassily Kandinsky . . 2.9 Aktuelle Tendenzen . . . . . . 3 Die 3.1 3.2 3.3 3.4 Linie im bewegten Bild Frühe Animationen . . . . Pencil Tests . . . . . . . . Produktionsstätten . . . . Aktuelle Animationen . . . . . . . . . . 1 1 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 6 7 8 10 11 14 16 18 18 20 21 22 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 27 30 31 36 4 Gestalterische Komponenten 40 4.1 Linienformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.1.1 Gerade Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 iv INHALTSVERZEICHNIS 4.2 4.3 4.4 4.1.2 Gebogene Linien . . . . . 4.1.3 Kombinierte Linien . . . . Graphische Gestaltung der Linie 4.2.1 Linienstärke . . . . . . . . 4.2.2 Spannung . . . . . . . . . 4.2.3 Richtungswirkung . . . . 4.2.4 Detailreichtum . . . . . . 4.2.5 Dynamik . . . . . . . . . Farbe . . . . . . . . . . . . . . . Flächenbildung durch Linien . . v . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 44 45 45 45 47 49 50 52 53 5 Analyse von animierten Linien 5.1 Abstrakte Verwendung von animierten Linien . . . . . . . . . 5.1.1 Musikvisualisierungen am Beispiel von Oskar Fischinger 5.1.2 Abstrakte Linien als ornamentales Gestaltungselement 5.2 Animierte Linien als Hintergrundelemente . . . . . . . . . . . 5.2.1 Wirkung und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Beispiele für Linien als Hintergrundelemente . . . . . 5.3 Linienhafte Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Das Strichmännchen – Urform des linienhaften Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Animierte Konturlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Detaillierte linienhafte Charaktere . . . . . . . . . . . 56 56 57 59 60 60 61 63 63 6 Technische Erzeugung 6.1 Handgezeichnete Linien . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Full Animation . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Limited Animation . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Veränderungen durch neue Technologien . . . 6.2 Maskierung von bestehendem Filmmaterial . . . . . 6.3 Prozedurale Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Splines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Bezier Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Non-Photorealistic Rendering . . . . . . . . . 6.4 Animierte Linien in Kombination mit anderen Animationstechniken und Realfilm . . . . . . . . . . 6.4.1 2D Animation . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 3D Animation . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Realfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Softwarepakete zur Erstellung von animierten Linien 64 67 71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 82 82 83 85 87 87 89 89 90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 92 93 94 94 INHALTSVERZEICHNIS 7 Diplomprojekt Ars Commota 7.1 Die Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Animierte Linien . . . . . . . . . . 7.2.2 3D Umgebung . . . . . . . . . . . 7.2.3 Kombination von Linie und Raum 7.3 Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Erzeugung von Tiefe im Raum . . 7.3.2 Sound Design . . . . . . . . . . . . 7.4 Ars Commota im Vergleich mit anderen linienhaften Charakteren . . . . . . . . . . 7.4.1 Fortress – Pinback . . . . . . . . . 7.4.2 Take On Me – AHA . . . . . . . . 7.4.3 Microsoft Werbekampagne . . . . . 7.4.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . vi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 98 100 100 101 102 105 105 105 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 106 107 108 109 8 Zusammenfassung 111 Literaturverzeichnis 113 Kurzfassung Diese Diplomarbeit befasst sich mit der Entwicklung und Analyse eines Animationsstils - den animierten Linien. Die bewegte Linie ist heute eine sehr beliebte graphische Gestaltungsvariante für Animationen in Kunst, Musikvideo, Werbung u.a. Trotz allem ist der animierten Linie bis heute keine große Aufmerksamkeit gewidmet worden und es gibt kaum Nachschlagewerke oder sonstige Literatur zu ihrer Wirkung oder Anwendung. Deshalb soll mit Hilfe dieser Arbeit ein Überblick über die animierte Linie in der Geschichte und eine Analyse ihrer Ausdruckskraft gegeben werden. Die Geschichte der animierten Linie beginnt nicht erst bei der Erfindung der Animation, sondern schon in den frühesten Malereien, die der Mensch hinterlassen hat: den Höhlenmalereien. Daraus entwickelten sich im Laufe der Zeit wiederum spezifischere Formen von Malerei und Graphik, von denen sich einige besonders intensiv mit der Linie befassen. Diese Entwicklung von der Höhlenmalerei bis zur Neuzeit soll in ihren wichtigsten Punkten abgehandelt werden. Besonders essentiell für das Verständis der Linie ist eine Begriffsdefinition, mit Hilfe derer die Linien überhaupt erst beschrieben werden können. Dies wird in Kap. 4 ausgeführt, damit diese Begriffe in der anschließenden Analyse einiger Beispielanimationen (z.B. Musikvideos von AHA und Pinback bis hin zur letzten Werbekampagne von Microsoft) verwendet werden können. Die Arbeit soll somit einen Überblick über die Entwicklung der Linie bieten. Gleichzeitig sollen anhand der Analyse von unterschiedlichen Animationen, die animierte Linien beeinhalten, die stilistischen Eigenheiten und Möglichkeiten der Linie aufgezeigt werden. vii Abstract This diploma thesis delves into the development and analyses of an animation style - the animated line. Today the moving line is a very popular graphical element of design in arts, music videos, advertising, etc. Nevertheless, the animated line has not been devoted much attention and there are only very few reference works or other literature concerning its effects and use. Therefore, with this work an overview on the animated line concerning its history and an analysis of its expressiveness should be given. The history of the animated line doesn´t only begin as recently as the invention of the animation itself, but already in the primal art that mankind has consigned: cave paintings. Out of it in the course of time developed again more specific forms of painting and graphics, of which some are concerned with the line very intensively. This development should be treated of in its crucial points. Very essential for the comprehension of the line itself is the definition of terms, with which the line in the first place can be described properly. This will be conducted in chapter 4, so that these terms can be used in the following analysis of example animations (reaching from music videos by emphAHA and Pinback to the current Microsoft advertising campaign). This thesis should offer an overview of the development of the line. Simultaneously by means of the analysis of diverse animations, which deal with animated lines, the stilistic peculiarities and possibilites of the line should be given. viii Kapitel 1 Einleitung 1.1 Zielsetzung Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit animierten Linien, deren Entwicklung und der Analyse des Animationsstils. Die Linie ist seit jeher ein wichtiges Stilmittel in Malerei und Zeichnung und hat dadurch auch den Weg in die Animation gefunden. Ob in abstrakten Gemälden, detaillierten mathematischen und architektonischen Skizzen oder linienhaften Charakteren im Trickfilm, zieht sich die Linie wie der sprichwörtliche rote Faden durch die Kunstgeschichte bis hin zu aktuellen Musikvideos. Die animierte Linie hatte auch auf mich immer eine besondere Anziehung, weil sie durch die starke Abstraktion Klarheit schafft und gleichzeitig eine besondere Expressivität besitzt. Durch animierte Linien kann der Blick des Betrachters auf das Wesentliche einer Animation gelenkt werden und regt durch das Fehlen von Details auch noch die eigene Vorstellungskraft und Kreativität des Zusehers an, was den Bildern noch mehr Lebendigkeit verleiht. Abgesehen davon ist die animierte Linie trotz ihrer reduzierten Form im Design immer wieder unterschiedlich, weil sie durch geringfügige Änderungen von Attributen wie Linienstärke, Farbtiefe, Transparenz, die Verwendung eines anderen Mediums (z.B. Kohle statt Kreide) oder einer anderen Textur stark verändert werden kann. Und doch gibt es kaum Literatur oder andere theoretische Abhandlungen zum Thema Linie, was noch ein zusätzlicher Ansporn zum Verfassen dieser Arbeit war. 1.2 Definition der Linie Zuerst soll jedoch geklärt werden, was eine Linie überhaupt ist und wie bzw. ob man sie überhaupt definieren kann. Da es sehr viele verschiedene Zugangspunkte zum Thema Linie“ an sich gibt, existieren auch viele unter” schiedliche Definitionen, die sich mit der Natur der Linie beschäftigen. Zu diesem Zweck habe ich eine kleine Sammlung von gebräuchlichen Definitio1 KAPITEL 1. EINLEITUNG 2 nen der Linie zusammengestellt, welche einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten bieten soll. Die bekannteste Definition der Linie ist wohl die mathematische: eine Gerade ist die kürzeste Verbindung von einem Punkt A zu einem Punkt B. Da die Linie in der Mathematik kein gebräuchlicher Fachbegriff ist, könnte man diese Definition der Geraden auch für die Linie selbst heranziehen, nachdem eine Gerade ja nichts anderes als eine spezielle Form der Linie ist. Aber es gibt auch kurze und lange Linien, gerade und gebogene, waagrechte und diagonale, gezackte und wellenförmige. Es gibt abstrakte Linien, es gibt Konturlinien, Linien mit einer Funktion und Linien, die einfach nichts davon sind. Insofern scheint die mathematische Definition in der Kunst keine besondere Funktion erfüllen zu können. Der Kunsttheoretiker Manlio Brusatin sagt folgendes über die Linie: Das ” Leben ist eine Linie, das Denken ist eine Linie, das Handeln ist eine Linie. Alles ist Linie. Die Linie verbindet zwei Punkte miteinander. Der Punkt ist ein Augenblick, die Linie beginnt und endet in zwei Augenblicken.“ Folgendes Zitat findet sich in seinem Buch Die Geschichte der Linien [23, S. 9]: • Eine gerade Linie“ - der Weg der aufrechten Christen. ” • Symbol moralischer Redlichkeit“ - sagt Cicero. ” • Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten“ - sagt Archimedes. ” • Die beste aller Linien“ - sagen Generäle und Kartoffelbauern. ” Natürlich ist Brusatins Definition nicht ausschlaggebend für die animierte Linie, zeigt aber doch sehr deutlich in wie vielen Formen das Wort Linie“ ” in unserem Sprachgebrauch und Kulturkreis vorhanden ist und wie ungenau all ihre Definitionen eigentlich sind. Für die klassische Antike war die Linie ein Synonym für Deutlichkeit und Nähe. Im Zeitalter des Humanismus wurden vor allem Bilder produziert, die sich von religiösen Darstellungen entfernten und sich statt dessen mehr mit Perspektiven, Farben und Schatten beschäftigten. Auch dies könnte als klare Linie zwischen dem Auge und der Sinnesempfindung eines Menschen gedeutet werden [14]. Die Linie gewinnt vor allem ab dem Rennaissancezeitalter auch in der Perspektive und als Horizontlinie Einfluss. Piero della Francesca ist der Meinung, dass Sehstrahlen, also Linien vom Auge ausgehen und auf ein Objekt treffen und dass das Auge aufgrund dieser Linien die Perspektive und Proportion beurteilt. Francesca gibt auch eine Definition zur Linie ab. Er sagt, ein Punkt ist etwas so winzig kleines, wie mit dem Auge eben zu erfassen ” KAPITEL 1. EINLEITUNG 3 ist“, die Linie sei dementsprechend eine einfache Spanne“ von einem Punkt ” zum anderen, deren Breite“ der des Punktes entspricht. Auch die Seh” ” strahlen“ seinen samt und sonders Linien“, Linien die von einem Objekt ” ausgehen und auch vom Auge aus auf diese zugehen [14, S. 42]. Alberti beschreibt die Linie wiederum so [14, S. 44]: Wenn die Punkte sich in einer Reihe ununterbrochen aneinan” derfügen, bringen sie eine Linie hervor [...], dessen Breite jedoch so gering ist, dass man sie nicht aufspalten kann.“ Das Profil wird als eine Linie, die einen Körper durchschneidet gesehen, man nannte sie deshalb auch sectio“. Diese Schnittlinien bilden laut Alfred ” Dürer die wahre, verborgende Perspektive eines Körpers. Er nennt dies die ästhetischen Tomographie [14, S. 54], die auch später seinen gesamten Zeichenstil beeinflussen soll. Leonardo da Vinci vergleicht die Linie mit einem Zeitraum. Nach seiner Auffassung ist der Punkt gleichzeitig auch ein Zeitpunkt, also ist für ihn die Linie, die zwei (Zeit-)Punkte verbindet ebenfalls eine Menge an Zeit“, ” denn so wie die Punkte Anfang und Ende einer Linie sind, so sind die Zeitpunkte Beginn und Abschluss eines Zeitraums. Die Hand, die der Linie folgt und sie fixiert, greift so nach Leonardos Vorstellung nach der Zeit und gibt ihr Form, was die Linie zum Bewußtsein eins Zeitraums und damit zur Dimension einer Idee, die mit der Zeit und durch die Zeit hindurch projiziert wurde, macht [14, S. 84–85]. Auch in der Architektur ist die Linie von großer Bedeutung. Giorgio Vasari geht sogar soweit, zu behaupten, dass sie das zentrale Element der Architektur sei [14, S. 53]. Die Zeichnungen jener [Architektur] sind einzig aus Linien zu” sammengesetzt und diese sind für den Architekten nichts anderes als Anfang und Ende seiner Kunst, weil das Übrige, das durch die Holzmodelle vermittelt wird, die nach den besagten Linien hergestellt sind, nichts weiter ist als das Werk von Steinmetzen und Maurern.“ Wassily Kandinsky schrieb als einer der wenigen Maler ein kunsttheoretisches Buch namens Punkt und Linie zu Fläche. Darin definiert er die Linie folgendermaßen [17, S. 57]: Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die ” Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden - und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der KAPITEL 1. EINLEITUNG 4 Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht. Die Linie ist also der größte Gegensatz zum malerischen Urelement zum Punkt. Sehr genau genommen kann sie als ein sekundäres Element bezeichnet werden.“ Kandinsky sagt, dass die Linie also aus einem Punkt entsteht, auf den Kräfte von außen einwirken. Die Verschiedenheit der Linien, die so entstehen können, hänge von der Anzahl und der Kombination dieser Kräfte ab. Er behauptet, dass alle Linienformen auf zwei Möglichkeiten zurückzuführen sind [17, S. 57]: 1. Anwendung einer Kraft oder 2. Anwendung von zwei Kräften (a) ein- oder mehrmalige abwechselnde Wirkung der beiden Kräfte (b) gleichzeitige Wirkung der beiden Kräfte An diesen allesamt sehr unterschiedlichen Aussagen wird deutlich, dass die Linie an sich ein sehr breites Spektrum für Interpretationen gibt, da sie auch oft als Synonym verwendet wird. Mit jemandem auf einer Linie ” sein“, aus direkter Linie abstammen“, in erster Linie“, in Linie bringen“ ” ” ” - all diese Ausdrücke verwenden die Linie als ein Symbol für einen linearen Ablauf oder eine andere direkte Verbindung. Die Linie wird also meist als Gerade ausgelegt, obwohl dies nicht unbedingt ihre einzige Form sein muss. In dieser Arbeit soll vor allem mit Kandinskys Interpretation der Linien gearbeitet werden, da diese -im Gegensatz zu vielen anderen Definitionen - im Bereich der Malerei und somit auch Animation beheimatet ist und so einen Vergleich mit zeitgenössischen Werken ermöglicht. Der Inhalt der Diplomarbeit gliedert sich im Anschluss folgendermaßen: Um einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Linie geben zu können, wird zuerst die Funktion und Verwendung der Linie im Standbild sowie daraus folgend auch im bewegten Bild, der Animation, gegeben. Dabei werden die Ursprünge der Linienzeichnung, die wichtigsten Kunstformen und auch ausgewählte Künstler, die sich mit der Linie beschäftigten, vorgestellt. Auch im Bereich der animierten Linie soll durch die Abhandlung der wichtigsten Animationen eine Übersicht über die Entwicklung der Linie gesichert werden. Anschließend wird die Ausdruckskraft und Gestaltung der Linie ausführlich behandelt, damit ein Überblick über die verschiedenen Linienformen und Möglichkeiten im Design vermittelt werden kann. Hierfür werden unterschiedliche Definitionen der Linie an sich beleuchtet, und verschiedene Linienformen und Gestaltungsvarianten, wie beispielsweise Linienstärke, Spannung oder Richtungswirkung, genauer behandelt. Weiters soll ein Überblick über die Erstellung von animierten Linien gewährleistet werden, indem einzelne etablierte Animationstechniken wie Rotoscoping und Comic Shading KAPITEL 1. EINLEITUNG 5 vorgestellt werden. Im Hauptteil der Arbeit sollen anschließend unterschiedliche Animationen analysiert werden. Nach einem Überblick über abstrakte Linien, wie sie in den Musikvisualisierungen von Oskar Fischinger vorkommen und Linien als Hintergrundelement, soll das Hauptaugenmerk der Analyse auf linienhaften Charakteren liegen. Dabei sollen sowohl am Beispiel des klassischen Strichmännchens, über die berühmteste animierte Linie La Linea, die cholerische Figur des italienischen Zeichners Osvaldo Cavandoli, als auch an zeitgenössischen Musikvideos der norwegischen Popgruppe AHA und der amerikanischen Alternativeband Pinback die Unterschiede zwischen den verschiedenen linienhaften Charakteren gegeben werden. Als abschließender Punkt soll zusätzlich noch das eigene Diplomprojekt vorgestellt und mit den bereits analysierten Arbeiten verglichen werden, um Gemeinsamkeiten, frappante Unterschiede und Stilmittel aufzeigen zu können. Kapitel 2 Entwicklung der Linie im unbewegten Bild In diesem Kapitel soll gezeigt werden, in welchen historischen Kunstwerken und -formen die Linie immer wieder gefunden werden kann. Dies reicht von der antiken Höhlenmalerei, über die Entwicklung der Schrift bis hin zu Zeichnungen und Drucktechniken. Weiters möchte ich auch eine kleine Auswahl an bekannten Künstlern vorstellen, die sich durch ihre Zeichnungen und Malereien mit der Linie auseinandergesetzt haben. Die vorgestellten Persönlichkeiten sind natürlich nur einige aus einer großen Reihe von Künstlern, die sich in ihren Werken mit der Linie beschäftigt haben. Ich habe sie vor allem deshalb ausgewählt, weil sie meiner Meinung nach einen großen Einfluss auf die Akzeptanz und Verwendung der Linie hatten und schon allein deshalb wert sind, erwähnt zu werden. 2.1 Höhlenmalerei Das Bemalen von Höhlenwänden ist die älteste, dokumentierte Form der Bilddarstellung des Menschen. Damals verwendeten unsere Vorfahren Farbpigmente und natürlichen Bindemittel. Der bekannteste Fundort sind die Höhlen von Lascaux in Frankreich, wo auf einer Gesamtausdehnung von 100 Metern Abbildungen von Pferden, Wisenten und anderen Tieren gefunden wurden, die bereits 17000 Jahre vor Christus hinterlassen wurden. Der Mensch hatte also schon in seinen Anfängen den dringenden Wunsch Zeichen zu hinterlassen und das wiederzugeben, was ihn umgab. Die Motive von Felszeichnungen stellten meist Symbole, Piktogramme dar, aber auch Zeichnungen von Tieren, Menschen, Jagdszenen oder anderen Begebenheiten, die für das Leben eines Steinzeitmenschen elementar waren (siehe Abbildungen 2.1). Schon damals stellte die Linie für den Menschen eine bedeutende Ausdrucksform dar. Die meisten Höhlenmalereien bestehen aus Punkten und Strichen, die einfach mit den Fingern oder mit Pinseln aus Tierhaar aufge6 KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD (a) 7 (b) Abbildung 2.1: Höhlenmalereien [6]. tragen wurden. Viele Linienzeichnungen in derartigen Höhlen weisen eine überraschend hohe Qualität auf, da die Zeichner scheinbar schon damals die Fähigkeit zur Abstraktion und Bilddarstellung besaßen. Dies zeigt sich auch dadurch, dass viele der gefundenen Höhlenmalereien entweder nur aus Umrisslinien oder manchmal aus sehr geometrischen Flächen bestehen. Schon damals wiesen die Zeichner beeindruckende räumliche Fähigkeiten auf, indem sie die räumliche Wirkung von Felsspalten und -vorsprüngen in ihre Arbeiten miteinbezogen [6]. Eine weitere Besonderheit im Umgang mit der Linie ist die Tatsache, dass die inneren Organe eines Tieres oder einer anderen Figur oft als einzelne Linie zusammenführte. Dies sollte eine Lebens” linie“ darstellen. Da die Menschen damals glaubten, dass die Seele eines Wesens in der Darstellung erhalten bleibt und deshalb die Fruchtbarkeit und den Jagderfolg durch die symbolische Kraft des Zeichnens und der Berührung wieder angeregt werden konnte [6]. Die Höhlenmalerei war somit ein früher Vorläufer des Piktogramms, dass sich im Laufe der Zeit daraus entwickelte. Diese symbolhaften Zeichnungen sollen im nächsten Abschnitt behandelt werden. 2.2 Piktogramme Auch die Piktogramme entwickelten sich aus der Höhlenmalerei heraus und stellen eine Vorstufe zur Schrift dar. Ein Piktogramm ist eine stark vereinfachte Zeichnung eines alltäglichen Objekts oder einer Tätigkeit (siehe Abbildungen 2.2). Daraus entwickelten sich Ideogramme 1 und Phonogramme 2 und darauf dann letztendlich das Alphabet und die Schrift. Piktogramme 1 2 Ideogramme sind Symbole, die Ideen oder Gedanken repräsentieren sollten. Phonogramme sind Symbole für ausgesprochene Klänge. KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD (a) 8 (b) Abbildung 2.2: Piktogramme [3]. sind für das menschliche Gehirn sehr viel schneller und einfacher zu verarbeiten als komplexe Schriftzeichen, weil sie meist wesentlich einprägsamer und leichter zu merken als Texte. Überdies sind sie auch über Landes- und Sprachgrenzen hinaus begreiflich. Ein gutes Piktogramm ist demnach eindeutig und leicht verständlich [3]. Ein Beispiel für derartige Symbole sind Verkehrszeichen oder Hinweisschilder (siehe Abbildungen 2.2). Ein Problem entsteht lediglich durch kulturelle Unterschiede, denn manche Symbol haben in unterschiedlichen Kulturkreisen auch völlig unterschiedliche Bedeutungen. Das Piktogramm soll prinzipiell möglichst reduziert dargestellt werden, um die Deutung einfach zu halten. Darum werden hierfür meist simple geometrische Formen (Linien, Kreise, Rechtecke) verwendet, um einen Sachverhalt darzustellen. Die Linie ist also als bildgestaltendes Element auch aus dem Piktogramm nicht wegzudenken. Da die Formen eben sehr geometrisch sind, sind auch die Linien derartigen Symbolen sehr gleichförmig und wirken deshalb meist sehr kühl und technisch. 2.3 Kalligrafie Eine weitere wichtige Quelle für die Bedeutung der Linie ist die Kalligrafie, die Kunst der Schönschrift. Sie wurde und wird bis heute weltweit als eine Kunstform betrieben, die sich mit der Natur der Linie auseinander setzt. Im arabischen Raum war die Kalligrafie auch deswegen so verbreitet und beliebt, da durch das glaubensbedingte Abbildungsverbot andere Wege zur kunstvollen Verzierung von religiösen Schriften gefunden werden mussten. In Europa entwickelte sich die Schönschrift vor allem durch die Vervielfältigung von religiösen Schriften. Vor der Erfindung des Buchdrucks in Europa (tatsächlich war das System der beweglichen Letter“ in Asien aber schon ” KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 9 Abbildung 2.3: Europ. Kalligrafie [11]. Abbildung 2.4: Kalligrafische Schrift von Leonardo Da Vinci [21]. viel früher bekannt) durch Gutenberg im Jahre 1447 wurden Mönche mit der kunstvollen Abschrift von ganzen Büchern beauftragt (siehe Abbildung 2.3). Mit der Vervielfältigung von Schriften durch industrielle Druckverfahren verlor die Kalligrafie vor allem in Europa aber immer mehr ihren Stellenwert und durch die Erfindung des Computers wurde sie beinahe völlig verdrängt und ist nur noch als Hobby oder Kunstform in Verwendung [1]. Im chinesischen und japanischen Kulturkreis hingegen hat die Kalligrafie eine ungleich größere Bedeutung, da sie dort bis heute auch eine philosophische Bedeutung hat. Der Schreibende erwirbt durch die Anwendung dieser Kunst Geduld und Ausdauer und bringt so seine Lebensenergie, das Chi, ins Lot. Die chinesischen Kalligrafien wurden im Gegensatz zu den europäischen meist mit Tusche und Pinsel auf Papier gemalt (in Europa war die Verwendung von Tinte und Pergament gebräuchlich), was zu besonders impulsiven und ausdrucksstarken Schriftzeichen führt. Im Gegensatz zu vielen anderen KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 10 Kulturen (auch in der europäischen), welche die Schönschrift vor allem über ihre exakte Gleichförmigkeit definierten, wird bei der Kalligrafie im japanischen und chinesischen Raum auf die Leserlichkeit der gemalten Zeichen nicht so großer Wert gelegt, wie auf die Ausdruckskraft und den künstlerischen Schwung, der in der Zeichenbewegung selbst liegt. Diese Form der Kalligrafie ist der Zeichnung bereits sehr ähnlich, die Linie ist auch hier der Hauptbestandteil des gesamten Werkes. Die individuelle Anwendung der Linie und der persönliche Pinselschwung eines Künstlers prägen so auch nachweislich den Ausdruck seiner Kalligrafie [1]. Obwohl die Schönschrift in Europa einen anderen Stil verfolgte als in Asien, hatte auch hier die Kalligrafie einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Linie. Selbst Leonardo Da Vinci entwickelte seinen Zeichenstil aus der Kalligrafie heraus. Seine Spiegelschriften zählen bis heute als große kalligrafische Kunstwerke (siehe Abbildung 2.4). 2.4 Skizze Die Linie hat nicht nur in der Kunst, sondern auch bereits beim Anfertigen von Skizzen eine große Bedeutung. Als Skizze bezeichnet man einen Entwurf, ein rohes Konzept, das eine Vorlage für ein gemaltes oder auch plastisches Werk bildet. Die Skizze wird aber nicht nur in der Malerei und Zeichenkunst verwendet, sondern auch in der Architektur, der Physik, Mathematik und noch vielen anderen Wissenschaften, bei denen eine grafische Darstellung als Hilfsmittel zum besseren Verständnis der Materie verwendet wird. In der Kunst werden als Zeichenmaterialien zum Anfertigen von Skizzen oft Kohlestifte, Kreide oder auch Rötel 3 verwendet. Meist werden aus Zeitgründen Flächen kaum gefüllt und nur die Umrisslinien eines Entwurfes oder Bildes skizziert. Bei der Skizze wird kein Wert auf Genauigkeit oder Detailreichtum gelegt, sondern darauf, dass die Idee für das Kunstwerk ausreichend transportiert wird (siehe Abbildung 2.5). Früher wurden diese Art von Vorzeichnung oft in so genannten Skizzenbüchern gesammelt, aber sie galten unglücklicherweise nicht als künstlerisch wertvoll, deshalb sind leider nur sehr wenige davon erhalten [21]. Die Linien einer Skizze sind im Allgemeinen eher roh und unregelmäßig, da auf die genaue Führung des Striches im Entwurf kaum Wert gelegt wird. Gerade aber diese reduzierte und unfertig wirkende Art zu zeichnen und die eiligen angefertigten Umrisse machen viel vom Charme dieser Zeichenform aus (siehe auch Abbildungen 2.6). Manche Entwurfsskizzen sind auch so detailliert und genau ausgefertigt, dass sie bereits als vollständige Zeichnung und somit auch als finales Kunstwerk betrachtet werden können. 3 Ein Rötelstift ist eine kleine, gedrehte Papierrolle, die zum Verwischen der gezeichneten Linien verwendet wird. KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 11 Abbildung 2.5: Skizze von Leonardo Da Vinci [21]. Abbildung 2.6: Handgezeichnete Skizzen (gezeichnet vom Autor). 2.5 Zeichnung Die Zeichnung ist eine weitere künstlerische Ausdrucksform, die sich mit dem Wesen der Linie eingehend beschäftigt. Sie ist somit eine konsequente Fortführung der Skizze. Eine künstlerische Zeichnung, oft auch als Freihandzeichnung bezeichnet, ist eine lineare Darstellung von Konturen auf einem Trägermedium (also z. B. Papier oder Pergament). Diese Umrisslinien können durch Schraffuren oder Lavierungen 4 ergänzt werden, um einen räumlichen Eindruck zu erschaffen. Zeichnungen können aber auch mit Hilfsmitteln wie 4 Eine Lavierung ist eine Form der Schattierung, bei der mit Hilfe von stark verdünnter Tusche eine Zeichnung getönt wird, um Räumlichkeit zu erzeugen. KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 12 Schablonen, Linealen, Zirkeln und ähnlichen Arbeitgeräten erstellt werden, dies ist aber in der Kunst eher unüblich und findet seine Anwendung häufiger im Bereich der Architektur und Mathematik, wo durch diese unterstützenden Mittel exakte, maßstabgenaue Pläne und Skizzen angelegt werden. Da Farbe in den Anfängen der Zeichnung keine Rolle spielte, bestimmte ursprünglich die Linie selbst durch Attribute wie Strichstärke, Nachdruck und Transparenz den Ausdruck und die Details eines Bildes. Eine wichtige Neuerung für die Zeichnung in Europa stellte der Einmarsch der Araber im 14. Jahrhundert dar, denn sie brachten eine ursprünglich chinesische Erfindung nach Europa: das Papier. Waren Trägermedien wie Haut oder Pergament bis zu diesem Zeitpunkt nur für Mönche und Adelige erschwinglich, so konnte durch die Entdeckung des Papiers sich auch die breite Masse mit Zeichnungen beschäftigen. Das Charakteristische an einer Zeichnung ist, dass sie die Linienführung eines Motivs, sei es nun konkret oder abstrakt, besonders betont. Somit wird die Linie zum zentralen Element in der Zeichnung. Der Künstler kann naturalistische oder reduzierte, abstrakte Linien wählen, in jedem Fall aber macht die Wahl der Linienführung die Wirkung des Bildes aus. Ersichtlich wird dies auch durch den Vergleich der in Abbildung 2.7 dargestellten Zeichnungen. Beide sind handgezeichnet und beinhalten ein ähnliches Motiv, nämlich eine Katze. Obwohl beide Abbildungen Zeichnungen von ein und demselben Tier sind und sogar in einem ähnlichen Stil gehalten sind, also sehr cartoon-haft und reduziert, sind sie doch in ihrem Ausdruck vollkommen unterschiedlich. Das Bild links arbeitet mit feinen Linien und Schraffuren, die Zeichnung wirkt dadurch skizzenhafter und auch etwas unruhig. Die Linien im rechten Motiv sind äußerst exakt, viel dicker und in ihrer Form dynamischer und die Schraffuren werden eher zurückhaltend eingesetzt. Durch dieses einfache Beispiel wird ersichtlich, wie ausschlaggebend und elementar die Linienführung für eine Zeichnung ist. Die Linie markiert Umrisse und Konturen und gibt der Zeichnung durch Schraffuren, Schummern 5 oder ausgemalte Flächen mehr Tiefe. Die Linienstärke ist verantwortlich für Tonwerte und Dynamik. Auch die Tonwerte von Flächen können in der Zeichnung durch die Anwendung von Kreuzschraffuren verändert werden: je enger die Linien einer Kreuzschraffur sind, desto dunkler wirkt die entstehende Fläche und desto mehr tritt die betreffende Partie in der Zeichnung optisch in der Hintergrund. Zeichnungen und auch Skizzen konnten sowohl vor oder auch nach dem vollendeten Hauptwerk entstehen, waren sie doch lange Zeit nur eine private und marginale Leistung des Künstlers selbst. Der eigenständige Wert von 5 Beim Schummern wird eine mit Kohlestift schraffierte Fläche mit dem Finger oder einem speziellen Wischer (Estompes) nachträglich verwischt, um die Oberfläche homogener wirken zu lassen. [10] KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD Abbildung 2.7: Stilistisch unterschiedliche Zeichnungen einer Katze. Abbildung 2.8: Zeichnungen von Da Vinci [21]. 13 KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 14 Zeichnungen wurde erst ab dem 15. Jahrhundert langsam anerkannt, zuvor waren sie lediglich als bereits erwähnte Vorarbeiten, Skizzen oder zusätzlichen Studien zum Hauptwerk in Verwendung, sie dienten zum Üben und Lernen. Durch diesen Umstand sind auch nur wenige Zeichnungen überliefert, denn nur Vorstudien von berühmten Werken oder Malern wurden archiviert. Erst als sie als Repräsentation der Realität (siehe Abbildung 2.8) in die Nähe der Idee rückte, erhielt sie eine intellektuelle und moralische Wertschätzung. Als die Zeichnung endlich anerkannt wurde, wurde die Farbe zur Seele der Repräsentation, zur eigentlichen Qualität der Malerei [14]. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde mit dem Sammeln von Zeichnungen begonnen. Der Grund hierfür war wohl das steigende Interesse an den einzelnen Etappen eines Kunstwerk zur Beurteilung von Idee, Originalität und schrittweiser Umsetzung eines Werkes. Immanuel Kant definiert die Zeichnung so [14, S.132]: Die Zeichnung ist ein reines Urteilen über Formen und zugleich ” eine intensive Tätigkeit des Geistes, die das Element des Natürlichen vervollständigt und übertrifft.“ 2.6 Druckverfahren Die Linie spielt auch in den klassischen Druckverfahren, auch Reproduktionstechniken genannt, eine große Rolle. Das Aussehen der Linie ist hierbei von der jeweiligen Drucktechnik abhängig. Bei einem Linolschnitt (siehe Abbildung 2.9) sind breitere Linien zu erwarten als bei einem Kupferstich (siehe Abbildung 2.10) oder einer Radierung, bei denen weit feinere Verzweigungen möglich sind. Druckverfahren sind schon seit langer Zeit bekannt, der Hochdruck (der zum Beispiel schon beim Holzschnitt zur Anwendung kommt) zählt zu den ältesten Verfahren und wurde schon im alten China, in Babylonien und Ägypten verwendet. Im Mittelalter wuchs das Interesse an Drucktechniken wie der Radierung und dem Kupferstich. Letztere Drucktechnik zeichnet sich, wie auch eine Radierung, durch besonders feine Linien und Schraffuren aus, mit denen die Details eines Bildes besonders genau wiedergegeben werden können (siehe Abbildung 2.10). Dabei wird das Motiv mit einer feinen Nadel (Stichel) aus einer wenigen Millimeter dicken Kupferplatte geritzt. Da mit dieser Technik keine Flächen sondern nur dünnen Linien aus der Platte geritzt werden können, sind Schraffuren für den Kupferstich typisch. Ein großer Meister dieser Drucktechniken war zum Beispiel Albrecht Dürer (siehe auch Kap. 2.6), der die Anwendung dieser feinen Linien perfektionierte. Beim Holzschnitt oder Linolschnitt hingegen (siehe Abbildungen 2.9) können auch breite Flächen aus dem Material geschnitten werden, Schraffuren sind für diese Drucktechnik also nicht zwingend notwendig. Trotz- KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD (a) 15 (b) Abbildung 2.9: (a)Linol- und (b)Holzschnitt [10]. (a) (b) Abbildung 2.10: (a)Radierung und (b)Kupferstich [10]. KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 16 dem kommen sie aber immer wieder vor, vor allem im leicht abgewandelten Holzstich-Verfahren (dabei wird eine Holzplatte anstatt mit einem Messer mit einem Stichel aus dem Kupferstich bearbeitet), mit dem eine größere Farbtonabstufung möglich ist. In modernen Drucktechniken wie Lithographie und Offsetdruck spielt die Linie eine nicht mehr ganz so große Rolle wie in den bereits genannten Verfahren, da durch die verbesserte und vereinfachte Technik Farbabstufungen viel einfacher möglich waren. Außerdem wird in diesen oft plakativen Bilder häufig mit Flächen gearbeitet, was die Linie nach und nach aus dem Feld der Drucktechnik verdrängt hat. 2.7 Comic und Karikatur Besonders amüsante und beliebte Formen der Linienzeichnung sind der Comic und die Karikatur. Schon seit Anbeginn der Menschheit war es ein Ausdruck der Satire, humoristische Darstellungen von berühmten Persönlichkeiten oder von bekannten Vorfällen abzubilden. Mit dem industriellen Vertrieb der ersten Zeitungen kam es auch zum regelmäßigen Druck von Karikaturen und Comic Strips, die oft sehr kunstvolle Linienzeichnungen waren. Als Comics bezeichnet man Bilderfolgen, mit denen ein Vorgang beschrieben oder eine Geschichte erzählt wird. Durch die verflochtene Wirkung von bildnerischer Gestaltung, Text und Aussage nehmen sie eine besondere Stellung ein. Der Ursprung der Comics liegt bereits in der Höhlenmalerei. Auch auf den bemalten Felsen fanden sich ähnliche sequentielle Bilder und die Entwicklung der Comics zieht sich von ägyptischen Wandmalereien (die ihrerseits wiederum zur Entwicklung der Hieroglyphen und daraus Schrift und Kalligrafie führten – siehe auch Kap. 2.1 und Kap. 2.3), griechischen Reliefdarstellung bis zu mittelalterlichen Illustrationen fort [7]. Schon im 17. Jahrhundert wurden erstmals Sprechblasen verwendet, um religiöse Abbildungen in ihrer Aussage zu ergänzen. Als geistiger Vater des Comic Strips wird heute oft Wilhelm Busch erwähnt, dessen Geschichten und Linienzeichnungen noch heute als erheiternde Lektüre vertrieben werden. Die Entwicklung der Comics wurde dann erst entscheidend durch die Entwicklung der Zeitungswesens und der darin gebräuchlichen Karikaturen beschleunigt (die sogenannten Pen and Ink Caricatures“). Karikaturen stellen eine komisch ” überzeichnete Betrachtungsweise von Personen oder gesellschaftlichen Zuständen dar, oft auch mit starkem politischem Charakter. Sie fungiert bis heute als satirische Kritik am bestehendem System oder an einer Person, wesentliche Fehler werden besonders zugespitzt und bewußt ins Lächerliche gezogen [10]. Die ersten richtigen Zeitungscomics entstanden aus den sogenannten Gag Panels“ (Ein-Bild-Cartoons) [5]. Die Zeichner erhielten so die ” Gelegenheit sequentiell eine kleine, meist humoristische Geschichte zu erzählen. Über die Jahre wurden Comicstrips in Zeitungen sehr populär, aber erst Anfang der 30er Jahre wurde zum ersten Mal ein Magazin veröffentlicht, KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD (a) 17 (b) Abbildung 2.11: Cartoons und Karikaturen. dass ausschließlich mit Comics gefüllt war [5]. Comics und Karikaturen enthalten sehr oft linienhafte Charaktere. Ursprünglich lag dies wohl daran, dass in den Anfängen des Zeitungsdrucks kein Farbdruck und deshalb nur schwarze Linien auf weißem (oder ähnlich hellem) Grund möglich waren. Auch die zeitgenössischen Tageszeitungen verwenden immer noch Karikaturen bzw. Comics in diesem monochromen Stil, obwohl Farbdruck jederzeit möglich wäre. Beinahe jede Zeitung unterhält einen eigenen Karikaturisten, der das Tagesgeschehen satirisch reflektieren soll. Die Zeichnungen dieser Comics sind oft sehr skizzenhaft, teilweise sogar ungenau, aber durch bestimmte charakteristische Details (z. B. eine Frisur, ein Kleidungsstück oder ein persönlicher Makel mit Wiedererkennungswert) wird immer klar, wer durch das Bild karikiert werden soll. Die Linien überlappen oft, wirken nervös und kritzelig“, doch genau das macht den rohen Charme ” von Comics Strips und Karikaturen aus. Die Linie spielt im Comic bis heute eine nicht unwesentliche Rolle: ob als Kontur, Richtungsangabe für Bewegungen, zur Verdeutlichung von Geschwindigkeit und ähnlichem, die Linie als notwendiges Stilmittel ist aus Comic und Karikatur kaum wegzudenken (siehe Abbildungen 2.11 6 ). 6 Karikatur aus http://www.paolo-calleri.de/paolo-calleri/karikaturen/steuermann.html, Comic aus http://wikipedia.openfun.org/wiki/Comics KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 2.8 18 Bedeutende Künstler In der Kunstgeschichte gibt es viele Künstler, die sich mit der Natur der Zeichnung und generell mit der Natur der Linie auseinandersetzten. Da diese aber eindeutig zu umfangreich für diese Diplomarbeit wären, habe ich mir die Freiheit genommen, die Künstler herauszunehmen, die – meiner Meinung nach – einen besonders großen Einfluss auf das Ansehen und die Verwendung der Linie hatten und ihren Bezug dazu überblicksartig darzulegen. Leonardo Da Vinci und Albrecht Dürer hatten ihrerseits einen großen Einfluss auf die Akzeptanz und Anerkennung der Zeichnung als Kunstform in der Öffentlichkeit, während Pablo Picasso und Wassily Kandinsky in der Neuzeit durch ihre extreme Form der Abstraktion den Stellenwert der Linie in der Kunst verdeutlichten. 2.8.1 Leonardo Da Vinci Leonardo Da Vinci (1452-1519) gilt durch seine weit gefächerten kulturellen Interessen als Universalgenie. Bereits in der Renaissance wurde er deswegen auch Uomo universale“ (Universalmensch) [19] genannt. Er betätigte sich ” unter anderem als Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Kunsttheoretiker, Erfinder und sogar als Biologe und Mathematiker. Er ist einer der wenigen Künstler, von dem Skizzen und Zeichnungen, denen in der damaligen Zeit kaum künstlerischer Wert beigemessen wurde, erhalten wurden. Viele seiner bildhauerischen Arbeiten und auch Erfindungen sind heute überhaupt nur noch aus diesen Skizzen bekannt. Weiters gibt es noch diverse Kopf- und Aktstudien sowie diverse Landschaftszeichnungen, die meisten davon sind Teile seiner Notizen und wissenschaftlichen Untersuchen (siehe Abbildungen 2.14). Besonders aus seinen anatomischen, biologischen und physikalischen Untersuchungen sind viele Zeichnungen in teilweise überraschend detailgetreuer Ausführung erhalten, die sein großes Wissen auf all diesen vielfältigen Bereichen beweisen. Er zeichnete Skelette, Organe, einzelne Muskelstränge, sogar Föten im Mutterleib, die mit ihrem Realismus beeindrucken. Leonardo perfektionierte den Umgang mit der Linie soweit, dass seine Zeichnungen den Betrachter schon allein durch ihre Plastizität, Detailtreue und den Umgang mit der Perspektive überzeugen (siehe Abbildung 2.13). Leonardos Zugang zum Zeichnen entwickelte sich nachweislich aus der Kalligraphie, die damals – ganz im Gegensatz zur Zeichnung – als eigene Kunstform angesehen wurde. Seine Spiegelschrift kann beispielsweise als brillantes, zeichnerisches Meisterwerk bezeichnet werden [14] (siehe Abbildung 2.12). Leonardo Da Vinci ließ sich, wie auch andere Renaissancekünstler, von griechischen und römischen Kunstwerken inspirieren, was sich auch deutlich in seinen Zeichnungen widerspiegelt. Mehr als die anderen verstand er sich darauf, seinen Zeichnungen Tiefe zu verleihen. Er verwendete die Linie nicht KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 19 Abbildung 2.12: Kalligrafische Schrift von Leonardo Da Vinci [21]. Abbildung 2.13: Detailgetreue Zeichnung von Leonardo Da Vinci [21]. nur als Kontur, sondern verstand es auch, mit der Linie räumliche Tiefe im Bild zu erzeugen. Dieser Naturalismus veränderte den gesamten Ruf der Zeichnung: waren diese bis dahin nur Skizzen, spontane Entwürfe, so wurden sie dadurch zu einer neuen künstlerischen Disziplin. Im Gegensatz zu den meisten anderen Künstlern seiner Zeit waren Zeichnungen für Leonardo nicht nur Entwürfe oder Skizzen, sondern auch selbst Kunstwerke [19]. In dieser Einstellung ähnelte er Alfred Dürer stark, beide trugen so maßgeblich zur Verbesserung des Rufes der Freihandzeichnung bei. Dadurch, dass er auch von vielen seiner Zeitgenossen sehr geschätzt und gelobt wurde, wurden glücklicherweise manche seiner Zeichnungen archiviert und gelten heute als besondere Kostbarkeiten und Zeitdokumente. Da Vinci ist auch einer der wenigen Künstler, von dem Skizzenbücher erhalten blieben (siehe Abbildung 2.14). KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD (a) 20 (b) Abbildung 2.14: Werke aus den Skizzenbüchern von Da Vinci [21]. 2.8.2 Albrecht Dürer Albrecht Dürer (1471-1528) war ein bekannter deutscher Maler, Zeichner und Grafiker. Er interessierte sich besonders für die zeitgenössischen italienischen Kupferstiche, die ihn maßgeblich beeinflussten. Dürer war, trotz bekannter Vorgänger wie zum Beispiel Schongauer, der Künstler, der die Grafik als Kunstform dem klassischen Gemälde ebenbürtig machte. Seine Kupferstiche und Holzschnitte waren der damaligen Zeit in Technik, Inhalt und Form weit voraus. Dies bewirkte unter anderem auch, dass die italienischen Künstler, die er anfangs so bewundert hatte, sich nun ihrerseits an Dürers Arbeiten orientierten [19]. Zwei seiner bekanntesten Kupferstiche sind Ritter, Tod und Teufel und Der heilige Hieronymus im Gehäuse (Abbildung 2.15 7 ), die durch ihre besondere künstlerische Reife und hohe Qualität beeindrucken. An diesen sowie beispielsweise auch an seinem Aquarell eines jungen Feldhasen kann man Dürers Umgang mit der Linie beobachten: durch feine Linien und Schraffuren schafft er unterschiedlichste Strukturen, Oberflächen, gibt der Malerei Licht und Schatten. Dadurch werden auch die Möglichkeiten, die der Einsatz der Linie in jeder künstlerischen Tätigkeit bietet, verdeutlicht: allein durch unterschiedliche Linienstärke, Länge oder Dichte kann ein Gesamtkunstwerk 7 Bilder aus http://www.wyss-art.ch/images/kupferstich lg.jpg und http://www.unituebingen.de/mediaevistik/nachwuchsforum/hieronymus.jpg KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD (a) 21 (b) Abbildung 2.15: (a) Ritter, Tod und Teufel“ und (b) Der heilige Hieroni” ” mus im Gehäuse“ von Albrecht Dürer. kreiert werden, dass keine großen Flächen besitzt. Gerade in Dürers Werken wird deutlich, dass feine Linien eine extrem große Fülle an Details darstellen können, die ansonsten, wenn sie mit Flächen realisiert würden, verwaschen wirken könnten. Eine weitere Neuheit ist Dürers Einstellung zur Zeichnung: er verwendet sie wie Da Vinci nicht nur als Vorlage für andere Arbeiten, sondern sieht die Zeichnung selbst als das zu entstehende Kunstwerk. Kein anderer Künstler seiner Zeit schuf so viele Handzeichnungen (tatsächlich waren es um 900 Zeichnungen) wie er. Verantwortlich dafür war Dürers Einstellung zur Kunst. Er verfolgte die Überzeugung, dass Gesetze und ” Methode niemals die Spontaneität des Ausdrucks unterdrücken dürfen“ [19]. Die Vermutung liegt nahe, dass er durch seine Beschäftigung mit der Linie im Kupferstich und anderen Druckverfahren auch weit offener für die Bedeutung der Linie in Skizzen und Handzeichnungen als seine Zeitgenossen war und dass er deshalb diese auch als eigene künstlerische Ausdrucksform betrachtete. 2.8.3 Pablo Picasso Der spanische Maler, Grafiker und Bildhauer Pablo Picasso (1881-1973) gilt als einer der bedeutendsten Künstler der Moderne und prägte die Kunst des letzten Jahrhunderts maßgeblich. Nach seiner Blauen Periode“ und seiner ” KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 22 Rosa Periode“, wurden seine Bilder allmählich geometrischer und härter, er ” arbeitete mit stärkeren Farben und einem dichteren Auftrag. Er begann die Inhalte seiner Bilder immer mehr auf kubische und andere geometrische Formen zu reduzieren. Die Kubisten malten die Dinge nicht wie sie sie sahen“, ” sondern wie sie sie dachten“ [16]. Picasso beschäftigte sich in dieser Phase ” stark mit Farben, Flächen und auch der Verwendung von Linien. Doch Picasso widmete sich im Laufe seines Lebens nicht nur mit dem Kubismus, er war auch ein großer Grafiker und Zeichner. Schon in seinen Anfängen gab es euphorische Stimmen, die seine Zeichenkunst mit Leonardo Da Vinci gleichsetzten, doch da Picasso nicht immer klassisch zeichnete – obwohl er es durchaus gekonnt hätte – belächelten seine Kritiker diese Vergleiche. Picasso kümmerte dies nicht, er wollte seine Bilder rau, beunruhigend und dramatisch [19]. Die oft harten Linien in seinen Malereien und Grafiken unterstützen diesen Zugang, sie bringen ein zusätzliche Spannung ins Bild (siehe Abbildung 2.16 8 ). Die Linien seiner Bilder sind breit und kantig, bilden harte Konturen und schaffen neue Flächen. Seine Zeichnungen sind ausgesprochen reduziert, beinahe schon kindlich und doch sind sie gleichzeitig durch ihre dynamische Form ausgesprochen expressiv. Pablo Picasso bewies seinen Kritikern, dass Perspektive und räumliche Tiefe nur einen Zugang zur Kunst darstellen und dass seine zweidimensionalen, flächig-geometrischen Werke einfach nur ein neuer, bis dato unbekannter Weg zur Erweckung von Emotion war. 2.8.4 Wassily Kandinsky Wassily Kandinsky war ein russischer Maler und Kunsttheoretiker, der jedoch nach seinem Jurastudium von Moskau nach München auswanderte, um Malerei zu studieren. Kandinsky veröffentlichte 1912 sein kunstheoretisches Buch Über das Geistige in der Kunst, in dem er sich mit der zunehmenden Abstraktion von Motiven beschäftigte. Kurz davor hatte er sein erstes, vollständig abstraktes Aquarell gemalt, von dem man weiß, dass es eigentlich Ritter und Pferd im Kampf darstellen soll. Gemeinsam mit seinen Freunden Paul Klee, August Macke und Franz Marc gründete er 1911 den Blauen Reiter. Diese expressionistische Gruppierung machte es sich zur Aufgabe, die bestehenden Grenzen des künstlerischen Ausdrucksvermögens zu erweitern und zu einer neuen Bildwelt vorzudringen. Kandinsky war der Auffassung, dass seine Bilder durch die fortgeschrittene Abstraktion und das Arbeiten mit klaren Formen und Farben (z. B. im Gegensatz zu den früher beliebten Darstellungen von religiösen Mythen, die für den Menschen heute keine Bedeutung mehr haben) allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein konnten. Intuitiv hatte er erkannt, dass erst durch die Ausschaltung des Bildgegenstandes die Farben und Formen ein eigenes Wesen entwickeln und so zum 8 Bild aus http://www.artnet.de/magazine/reviews/scheuermann/scheuermann05-1705 detail.asp?picnum=4 KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 23 Abbildung 2.16: Aktzeichnung Pablo Picasso. Ausdrucksinstrument von Emotionen und Empfindungen werden konnten. Jede Farb- und Linienkonstellation in seinen Bildern hat eine beabsichtigte Aussage und als einer der wenigen Maler ist die Linie für ihn nicht nur Kontur, sondern ein eigenes, aussagekräftiges Bildelement. Durch seinen Einsatz sowohl in der Malerei als auch in der Kunsttheorie hat er so den Weg für die absolute“ Malerei, eine Malerei befreit von gegenständlichen Vorgaben, ” bereitet. 1926 veröffentlichte Kandinsky, der in dieser Phase eng mit dem deutschen Bauhaus zusammenarbeitete, sein zweites Buch Punkt und Linie zu Fläche, eine Analyse von Formelementen, Kompositionsmethoden und deren innere Kräfte. Somit lieferte Kandinsky das Standardwerk schlechthin für den Umgang mit der Linie. Darin schafft er den Gegensatz von Zeichnung und Farbe endgültig ab und entwickelt so eine eigene, abstrakte Form. Mit Hilfe dieser expressiven, ursprünglichen Geometrien komponiert“ er wie” derum neue Formen. Seine Ansätze erinnern hierbei auch des öfteren an die Studien Piet Mondrians, finden sich aber auch in seinen eigenen Werken zur Zeit des Blauen Reiters wieder. Auch in seinen eigenen Bilder spielt die Linie immer wieder eine große Rolle (siehe Abbildung 2.18) [19]. Die Schlangenlinie rechts im Bild könnte sowohl eine Anspielung auf das im Jugendstil häufig gebrauchte Peitschenschnur“-Element sein, es wird aber vermutet, ” KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 24 Abbildung 2.17: Komposition VIII“ von Wassily Kandinsky [15]. ” dass es ein von Kandinsky entworfenes Chiffre für Pferd und Reiter ist, das er schon in früheren Werken verwendete [20]. Dies wiederum verdeutlicht die Vielfältigkeit der Linie an sich, da sie sowohl als eigenständiges Bildelement, als auch als Synonym für etwas radikal anderes verwendet werden kann. Kandinsky baut in seinen Bildern durch Linien Spannung auf, lenkt Blickrichtungen und manchmal verwendet er sie auch synonym für andere Begriffe. Kandinskys Bilder waren somit zwar sehr abstrakt und geometrisch, aber trotz allem hatte er immer noch einen Bezug zu seinen Motiven. Wassily Kandinsky hat durch seine Beschäftigung mit der Abstraktion und geometrischen Darstellungsformen entscheidend dazu beigetragen, dass die Linie heute nicht nur als notwendige Kontur einer Darstellung, sondern als eigenständiges Bildelement behandelt wird (siehe Abbildung 2.17). 2.9 Aktuelle Tendenzen Auch in zeitgenössischen grafischen und malerischen Werken findet sich die Linie immer wieder als Stilelement. Vor allem in der Werbung zeigt sich momentan einen Trend zur Linie bzw. einen Trend zur Handzeichnung im Allgemeinen. Für diese überraschende Popularität der Linie gibt es verschiedene Gründe: zum einen sind die technischen Neuerungen dafür verantwortlich, da durch billige, leicht bedienbare Software mehr Menschen einen spielerischen Zugang zur Animation finden und so ihre kreativen Ideen abseits des Einflusses von Industrie und Marketing einbringen. Über entsprechende Foren und Portale im Internet verteilen sich dann diese Home-Made“-Animationen ” und beeinflussen auch die Industrie, welche dann ihrerseits für das Setzen von Trends verantwortlich ist. Durch diese Entwicklungen in der Technik (z. B. KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 25 Abbildung 2.18: Rot-Gelb-Blau“ von Wassily Kandinsky [15]. ” Grafiktabletts, Animationssoftware, usw.) ist die Erstellung von Animationen an sich, aber auch von Animationen mit handgezeichnetem Charakter viel einfacher und somit auch für eine breitere Masse zugänglich geworden. Weiters ist auffallend, dass momentan ornamentale Verzierungen und Ver” schnörkelungen“ gerade ausgesprochen beliebt sind. Dies mag auch daran liegen, dass es bis vor nicht allzu langer Zeit einen Hang zum sehr geometrischen, schnörkellosen Design gab. Wie es in der Kunst schon immer der Fall war, lösten sich derartige Trends immer wieder gegenseitig ab, nach einer Zeit der geradlinigen Zurückhaltung folgte dann wieder eine Rückkehr zur opulenten Verzierung und umgekehrt. Natürlich ist eine solche Popularität, wie sie die Linie unlängst erfahren hat, immer ein zeitlich begrenztes Phänomen, wie jeder Trend. Nichtsdestotrotz ist die Linie aus Malerei und Grafik auch heute nicht wegzudenken, ob nun in geometrischen oder verspielten Kompositionen. Ein aktuelles Beispiel für die Verwendung der Linie in der Grafik ist die Werbung der Firma Musicload, bei der mit handgezeichneten Schriftzeichen gearbeitet wird [13] (siehe Abbildungen 2.19). Die eigentlich geradlinigen, farblich wenig aufdringlichen Plakate bekommen durch die handgezeichneten Elemente eine verspielte, moderne Note. Die Schriftarten der Handzeichnungen (insbesondere das M“ in Musik“, ” ” siehe Abbildung 2.9) erinnern zum Beispiel im rechten Bild an das Logo der Metal-Band Metallica, was einen noch größeren Bezug zur Welt der angesprochenen Zielgruppe erwirkt. Durch die natürliche Unregelmäßigkeit einer Handzeichnung wirkt es zusätzlich noch glaubhafter, als wenn diese beabsichtigte Ähnlichkeit durch computergenerierte Fonts erzielt worden wäre. Jeder Mensch hat schon einmal aus purer Langeweile eine Werbung übermalt, hat den Models eine andere Lippenstiftfarbe verpasst, dem bra- KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD 26 Abbildung 2.19: Werbekampagne von Musicload [13]. ven Buchhalter ein Lippenpiercing oder dem glatzköpfigen Metaller Heidi“” Zöpfchen. Genau dieses Prinzip verfolgt auch diese Werbung, mit dem Unterschied, dass die realen und handgzeichneten Elemente natürlich penibel aufeinander abgestimmt wurden, um die Werbebotschaft zu transportieren. Trotzdem fühlt sich der Betrachter durch die Bilder automatisch angesprochen, weil er sich mit den Zeichnungen identifizieren kann, da er meist selbst schon einmal derartige Ornamente oder Verzierungen zu Papier gebracht hat. Durch die Linie kann eine natürliche Lebendigkeit vermittelt werden, ohne die das Plakat allein eher langweilig wirken würde. Kapitel 3 Entwicklung der Linie im Bewegtbild In diesem Abschnitt der Diplomarbeit soll im Gegensatz zum vorangegangenen die Linie in bewegten Bilder, also im Animationsfilm behandelt werden. Da die Linie auch schon in der Zeichnung, Comic und Karikatur eine große Rolle spielte, ist es eine logische Schlussfolgerung, dass sie auch die gezeichnete Animation stark beeinflusst hat. Dieses Kapitel soll einen Überblick über die Linie in der Entwicklung der Animation vom simplen Daumenkino bis hin zu namhaften Produktionsstudios wie UPA geben. 3.1 Frühe Animationen Eine sehr frühe, aber beliebte Form der Animation ist das Daumenkino (auch genannt Flip Books“ oder Flipper Books“). 1868 erschien es zum ” ” ersten Mal als Weltneuheit und begeisterte Erwachsene und ganz besonders Kinder. Das Daumenkino ist eine sehr simple Form der Animation: auf beliebig viele Seiten werden sequentielle Zeichnungen (jede Zeichnung darf nur geringfügig anders sein als die vorhergehende, um eine flüssige Bewegung erzeugen zu können) von hinten nach vorne aufgebracht, die Seiten werden an einem der Ränder gebunden wie ein Buch und können dann mit dem Daumen durchgeblättert werden (siehe Abbildung 3.1). Durch das schnelle Umblättern wird dem trägen menschlichen Auge eine Bewegung vorgegaukelt [22]. Wenn man die einzelnen Bilder eines Daumenkinos abfotografiert und anschließend zusammengesetzt würde, erhielte man einen ganz klassischen Animationsfilm. Mit diesem Prinzip haben auch Animatoren lange Zeit gearbeitet: der Animator legt seine Zeichnungen auf einen Stoß übereinander und blättert sie dann mit dem Daumen durch. So kann er einfach überprüfen, ob augenscheinliche Fehler in der Sequenz gemacht wurden, ob die Bewegung flüssig wirkt und wie lange die Animation ungefähr in der finalen Version dauern wird [18]. Gerade im Daumenkino werden bis heute sehr 27 KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 28 Abbildung 3.1: Daumenkino [11]. gerne einfache Linienzeichnungen wie zum Beispiel Strichmännchen verwendet, da diese relativ schnell gezeichnet werden können und dabei trotzdem eine glaubhafte Bewegung erzeugen. Natürlich können auch im Daumenkino andere Formen als die Linienzeichnung verwendet werden, doch wie in vielen anderen frühen Formen der Animation auch, ist die einfache Strichzeichnung noch immer sehr beliebt [18]. Doch auch andere frühe Formen der Animation beschäftigten sich mit der Liniezeichnung. Schon 1886, als die Animation noch in ihren Kinderschuhen steckte, experimentierte Thomas Edison bereits mit bewegten Bildern [22]. Edison wurde damals von einem New Yorker Zeitungscartoonisten namens James Stuart Blackton interviewt. Dieser fertigte während des Interviews ein paar Skizzen von Edison an, welcher beeindruckt von den schnellen, kunstfertigen Zeichnungen war. Edison bat ihn ein paar weitere Sequenzen zu zeichnen und fotografierte diese dann ab. 1906 veröffentlichten die beiden schlussendlich ihren Kurzfilm Humorous Phases of Funny Faces, für den Blackton über 3000 Zeichnungen angefertigt hatte (siehe Abbildung 3.2). Da er Cartoonist war, arbeiteten die beiden mit linienhaften Charakteren – abgesehen davon hat er sich dadurch wohl auch sehr viel Arbeit mit dem Colorieren erspart. Die beiden wurden so zu den Urvätern des animierten Cartoons und der kurze Sketch wurde durch seinen Humor ein Publikumshit. 1907 kam Emile Cohl [12] in Kontakt mit dem Kino und produzierte im Anschluss seinen ersten Animationsfilm in Paris. Die Figuren waren zwar kindlicher Natur und bestanden aus weißen Linien auf schwarzem Grund, aber die Story war anspruchsvoll (siehe Abbildung 3.2). Er verlieh sogar leblosen Gegenständen Bewegung, Intelligenz, Gefühle und Stimmungen und KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD (a) 29 (b) Abbildung 3.2: (a) Humorous Phases of Funny Faces und (b) Emile Cohl [12]. prägte so einen der wichtigsten Grundsätze der Animation [22, S.16]: Mach nicht, was du auch mit einer Kamera machen kannst – ” mach das, was eine Kamera nicht kann!“ 1911 veröffentlichte Windsor McCay, der Schöpfer der Little Nemo in Slumberland Comicstrips, ebenfalls einen Film, in dem er seine Hauptfigur Nemo durch 4000 Zeichnungen zum Leben erweckte. 1914 zeichnete er dann seinen bekanntesten Kurzfilm Gertie the Dinosaur (siehe Abbildung 3.3). Damals trat er sogar live im Kino auf und bot dem Tier auf der Leinwand einen Apfel an. Tatsächlich war die Animation so gezeichnet, dass Gertie den Hals senkte und den Apfel scheinbar verspeiste. Der Kurzfilm wurde zur Sensation, wohl auch deswegen, weil zum ersten Mal einer Cartoonfigur Persönlichkeit eingehaucht wurde [22]. All diese frühen Animationen haben eines gemeinsam: die Charaktere und Hintergründe bestehen meist aus Linienzeichnungen ohne farbige Füllung. Damals war dies aber nicht nur ein Stilmittel, sondern eine Notwendigkeit. Da die Trickfilmsequenzen meist aus der Feder nur einer Person stammten und dieser Tausende von Zeichnungen anfertigen musste, konnte dadurch Zeit und Arbeitsaufwand gespart werden. KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 30 Abbildung 3.3: Gertie the Dinosaur von Windsor McCay [12]. 3.2 Pencil Tests Ein traditioneller Pencil Test (dts. Pinseltest“) überprüft eine Animations” sequenz immer wieder während der Produktion auf ihre Qualität. So konnten die Animatoren überprüfen, ob die Bewegungen flüssig und fehlerlos waren und ob der gesamte Zeichenstil passend war, bevor die Zeichnungen auf das teure transparente Acetat gedruckt wurden. Hierfür wurden die bis dato nur auf normalem Papier angefertigten Zeichnungen abfotografiert und in kurze Filmsequenzen zusammengesetzt. Durch diese Technik konnten Produktionsfirmen fehlerhafte Animationen vorab einsehen und verändern, ohne Geld für nicht mehr verwendbare Cels zu verlieren. Heute kommen viele Animatoren ganz bewusst nicht mehr über dieses Stadium hinaus, da sich aus den Pencil Test die Linienanimation herausgebildet hat [18]. Die Zeichner bleiben oft bei einem relativ reduzierten, einfachen Artwork (also beispielsweise simple Strichmännchen) aus dem anschließend die Animationen produziert werden. Wurde diese Art der Animation ursprünglich nur zum Testen verwendet, so hat sie sich heute weiter zu einer eigenen Form der Animation weiterentwickelt. Die Bewegungen dieser Animationen sind aber nicht notgedrungen roh und unausgegoren, die Zeichner haben nur durch die Reduktion der Motive und dem Wegfallen der farbigen Füllung einen anderen Weg gefunden, um Zeit einzusparen und ihren Zeichnungen durch die verwendeten Linien größtmögliche Ausdrucksstärke zu verleihen (siehe Abbildungen 3.4 1 ). 1 Bilder (a) aus http://www.millan.net/olaf/olafp.gif, Bild http://www.geocities.com/amy paulsons official site/AnimationTest.gif. (b) aus KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD (a) 31 (b) Abbildung 3.4: Penciltests 3.3 Produktionsstätten Für die Verwendung der Linie und von linienhaften Charakteren im Film gab es ein kommerziell erfolgreiches Produktionsstudio, dass durch seine Innovationen nach seiner Gründung 1944 ein neues Zeitalter der Animation einläutete: UPA (United Productions of America). Man wollte bewusst einen Konterpart zu traditionellen Animationsstudios wie Disney einnehmen und begann Themen und auch Optik der Cartoons stark zu verändern. War in den ersten Jahrzehnten der Animation noch die Magie“ ein nicht wegzuden” kender Faktor im Trickfilm, so verlor diese plötzlich an Bedeutung und auch die Animation begann sich mit realeren, kritischeren Themen zu befassen. Das relativ kleine, aber innovative Studio UPA [12] fand hier einen neuen Zugang zum Cartoon, abseits von halsbrecherischen Verfolgungsjagden und Tortenschlachten wurde ein rastloser, beinahe neurotischer Humor entwickelt, der Verwandtschaft zu Comic Magazinen wie MAD aufwies. Neben den Veränderungen an den Geschichten selbst, entwickelte UPA einen unverwechselbaren Stil. Entgegen der klassischen Animation mit ihren runden Formen und Bewegungen (O-Style), brachte UPA vor allem durch die Arbeit von John Hubley einen neuen Look hervor: die Farbe überlappte auf einmal die Konturen und wurde als eigenes Stilmittel verwendet, Linienzeichnungen wurden nicht mehr ausgefüllt, die Figuren waren absichtlich flach und zweidimensional, die Formen kantig, schräg und eckig. Hintergründe waren oft nur noch rohe Skizzen oder farbige Flächen und erhielten durch diese extreme Reduzierung oft einen surrealen Einschlag. Hubley gehorchte so der Bildsprache weitaus mehr als den traditionellen Regeln des Erzählens und erschuf so einen neuen künstlerischen Zugang zur Animation, der von der Unmittelbarkeit der Malerei, wie sie beispielsweise beim Action Painting zum Ausdruck gebracht wurde, beeinflusst wurde. Optisch erinnerten die Animationen stark an die klaren, stark strukturierten Malereien von Ma- KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 32 tisse, Klee und Picasso. UPA sprach so der Zeichnung selbst eine tragende Rolle bei der Aussage einer Animation zu. Durch die reduzierten Formen, die oftmalige Wiederverwendung von Bewegungszyklen und der künstlerischen Bildsprache, nannte man diese stilistische Form bald Limited Animation (siehe auch Kapitel 6.1.2), welche für die damalige Zeit eine ausgesprochen innovative Stilrichtung darstellte. Die Limited Animation hatte aber auch viele Kritiker, da die Anhänger der traditionellen Full Animation eben diese reduzierte Darstellung als fehlendes Talent und Inkompetenz deuteten. Doch UPA hatte mit diesem Animationsstil eine Vorreiterrolle eingenommen, da sie die Animation nicht nur mehr für komödiantische Themen, sondern auch für grafische und bildhafte Forschung nach Themen, Stilen und Genres kommerziell zugänglich machte. Dadurch stellen sie bis heute die Pioniere der Kunstanimation dar. Heute existieren Full und Limited Animation nebeneinander und finden beide immer wieder ihren Einsatz [12]. Nach frühen Produktionen wie Robin Hoodlum (1948) und The Magic Fluke (1949), in denen bereits die typischen stilisierten Zeichnungen verwendet wurden, hatte der wohl bekannteste Charakter von UPA sein Leinwanddebut in Ragtime Bear (1949): Mr. Magoo. Hier zeigte sich bereits, dass UPA einen diffizileren Zugang zu seinen Figuren pflegte als andere Studios. Mr. Magoo (siehe Abbildung 3.5) war keine heldenhafte Figur, vielmehr erregte er durch seine Tolpatischigkeit und schlimme Fehlsichtigkeit das Mitleid des Zusehers. Eine visuell besonders interessante UPA Produktion ist zweifelsohne Gerald McBoing Boing (1951) (siehe Abbildung 3.5). Diese Animation erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, welcher der Sprache nicht mächtig ist und sich deshalb mit Geräuschen (Boing! Boing!) verständlich macht. Hier wird deutlich, dass die Linie als Stilmittel für UPA´s (Kunst)Animationen bereits eine große Rolle spielt. Linie und Fläche sind gleichwertige zeichnerische Stilmittel und bestimmen das Aussehen der Zeichnungen. Die Linie soll vor allem in den Hintergrundelementen als rohe Skizze das Motiv verständlich machen, ohne unnötige Details darstellen zu müssen. Auch nach diesen bekannten Filmen bringt UPA neue Ansätze in die Animation, wie zum Beispiel Unicorn in the Gardens (1953), einer der wohl elitärsten amerikanischen Cartoons, oder auch eine Verfilmung von Edgar Allen Poe´s The Tell-Tale Heart (1953), das als erster animierter Horrorfilm gilt. UPA hat somit mit einer präzisen Verbindung zwischen Humor, Zeichnung und Animation die kommerzielle Trickfilmproduktion nachhaltig beeinflusst [12]. Auch andere Produktionen begannen sich nach dem überraschenden Erfolg der neuen stilistischen Linie von UPA mit der Limited Animation zu befassen. Der Stil wurde zwar oft kopiert, vor allem in Verbindung mit Slapstick Filmen, bei denen man auf eine schnellere, Produktion und Kostenersparnis hoffte, aber nicht immer wurden seine Möglichkeiten verstanden und voll KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD (a) 33 (b) Abbildung 3.5: (a)Mr.Magoo und (b)Gerald Mcboing Boing von UPA [12] Abbildung 3.6: Das oskarprämierte Toot, Whistle, Plunk and Boom von Disney. ausgeschöpft. Doch sogar das extrem traditionelle Produktionsstudio Disney begann sich für den von UPA entwickelten Stil zu interessieren und brachte 1954 Toot, Whistle, Plunk and Bloom (Abbildung 3.6 2 ) auf den Markt, das sogar einen Oskar gewann. Sogar Chuck Jones, der berühmte Zeichner von Bugs Bunny und den Looney Toons bei Warner Bros. beschäftigte sich 1960 in seinem oskarnominierten Kurzfilm High Notes(siehe Abbildung), bei denen die Figuren lediglich als einzelne Noten dargestellt wurden, mit der reduzierten Limited Animation [12]. Auch Terrytoons, die sich beispielsweise für die beiden Krähen Heckle 2 aus http://home.comcast.net/ wardomatic2/stringsdrums-lg.jpg. KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 34 und Jeckle verantwortlich zeichneten, änderten den Stil des Produktionsstudios, vernachlässigten bereits bestehende Charaktere und stellten Gene Deitch ein, der bereits bei UPA ausgebildet worden war. Dieser verfolgte einen noch extremer reduzierten Stil als UPA selbst, was z.B. bei Flebus (1955) ersichtlich wird. Nach einigen Produktionen wie Another Day, Another Doormat, The Juggle of a Lady und Sidney the Elephant wird Deitch von Bill Weiss ersetzt, da er dem Studio zu fortschrittlich war. Auch MGM orientiert sich mit Tex Avery an den Neuerungen in der Animation. Kritiker bezeichnen diese Produktionen als äußerst anti-Disney, surreal und gewälttätig, aber Avery hatte ursprünglich bei ihnen gelernt und ihren Stil vervollständigt. Seine Charaktere waren somit nicht nur graphisch interessant, sondern auch geborene“ Schauspieler [12]. ” Doch nicht nur die großen, kommerziellen Produktionsfirmen beschäftigten sich mit der Limited Animation und somit auch mit der Animation von Linien. Schon viel früher, allerdings ohne kommerziellen Einfluss und somit auch ohne größere Bekanntheit, experimentieren einzelne Künstler mit dieser Art der Animation. An der amerikanischen Westküste bildet sich zum Beispiel über spirituelle Ansätze und den Einfluss der europäischen Surrealisten ein neuer Zugang. Diese Filmemacher kapseln sich von der Hollywoodmaschinerie ab und veranstalten das Arts of Cinema Festival. Bekannte Vertreter dieser Linie waren Harry Smith, dessen direkt auf Film gemalte Animationen sehr grafisch-expressiv und dynamisch waren, Hy Hirsch, der sich dem Avantgarde Kino zuwandte und ebenfalls graphisch sehr reduzierte Arbeiten produzierte und Jordan Belson. Letzterer machte neben experimentellen Animationen auf Papierrollen auch direkte Zeichnungen auf Film und war von 1957-59 Direktor der Vortex Concerts, bei denen elektronische Musik und abstrakte Bilder zeitgleich präsentiert wurden. Viele seiner Arbeiten beschäftigten sich ebenfalls mit der Musikvisualisierung. Seine Werke Allures (1961) (siehe Abbildung 3.7) und Raga (1959) arbeiten sehr illustrativ und dekorativ, er zeigt dynamische Figuren von Sternen und Molekülen, die auf linienhafte Formen reduziert sind [12]. Auch in Europa findet die Limited Animation vor allem im Kunstbereich ihre Anhänger. Der Deutsche Herbert Seggelcke zeichnete sein StrichPunkt-Balett direkt auf Film (siehe Abbildung), doch schon bald darauf wurden diese Zeichnungen und Animationen von den Nazis als entartete Kunst verboten. Auch in Finnland regten sich nach Ende des Naziregimes begabte Animatoren, unter ihnen der Maler, Zeichner und Bildhauer Eino Ruutsalo [12], der seine linienhaften Charaktere direkt auf bereits bestehendes Filmmaterial zeichnete (siehe Abbildungen 3.8). In Jugoslawien schrieb die Zagreb School [12] Animationsgeschichte. Besonders in ihrer ersten Ära (1957-64), die von einheimischen Größen wie Vlado Kristl, Dusan Vukolic und Vatroslav Mimica dominiert wurden, zeigen die jugoslawischen Trick- KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 35 Abbildung 3.7: Allures von Jordan Belson [12]. (a) (b) Abbildung 3.8: Zeichnungen auf Film von Eino Ruutsalo [12]. filme ihre ganz eigene Form der Limited Animation in einem collagenartigen Stil mit breiten Linien und starken Flächen. Auch inhaltlich wird es zum Markenzeichen der Zagreb School sich anstatt mit humorigen Episoden mit dem Horror des Lebens und des Alltags zu beschäftigen, was die typisch düstere Stimmung dieser Animationen ausmacht (siehe Abbildungen 3.9) [12]. In der Türkei wurde zum wiederholten Male der Zusammenhang zwischen Kalligraphie und Zeichnung durch den Animationsfilm How the Boat of Belief Proceeded (1972) von Tonguc Yasar [12] deutlich gemacht (siehe Abbildungen 3.10). Die graphischen Zeichnungen bestehen ausschließlich aus den Buchstaben des türkischen Alphabets, welches heute nicht mehr gebräuchlich ist. KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 36 Abbildung 3.9: Werke der Zagreb School [12]. Abbildung 3.10: How the boat of belief proceeded von Tonguc Yasar [12]. Bis zum heutigen Tage gibt es viele Beispiele von Künstlern und Filmen, die sich mit der Limited Animation und mit der Verwendung der Linie im Speziellen beschäftigt haben, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Durch die bereits genannten Studios und Solokünstler sollte lediglich ein Überblick über die Entwicklung der linienhaften Animation gegeben werden. 3.4 Aktuelle Animationen Auch in der Musikvisualisierung und dem Musikvideo sind animierte Linien immer gern in Verwendung. Schon in den Anfängen der Animation beschäftigten sich Künstler mit den Zusammenhängen zwischen Musik und Bild. Viking Eggeling, 1880 in Schweden geboren, beschäftigte sich mit visueller ” Musik“. Seine bekanntesten Werke, das Horizontal-Vertikal-Orchester (Abb. KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 37 Abbildung 3.11: Horizontal-Vertikal-Orchester von Viking Eggeling [12]. 3.11) und die Diagonale Symphonie, sind starke graphische Zeichnungen auf schwarzem Grund, die sich mit der Metamorphose von abstrakten Formen in einem musikalischen Rhythmus beschäftigen. Der bekannteste Vertreter der Musikvisualisierung ist und bleibt jedoch das deutsche Universalgenie Oskar Fischinger (siehe auch Kap. 5.1.1) Schon in seinen frühen Werken war es ihm ein Anliegen Klarheit in seine Aussagen zu bringen, was wohl der erste Schritt für die immer stärkere Abstraktion und Reduktion von Formen und Farben war. Fischinger könnte somit als der Urvater“ des abstrakten Mu” sikvideos bezeichnet werden. Neben den traditionellen Animationen finden seit den 80er Jahren aber auch immer mehr Linienanimationen ihren Weg in die Musikvideos. Neben der klassischen gezeichneten Animation von Charakteren, wie zum Beispiel bei norwegische Popgruppe AHA mit ihrem Video zu Take On Me oder die Engländer von den Charlatans mit Try Again Today (siehe Abbildung 3.12), gibt es auch immer abstraktere Videos, von linienhaften Charakteren (z.B. Pinback mit Fortress), Hintergründen (Beck mit E-Pro, siehe Abbildung 3.13) bis zu ornamentalen Linien, die sich in ständiger Metamorphose befinden (z.B. Funkstörung mit Punk Motherfucker (siehe Abbildung 3.14) oder auch das bereits genannte Charlatans Video zu Try Again Today, welches sowohl Charaktere als auch abstrakte Linien vereint). Die Linie ist im Animationsvideo zum gern gesehenen Stilmittel geworden und findet vor allem in künstlerisch wertvollen Produktionen immer wieder einen Platz. Eine genauere Analyse der Videos von AHA und Pinback finden sich in Kapitel 5. In der Werbung ist die Linie heutzutage ein beliebtes Stilmittel, um Animationen um graphische Elemente zu erweitern. Viele Realvideoaufnahmen werden dabei von ornamentalen Linien überlagert, um zusätzliche Spannung im Bild zu erzeugen oder Zusatzinformationen abzubilden). Auch die KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD Abbildung 3.12: Screencaps aus dem Charlatans-Video Try Again Today. Abbildung 3.13: E-Pro von Beck. Abbildung 3.14: Screencaps aus dem Funkstörung-Video Punk Motherfucker. 38 KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD 39 letzte Werbekampagne von Microsoft arbeitete mit Linien, sogar mit linienhaften Charakteren (siehe Abbildungen). Diese animierten Linien wurden immer dann eingesetzt, wenn dem Betrachter vermittelt werden sollte, welche Möglichkeiten ihm durch die Software von Microsoft geboten werden können. Eine genauere Betrachtung der Microsoft Kampagne findet sich im Abschnitt 7.4.3. Kapitel 4 Gestalterische Komponenten der animierten Linie Schon Wassily Kandinsky kritisierte in seiner Veröffentlichung Punkt und Linie zu Fläche, dass die abstrakte Linie von vielen Kunsttheoretikern nicht auch als Grundelement der Malerei sondern nur der Grafik verstanden wurde [17, S.126]. “Die Linie wird hier als ein graphisches“ Element taxiert, das bei ” malerischen“ Absichten nicht verwendet werden darf, obwohl ein ” Wesensunterschied zwischen Grafik“ und Malerei“ nicht gefun” ” den werden kann, und also auch von den erwähnten Theoretikern nie aufgestellt werden konnte.“ Heute muss die Linie glücklicherweise nicht mehr um ihre Akzeptanz in der Kunst kämpfen. Auch in modernen Animationen erfreut sie sich zur Zeit größter Beliebtheit, ganz besonders in ihrer abstrakten Form. Die Linie kann gerade wegen ihrer Einfachheit und ihrer Abstraktion durch geringfügige Veränderungen in ihrem Design in ihrer Wirkung sehr stark verändert werden, was wohl auch ihre momentan gehäufte Verwendung erklären könnte. Wie sich diese Attribute nennen und welche Wirkung sie auf eine Linie ausüben, soll in diesem Kapitel behandelt werden. Weiters sollen die verschiedenen Liniengrundformen vorgestellt werden, aus denen sich eine Linie zusammensetzen kann. Dieser Abschnitt basiert vor allem auf den theoretischen Erkenntnissen und Aussagen von Wassily Kandinsky, soweit seine Ausführungen nicht zu sehr ins Detail gehen und ich mich mit seinen Theorien identifizieren kann. 40 KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 41 Abbildung 4.1: Gerade Linien. 4.1 Linienformen 4.1.1 Gerade Linien Eine Gerade entsteht, wenn ein Punkt von einer von außen kommenden Kraft in eine beliebige Richtung bewegt wird, die unveränderlich bleibt und ins Unendliche läuft. Die Gerade stellt laut Wassily Kandinsky die ” knappste Form der unendlichen Bewegungsmöglichkeiten“ dar. Er teilt den Begriff Bewegung in zwei Subtermini ein: Spannung – die einem Element innewohnende Kraft und Richtung. Durch diese Unterscheidung macht er eine genaue Einteilung bestimmter Linienformen möglich: die Horizontale, die knappste Form der unendlichen kalten Bewegungsmöglichkeit“, die Ver” tikale, die knappste Form der unendlichen warmen Bewegungsmöglichkeit“ ” und die Diagonale, die knappste Form der unendlichen kaltwarmen Bewe” gungsmöglichkeit“ [17]. Bei allen übrigen diagonalartigen Linien, auch freie ” Geraden“ genannt, wird nie ein Gleichgewicht zwischen Wärme und Kälte hergestellt, was sie auch von der klassischen Diagonale unterscheidet (siehe Abbildung 4.1). Auch die eckigen Linien werden bei Kandinsky als Unterform der Gerade behandelt. Die einfachsten Formen entstehen, wenn zwei Kräfte durch einen einmaligen Stoß auf eine Linie einwirken. Dies bewirkt gleichzeitig auch den größten Unterschied zur Geraden: die Eckige hat bereits eine viel größere Verbindung zur Fläche, sie wird zur Brücke einer entstehenden Flä- KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 42 che. Verschiedenheiten zwischen den Eckigen entstehen durch Unterschiede im Winkelmaß sowie im Längenmaß der einzelnen Bruchstücke. Kandinsky entlehnt Begriffe aus der Musik und leitet nach dem Winkelmaß einer Eckigen unterschiedliche Klänge ab [17]: • Das Kalte und Beherrschte (rechter Winkel) • Das Scharfe und Höchstaktive (spitzer Winkel) • Das Unbeholfene, Schwache und Passive (stumpfer Winkel) Eine mehrfach eckige Linie entsteht, wenn zwei Kräfte stoßweise und abwechselnd auf einen Punkt einwirken. Die entstehenden Eckigen, die auch als Zickzacklinien“ bezeichnet werden, unterscheidet man dann anhand der ” Länger ihrer Bruchteile und der Kombination ihrer unterschiedlichen Winkel. Gerade, geometrische Linien sind besonders beliebt in der Verwendung für Musikvisualisierungen. Heute werden diese Linien meist prozedural angelegt, früher wurden auch sie handgezeichnet. Ein besonders gutes Beispiel für die Verwendung von abstrakten Geraden sind die Werke von Oskar Fischinger (siehe auch Kap. 5.1.1). 4.1.2 Gebogene Linien Der zweite, elementare Typ Linie ist die Gebogene: sie entsteht, wenn zwei Kräfte eine Wirkung auf einen Punkt ausüben, so dass immer eine Kraft die andere in ihrem Druck überbietet. Diese Linie nennt man eine einfache Gebogene [17]. Eigentlich ist auch sie eine Gerade, aber durch den Druck dieser Kräfte entstand eine Spannung und sie wurde in eine bestimmte Richtung abgelenkt. Je größer diese Spannung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Linie sich selbst abschließen, also einen Kreis, die stabilste Fläche, bilden will. Wenn diese Kräfte nämlich permanent auf einen Punkt einwirken, so gelangt die Gebogene irgendwann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück (siehe Abbildung 4.2). Manlio Brusatin beschreibt diese Linienart folgendermaßen [14, S.9–10]: Es besteht kein Zweifel, dass die gebogene Linie schöner sein ” kann als die Gerade, wenngleich diese Gabe auch ein Fluch sein kann. Darum sehnt sich die Kurve nach weiterer Vollendung, die sie im Kreis findet: diesem ist die Niederlage der Gerade eingeschrieben, die wie ein Uhrzeiger zum Durchmessen eines gekrümmten Horizonts gezwungen ist und ihre starre Konventionalität verlassen muss. So entsteht der Kreis als Rad oder Ser- KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 43 Abbildung 4.2: Gebogene Linie. pentine der Zeit, die dort beginnt, wo sie endet, aber eines Mittelpunkts und einer Gerade bedarf, um gekrümmte wie gerade Flächen zu überwinden. So entstand aus der gekrümmten Linie das Rad, das Hand und Fuß so vieler unbeseelter und phantastischer Wesenheiten geworden ist. Die Linien, Maß und Richtung aller Dinge, werden Umriss, Kontur, Profil.“ Brusatin ist also der Meinung, dass erst aus der gebogenen Linie die Zeichnung, also Kontur, Umriss und Profil“, entstehen können. Sie ist also die ” Grundlage der gesamten Zeichenkunst und auch der handgezeichneten Animation (siehe auch Abschnitt 6.1. Der Unterschied zwischen einer Geraden und einer Gebogenen liegt also vor allem in der Spannung. Obwohl der gebogenen Linie der Winkel fehlt, besitzt sie eine noch größere Kraft, die aber durch das Fehlen der Ecken nicht so aggressiv auf den Betrachter wirkt. Ein weiterer Unterschied ist die Tatsache, dass auch die Gebogene den Kern einer Fläche angibt (was eine Gerade naturgemäß nicht kann). Die Gerade und die Gebogene bilden somit das ursprünglich-gegensätzliche Linienpaar“ [17]. ” Variationsmöglichkeiten der gebogenen Linie ist die komplizierte Gebogene (Wellenartige). Sie kann aus geometrischen Zirkelteilen, freien Teilen oder Kombinationen der beiden bestehen und deckt somit jede mögliche gebogene Linie ab. Eine weiter Möglichkeit zur Veränderung der Linie ist der Liniennachdruck. Dies wird vor allem in Abbildung 4.3 deutlich. Durch den veränderten Nachdruck bekommt die abgebildete Gebogene ein völlig verändertes Richtungsverhalten. KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 44 Abbildung 4.3: Richtungswirkung der Gebogenen. 4.1.3 Kombinierte Linien Die dritte und letzte Liniengrundart ist eine Kombination der Geraden und der Gebogenen, deshalb wird sie auch die Kombinierte genannt. Ihre Aussage und ihr Charakter wird bestimmt durch ihre einzelnen Bruchteile. Sie ist eine [17]: • Geometrischkombinierte, wenn sie ausschließlich aus geometrischen Teilen besteht • Gemischtkombinierte, wenn sich an geometrische Teile freie anschließen • Freikombinierte, wenn sie sich ausschließlich aus freien Linien zusammensetzt Ganz abgesehen von den unterschiedlichen charakterlichen Eigenschaften der Linie, setzt sich auch immer noch eine weiter Eigenschaft deutlich fest: die Kraft selbst. Durch welche Kraft die Linie auch erzeugt wurde (z.B. ein Pinselstrich, ein Lineal), es bleibt immer ein lebendiger Teil selbst in der entstehenden Linie vorhanden. Daraus schließt Kandinsky, dass die Komposition nichts weiter als eine exakt-gesetzmäßige Organisierung der in ” Form von Spannungen in den Elementen eingeschlossenen lebendigen Kräfte“ ist [17, S.100]. KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 4.2 4.2.1 45 Graphische Gestaltung der Linie Linienstärke Die Stärke einer Linie hat einen starken Einfluss auf ihre optische Wirkung. Eine besonders dicke Linie wirkt schwerer und zieht den Blick des Betrachter schneller auf sich als eine dünne. Da die Grenze zwischen Linie und Fläche sehr fließend ist, stellen sich einige Fragen: Wann ist eine Linie so breit, dass sie schon eigentlich wieder eine Fläche ist? Wie breit darf der Ausgangspunkt also maximal sein? Bilden die äußeren Kanten einer Linie nicht schon wieder eine Fläche? (siehe auch Abschnitt 4.4) Fakt ist, dass eine breite Linie, also eine flächigere Darstellung, mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als eine sehr feine Linie. Sie hat eine schwerere, dominantere Wirkung im Bild. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der graphischen Gestaltung ist eine Veränderung in der Linienstärke, entweder spontan oder allmählich. Dies nennt man den sogenannten Nachdruck. Er erzeugt eine gewisse Dynamik in einer Linie, er gibt ihr eine größere Spannung (siehe auch Abschnitt 4.2.2), eine Richtungswirkung und macht die Linie lebendiger, weil er weiter vom geometrischen Standard abweicht. Er bringt so eine Lockerung in die sonst so steife Linie und kann weit mehr Atmosphäre erzeugen als eine gleich bleibende Linienstärke. 4.2.2 Spannung Da ich mit der Meinung von Kandinsky konform gehe, möchte ich auch dessen Definition der Spannung benutzen. Er definiert die Spannung der Linie, indem er außerdem noch die Bewegung der Linie beachtet. Die Spannung einer Linie wird also für ihn auch durch die ausgeführte Bewegung festgelegt. Ein weiterer Einfluss auf die Spannung ist die Richtung der Bewegung, welche in Abschnitt 4.2.3 ausführlicher behandelt wird. Auch eine Gerade kann ihre Spannung durch die Richtung ihrer Bewegung verändern (siehe Abbildung 4.4). Die horizontale Gerade (linkes Bild) weist für den Betrachter beispielsweise eine geringere Spannung auf als die Diagonale (rechtes Bild) [17]. Bei einer eckigen Linie ist die Spannung abhängig vom Winkel, den sie aufweist (siehe auch Abbildung 4.5). Ein spitzer Winkel hat naturgemäß eine höhere Spannung als ein stumpfer, letztere wirkt durch das Offene in ihrer Darstellung weniger aggressiv [17]. Doch die Spannung einer Linie entsteht auch durch den Druck, der auf sie einwirkt, weshalb eine Gebogene auch eine größere Spannung aufweist als eine Gerade. Bei einer einfachen Gebogenen wirkt ein seitlicher Druck auf die Linie ein, je größer diese Kraft ist, desto größer ist auch die entstehende Spannung. Wenn diese ein Maximum erreicht, neigt die Linie dazu, KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 46 Abbildung 4.4: Spannung von horizontaler und diagonaler Linie. Abbildung 4.5: Eckige Linien. sich selbst abzuschließen und bildet einen Kreis [17]. Kandinsky führt diese Spannungen auf die Kräfte zurück, die auf eine Linie einwirken. Er benennt diese als positiven und negativen Druck, die sich immer wieder abwechseln können. Dadurch dass entweder der positive oder auch der negative Druck die Oberhand gewinnt und somit die Geometrie verschwindet, bekommt die Linie eine Spannung in eine bestimmte Richtung (siehe Abbildung 4.6, der positive Druck treibt die Spannung der Linie nach oben). Die Spannung einer Linie kann aber nicht nur durch ihre Richtung oder Krümmung verändert werden, sondern auch durch die Linienstärke oder auch durch eine Veränderung derselben. Dies wird durch Abbildung 4.7 ganz einfach veranschaulicht. Beide Linien weisen eine Grundspannung auf, aber in der rechten Abbildung, in welcher der Nachdruck kontinuierlich reduziert wird, also die Linienstärke verändert wird, wird eine erhöhte Spannung nach oben erzielt, der Betrachter hat das Gefühl, als würde die Linie aufsteigen. Man könnte auch mutmaßen, dass diese Empfindung durch auch KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 47 Abbildung 4.6: Gebogene Linie mit aufsteigender Spannung. durch natürliche Phänomene begünstigt wird. Die rechte Linie könnte beispielsweise durch ihre Form an einen Grashalm erinnern und diese wachsen ja bekanntlich auch nach oben. Bei der animierten Linie verstärkt sich dieses Empfinden noch, wenn auch die Zeichenbewegung von unten nach oben durchgeführt wurde. Dadurch dass die Linie von unten mit der Zeit aufsteigt und dabei gleichzeitig noch dünner wird, stellt sich das Gefühl ein, die Linie würde aufsteigen und dabei immer leichter werden. Das Spannung der Linie wird dadurch noch erhöht. 4.2.3 Richtungswirkung Die Richtungswirkung wird von der Bewegung einer Linie erzielt. Ohne die Spannung, die vor allem auch durch die Richtung, in die eine Linie weist, erzeugt wird, würde man eine Horizontale nicht von einer Vertikalen oder Diagonalen unterscheiden können. Wassily Kandinsky hat eine ganz eigene Art entwickelt, die Richtungswirkung der Linie nach einer Temperaturskala zu beurteilen. Die Horizontale hat seiner Definition nach eine kalte Bewegung, die Vertikale eine warme und die Diagonale eine kalt-warme Bewegungsmöglichkeit. Linien in einem anderen Winkel haben demnach eine Tendenz zu wärmerer oder kälterer Temperatur [17]. Obwohl ich nicht ganz nachvollziehen kann, warum Kandinsky die Richtungswirkung gerade als Temperatur bezeichnet, so ist es auch für mich eindeutig, dass die Richtung eine sehr große Wirkung auf die Spannung und auch auf den Gesamteindruck der Linie hat. An dieser Stelle noch zu einer ganz eigenen These: Ich finde, dass auch die Bewegung des menschlichen Auges einen Einfluss auf die Richtungswirkung einer Linie haben. Es ist erwiesen, dass der Mensch KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 48 Abbildung 4.7: Gebogene Linien mit aufsteigender Spannung und wechselndem Nachdruck. ein Bild folgendermaßen betrachtet: der Blick des Menschen tastet ein Bild in sogenannten Stakkaden, also in unregelmäßigen Sprüngen, ab, da das menschliche Auge sehr selektiv auf Reize reagiert. Er sucht sich besonders plakative Elemente eines Bildes, verweilt dort kurz und springt dann weiter zum nächsten optischen Reiz. Bei einem Blickverlauf am Beispiel des goldenen Schnitts (der Blick beginnt in der Mitte, wandert nach links oben und zuletzt nach rechts unten; die Bereich links unten ist ein schwacher Brachbereich, der rechts oben ein stärkerer), würde eine Diagonale wie in Abbildung 4.7 aufsteigend erscheinen, wäre der Blickverlauf genau entgegengesetzt würde sie absteigend wirken (Abbildung 4.8). Also kann die Richtungswirkung einer Linie durch das Setzen von besonders plakativen Bildelementen, die den menschlichen Blick lenken, beeinflusst werden. Bei einer animierten Linie, die ihre Bewegungsrichtung immer wieder sprunghaft oder auch kontinuierlich ändern ist die Richtungswirkung nicht mehr so eindeutig zu klären. Die Linie kann eine Weile in den warmen Temperaturbereich wandern, dann aber auch wieder in den kalten so viele verschiedene Empfindungen auslösen. Ausschlaggebend ist in diesem Fall wohl eher das Gefühl, das die gesamte Bewegung der Linie beim Betrachter aus- KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 49 Abbildung 4.8: Gebogene Linien mit absteigender Spannung und wechselndem Nachdruck. löst, nicht nur die Richtung, in die sie gerade weist. 4.2.4 Detailreichtum Eine Punkt, der meiner Meinung nach noch einen Einfluss auf die optische Wirkung einer Linienzeichnung hat, ist ihr Detailreichtum. Manche Zeichner bevorzugen eine klare, eindeutig geschwungene Linie, manche krakelige oder schnörkelige Linien, manche setzen sehr viele kurze Linien aneinander, die sich zu einer gesamten zusammen fügen (siehe Abbildungen 4.9). Natürlich ist dies schon beinahe ein Aspekt, der mehr vom Stil des Zeichners abhängt als von der Natur der Linie selbst, aber meiner Meinung nach ist auch dies ein wichtiger Punkt im Ausdruck, den eine Linie erzeugen soll. Glatte, geschwungene Linien erzeugen ein Gefühl von Ordnung und Klarheit, während eine gebrochene oder krakelige Linie weit mehr Unordnung und Nervosität hervorruft (als Beispiel hierfür könnte auch der Unterschied zwischen einer Zeichnung und einer hastig angefertigten Skizze herangezogen werden). Beim Attribut des Detailreichtums unterscheidet sich eine animierte Linie nicht von einer statischen, können aber durch die Bewegung noch zusätzlich unterstützt werden. Eine einfache, geschwungene Linie, die sich langsam bewegt, löst ein Gefühl von Ordnung, Klarheit und Kraft aus. Eine krakelige Linie, die sich schnell bewegt und dabei oftmalige Richtungsänderungen KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 50 Abbildung 4.9: Unterschiede im Detailreichtum. vollführt verstärkt hingegen ein Empfinden von Unordnung, Nervosität und Unentschlossenheit. 4.2.5 Dynamik Den Begriff Dynamik möchte ich an dieser Stelle für die animierte Linie einführen, auch wenn Kandinsky diesen bereits anders genutzt hat. Da er sich aber nur mit statischen Linien in der Malerei und Grafik beschäftigte, weisen diese eine völlig andere Dynamik auf als bewegte Linien in der Animation. Kandinsky definierte zur Beschreibung der Linie viele verschiedene Termini, wobei die Begriffe Dramatik und Zeit auch einen Einfluss auf meine eigene Definition der Dynamik haben. Als Dramatik bezeichnete er das Einwirken von zwei verschiedenen Kräften auf die selbe Linie, was zur Bildung von Eckigen oder Gebogenen führt. Eine gleichzeitige Wirkung von zwei (oder mehreren) Kräften ist dabei dramatischer als eine abwechselnde. Eine besonders dramatische Linie besitzt also auch eine dynamischere Ausstrahlung als eine eher gleichförmig-statische. Auch die Zeit ist für Kandinsky bei der Wirkung einer Linie von Bedeutung – selbst bei einer unbewegten Linie – da der Mensch dazu neigt, den Verlauf einer Linie mit dem Auge nachzuge” hen“. Dabei können aber Eckige andere zeitliche Empfindungen hervorrufen als Gebogene, obwohl sie eigentlich die selben Längen besitzen. Zeit ist somit ein Attribut, dass vor allem von der gefühlten Zeitspanne des Betrachters abhängt. Bei der animierten Linie ist der Zeitbegriff für mich von weit größerem Belang als bei einer statischen. Gleichzeitig bedeutet Zeit bei einer animierten Linie aber die Dauer, die eine Linie von ihrem Anfangspunkt bis zu ihrem Endpunkt benötigt und die wiederum ist abhängig von der KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 51 Abbildung 4.10: Unterschiede in der Dynamik einer Zickzack- und einer Wellenlinie. Geschwindigkeit, in der die Bewegung ausgeführt wird. Die Geschwindigkeit ist demnach als Überbegriff der Zeit besonders ausschlaggebend für die Dynamik einer Bewegung. Eine schnelle Bewegung wird vom Betrachter im Allgemeinen als dynamischer bewertet als eine langsame. Doch die Dynamik kann auch durch Änderungen in der Geschwindigkeit erhöht werden, wenn zum Beispiel eine Linie wie vergleichsweise bei der Form einer Achterbahn durch eine aufsteigende Bewegung immer wieder abgebremst und dann beim Abfallen wieder beschleunigt wird. Auch die Spannung ist ein wichtiger Einfluss auf die Dynamik einer animierten Linie. Je größer die Grundspannung einer Linie ist, desto größer ist auch deren Dynamik, wenn diese in einer bewegten Form dargestellt wird. Abbildung 4.10 zeigt, dass eine Wellenlinie demnach eine größere Dynamik aufweist als eine Zickzacklinie. Ebenfalls ausschlaggebend für die Dynamik einer Linie ist ihre Form selbst, abhängig von ihrem Detailreichtum. Eine schnörkellose, sanft geschwungene Linie wirkt selbst in einer langsamen Bewegung oft dynamischer als eine krakelige Linie, die in großer Geschwindigkeit entsteht (siehe Abbildung 4.11). Der Betrachter neigt dazu, runde Bewegungen als dynamischer zu interpretieren als sprunghafte, eckige. Dies zeigt sich auch an einem Vergleich der beiden Musikvideos Punk Motherfucker von Funkstörung und Try Again Today von The Charlatans. Im ersten Video werden schwungvolle, wogende Linien mit starken Änderungen im Nachdruck vewendet, wodurch die Animation eine große Grundspannung aufweist. Im Gegensatz dazu werden im Charlatans-Video schnell hingekritzelte“ Linien dargestellt, die sich ” schnell bewegen und verändern. Dadurch wirkt die Animation sehr viel nervöser und unsteter als im Funkstörung-Video (siehe auch Kap. 5). Die Linienstärke an sich ist prinzipiell für die Dynamik der animierten Linie nicht von großer Bedeutung, außer durch die Unterschiede, die bei der Variation des Nachdrucks entstehend. Dies wird vor allem an Abbildung 4.12 deutlich: beide Linien zeigen eine Wellenlinie, welche schon naturgemäß schon eine höhere Dynamik aufweist als eine Zickzacklinie. Durch die Veränderung im Nachdruck wirkt die Linie im rechten Bild noch dynamischer, weil der Betrachter das Gefühl hat, eine schwungvollere Bewegung darin zu erkennen. KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 52 Abbildung 4.11: Unterschiede in der Dynamik einer geschwungenen und einer krakeligen Linie. Abbildung 4.12: Unterschiede in der Dynamik einer Zickzack- und einer Wellenlinie mit wechselndem Nachdruck. Die Dynamik der animierten Linie ist somit ein sehr vielfältiger Begriff, da er von den verschiedenen Teilwirkungen von Spannung, Dramatik, Geschwindigkeit, Nachdruck und auch Detailreichtum abhängig ist und nur in seiner Gesamtheit beurteilt werden kann. 4.3 Farbe Kandinsky ordnet den Linien nach ihrer Spannung und Richtung verschiedene Farben zu. Er ordnet beispielsweise der Horizontalen, die er als kalte Linie bezeichnet, schwarz als Farbe zu, da schwarz eher eine kalte Farbe ist als weiß. Die Vertikale als warme Linie ist seiner Definition nach also weiß dargestellt, die Diagonale mit den Grundfarben rot und grün (oder auch grau), die freie Gerade mit blau oder gelb. Er weist auch den Flächen ihre Farben je nach Formen zu. Diese These bezüglich der Farbe einer Linie (oder auch eines anderen geometrischen Objekts), ob nun animiert oder nicht, kann ich eigentlich nicht unterstützen, auch wenn Kandinsky dazu ausführliche Erklärungen gibt (er sagt z. B., dass ein Quadrat, das durch seine horizontalen und vertikalen Linien eine kaltwarme Form darstellt, mit der Farbe Rot in Verbindung gebracht wird, weil Rot eine Mittelstufe zwi” schen Gelb und Blau darstellt und die kaltwarmen Eigenschaften in sich KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 53 trägt“ [17, S. 76]). Ich denke nicht, dass einer Linie nur aufgrund ihrer Richtung, Temperatur oder Spannung eine einzelne Farbe zugeordnet werden kann, aber ich finde, dass die Farbe einer Linie durchaus einen anderen Ausdruck verleihen kann. An Abbildung 4.13 kann man erkennen, dass die selbe Linie in Rot eine völlig andere Wirkung ausstrahlt als in Blau. Dies könnte wohl vor allem durch eine ausführliche Analyse mit Hilfe der Farbpsychologie geklärt werden, in der Blau eine beruhigende, harmonische (da es an Wasser oder Eis erinnert) und Rot eine leidenschaftliche, lebendigere (es steht für Feuer und Glut) Wirkung zugesprochen wird. Unbestritten ist allerdings auch, dass auch die Farbpsychologie keine exakte Wissenschaft ist. Das Empfinden, welches durch eine bestimmte Farbe beim Betrachter ausgelöst wird, schwankt sowohl mit seinen persönlichen Vorlieben und seiner Tagestimmung als auch vom Kontext, in dem die Farbe verwendet wird. Versuche belegen aber, dass helle, leuchtende Farben eine größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als dunkle, die vom Betrachter meist als schwer empfunden werden, oder schwach gesättigte. Diese Erkenntnisse werden auch im Produktdesign verwendet [4]. Sogar innerhalb Europas können kulturelle Unterschiede in der Verwendung von Farben beobachtet werden: während im deutschsprachigen Raum blau sein“ ein Synonym für das Betrunkensein ” ist, bezeichnet to be blue“ in englischsprachigen Ländern ein Gefühl der ” Melancholie. Auch zeitliche Faktoren haben Einfluss auf die Bedeutung von Farbe: heute steht Rot für Leidenschaft und Liebe und ist auch in Mode und Design eine beliebte Farbe, im Mittelalter jedoch wurde Rot mit Hexerei und schwarzer Magie in Verbindung gebracht. Diese Angst ging soweit, dass im Zuge der Hexenverfolgung sogar Frauen mit roten Haaren auf dem Scheiterhaufen landeten. Heute erscheint es uns lächerlich, rote Haare mit dem Teufel zu assoziieren, aber dieses Beispiel zeigt deutlich, dass auch die Interpretation der Farben einem zeitlichen Wandel unterliegt. Inwieweit den verschiedenen Farben tatsächlich eine bestimmte Empfindung hervorrufen können, ist also nicht nachweisbar. Eindeutig ist aber, dass eine rote Linie eine andere Wirkung hervorruft als eine blaue. 4.4 Flächenbildung durch Linien Schon bei einer einfachen eckigen Linie wird eine Fläche aufgespannt. Die Eckige stellt somit eine Brücke zur tatsächlichen Fläche dar. Bei einer mehreckigen Linie wird der Fall schon diffiziler: eine Zickzacklinie löst beim Betrachter nicht so schnell das Gefühl aus, sie würde eine Fläche darstellen als eine Eckige mit drei Winkeln, also ein Dreieck, wie in Abbildung 4.14. Auch eine Gebogene kann eine Brücke zur Fläche bilden. Je stärker die Kraft ist, die auf eine einfach gebogene Linie einwirkt, desto stärker wird der Eindruck, sie würde eine Fläche aufspannen. Bei maximaler Krafteinwirkung wird sogar tatsächlich ein Kreis, also eine Fläche gebildet. Kandinsky bezeichnet KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 54 Abbildung 4.13: Unterschiede im Ausdruck durch Farbänderung. Abbildung 4.14: Flächenbildung einer Zickzacklinie und einer dreieckigen Form. Dreieck und Kreis als das ursprünglich-gegensätzliche Flächenpaar, genauso wie er die Gerade und die Gebogene als das ursprünglich-gegensätzliche Linienpaar bezeichnet [17]. Je mehr Kräfte auf eine Linie einwirken und je vielfältiger ihre Richtungen sind, desto variantenreicher sind auch die Flächen, die dadurch entstehen. Die Möglichkeiten zur Flächenbildung durch die Linie sind also unerschöpflich. Weiters besagen seine Studien, dass die ” auch die unerschöpflichen Variationen der Flächen, die ihre Entstehung der Gebogenen verdanken, nie eine, wenn auch sehr entfernte Verwandtschaft mit dem Kreis, verlieren, da sie Kreisspannung in sich tragen“. Auch die animierte Linie kann wie auch eine statische eine Fläche aufspannen. Diese ist aber durch die beständige Bewegung der Linie immer in Veränderung begriffen. Somit ist auch die Wirkung, die eine Fläche hervorruft über die Zeit veränderbar. Wie bereits erwähnt ist auch die Grenze zwischen der Fläche und der Linie selbst fließend. Ab welcher Linienstärke ist eine Linie schon eine Fläche? Oder könnten nicht auch die Kanten einer Linie ebenfalls schon wieder eine schmale Fläche aufspannen? Alberti’s Definition der Linie besagt, dass KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN 55 die Linie die Breite eines Punktes besitze, der nicht mehr gespalten werden kann [14]. Aber ab wann ist dieses Stadium erreicht? Wenn der Punkt mit bloßem Auge nicht mehr teilbar ist? Oder erst unter dem Mikroskop? Da schon allein der Punkt bei genauerer Betrachtung eine Fläche darstellen können, gilt dieses Phänomen auch für die Linie. Schon Kandinsky konnte auf diese Frage keine genaue Antwort geben [17, S. 97]. Wie soll die Frage beantwortet werden, wann der Fluss aufhört ” und das Meer beginnt?“ Da es also keine Definition für den Übergang von der Linie zur Fläche geben kann, ist der Unterschied wohl nur im Kontext und in der persönlichen Empfindung beim Betrachten des Bildes oder der Animation zu finden. Kapitel 5 Analyse von animierten Linien Anhand der Analyse einiger Animationen, die allesamt mit Linienzeichnungen arbeiten, manche mit abstrakten Linien, manche wiederum mit linienhaften Charakteren, sollen die Möglichkeiten, visuellen Eigenschaften und Eigenheiten der Linie verdeutlicht werden. Die Schlussfolgerungen, die ich dabei ziehe, stützen sich dabei nicht auf Fremdliteratur sondern lediglich auf meine persönliche Interpretation der Animationen und können somit nicht als allgemeingültige Aussagen verstanden werden, da die Wirkung von Kunst und Design bekanntlich immer im Auge des Betrachters liegt. 5.1 Abstrakte Verwendung von animierten Linien Animierte Linien müssen natürlich nicht immer Charaktere oder Objekte formen, sie können auch in abstrakter Form verwendet werden und einfach für sich selbst stehen. Durch Linien können ornamentale Formen gebildet werden, die sich immer wieder selbst verändern, auflösen und neue Muster bilden. Abstrakte animierte Linien können sowohl in einer 2D als auch in einer 3D Umgebung dargestellt werden. Diese Form des Morphings 1 ist eine optisch ausgesprochen interessante Technik und wird beispielsweise auch im Musikvideo Punk Motherfucker der deutschen Elektronik-Band Funkstörung verwendet. Dort entwickeln sich völlig wirre, abstrakte Linien immer wieder zu konkreteren Formen und lösen sich dann wieder auf, um neue Abbildungen hervorzubringen. Auch in der Entwicklung des Avantgarde Kinos wurde die animierte Linie in ihrer abstrakten Form immer wieder verwendet. Viele von Surrealismus und Dadaismus beeinflusste Künstler produzierten abstrakte Filme, die sich mit der Veränderung von Form und Farbe beschäftigten. Viele dieser Arbeiten wiederum beschäftigten sich dabei auch mit 1 Morping ist die automatische Berechnung von Übergängen zwischen zwei Bildern. 56 KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 57 einer Visualisierung von Tönen und Klangfolgen durch ebendiese Darstellungsweise. Diese Musikvisualisierungen folgten oft sehr puristischen und geometrischen Mustern und übten damit einen großen Einfluss auf die Musikvideos der heutigen Zeit aus. Auch heute beschäftigen sich noch Videokünstler mit der abstrakten Darstellung von Klängen, wie es schon am Anfang des letzten Jahrhunderts durch namhafte Künstler erprobt wurde. Wie bereits in Kap. 3.4 erwähnt, war Oskar Fischinger einer der bekanntesten Animationskünstler, der sich mit der Musikvisualisierung befasste. Auch er verwendete die Linie in ihrer abstrakten Form, experimentierte mit geometrischen Grundformen und Farben und versuchte so eine direkte Darstellung der wiedergegebenen Musik zu erzeugen. 5.1.1 Musikvisualisierungen am Beispiel von Oskar Fischinger Oskar Fischinger wurde 1900 in Hessen geboren. Als er nach seiner Schulausbildung eine Arbeitsstelle als technischer Künstler begann, experimentierte er bereits mit der Visualisierung von Theaterstücken und Musik. Da man seine Werke anfangs als schwer verständlich abtat, versuchte Fischinger seine Arbeiten noch einfacher und klarer zu gestalten. Er fand seine Antwort indem er bewegte Gemälde, also Animationen, studierte, die er durch das Kino kennen lernte. Schon 1921 entwarf er eine Maschine, mit der er Experimente im Bereich des abstrakten Films durch die Verwendung von farbigen Wachsen durchführte. Schon einer seiner ersten Beispielfilme Orgelstäbe verwendete eine abstrakte Linienanimation: die Animation setzte sich aus verschiedenen parallelen Balken zusammen, die sich zu unterschiedlichen Rhythmen bewegtenEine weitere Besonderheit bei diesem Film war der Aufbau der Bewegung auf geometrischen Grundgesetzen, nämlich die Darstellung der Linie als Projektion eines verschobenen Punktes. Dabei beschränkt er sich auf vertikale Projektionen, verdickt die Linien und fasst sie zu Quadraten und Rechtecken zusammen, was die Bewegungen der Objekte beim Betrachter dreidimensional wirken lässt. Oskar Fischinger ist damit einer der ersten, der mit räumlichen Eindrücken experimentiert (siehe Abbildungen 5.1). Fischingers Linien wirkten meist ausgesprochen geometrisch und durch ihre Breite auch oft schon sehr flächig, obwohl auch einige unveröffentlichte Pencil Tests und Sketches von ihm publik wurden, die sich mit Linien beschäftigten, die auch optisch viel eher handgezeichneter Natur waren. Meist wirkten seine Linien aber beinahe steril und maschinell gefertigt, da sie meist ausgesprochen exakt gearbeitet waren. Im krassen Gegensatz dazu suchen heute die Softwareentwickler nach Wegen, um computeranimierte Linien immer lebendiger und analoger“ darstellen zu können. Fischinger vertonte ” auch verschiedenste Musikstücke, vom Jazz bis zur Klassik, mit abstrakten Kreidezeichnungen. 1929 und 30 komponierte“ er so acht einzelne Studien, ” KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 58 Abbildung 5.1: Spiralförmige Linien von Oskar Fischinger. (a) (b) Abbildung 5.2: Ton-Ornamente von Oskar Fischinger. die sich mit der visuellen Darstellung von Ton und Rhythmus beschäftigten. Auch hier setzte er seinen klaren, reduzierten Stil fort, oft verwendete er ausschließlich weiße Linien auf schwarzem Grund, die sich in ihrer Breite, Dicke und Ausrichtung veränderten, um die Musik zu verbildlichen (siehe Abbildung 5.1). Fischinger fungierte so als Vorreiter für die moderne Musikvisualisierung. Bis heute beschäftigen sich Künstler mit der abstrakten Darstellung von Musikstücken und orientieren sich dabei immer noch an seinen Werken und Erkenntnissen. Im Gegensatz zu ihm produzieren diese Künstler ihre Linien aber auch sehr oft digital, da der maschinelle, klar geschnittene Look Fischingers Art der Musikvisualisierung optisch weiterführt und erweiterte technische Möglichkeiten, wie beispielsweise die Verwendung von verlustlos skalierbaren Vektorgrafiken, bietet (siehe Abbildung 5.2 2 ). 2 Abbildung (a) aus http://www.digitalartexchange.net/ e/g fischinger.html, Abbil- KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 59 Abbildung 5.3: Screencaps aus dem Try again today-Video der Charlatans. 5.1.2 Abstrakte Linien als ornamentales Gestaltungselement Abstrakte Linien können als ornamentale Gestaltungselemente in 2D und auch in 3D Animationen verwendet werden. In beiden Fällen ist die Umsetzung sowohl mit generisch produzierten Linien, wie zum Beispiel in FlashVektorgrafiken oder 3D Splines, als auch mit handgezeichneten Linien möglich. In der 2D Animation können die Linien entweder direkt per Hand in die zu erstellende Sequenz eingefügt werden, was sich technisch nicht von jeder anderen handgezeichneten Animation unterscheidet. Die Linien werden genauso für jedes Bild neu gezeichnet oder erweitert, wie es der Animator auch für einen normalen Charakter durchführen muss. Dies kann beispielsweise am Musikvideo Try Again Today der Charlatans beobachtet werden (siehe Abbildungen 5.3). Diese Animation arbeitet mit vielen konfusen, wirren Kritzeleien und Linien, die einfach plan in einer (oder manchmal auch mehreren) Ebene zu den bereits bestehende Videoelemente hinzugefügt werden. Die Linie ist in einem solchen Video zwar ein interessantes Stilelement, ist aber für die restliche Animation eigentlich kaum von Bedeutung, da beide Bereiche separat abgearbeitet werden können. Durchgeführt werden können solche Animation neben den klassischen Zeichenprogrammen auch mit Programmen wie Flash, die Vektorgrafiken und deren Manipulation unterstützen (siehe auch Kap. 6). Sehr viel schwieriger wird dies schon, wenn die Linie in Kombination mit der 3D Animation oder einem Realfilm einen räumlichen Eindruck erzeugen soll. Als Beispiel hierfür dient wiederum ein Musikvideo, nämlich Punk Motherfucker der deutschen Gruppe Funkstörung. Auch hier beginnt man mit einem rein zweidimensionalen Gewirr aus Linien unterschiedlicher Stärke und Nachdrucks (siehe Abbildung 5.4), doch als der Hauptdarsteldung (b) aus http://kulturinformatik.uni-lueneburg.de/grossmann/monitor/fischi1.gif. KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 60 Abbildung 5.4: Screencaps aus dem Punk Motherfucker -Video von Funkstörung. ler das Plakat, auf dem sich die Linien befinden zerreißt, wandern diese in den 3D Raum über. Eine dreidimensionale Kurve kann dabei direkt im Programm in eine 3D Animation eingefügt werden, ohne dass großer Aufwand entsteht. Doch wenn die Linien mit Realfilm kombiniert werden sollen, der noch dazu über viele Bewegungen in der Kameraführung verfügt, wird man nicht darum hin kommen, Tracking zu verwenden. Dies ist vor allem notwendig, damit die animierte Linie, auch wenn sie ein rein virtuelles Objekt ist, in die Kamerabewegung des Realfilms miteinbezogen wird, damit es tatsächlich wirkt, als würde sich die Linie — wie im Beispiel von Punk Motherfucker — durch die reale Welt bewegen. Auch die Linien in Punk Motherfucker wurden eindeutig virtuell generiert, da ihre Ausführung viel exakter und korrekter ist, als dies mit einer Handzeichnung jemals durchführbar wäre (siehe Abbildung 5.4). Außerdem wurden sie noch mit einem leichten Glühen versehen, um sie noch lebendiger, quasi wie eine außerirdische Lebensform, behandeln zu können. Die Verwendung von abstrakten animierten Linien ist also in Verbindung mit jeglicher Art von Animation und auch Realfilm möglich, allerdings sollte man immer darauf achten, dass der Stil der verwendeten Linie auch tatsächlich zum bereits bestehenden Video- oder Animationsfootage passt. 5.2 5.2.1 Animierte Linien als Hintergrundelemente Wirkung und Ausdruck In manchen Fällen wird die Linie nicht zur Darstellung der Figuren verwendet, sondern auch zur Abbildung der Hintergrundelemente. Diese Verwendung von animierten Linien kommt zwar nicht besonders oft vor, hat KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 61 aber wohl gerade deshalb so eine außergewöhnliche Wirkung. Der Hintergrund wirkt bei reinen Linienzeichnungen meist aufgeräumter und luftiger als ausgefüllte Flächen, die Animationen wirken dadurch noch skizzenhafter, verhindern aber gleichzeitig auch das Aufkommen von Verwirrung beim Betrachter. Ein großer Vorteil von Linienanimationen im Hintergrund ist natürlich auch die Arbeitsersparnis, die durch das Vernachlässigen der Flächenfüllungen und das Aussparen von Details, die für das Verständnis einer Szene nicht von Bedeutung sind, entsteht. Durch die Vereinfachung der Zeichnung kann der Künstler schneller arbeiten, was eine Kostensenkung erzielt und gleichzeitig kann der Betrachter das Dargestellte schneller begreifen. Außerdem können gezielt eingesetzte Linien auch im Hintergrund die Aufmerksamkeit des Zusehers auf den gewünschten Blickpunkt richten. Ein weiterer Vorteil ist, dass eine Animation durch die Verwendung von Linienanimationen im Hintergrund sofort einen künstlerischen Touch, statt einem im Animationsfilm eher cartoonhaften Ausdruck, verliehen wird. Der Stil, der durch die Verwendung von klaren Linien, geometrischen Formen und ausdrucksstarken Farben entsteht, erinnert durch die starke Abstraktion an Künstler wie Matisse, Kandinsky und Klee. Beim UPA Trickfilm Gerald Mc Boing Boing, ein besonders bekanntes Werk aus der Blütezeit des revolutionären Produktionsstudios, wird ebenfalls der Stil verwendet, für den UPA bekannt wurde: die Limited Animation, die auch besonders mit dem künstlerischen Ausdruck der Animation beschäftigte. In den Mc Boing Boing Animationen kommen auch immer wieder Ansammlungen von menschlichen Figuren vor, die im Gegensatz zur damals üblichen Methode nur aus skizzenhaften Umrisslinien gezeichnet wurden. Die Linien überkreuzen sich wirr, die Menschen besitzen teilweise keine Gesichter und gehen so nahtlos ineinander über. Die Anwendung von Linienzeichnung unterstützt also in diesem Fall sogar den Ausdruck der gesamten Szene und produziert so eine gesichtslose, einheitliche (Menschen)Masse ohne Individualität, durch die Überlagerung wird die Instabilität und Verwirrtheit der Menge dargestellt. 5.2.2 Beispiele für Linien als Hintergrundelemente Eine der bekanntesten und wohl auch eine der beispielhaftesten Animationen, bei der auch die Hintergründe in einem linienhaften Stil realisiert wurden, ist bis heute UPA´s Gerald Mc Boing Boing (1951). Die Geschichte selbst handelt dabei von einem kleinen Jungen, der nicht sprechen kann und sich statt diesen mit Geräuschen ausdrückt. Linie und Fläche sind in dieser Limited Animation gleichwertige zeichnerische Stilmittel und bestimmen den künstlerischen Stil der Bilder. Die Linie macht dabei als Skizze das Motiv für den Betrachter erkennbar, ohne überflüssigen Aufwand für Details zu verschwenden. Die Linien bei Gerald McBoing Boing ruckeln und sind nicht so flüssig ausgeführt, wie es für damalige Produktionen im O-Style eigentlich KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 62 Abbildung 5.5: Gerald McBoing Boing. typisch war. Es kommen wiederholbare Bewegungszyklen und Einschränkungen in der gesamten Beweglichkeit der Figuren zu Tage, was für den UPA Stil absolut charakteristisch ist. Die Linienzeichnungen selbst sind trotz allem noch sehr klassisch, sie werden wie völlig normale Comiczeichnungen angelegt, abgesehen davon, dass sie teilweise einfach nicht vollständig oder gar nicht coloriert wurden (siehe Abbildung 5.5 3 ). Alle Linienzeichnungen, die in Gerald McBoing Boing vorkommen, sind lediglich in schwarzer Farbe gehalten, keine Linie ist jemals in einer anderen Farbe dargestellt. Ein anderes, zeitgemäßeres Beispiel für die Verwendung von Linien als Hintergrundelementen ist das Video des skandinavischen Alternative-Künstlers Beck zu E-Pro. Auch hier sind alle Hintergrundelemente rudimentäre Linienzeichnungen, während der Vordergrund aus verfremdeten Realvideosequenzen (vor allem Aufnahmen des Sängers) besteht. Obwohl beide der vorgestellten Beispiele das selbe Prinzip nutzen, sind die Darstellungen doch grundverschieden. Im Gegensatz zum eindeutig handgezeichneten Stil von Gerald McBoing Boing verwendet das Beck -Video Linien, die sowohl durch ihre Optik als auch durch die Story selbst an ein altes Videospiel der 80er Jahre erinnern. Die Linien sind dünn, gleichförmig, glatt, extrem exakt und ganz eindeutig mit dem Computer angefertigt, was der ganzen Animation einen sehr kühlen, technischen Ausdruck verleiht. Auch die Farbgebung erinnert an ein altes Computerspiel, die Linien sind in knalligen Neonfarben 3 Abbildung aus http://home.comcast.net/ wardandandrea/gerald1.jpg KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 63 Abbildung 5.6: Screencaps aus dem Beck -Video von Beck. und weiß auf schwarzem Grund gehalten. Der Sänger selbst tritt nur in der Nichtfarbe“ weiß auf und sticht so umso mehr aus den farbigen Linien ” heraus, ohne aber diese aus dem Blickfeld des Betrachters zu drängen. Ein weiterer Unterschied zur eindeutig zweidimensionalen Welt des Gerald McBoing Boing ist, dass die Linienzeichnung im Musikvideo zu E-Pro die Konturen und Kantenlinien dreidimensionaler Objekte darstellen. Dies wird vor allem durch dauernde Kamerafahrten und -bewegungen unterstrichen, die die Linien der scheinbaren 3D Objekte von verschiedenen Seiten zeigen und den räumlichen Eindruck so sehr stark unterstützen (siehe Abbildung 5.6). Wahrscheinlich wurden die Objekte und zugehörigen Kamerafahrten sogar in einem 3D Programm erstellt und anschließend nur die Konturlinien anstatt des gesamten Objekts in diesem entsprechend maschinellem Stil gerendert. Dies ist allerdings nur meine persönliche Einschätzung und Annahme, da ich leider keine Informationen finden konnte, die diese Vermutung unterstützen. 5.3 5.3.1 Linienhafte Charaktere Einführung In diesem Abschnitt soll die Verwendung von linienhaften Charakteren in der Animation behandelt werden. Unter einem linienhaften Charakter soll hierbei jede gezeichnet oder anderweitig erzeugte Form einer Figur bezeichnet werden, die ausschließlich aus Linien besteht. Dies beinhaltet unter anderem die einfachste Form des linienhaften Charakters, das Strichmännchen, welches bereits in frühen Höhlenmalereien, Piktogrammen und Vorläufern der Schrift zu finden war. Weiters soll eine weitere interessante Form der Linienzeichnung behandelt werden, nämlich die animierte Konturlinie. Diese soll vor allem am Beispiel der bekannten Animationsserie La Linea des italienischen Animationskünstlers Osvaldo Cavandoli vorgestellt werden. Ein besonders wichtiger Abschnitt ist die Behandlung von detaillierten linien- KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 64 haften Charakteren, also Figuren, die zwar nur aus Linien bestehen, aber die selben Ausdrucksmöglichkeiten wie eine vollständige O-Style-Animation (siehe auch Abschnitt 3.3) besitzen. 5.3.2 Das Strichmännchen – Urform des linienhaften Charakters Ein Strichmännchen, welches die rudimentärste Urform eines linienhaften Charakters darstellt, ist eine stilisierte, extrem abstrahierte Darstellung eines Menschen oder anderen Lebewesens. Dabei werden die Gliedmaßen auf einfach Striche und andere geometrische Grundformen (zum Beispiel ein Kreis oder Oval für den Kopf) beschränkt. Gerade durch diese starke Abstraktion und Reduktion auf das Wesentliche kann ein Strichmännchen sehr intuitiv und verständlich Emotionen und Handlungen ausdrücken, die für Menschen aller Kulturkreise und Altersgruppen verständlich sind (z.B. auch in Verkehrs- oder Warnschildern). Auf Details wird beim Zeichnen eines Strichmännchen meist verzichtet, außer sie sind für das Verständnis eines Bildes bzw. einer Szene dringend von Nöten (z.B. Augenbrauen für einen wütenden oder besorgten Gesichtsausdruck). Prinzipiell gilt aber, dass ein Strichmännchen, wie bereits im Namen enthalten, möglichst aus einfachen, klaren Strichen bestehen soll, die nur das Notwendigste darstellen. Schon beim Betrachten von Kinderzeichnungen fällt ins Auge, dass Kinder schon in den Anfangsstadien des Zeichnens sogenannte Kopffüßer zu Papier bringen, die sich dann im Laufe der Zeit immer mehr in Strichmännchen und schließlich in detailliertere Zeichnungen verwandeln. Einsatzgebiete Schon in der Geschichte der Sprache finden sich Strichmännchen wieder: in Bilderschriften wie den ägyptischen Hieroglyphen kamen Strichmännchen zum Einsatz. Durch diese Piktogramme wurden historische oder auch religiöse Szenen intuitiv dargestellt. Diese Darstellungen mögen sehr kindlich und statisch wirken, aber sie sollten auch nicht einen besonderen visuellen Eindruck, sondern einen allgemeinen Einblick in das Wesen einer Person oder Situation darstellen. So könnte man die Strichmännchen, die in alten Hieroglyphen vorkommen, auch als einen primitiven Vorläufer der Schrift bezeichnen. Durch die Vereinfachung in einzelne Wortsilben oder auch von speziellen Zeichnungen, entwickelte sich aus dem für jedermann verständlichen Strichmännchen das geschriebene Wort. Bis heute werden Strichmännchen auch in modernen Piktogrammen (zum Beispiel für Verkehrschilder) verwendet, da ihre Darstellung in allen Kulturkreisen abseits der Einschränkungen von Sprache und Schrift verständlich ist (siehe Abbildung 5.7 4 ). Dabei wird 4 Abbildung aus http://www.klassifizierung.de/piktogramme/piktogramm kat a.jpg KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 65 Abbildung 5.7: Strichmännchen in Piktogrammen. meist auf Details im Gesicht (die meisten Strichmännchen aus Kinderzeichnungen besitzen sehr wohl Augen und Mund) verzichtet, da diese für die Verständlichkeit eines Piktogramms nicht von Bedeutung sind. Auch in der Animation sind Strichmännchen eine beliebte Möglichkeit zum Testen von Rohversionen. Dadurch, dass sie sich sehr einfach, schnell und kostensparend zeichnen lassen, werden neben normalen Storyboards auch oft Animatics 5 damit erstellt, bei denen z.B. nur die Bewegung, nicht aber das Aussehen der Figur überprüft werden soll. Durch seine einfache Struktur eignet sich das Strichmännchen auch sehr gut für Bewegungsanalysen. Diese können anschließend als Vorlage für eine zu verwirklichende Animation oder aber auch für eine kinematische Darstellung in der Sportwissenschaft verwendet werden. Ausdruck – Möglichkeiten und Einschränkungen Durch die starke Abstraktion werden bei Strichmännchen ihre Ausdrucksmöglichkeiten in der Animation vor allem durch ihre Bewegungen festgelegt. Die selbe Bewegung, zum Beispiel ein Laufen, kann durch das Hinzufügen kleiner Details verändert werden (siehe Abbildung 5.8)). Durch die angewinkelten Arme wirkt das Männchen als würde es völlig normal sportlich dahinlaufen. Das dritte Strichmännchen macht in der selben Laufbewegung einen Rundrücken und lässt die Arme baumeln, wodurch es müde und erschöpft wirkt. Das Männchen Nummer 2 hingegen drückt den Rücken durch und wirft die Arme über den Kopf, was es aussehen lässt, als würde es hys5 Ein Animatic ist ein animiertes Storyboard, dass dem Entwickler ein Gefühl für das Timing, die Länge der einzelnen Szene und die Ansicht selbst geben soll. KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 66 Abbildung 5.8: Gestik eines Strichmännchens. terisch vor etwas oder jemand flüchten. Der Betrachter eines Strichmännchens braucht also zur Beurteilung des Ausdrucks gar keine Darstellung eines Gesichts, schon allein durch die Körperhaltung und die vereinfachten Bewegungsabläufe kann intuitiv beurteilt werden, was das Strichmännchen ausdrücken möchte. Auch einfache Gesichtsausdrücke können ohne großen Aufwand durch ein Strichmännchen dargestellt werden (siehe Abbildung 5.9)). Diese Ausdrucksmöglichkeiten sind zu vergleichen mit der Erfindung des Smileys durch Harvey Ball, aus dem sich die heute vor allem im Internet gebräuchlichen Emoticons entwickelten. Inzwischen gibt es die verschiedensten Darstellungsformen für Smileys, vom traditionellen glücklichen über den verängstigten bis hin zum besonders coolen“ Gesichtsausdruck. Wie beim klassischen Strich” männchen werden dort Emotionen und Empfindungen klar und einheitlich durch nur wenige Punkte und Striche verdeutlicht. Natürlich entsteht durch diese vereinfachte Form eines Charakters auch eine gewissen Einschränkung. Detaillierte Gesichtsausdrücke und Mienenspiele, die bei einem traditionellen animierten Charakter oder realem Darsteller oft essentiell für eine Animation sind, können mit einer so stark abstrahierten Figur wie einem Strichmännchen kaum noch dargestellt werden. Um ähnliche Reaktionen wie durch die Mimik eines Charakters hervorrufen zu können, müsste man beim Strichmännchen die gesamte Körpersprache miteinbeziehen, um die Gefühle des Protagonisten unmißverständlich klar machen zu können. Eine weitere Einschränkung ist die extrem flache Perspektive, in der ein Strichmännchen dargestellt wird. Natürlich kann unterschieden werden, in welche Richtung die Figur sich bewegt oder ob sie von vorne oder seitlich KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 67 Abbildung 5.9: Mimik eines Strichmännchens. dargestellt wird, aber problematisch wird es bei komplexeren Ansichten. Würde sich ein Strichmännchen leicht aus seiner angestammten Perspektive herausdrehen“, so würde dies für den Betrachter nur eine Verzerrung in der ” Darstellung der Gliedmaßen bewirken, nicht aber eine korrekte perspektivische Bewegung. Um solchen Probleme in der Darstellung zu vermeiden, sollte man bei einem Strichmännchen also eher die klassische Front- und Seitenansicht beibehalten. Das Strichmännchen bietet also durch seine reduzierte Form und Struktur eine einfache Möglichkeit zum Ausdruck von Bewegung und elementaren Gefühlen, kann aber natürlich durch das begrenzte Mienenspiel und die Einschränkungen in der Perspektive einen detaillierteren Charakter nur bedingt ersetzen. 5.3.3 Animierte Konturlinien Typische Merkmale Das Einzigartige an animierten Konturlinien ist, dass sie tatsächlich nur die Umrisse einer Figur darstellen ohne dabei auf weitere Details am Objekt bzw. Körper einzugehen. Da die Konturlinie durch das Fehlen der Mimik in ihrem Ausdruck etwas eingeschränkt sind, müssen sie dieses Manko durch plakativere Gesten und größere Übertreibungen in der Bewegung ausgleichen. Dadurch dass Konturlinien auch weniger Wiedererkennungswert besitzen als ein vollständig ausgeführter Charakter, müssen die Figuren auch mit eindeutigen Attributen ausgestattet werden, damit der Betrachter sie leichter zuordnen kann. Verdeutlicht werden kann das zum Beispiel bei der Darstellung von zwei verschieden weiblichen Charakteren: die Umrisse unterscheiden sich durch Frisur und Kleidung, was den Wiedererkennungswert der einzelnen Figuren eindeutig erhöht. Analyse des Ausdrucks am Beispiel La Linea La Linea (italienisch für Die Linie“) ist die wohl bekannteste animierte ” Linie in der Filmgeschichte. Kreiert wurde es von Osvaldo Cavandoli, einem italienischen Karikaturisten, der 1920 am Gardasee geboren wurde. In KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 68 den 40er Jahren drehte er seine ersten Animationsfilme, in den 50ern beschäftigte er sich vorzugsweise mit Puppenanimationen. Der Erfolg stellte sich erst ein, als er 1969 für einen Werbespot La Linea, eine Figur, die auf einer unendlichen horizontalen Linie lebt, geht und auch von ihr geformt wird, entwickelte. Der cholerische Protagonist Lui war bei den Zusehern vor allem deshalb beliebt, weil er immer wieder lautstark nach der Hand des Cartoonisten verlangt, wenn er eine Veränderung in seiner linearen Welt wünscht. Auch das unverständliche Gebrummel und Geschimpfe von Lui dient während der Animation als Running Gag. Cavandoli löste sich recht schnell wieder von der Werbung und produzierte seine eigene TV-Serie, einige Filme und Comic Bücher, die sich allesamt mit seiner Lieblingsschöpfung La Linea beschäftigten. Besonders beispielgebend für all seine Produktionen sind die Nachahmung von Gesten und ein Sinn für Rhythmus und Timing. Die Hauptfigur Lui (siehe Abbildungen 5.10), welcher auf seine essentiellen Merkmale reduziert ist und immer im Profil dargestellt wird, zeigt sofortige, impulsive Reaktionen und bezeichnende Charakterzüge. Obwohl die Darstellung dieser einen einzelnen Linie ein krasser Gegensatz zum klassischen Disney Stil darstellt, orientiert sich Cavandoli doch stark an deren Schule, besonders was die Bewegung und Performance seines Hauptdarstellers betrifft. Die Animationen sind flüssig und ähneln in ihrer Optik mehr einer Karikatur als einem Avantgardegemälde, wie es bei der Limited Animation oft üblich ist. Wie bereits erwähnt lebt die animierte Konturlinie vor allem von ihrer Gestik und Bewegung, da wichtige Ausdrucksmöglichkeiten wie die Augen ausgespart werden. Cavandoli kehrt mit seiner Kreation so zu den anfänglichen Beziehungen zwischen dem Bild und der Hand zurück, wie es bereits in frühen Sketches auftauchte. Die endlose“ Linie bricht im” mer wieder ab, der Protagonist deutet dem Zeichner lautstark, er solle diese doch fortsetzen oder gibt diesem sogar genaue Anweisungen, was er ihm für seine Welt zeichnen soll. Cavandoli erfüllt seiner Figur diese Wünsche meist und quält sie doch gerade damit immer wieder, weil diese Veränderungen ihn immer in neue Schwierigkeiten bringen. Oft führen sie auch zur Auflösung der Linie (z.B. dreht Lui einen Wasserhahn auf und er selbst läuft mit der gesamten restlichen Linie ab), die dann durch den Zeichner wieder zum Leben erweckt wird, um sich dann erneut durch ihren neugierigen Hauptdarsteller selbst zu zerstören. Gegen Ende der einzelnen Sketches löst sich die gesamte Linie meist durch eines dieser Missgeschicke“ auf und beendet ” so die Animation. Die reale Hand (die übrigens durch Stop Motion Aufnahmen realisiert wurde) amüsiert den Zuseher dabei in der fließenden Welt der Linien und erinnert ihn so immer wieder an die filmische Kunstfertigkeit des Zeichners selbst. Für den zeichnerischen Stil von Cavandolis Linie ist vor allem der breite, glatte Pinselstrich bezeichnend. Die gesamte Linie wirkt wie mit einem dicken Filzstift gezeichnet, die Kanten sind glatt, es gibt keine Überlagerungen. Leblose Objekte, wie zum Beispiel Fahrzeuge oder ähnliches, werden meist mit einer sehr gleichförmigen Linienführung dargestellt, KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 69 im Gegensatz dazu werden die lebenden Darsteller mit einer dynamischeren Linie, die größere Unterschiede im Nachdruck aufweist gezeichnet. Für immer wiederkehrende Zeichnungen, zum Beispiel für Lui´s Kopfform, benutzte Cavandoli außerdem Schablonen, was den Bildern ebenfalls einen besonderen Schwung verleiht. Eine ebenfalls bemerkenswerte Tatsache ist, dass die einzelnen Objekte und Figuren tatsächlich immer nur aus einer einzigen langen Linie bestehen. Sobald eine Überschneidung von zwei Objekte auftritt, ändert sich die gesamte Kontur und bildet eine Gesamtdarstellung der sich überkreuzenden Objekte. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb wirkt die gesamte Linie, ob sie nun lebende oder statische Objekte darstellt, besonders homogen und dynamisch. Selten wird die Linie auch für die Darstellung von Details an einer Figur unterbrochen, was aber die Kontinuität der gesamten Linie nicht beeinträchtigt. Beim Abspielen in Slow Motion machte ich eine interessante Entdeckung: bei schnelleren Bewegungen (z.B. bei einem Zusammenstoß) wird auch die Darstellung der Linie ungenauer, sie wird transparenter, reißt an manchen Stellen aus und verschwimmt an anderen als wäre sie mit Wasserfarben gezeichnet. Dies könnte man als Ausdruck für die Flüchtigkeit einer schnellen Bewegung deuten, die Geschwindigkeit eines Ablaufs spiegelt sich in der Unvollkommenheit der Linie wieder. Manchmal verwendet Cavandoli zur Verdeutlichung der Geschwindigkeit auch Hilfslinien, die den Schwung und die Richtung einer Bewegung markieren, wie es auch oft in der Karikatur üblich ist. So unterstreicht er die animierte Bewegung zusätzlich. Der Protagonist Lui ist meist in die Mitte des Bildes und somit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, auch wenn er Gehbewegungen vollführt (siehe Abbildung 5.11) verlässt er seine Position in der Mitte selten. Trotzdem hat der Betrachter den Eindruck, dass er sich dadurch weiter fortbewegt, da die eintönige Linie meist keine Anhaltspunkte für den Hintergrund gibt und man so automatisch annimmt, dass sich der Hintergrund verändert. Der Hintergrund selbst definiert sich nur über seine Farbe und die ändert sich mit dem Auftreten von neuen Situationen oder manchmal auch mit der Laune des cholerischen Strichmännchens. Inhaltlich transportiert La Linea vor allem humoristischen Stoff. Cavandoli nutzt die Möglichkeiten der Animation durch seine unkonventionelle Darstellung bestmöglich aus und kann so ein Thema besonders plakativ vermitteln. Auch der Ton ist eine besonders wichtige Komponente für La Linea, da sich die Hauptfigur – obwohl die Worte selbst unverständlich sind – mit ihrer Stimme bemerkbar macht (gesprochen von Carletto Bonomi). Sie wirkt dabei als unterstützendes Element für die Stimmungslage des Characters, indem sie seine Bewegungen und Gesten mit den passenden Lauten für jede Empfindung unterstützt. Früher wurden alle Zeichnungen von Cavandoli selbst mit der Hand abgefilmt und zusammengesetzt, heute benutzt auch er moderne Technik um seine Animationen zu erstellen. Trotz allem ist La Linea bis heute handge- KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN Abbildung 5.10: La Linea von Osvaldo Cavandoli. Abbildung 5.11: Die berühmteste animierte Linie: La Linea von Osvaldo Cavandoli. 70 KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 71 zeichnet, auch wenn die Zeichnungen neuerdings gescannt und am Computer nachberabeitet und zusammengesetzt werden – und das ist auch noch immer am Schwung der endlosen Linie erkennbar. 5.3.4 Detaillierte linienhafte Charaktere Wirkung und Ausdruck Ein linienhafter Charakter kann in verschiedensten Formen umgesetzt werden. Dies reicht von einer klassischen Comic- oder Karikaturzeichnung, die lediglich aus Linien besteht, bis hin zu reduzierteren Formen, die aber trotzdem mehr Details aufweisen als ein Strichmännchen oder eine animierte Konturlinie (siehe Abbildungen). Die Wirkung dieser sehr unterschiedlichen Figuren ist entsprechend vielfältig, da von lebensnahen Zeichnungen bis zum Comic alles möglich ist, solange mit der Figur Mimik und Gestik entsprechend genau transportiert werden können. Wie alle Linienzeichnungen haben auch Figuren, die nur aus Linien bestehen, eine besondere bildliche Wirkung: • Auch detaillierte Charaktere wirken durch die Verwendung von Linienzeichnungen übersichtlich und klar, da auf die Verwendung von Farbe oder Texturen, Licht und Schatten einfach verzichtet wird oder sie zumindest nur ausgesprochen spärlich eingesetzt werden. Durch diese Abstraktion wird eine besondere bildliche Klarheit und Ausdruckskraft geschaffen. • Auch linienhafte Charaktere lenken den Blick des Betrachters durch das Bild, insbesondere wenn sie in Verbindung mit anderen Animationsarten oder Realvideo verwendet werden, da dann der Kontrast zwischen der harten, eindeutigen Linie und dem vielfältigen Hintergrund besonders hoch ist. • Eine Figur, die nur aus animierten Linien besteht, lässt dem Betrachter mehr Freiraum für eigenen Interpretationen und seine eigene Vorstellungskraft. Dies ist ein Punkt, den Zuseher oft als besonders positiv erachten, da ihre eigene Kreativität gefordert ist und die Animation für ihn so lebendiger wird. • Linienhafte Charaktere können durch die Verwendung von unterschiedlichen Linienarten (krakelig, geschwungen, geometrisch) mit geringen Mitteln stark verwendet werden. Wenn die selbe Animation (also auch die selbe Geschichte) mit zwei unterschiedlichen dargestellt wird, lassen sich große Unterschiede in der stilistischen Wirkung (und selbst in ihrer inhaltlichen Aussage) feststellen. Gerade weil die Möglichkeiten so weit gefächert sind, kann der Ausdruck und die Wirkung eines linienhaften Charakters aber meist nur anhand ei- KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 72 nes genauen Beispiel beschrieben werden, da aus diesem Grund kaum allgemeingültige Schlüsse gezogen werden können. Eine ausführliche Analyse soll deshalb auch in dieser Arbeit an zwei sehr unterschiedlichen Beispielen für die Umsetzung von linienhaften Charakteren im Abschnitt 5.3.4 gegeben werden. Analyse am Beispiel von Fortress (Pinback ) und Take On Me (AHA) Dieser Punkt der Diplomarbeit soll einen Vergleich von zwei sehr unterschiedlichen Animationen, beide sind Musikvideos, die mit linienhaften Charakteren arbeiten, behandeln. Es sollen dabei Unterschiede und auch Gemeinsamkeiten im Ausdruck der Figuren aufgezeigt werden. Das erste analysierte Video wurde 1985 von der norwegischen Popgruppe AHA unter der Regie von Steve Barron, welcher mehr als die Hälfte aller AHA-Videos produzierte, zu ihrem Nummer Eins Hit Take On Me veröffentlicht und erregte durch seine aufwendigen Zeichnungen Aufsehen. Ursprünglich sollte ein völlig anderes Video zur Single gedreht werden, indem die Band vor einer Menge junger Frauen auftreten sollte. Die Musiker lehnten den Dreh des Videos aber aufgrund des unpassenden Inhalts aber ab und entschieden sich dazu, eine sehr viel künstlerische Variante zu produzieren. Nachdem diese Variante des Videos, in der Realvideoaufnahmen aus einem Cafe mit Handzeichnungen kombiniert wurden, veröffentlicht wurde, beeinflusste dies die Verkaufszahlen der Single so stark, dass sie auf Platz Eins in die amerikanischen Billboardcharts einstieg. Die künstlerische Komponente des Musikvideos hat also maßgeblich zum Erfolg der Musik beigetragen. Das Video selbst setzt sich aus Realvideoszenen und handgezeichneten Animationen zusammen. Obwohl die Darsteller, solange sie sich innerhalb des Comics befinden eigentlich vollständig handgezeichnet sind, wird die Animation aber immer wieder durch Fenster“, die wie Comicbilder wirken, in die Realität ” (diese zeigen Realvideoaufnahmen der Protagonisten) unterbrochen und ergänzt. Die romantische Heldengeschichte dieses Videos handelt von einer jungen Frau, die in einem Café eine Comiczeitschrift liest. Ein junger Mann, dargestellt vom Sänger der Band AHA, gewinnt in diesem Comic ein Motorradrennen vor seinem erbitterten Konkurrenten. Dieser junge Mann zwinkert der Frau auf einmal auf einer der Zeichnungen zu und reicht ihr sogar seine Hand aus dem Magazin heraus (siehe Abbildung 5.12) und fordert sie auf, ihm zu folgen. Sie nimmt sein Angebot an und findet sich inmitten des Comicmagazins wieder, wo der Mann mit seiner Band für sie spielt und singt. Zwischenzeitlich ist die Kellnerin im Café verärgert, weil sie glaubt, dass die junge Frau ohne zu bezahlen verschwunden ist. Sie zerknüllt Magazin, das immer noch am Tisch liegt und wirft es hinter der Theke in den Müllkorb. Im Comic werden unterdessen der Sänger und die Frau von dem Mann mit einem riesigen Schraubenschlüssel attackiert, den der Sänger von AHA im KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 73 Abbildung 5.12: Screencaps aus dem Video zu Take On Me. Motorradrennen geschlagen hat, und müssen flüchten. Der Sänger reißt“ ” ein Loch in die Papierwand“, verhilft der Frau so zur Flucht in die Realität ” und opfert sich so für sie. Diese taucht vor den Augen der Menschen im Café neben dem Müllkübel wieder auf, greift sich das Magazin und flüchtet nach Hause. Sie blättert das Magazin durch, in der Hoffnung ihr gezeichneter Freund hätte sich gegen seinen Konkurrenten behaupten können, doch eines der Bilder zeigt in regungslos am Boden liegend. Doch dann bemerkt sie, dass er in einem anderen Bild mit den Fäusten gegen den Rahmen der Zeichnung hämmert und versucht sich aus dem Magazin zu befreien (siehe Abbildung 5.12). So taucht er schließlich als gezeichnete Figur in der realen Welt auf, bis er sich schließlich selbst in einen realen Menschen verwandelt. Die kalifornische Indie-Pop-Gruppe Pinback veröffentlichte 2004 zur Single Fortress ebenfalls ein Musikvideo, das mit linienhaften Charakteren arbeitet. Auch hier steht wie bei dem Video von AHA die künstlerische Komponente im Vordergrund. Alle Lebewesen, ob Tiere oder Menschen, sind in der Animation als Linienzeichnungen, die in ihrer Reduktion schon beinahe an Strichmännchen erinnern, umgesetzt, während die Hintergründe und sonstigen Animationen in farbig texturierten zweidimensionalen Bilder gehalten ist. Obwohl auch die Hintergründe sehr ausdrucksstark gefertigt wurden, setzen sich die Linienanimationen durch eine klare weiße Farbe stark ab und ziehen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich und lenken ihn so durch die Story der Animation. Das Pinback Video erzählt die märchenhafte Geschichte eines Prinzen und seiner Prinzessin, das gemeinsam in einer wundersamen, farbenfrohen Welt ein prächtiges Schloss bewohnt. Eine menschliche Darstellung der Natur selbst streut Samen von Blumen und Bäumen in dieser farbenfrohen Welt, durch die das verliebte Paar wandelt. Doch als der Prinz für seine Prinzessin eine Blume pflückt, bricht ihre Welt mitsamt ihrem Schloss auseinander, trennt sie und macht sie zu erbitterten Feinden, KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 74 Abbildung 5.13: Screencaps aus dem Video zu Take On Me und Fortress. die sich gegenseitig solange in blutigen Schlachten bekriegen bis eine Bombe ihren Krieg beendet und ihre Welt verwüstet. Auch die Stimmung, die durch die aufwändig texturierte Umgebung geschaffen wird, ändert sich dabei mit dem Beginn des Kampfes von einer blühenden, farbenprächtigen Welt in eine düstere, bedrohliche Vision eines Schlachtfelds. Das Take On Me-Video von AHA wurde mittels Rotoscoping nach einer bestehenden Realvideovorlage angefertigt und arbeitet mit sehr detaillierten, lebensechten Bleistiftzeichnungen, bei denen durch Schraffuren und Schattierungen Tiefe erzeugt wird. Durch das Rotoscoping entsteht eine sehr flüssige, lebensnahe Bewegung ohne die für Animationen üblichen Übertreibungen in Mimik und Gestik, was für einen stärkeren Bezug zur Realität sorgt. Im Gegensatz dazu sind die Linienzeichnungen im Pinback -Video sehr viel reduzierter und geometrischer, sie wirken beinahe wie kindliche Strichmännchen, verfügen jedoch über genügend Details um Emotionen durch Gesichtsausdrücke und Bewegungen ausdrücken zu können. Ein weiterer Unterschied ist auch die technische Erzeugung: das Musikvideo zu Fortress wurde nicht handgezeichnet, sondern wurde als 2D Animation mit dem Computer erzeugt, was den Figuren zusätzlich einen technischen, gleichförmigen Look verleiht und für eine kühlere, weniger dynamische Darstellung sorgt. Obwohl heutzutage auch bereits computeranimierte Linien (und auch Zeichnungen im Allgemeinen) erzeugt werden können, die eine echte Handzeichnung annähernd imitieren können, fehlt den künstlich erzeugten Linien trotz allem oft die natürliche Dynamik, die einer handgezeichneten innewohnt. Dies wird auch an Abbildung 5.13 deutlich. Obwohl die Linienzeichnungen im Pinback -Video sehr abstrakt gehalten sind, verfügen sie doch über mimische Details wie Augen, Augenbrauen und Mund, was die Ausdrucksmöglichkeiten im Gegensatz zu beispielsweise ei- KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 75 Abbildung 5.14: Screencaps aus dem Video zu Fortress. ner animierten Konturlinie stark vereinfacht. In diesem speziellen Fall sind die Augen meist nur als Punkte oder ein Punkte mit Linie dargestellt. Soll eine Figur blinzeln, wird der Punkt kurz zu einer Linie, soll sie wütend werden stellen sich die Linien schräger und der Mund öffnet sich (siehe Abbildung 5.14). Durch solche stark vereinfachte Darstellung von Gefühlen ist es für den Betrachter ohne Anstrengung möglich, die Emotionen einer Figur sofort zu erkennen und zu interpretieren, obwohl wichtige Details im Gesicht des Charakters (z.B. Nase oder Ohren) fehlen. Außerdem verwendet diese Animation die für Cartoons klassischen Übertreibungen in der Bewegung sowohl von Mimik als auch von Gestik (Vgl. La Linea). Beispielsweise ist die Darstellung von wirren Linien über das Auge sofort als Wut oder Wahnsinn erkennbar, ohne das eine solche Reaktion jemals in der Natur vorkommen würde. Zu Beginn des AHA-Videos werden Standbildaufnahmen aus dem Comic heraus gezeigt, die sich eigentlich nur durch ein leichtes Flimmern bewegen (dies soll das Lesen der Hauptdarstellerin im Comicmagazin symbolisieren). Dadurch wirkt die Bilderabfolge ähnlich wie ein Animatics 6 . Im weiteren 6 Animatics sind animierte Storyboards, in denen das Timing und die Bewegungen der KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 76 Verlauf des Videos verläuft die Animation durch das Rotoscoping, also eine Variante der Full Animation, aber ausgesprochen flüssig und erzielt so eine realistische Darstellung der menschlichen Bewegungen. Die Bewegungen im Pinback -Video hingegen sind stark reduziert, die Figuren vollführen nur die notwendigsten Bewegungen und auch diese sind wiederum abstrahiert und deuten eine Bewegung oft nur an. Oft sind sie sehr sprunghaft, im Timing fehlerhaft (zu schnell oder zu langsam), um real zu wirken oder sie schwim” men“ über dem Hintergrund, ohne sich ihm anzupassen. Pinback arbeiten hier also mit der Limited Animation, was auch dadurch deutlich wird, dass immer wiederkehrende Bewegungszyklen und duplizierte Objekte verwendet werden. Abbildun 5.15 zeigt tanzende bzw. marschierende Soldaten (diese sollen das Marionettenhafte an Soldaten repräsentieren und durch den Tanz die Lächerlichkeit und Sinnlosigkeit eines Krieges an sich verdeutlichen, was durch die abstrahierten Zeichnungen noch zusätzlich unterstützt wird), welche einfach dupliziert wurden und sich deshalb völlig gleichförmig bewegen und nicht unterscheiden (dadurch wird wiederum gezeigt, das Soldaten für den Durchschnittsmenschen meist völlig gesichtslos“ sind). Auch die Hin” tergründe und sonstigen animierten Objekte sind im I-Style dargestellt, die Bewegungen sind sprunghaft und steif. Den Linienzeichnungen mangelt es außerdem durch die sehr geometrische Darstellung und oftmalige Verwendung von Gerade oder nur wenig Gebogenen an Dynamik, was in den bewegungstechnisch langsameren Einstellungen noch verstärkt wird. Erst in den Kampfszenen, in denen die Bewegungen sehr roh und schnell sind und außerdem noch mehr gebogene Linien verwendet werden, erhöht sich die Dynamik der Animationen (siehe Abbildung 5.15). Die Animationen im Take On Me-Video verwenden die Linie nicht nur für die gezeichneten Charaktere und anderen Objekte, sondern auch zur Darstellung Geschwindigkeit und Perspektive. Gerade in den Standbildern, die anfangs gezeigt werden, wird dies deutlich (siehe Abbildung 5.16). Durch die Linien wird dem Bild eine Richtungswirkung und Dynamik verliehen, die selbst eine Bewegung im Pinback -Video nicht auslösen kann. Die Linie dient weiters auch bei schnellen Übergängen von einem Bild zum nächsten als Bindeglied und erzeugt so in Verbindung mit der Kamerabewegung ein Gefühl von Beschleunigung. Gerade, geometrische Linien werden hier vor allem zum Erzeugen einer simplen räumlichen Umgebung genutzt, was beim Betrachter ein Gefühl von Tiefe erzeugen soll (siehe Abbildung 5.16). Die Erzeugung von Perspektive wird außerdem durch Kamerafahrten, welche die Figuren umkreisen und so zusätzlich eine Dreidimensionalität vortäuschen, unterstützt (siehe Abbildung 11). Abstrakte Linien, die an die Struktur von Animation getestet werden, ohne dass dabei tatsächlich vollständig ausgefertigte Bewegungssequenzen verwendet werden. Dabei werden die Einzelbilder des Storyboards im korrekten Timing zusammengeschnitten und gegebenenfalls mit Dialogen oder Sounds unterlegt. KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 77 Abbildung 5.15: Screencaps aus dem Video zu Fortress. Papier erinnern, verleihen den so erzeugten Wänden“ im Raum noch mehr ” Tiefe. Durch den Einbau von Realvideosequenzen inmitten eines Fensters ” zur Realität“, das wie ein Einzelbild eines Comics wirkt, verstärken den räumlichen Eindruck zusätzlich, da im Realvideo auch natürliche Perspektive und Schatten gezeigt werden (Abbildung 5.16). Durch breite, exakte Geraden rund um die Sequenzen wird der Kontrast zu den handgezeichneten Charakteren noch stärker ausgeprägt (Abbildung 12). In Abbildung 5.15 wird außerdem noch der Kontrast zwischen der Verwendung von exakten Geraden und geschwungen, gebogenen Linien deutlich: die Geraden definieren die räumlichen Ebenen, während die dynamischeren Gebogenen für Charaktere verwendet werden. Die flüssigen Bewegungen der Charakter im AHA-Video werden aber durch ein Stilelement beeinflusst, dass ihnen noch mehr Lebendigkeit verleiht, aber gleichzeitig die Animation auch flackernder und abgehackter“ erscheinen lässt: wechselnde Schraffu” ren und Unregelmäßigkeiten werden bewusst in die Zeichnungen eingefügt und erzeugen so das Gefühl von dauerhafter Bewegung. Die linienhaften Charaktere werden dadurch nicht immer vollständig und exakt dargestellt, sondern weisen Lücken auf (siehe Abbildung 5.16). Die Zeichnungen sind KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 78 Abbildung 5.16: Screencaps aus dem Video zu Take On Me. mit schnellen, dynamischen Strichen ausgeführt und vernachlässigen dabei mitunter auch Details, die aber für die Erkennbarkeit und den Realismus in einer Szene nicht zwingend nötig sind. Obwohl die Animation so eigentlich weniger realistisch wirken müsste, ist genau das Gegenteil der Fall. Durch die wechselnden Schraffuren und Konturen erscheinen die Linienzeichnungen noch beweglicher und lebensechter. Die flackernden Linien und Flächen, die diese Unregelmäßigkeiten in den Zeichnungen verursachen, bewegen sich dabei meist diagonal über das Bild, was mehr Wärme und Lebendigkeit erzeugt, als es eine vertikale oder horizontale Linie könnte (diese würde eher an das Bildrauschen erinnern, das oft bei alten Kinofilmen beobachtet werden kann). Das Pinback -Video arbeitet hier wiederum mit dem genauen Gegensatz: die Linienzeichnungen sind völlig flach ohne jegliche Schattierung, Schraffur oder Andeutung von Schatten, die einzige Perspektive, die hier erzeugt wird, entsteht durch das Anordnen von Vorder- und Hintergrundebenen mit Hilfe der detailreich texturierten Umgebungsanimationen (siehe Abbildung 5.17). Die linienhaften Charaktere zielen in dieser Animation auch gar nicht darauf ab, eine räumliche Darstellung zu erreichen, sie fungieren durch ihre kontrastreichen, einfachen Linien für sich selbst als Stilmittel. KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 79 Abbildung 5.17: Flache Linienführung. Abbildung 5.18: Screencaps aus dem Video zu Take On Me. Die Linien selbst, die im Video zu Take On Me verwendet werden, erzeugen ausgesprochen detailreiche Zeichnungen. Sie überlagern sich teilweise, bilden so dickere Striche und Linien, sie erzeugen Tiefe durch Schattierungen und Schraffuren und erzeugen so eine starke Spannung. Diese Spannung wird neben dem grundsätzlichen Flackern im Bild auch vor allem dadurch unterstützt, dass die Linien trotz all ihrer Details nicht verschnörkelt sondern schwungvoll und dynamisch wirken. Diese Dynamik wird auch durch die Veränderungen im Nachdruck, also die Veränderungen in der grundsätzlichen Linienstärke, verstärkt, die für die Handzeichnung so typisch ist. Gerade dieser Veränderungen an der Linie selbst, lassen das entstehende Gesamtbild bewegt und lebendig wirken, wie es einer starren, gleichförmigen Linie nie gelingen könnte. Im Gegensatz dazu sind die Linien im Musikvideo Fortress sehr exakt KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 80 Abbildung 5.19: Screencaps aus dem Video zu Fortress. ohne jegliche Ausreißer gearbeitet. Die Linienstärke ist absolut gleichförmig und unveränderlich, was die Figuren sehr kühl und wenig lebensnah erscheinen lässt (siehe Abbildung 5.19). Selbst die wirren, krakeligen Linien, die an den Augen des Öfteren zur Verbildlichung von Wut verwendet werden, weisen keinerlei Veränderungen im Nachdruck auf. Die Linien sind außerdem wenig detailreich und durch ihre geometrische Darstellung auch selten dynamisch (wie bereits im Kap. 4 erwähnt, weist eine Gerade eine geringere Grundspannung und somit auch Dynamik auf als eine Gebogene). Auch die steifen Bewegungen der Figuren erzeugen in Kombination mit den starren Linien nur wenig Spannung, erst durch die Geschwindigkeit wirken diese sie geringfügig dynamischer. Obwohl viele vertikale Linien in der Animation verwendet werden (diese wirken laut Kandinsky wärmer als horizontale oder diagonale, siehe auch Kap. 4), sind die Figuren kühl und unbewegt, was wohl auch durch die fehlende Dynamik der Linien selbst und durch die kurzen, ruckartigen und wenig schwungvollen Bewegungen der Charaktere entsteht. Die transparenten Linienzeichnungen, durch die immer der Hintergrund durchscheint, zeigen hier, dass der Mensch zwar sehr wohl materiell, aber doch vergänglich und Veränderungen unterworfen ist. Im Kontrast dazu stehen die opulenten Hintergründe, welche die Permanenz und dauernde Erneuerung der Natur versinnbildlichen. Die schmalen, kontrastreichen Linien wirken vor dieser Umgebung surreal und beinahe als Fremdkörper, da sie sich so stark von ihr abheben. Schlussfolgerungen Animierte linienhafte Charaktere können, wie die vorangegangene Analyse zeigt, eine völlig unterschiedliche Wirkung und Ausdruck hervorrufen, ganz je nachdem wie die Linie an sich gestaltet ist. Obwohl es zwischen den beiden KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN 81 Animationenen, den Musikvideos von AHA und Pinback kaum Ähnlichkeiten im Design gibt, können durch die Verwendung der Linie als Stilmittel an sich durchaus Gemeinsamkeiten entdeckt werden: • Der Fokus des Betrachters liegt immer an den Charakteren selbst, da sie sich durch die Verwendung der Linie stark von der Umgebung abheben. • Die Charaktere sind durch die Reduktion auf die Linie übersichtlicher und klarer strukturiert. • Dem Betrachter wird durch das Wegfallen von Details mehr Freiraum für eigene Interpretationen gelassen. • Das Bild wirkt auch bei größeren Ansammlungen von Linienzeichnungen aufgeräumter. • Durch comichafte Charaktere können auch surreale Begebenheiten realistischer dargestellt werden, als dies bei einer Umsetzung in Realfilm der Fall wäre. Je nachdem, wie ähnlich sich einzelne Arbeiten auch untereinander sind, desto mehr Gemeinsamkeiten im Ausdruck lassen sich natürlich entdecken. Prinzipiell sind die Möglichkeiten, die im Ausdruck mit der Linie erzielt werden können aber ausgesprochen vielfältig und können deshalb auch nur immer für jede Animation an sich separat beurteilt werden. Dies ist von der Wahl der Linienform (klare, geometrische Linien, verschnörkelte Linien, skizzenhafte Linien, etc.), der Linienstärke (und auch den entsprechenden Veränderungen im Nachdruck) und anderen Attributen, die von der Linie selbst beeinflusst werden, sowie auch von der designtechnischen Umsetzung der Charakters an sich (comichaft, realistisch, etc.) abhängig. Kapitel 6 Technische Erzeugung von animierten Linien In diesem Kapitel soll die technische Erzeugung von animierten Linien behandelt werden. Dabei sollen die Animationen in handgezeichnete und prozedurale Linien (siehe 6.3) unterteilt werden und zu jeder Linienform sollen mögliche Produktionswege vorgestellt werden. Weiters soll vor allem im Bereich der handgezeichneten Linie auf Veränderungen im Produktionszyklus eingegangen werden, die durch die Benutzung des Computers entstanden sind. Auch die Kombination der so erzeugten Linien mit anderen Animationen bzw. Realfilm soll kurz angeschnitten werden, sowie ein Überblick über Softwarepakete gegeben werden, die sich für die Erzeugung von animierten Linien eignen. 6.1 6.1.1 Handgezeichnete Linien Full Animation Mit dem Begriff Full Animation bezeichnet sich eine Animationstechnik mit konstanten Bewegungen. Dabei verwendet die Full Animation nur selten Bewegungszyklen, die Künstler verwenden jede Zeichnung einer Animation möglichst nur ein Mal. Die Bilder dieser Animationstechnik sind sehr metamorph, die Formen der Charaktere werden geändert, um Reaktionen und Gefühle auszudrücken (z.B. Squash and Stretch-Prinzip). Außerdem verändern die Figuren ihre Proportionen im Bezug zur Bewegung der z-Achse, damit soll mehr Tiefe simuliert werden. Für die Full Animation ist eine große Anzahl von Einzelbildern pro Sekunde notwendig, damit die Bewegungen auch tatsächlich flüssig wirken. Da dieser Produktionsstil für seine runden“ Darstellungsformen und Bewegungen bekannt ist, wird er auch ” O-Style genannt. Da die Produktion von voll animierten Filmen sehr aufwändig ist, werden diese Animationen vor allem für Kinofilme verwendet. In 82 KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 83 der klassischen Animation wurden ursprünglich Rostrum Cameras“ (spe” zielle Kameratische), verwendet um mehrere Schichten Cels 1 übereinander platzieren zu können. Auf der untersten Ebene wurde der Hintergrund aufgelegt oder bei etwaigen Kamerabewegungen für jede Einstellung geringfügig in ihrer Position verändert. Darüber befanden sich diverse Vordergrundelemente. Das entstehende Bild wurde dann abfotografiert und danach mit den anderen so angefertigten Frames zusammen gesetzt. Als Hilfsmittel zur Erstellung von animierten Linien (und auch von anderen handgezeichneten Animationen) wird bis heute oft das so genannte Rotoscoping verwendet. Rotoscoping ist eine spezielle Animationsart, mit der besonders flüssige, lebensechte Bewegungen erzielt werden können. Dabei werden die Einzelbilder eines Realvideos Frame für Frame nachverfolgt und abgezeichnet“. Dadurch bleibt die erzeugte Bewegung sehr nah an der ” realen Vorlage und wirken dementsprechend echt, weil kaum Raum für Übertreibungen oder Karikaturen bleibt [18]. Ursprünglich wurde der Realfilm bei dieser Technik auf eine Glasplatte projiziert, der Zeichner konnte sein Papier auf dieser Scheibe platzieren und die Einzelbilder auf einer bildschirmartigen Oberfläche nachverfolgen und abzeichnen. Anschließend wurden diese Einzelbilder abfotografiert und daraus wurde der neue, animierte Film erzeugt. Heute können die Einzelbilder eines Films auch direkt digital am Computer nachbearbeitet und abgezeichnet“ werden (siehe Abbildung 6.1). ” 6.1.2 Limited Animation Die Limited Animation wurde zum ersten Mal vom kleinen, aber sehr innovativen Produktionsstudio UPA kommerziell verwertet und eingesetzt (siehe auch Abschnitt 3.3). Im Gegensatz zur Full Animation verwendet die Limited Animation sehr viele Bewegungszyklen, um die Einzelbildanzahl und den Arbeitsaufwand zu reduzieren, was natürlich Zeit und Geld spart. Außerdem gibt es bei der Limited Animation viel weniger Änderungen im Bezug auf Form und Proportion und es werden weniger Bilder pro Sekunde verwendet, was oft einen abgestuften Effekt in der Bewegung auslöst. Eine weitere Eigenheit ist die oftmalige Verwendung von Kamerabewegungen (z.B. ein Schwenk über eine geringere Augenbewegung) und relativ langen Kameraeinstellungen (oft werden einige Frames vor und nach einer Bewegung aufge1 Als Cels werden transparente, beschreib- oder bedruckbare Folien bezeichnet, die zur Erstellung von gezeichneten Animationsfilmen verwendet werden. Ursprünglich wurde bei Zeichentrickfilmen das gesamte Bild auf ein einzelnes Blatt Papier gezeichnet, was aber einen sehr großen Arbeitsaufwand bedeutete, weil auch die Hintergründe einer Szene jedes Mal wieder neu gezeichnet werden mussten. Außerdem begann das Bild dadurch oft zu Zittern oder Ruckeln, da kein Hintergrund absolut deckungsgleich mit dem vorhergehenden war. Um diese Probleme zu umgehen, wurden Vorder- und Hintergrund sowie die bewegte Figur auf transparente Folien gezeichnet. So musste der Animator den Hintergrund nur einmal erarbeiten und sich auf die Animation konzentrieren. KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 84 Abbildung 6.1: Rotoscoping der Konturen eines Bildes in Photoshop zeichnet, damit eine Szene etwas länger dauert). Um die visuellen Einschränkungen aufzuheben, wird bei der Limited Animation großer Wert auf das Sound Design gelegt. Es wird Voice-over-Narration (ein Erzähler aus dem Off) verwendet und es gibt viele, manchmal auch sehr lange Dialoge. Bei letzteren wird oft der Mund der Figur oder zumindest Teile davon verdeckt, um so die Lippensynchronisation weniger komplex gestalten zu können oder überhaupt Animationsarbeit einsparen zu können. Nichtsdestoweniger bedeuten diese Einschränkungen nicht, dass die Limited Animation schlechter ist als die Full Animation, aber aufgrund ihres reduzierten Stils wurde sie in ihrem Wert oft nicht hoch genug eingeschätzt. Beide Animationsstile haben ihre Vor- und Nachteile, der Künstler sollte den Animationsstil im Bezug auf das Ziel der Arbeit einschätzen und dann das richtige Werkzeug dazu auswählen. Gerade in den Ursprüngen der Limited Animation war die Linie ein wichtiges Stilmittel (siehe auch Abschnitt 3.3), da die starke Abstraktion von Formen auch zu einem vermehrten Auftauchen von geometrischen Flächen und Linien führte. Damals war diese Animationsform sehr kontrovers, da sich die Zuseher mit der dynamischen, sehr künstlerischen Optik der Trickfilme nicht anfreunden konnten und sie als Faulheit und schlechte zeichnerische Fähigkeiten missinterpretierten. Heute wird die Limited Animation weit besser KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 85 von den Menschen akzeptiert, als in ihren Anfängen. Wohl auch deshalb, weil die heutige Jugend schon mit den animierten Fernsehserien aufgewachsen ist, die nach dem Prinzip der Limited Animation produziert wurden, weil sich diese durch die große Kostenersparnis für TV Produktionen eignete. Sie wird sogar schon als eigene Kunstform betrachtet und als kreative und ästhetische Bildsprache eingesetzt. 6.1.3 Veränderungen durch neue Technologien Durch den Einsatz digitaler Hilfsmittel hat sich in der klassischen Animation die Arbeitsweise mit der Zeit verändert und vereinfacht. Fast alle analogen Techniken können durch Zuhilfenahme von aktuellen Technologien auch digital umgesetzt werden. Mit Hilfe von Grafiktabletts können die Animationskünstler heute direkt am Computer zeichnen ohne den Umweg über Handzeichnungen und Einscannen oder Abfotografieren gehen zu müssen. So wird der Arbeitsvorgang stark vereinfacht und beschleunigt, da einige Arbeitsschritte so komplett wegfallen. Das Arbeiten mit einem Grafiktablett kann allerdings sehr gewöhnungsbedürftig sein. Viele Künstler beschweren sich über eine sehr gewöhnungsbedürftige Bedienungsweise der Stifte, die eingeschränkte Auflösung und eine somit geringere Qualität eines Bildes. Doch allen Kritikern zum Trotz sind Grafiktabletts in jedem Fall eine große Erleichterung im Arbeitsalltag eines Animators. Auch beim digitalen Rotoscoping sind diese digitalen“ Vorteile deutlich ” spürbar. Entweder kann jedes Einzelbild in ein entsprechendes Bildbearbeitungsprogramm geladen werden und dort einzeln abgezeichnet werden oder das gesamte Videomaterial wird in ein entsprechendes Animationsprogramm geladen (z. B. Mirage, ToonBoomStudio) und dann Frame für Frame abgezeichnet. Beide Arbeitsweisen bieten einige Vor- und Nachteile (bei der Arbeitsweise im Bildbearbeitungsprogramm wird zwar wenig Speicher verbraucht, aber dafür müssen die Einzelbilder danach noch in einem Videoschnittprogramm zusammengesetzt werden – das Animationsprogramm hingegen benötigt zwar mehr Speicher, dafür ist aber kein zusätzliches Videoschnittprogramm notwendig), deshalb muss der Zeichner individuell entscheiden, welche Technik sich für seine Ziele besser eignet. Im Zeitalter digitaler Technik ist das Erstellen von gezeichneten Animationen durch den Einsatz virtueller Ebenen stark vereinfacht worden, da jedes professionelle Bildbearbeitungs-, Animations- und Videoschnittprogramm heute mit der Layer-Technologie arbeitet (siehe auch Abbildung 6.2). Die Verwendung der Rostrum Cameras ist somit obsolet, da durch diese Technologie sehr viel einfacher, schneller und auch viel billiger gearbeitet werden KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 86 Abbildung 6.2: Verwendung von Ebenen in Mirage kann. Diese Tatsache hat auch eine prinzipielle Auswirkung auf die Animation an sich: früher war es schon allein aus Gründen der technischen Ausstattung fast nur professionellen Animatoren möglich, sich mit der Animation zu beschäftigen und zu experimentieren. Heute ist diese Barriere durch die leichte Zugänglichkeit von Animationssoftware gefallen und viele – vor allem junge – Menschen beschäftigen sich hobbymäßig mit der Animation. Diese Hobby-Animatore haben einen anderen, weniger kommerziellen Zugang zur Animation und bringen durch ihren spielerischen Umgang eine große Frische in das Gewerbe. Selbst Pencil Tests können heute digital durchgeführt werden, es gibt sogar spezielle Programme zum Erstellen derselbigen. Da es auch heute für einen Animator unerlässlich ist, dass er die Bewegungen seiner Figur vorab beurteilen kann, werden diese heute bereits digital durchgeführt. Digitale Pencil Tests sind in ihrer Qualität den ursprünglichen Tests weit überlegen. Damals mussten noch mehrere Schichten Papier übereinandergelegt, von hinten beleuchtet und abfotografiert werden. Dies brachte vor allem dadurch Probleme mit sich, da das Papier von hinten meist schlecht beleuchtet war und die Konturen der Animation so verschwammen. Ein weiterer großer Vorteil ist die Tatsache, dass das digitale Bild, das aus einem zeitgemäßen Pencil Test hervor geht, direkt weiter bearbeitet werden kann und so zum finalen Cartoon wird, ohne dass der Zeichner den Umweg über Einscannen KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 87 oder Abfotografieren gehen muss. 6.2 Maskierung von bestehendem Filmmaterial Animierte Linien lassen sich auch durch die Nachbearbeitung von bestehendem Filmmaterial erzeugen. Die Arbeitsweise soll hier kurz am Beispiel der bekannten Post Production Software Adobe AfterEffects erläutert werden. Wenn eine Videoaufnahme vor einem homogenen Hintergrund, also z. B. in einer Green- oder Blue-Box, gedreht wurde, kann dieser durch das sogenannte Keying 2 nachträglich aus der Aufnahme entfernt werden. So kann ein bewegliches Objekt aus dem Vordergrund freigestellt werden. Sobald das Objekt freigestellt ist, wird es mit Hilfe eines Filters (z. B. durch starkes Verringern von Kontrast und Helligkeit) in eine homogene, einfärbige Fläche verwandelt. Dann muss es dupliziert und geringfügig verkleinert am selben Punkt positioniert werden. Mit Hilfe einer weiteren Maske wird dann die kleinere Version vom Originalobjekt abgezogen. So entsteht eine Konturlinie (siehe Abbildung 6.3). Die Maskierung in einem Compositingprogramm ist zwar prinzipiell zur Erstellung von Konturlinien verwendbar, ist aber eine sehr umständliche und arbeitsintensive Methode. Die Skalierung und Position der beiden Objekte muss für jedes Bild erneut angepasst werden und ist dadurch dementsprechend zeitaufwändig. 6.3 Prozedurale Linien In der Computergrafik werden auch prozedurale Linien verwendet. Diese Form von Linien wird automatisch anhand vorgegebener Regeln und mathematischer Formeln direkt vom Computer generiert und kann mittels festgelegter Parameter vom Benutzer verändert werden. Derartige Linien werden zum Beispiel in Illustrationsprogrammen wie Macromedia Freehand oder Adobe Illustrator bis hin zu Animationsprogrammen wie 3dsmax, Maya oder Macromedia Flash verwendet, um Linien zu erzeugen. Durch prozedurale Linien wird aber nur die Form einer Kurve festgelegt, nicht aber ihre Linienstärke, Farbe, Form oder Transparenz. Die so berechneten Kurven haben den Vorteil, dass sie nicht für jedes Bild mit der Hand neu gezeichnet werden müssen, da sie mit Hilfe von Kontrollpunkten manipuliert werden. So müssen für eine Animation nur die Keyframes 3 angegeben werden, die Bilder 2 Beim Keying können durch Extraktion von bestimmten Farb- oder Helligkeitswerten (Chroma Key bzw. Luma Key) und anderen Methoden, Bildelemente – wie ein einfärbiger Hintergrund – aus einem Bild entfernt werden und so z. B. ein anderer Hintergrund eingefügt werden. 3 Keyframes sind die wichtigsten Bilder einer Animation, sogenannte Schlüsselbilder, welche die extremste Position einer Bewegung wieder geben. Sie sind das erste, was von ei- KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 88 Abbildung 6.3: Maskierung von Filmmaterial in AfterEffects dazwischen werden automatisch von der Software berechnet. Prozedural generierte Linien werden neben Animationsfilmen und Kunstprojekten auch häufig zur Verwendung von mathematischen, physikalischen oder anderen wissenschaftlichen Skizzen eingesetzt. Nichtsdestotrotz besteht noch immer ein visueller Unterschied zwischen einer handgezeichneten und einer automatisch generierten Linie, der auch für den Laien erkennbar ist. Die so generierten Linien sind sehr gleichförmig und wirken sehr technisch. Sollen sie aber lebhafter erscheinen und stärker an eine Handzeichnung erinnern, müssen sie z. B. durch Paint Effects (siehe auch Abschnitt 6.5) oder Comic Shading (siehe auch Abschnitt 6.3.3) nachbearbeitet werden. Oftmals ist dieser Unterschied aber für den Erfolg eines Projektes nicht von Bedeutung und es kann sich durchaus lohnen, schon allein aufgrund der enormen Arbeitsersparnis, z. B. einen Cartoon Shader (siehe auch refsec:rendering) zu verwenden anstatt alle Zeichnungen mit der Hand anzufertigen. ner Animation gezeichnet wird. Die Bilder zwischen den Keyframes nennt man In-Between oder auch Tweenings. KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG (a) 3dsmax 89 (b) Freehand Abbildung 6.4: Splines im 2D und 3D Programm. 6.3.1 Splines Der Name Spline“ 4 kommt ursprünglich aus dem Schiffbau. Dabei wurden ” dünne, elastische Holz- oder Metalllatten zur Festlegung einer Kontur durch mehrere bestimmte Punkte gelegt. Als Entdecker der Splines gilt der rumänische Mathematiker Isaac Jacob Schoenberg, welcher als Erster 1949 in einer Arbeit den Begriff Splines verwendet. Dieses Prinzip wurde auch in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern für die Computergrafik übernommen. Durch das kurvige Karosseriedesign wurden bei Citroen, Renault und General Motors mehrere, voneinander unabhängige Ansätze für die Darstellung von Kurven, genannt Splines, entwickelt [8]. Splines lassen sich zur Darstellung von Kurven sehr gut verwenden und kommen deshalb auch häufig in CAD Anwendungen zum Einsatz. Diese Kurven basieren ihrerseits auf dem Prinzip des B-Splines 5 . Eine solche B-Spline-Kurve basiert auf der Erstellung einer konvexen Hülle, welche die Form der Kurve festlegt. Diese Hülle wird durch die sogenannten De Boor Punkte festgelegt [9], durch welche die Kurve auch in ihrem Aussehen beeinflusst werden kann (siehe Abbildung 6.4). 6.3.2 Bezier Kurven Pierre Bezier entwarf in den sechziger Jahren schwungvolle, kurvige Autokarosserien für Renault und entwickelte zur Darstellung auf dem Großrechner ein System zur Kurvenbeschreibung, das die Basis für alle Vektorgrafikprogramme wurde. Die kubische Bezier Kurve 6 ist bis heute ein ausgesprochen 4 Ein Spline ist eine Kurve, die durch eine vorgegebene Anzahl von Punkten verläuft und diese möglichst glatt durch gleichmäßige, schrittweise polynomische Annäherung miteinander verbindet. 5 Jedes (stückweise) Polynom hat einen Vektorraum und eine Basis. Ein B-Spline ist eine Spline, der in seiner Basis dargestellt wird. 6 Eine Bezier-Kurve ist somit eine besondere Art eines Splines. Dabei wird durch Bernsteinpolynome ein Kontrollpolygon rund um die Kurve gebildet, welches ihre Form festlegt. KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 90 Abbildung 6.5: Bezier Kurven in 3dsmax wichtiges Element der Computergrafik, da mit ihr fast alle Formen und Zeichenumrisse dargestellt werden können. Abbildung 6.5 zeigt, wie die Gestalt der Kurve festgelegt wird: durch einen Start- und Endpunkt sowie durch die Bezier-Kontrollpunkte, die außerhalb der eigentlichen Linie verlaufen (nicht wie beim Spline durch die Basis selbst) – diese bilden Tangenten durch den Start- und Endpunkt – erhält diese ihre Form [2]. Beinahe alle grafischen Formen und Schriftzeichen außer Geraden und Rechtecke werden mittels der Bezier-Kurve beschrieben, deshalb ist diese Darstellung auch so verbreitet. 6.3.3 Non-Photorealistic Rendering Eine weitere Möglichkeit zum Erzeugen animierter Linien ist das Verwenden eines sogenannten Non-Photorealistic Renderings 7 bzw. Comic Shaders 8 (manchmal auch Cartoon oder Toon Shading genannt) beim Erzeugen eines animierten 3D Modells. Das Feld des Non-Photorealistic Rendering reicht hierbei von eigenen Programmiersprachen, wie beispielsweise bei Pixar´s Renderman, das beinahe unbegrenzte Möglichkeiten zur Darstellung der errechneten Linien ermöglicht, bis hin zu Plugins für Animationsprogramme oder selbst erstellten Materialien in 3D Programmen. Beim Cartoon Shading 7 Rendering nennt man die Erzeugung eines digitalen Bildes durch eine zwei- oder dreidimensionale Bildbeschreibung. 8 Shading nennt man die Simulation einer Objektoberfläche durch ein spezielles Beleuchtungsmodell. Dabei wird Farbe und Helligkeit für die einzelnen Punkte eines dreidimensionalen Objektes berechnet und ausgegeben. KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 91 Abbildung 6.6: Materialen zur Simulation von Cartoon Shading in 3dsmax wird kein Wert auf Realismus gelegt, sondern auf starke Kanten und harte Schatten. Durch entsprechende Parameter kann so der Look des Shadings bestimmt werden (z. B. Linienstärke, nachträgliche Änderungen im Nachdruck, Detailreichtum, Farbe). So können anstatt einer normalen CartoonOptik auch abhängig vom gewünschten Effekt lediglich Konturlinien erzeugt werden. Nach dem Rendern der gesamten Sequenz wirken die Figuren dann, als würden sie lediglich aus animierten Linien ohne flächiger Füllung bestehen. Diese Art von Comic Shading ist inzwischen sowohl als Plugin für Programme wie 3dsmax oder Flash erhältlich (siehe Abbildung 6.7), sie können aber auch direkt im 3D Programm als kombinierte Materialien selbst angelegt werden (siehe Abbildung 6.6 9 ). Allerdings sind diese Materialien in ihrer Qualität den meisten professionellen Plugins eindeutig unterlegen. 6.4 Animierte Linien in Kombination mit anderen Animationstechniken und Realfilm Natürlich können animierte Linien auch mit anderen Animationselementen und -techniken kombiniert werden. Eine animierte Linie kann mit den unterschiedlichsten Techniken vom 3D Spline, über Cartoon Shading bis zur Handzeichnung erzeugt werden und kann dementsprechend auch mit allen anderen Techniken kombiniert werden. In den nachfolgenden Punkten soll 9 Abbildung aus http://www.flashfilmmaker.com/index.php?id=2,3,0,0,1,0 KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 92 Abbildung 6.7: Rendering von handgezeichneten Linien mit dem Comic Shader Toon Titan ein Überblick gegeben werden, wie dies von statten gehen kann. 6.4.1 2D Animation Da die Linie auch selbst oft als 2D Animation entsteht, kann sie sehr einfach mit anderen 2D Animationstechniken kombiniert werden. Bei der gezeichneten Animation, ob per Hand oder digital am Computer, werden animierte Linien oder linienhafte Charaktere wie jedes andere zweidimensionale Objekt behandelt. Wenn die animierten Linien mittels Rotoscoping erstellt werden, muss die dadurch entstehende Animation einfach, beispielsweise mit einem Compositingprogramm wie After Effects, in einer neuen Ebene in die bereits bestehende Sequenz eingefügt und entsprechend angeordnet werden. Falls die animierten Linien durch einen Cartoon Shader erzeugt wurden, kann ein eventuell bereits bestehender Hintergrund durch Keying oder die Verwendung von Masken entfernt werden und die so übrig bleibenden Linien wiederum als eigenständiges Element in einer Animationssequenz verwendet werden. Doch animierte Linien können nicht nur in klassischen Zeichenprogrammen realisiert, sondern auch als standardisierte, prozedurale Objekte erstellt werden, wie es in Vektorprogrammen wie Freehand oder Flash üblich ist (siehe auch 6.3). Hier wird vom Benutzer eine Linie nach einer bereits existierenden Vorlage angelegt und kann dann im Nachhinein im Bezug auf ihre Form, Farbe oder Textur manipuliert und verändert werden. Ein Vorteil der Animation von Linien mit Vektorprogrammen ist, dass diese so erzeugten, vektorisierten Linien ganz einfach verlustfrei veränder- und skalierbar sind, was die Erstellung und Handhabung der Animation sehr vereinfacht. Durch diese Technik muss nicht jedes Bild einzeln gezeichnet werden, die Animation zwischen zwei festgelegten Keyframes wird vom Programm durch KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG (a) 93 (b) (c) Abbildung 6.8: Formtweenings in Flash. Interpolation der Werte selbstständig erledigt (siehe Abbildung 6.8). 6.4.2 3D Animation Das Einfügen von animierten Linien in eine 3D Animation kann entweder direkt im 3D Programm oder — für den Fall, dass zweidimensionale Linienzeichnungen verwendet werden sollen — in einem Compositingprogramm nach Abschluss der 3D Animation vorgenommen werden. Letztere Möglichkeit unterscheidet sich kaum von der Kombination der Linien mit einer zweidimensionalen Animation, da die Linien erst nachträglich hinzugefügt und somit an die dreidimensionalen Objekte angepasst oder ansonsten einfach planar über die Animation gezeichnet oder generiert werden müssen. Dreidimensionale, abstrakte Linien können beispielsweise direkt in Maya als Splines angelegt werden. Dort können die Linien dann im Raum frei animiert und in ihrer Bewegung durch Setzen von Keyframes verändert werden. Die Frames dazwischen werden genau wie in Flash interpoliert und so entsteht letztendlich eine flüssige Bewegung (siehe Abbildung 6.8 und 6.12). Ein weiterer Vorteil bei der Erzeugung der Linien direkt im 3D Programm ist, dass KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 94 die Kamerabewegungen, die für die Animation von Nöten sind, auch automatisch auf die animierten Linien ausgeführt werden und so einfach ein räumlicher Eindruck erzeugt wird. 6.4.3 Realfilm Die Verbindung von animierten Linien und Realfilm ist wohl die aufwändigste der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten. Natürlich können auch über den Realfilm ganz einfach gezeichnete oder vektorisierte Linien gelegt werden, die mit dem Bild keine tiefere Verbindung eingehen. Will man aber, dass die Linien sich auch den Kamerabewegungen anpassen – also wenn die virtuellen Linien in der Szene wirken sollen, als wären sie tatsächlich mit der selben Kamera wie das Realbild aufgenommen worden – so muss man die Kamerabewegungen des bestehenden Videomaterials mittels Tracking 10 analysieren. Die virtuellen Objekte übernehmen so die Kamerabewegungen des Realvideos und integrieren sich dadurch bestmöglich in das Bild. Dies ist vor allem wichtig, wenn die Realvideosequenz mit starken Kamerabewegungen aufgenommen wurde oder durch Ruckeln und Zittern beeinträchtigt ist. So bekommt der Betrachter den Eindruck, dass alle Aufnahmen, ob real oder virtuell, mit der selben Kamera getätigt wurden. Wird in so einem Fall ohne Tracking gearbeitet, könnten die gezeichneten Objekte anfangen auf dem Bild zu schwimmen“, was der Animation naturgemäß einen sehr ” unrealistischen Eindruck verleiht. 6.5 Softwarepakete zur Erstellung von animierten Linien Zum digitalen Zeichnen von Animationen, also auch von animierten Linien, gibt es diverse verschiedene Softwarepakete. Diese übernehmen die meisten Funktionen aus der klassischen handgezeichneten Animation (z. B. den Lighting Table, eine Funktion mit Hilfe derer sich der Animator eine beliebige Anzahl von Bildern vor und nach einem speziellen Frame anzeigen lassen kann) in eine digitale Form und vereinfachen so die Arbeit des Zeichners enorm. Lediglich das Zeichnen am Computer selbst mit Hilfe eines Grafiktabletts ist gewöhnungsbedürftig und erreicht auch nie die selbe Qualität und Dynamik wie eine richtige Handzeichnung. Aber auch die Verwendung von Grafiktabletts ist heute schon sehr weit fortgeschritten: die Programme erkennen den Nachdruck, es können Texturen für den Pinselstrich ausgewählt und nach Belieben angelegt werden, und vieles mehr. Zwei beliebte 10 Tracking umfasst alle Bearbeitungsschritte, die der Verfolgung von bewegten Objekten dienen. Ziel dieser Verfolgung ist zum einen die Extraktion von Informationen über den Verlauf der Bewegung und die Ermittlung der Lage eines Objektes, damit weitere virtuelle Objekte anhand der errechneten Bewegungskoordinaten eingefügt werden können. KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 95 Abbildung 6.9: Szenen- und Compositingansicht in ToonBoomStudio. Programme für die Herstellung von gezeichneten Animationen sind die Bauhaussoftware Mirage und ToonBoomStudio, welche mir hier als Beispiel für Zeichenprogramme dienen sollen. ToonBoomStudio (siehe Abbildung 6.9) ist ein hilfreiches Tool zur Erstellung von animierten Zeichnungen, da die Animationen auch hier mit Elementen aus anderen Bildbearbeitungs- und Vektorgrafikprogrammen kombiniert werden können. Der Arbeitsablauf sieht im Allgemeinen folgendermaßen aus: zuerst werden im Zeichenmodus die Linienzeichnungen selbst angelegt, wobei der Benutzer aus vordefinierten Linienformen auswählen kann. Dabei kann mit einem Exposure Sheet 11 , das auch zum Storyboarding Vorteile bietet, gearbeitet werden, damit der Überblick über die gesamte Animation gewährleistet bleibt. Dann werden die einzelnen Elemente in einer Szene nach dem Wechseln in den sogenannten Szenenplanungsmodus angeordnet und die Sequenz danach im entsprechenden Format exportiert. Im Gegensatz dazu ist Mirage vielfältiger in seinen Anwendungsmöglichkeiten, da auch Bildkorrekturen, Special Effects, Texturierung von 3D Objekten und Ähnliches vorgenommen werden können. Das Programm ist in seinem Aufbau ähnlicher zu anderen Bildbearbeitungs- und Animationsprogrammen als es bei ToonBoomStudio der Fall ist, was ohne Zweifel die intuitive Arbeit des Benutzers und vor allem den Einstieg in das Programm begünstigt. Mirage unterstützt wie auch ToonBoomStudio die Verwendung von Ebenen, gängige Funktionen wie den Lighting Table (siehe Abbildung 6.10), aber auch Spezialeffekte wie die Aufnahme von Zeichnung oder Partikeleffekte (z. B. für Feuerwerke o.ä.). Erwähnenswert ist hierbei auch, vor allem weil es für animierte Linien von Bedeutung ist, dass die Pinselspitzen (auch 11 Ein Exposure Sheet enthält Informationen über die Anzahl und Anordnung von Sequenzen und Ebenen, Kamerabewegungen, Hintergründe, Sounds [18]. KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 96 Abbildung 6.10: Brushes in Mirage genannt Brushes) für das Zeichnen auch direkt vom Benutzer festgelegt werden können (z. B. durch zuvor angefertigte Texturen). Doch auch ohne Zutun des Benutzer kann Mirage schon mit einer breit gefächerten Palette an vordefinierten Pinselspitzen aufwarten, was das Arbeiten mit einem Grafiktablett sehr vereinfacht. Die Linien können so sehr einfach individuell und lebendig gestaltet werden (siehe Abbildung 6.11). Prinzipiell hat jedes Zeichenprogramm seine Vor- und Nachteile und jedem ist die Bedienung eines anderen angenehm. In jedem Fall ist aber eines bei allen Programmen gleich, sie arbeiten mit Pixelgrafiken, die nach der Erstellung nicht mehr beliebig verändert werden können, deshalb muss eine Animation zuvor vom Künstler genau geplant werden, damit nicht im Nachhinein Unstimmigkeiten auftreten können. Weiters kommen sie einer Handzeichnung im Gegensatz zu prozeduralen Linien schon relativ nahe, was den so erstellten Zeichnungen mehr Leben einhaucht. Neben den Zeichenprogrammen können aber animierte Linien auch mit Vektorprogrammen wie Flash erstellt werden. Auch hier wird die Verwendung von unterschiedlichen Sequenzen und Ebenen gestattet. Der User erstellt eine Linie und kann dabei ihre Länge und Dicke durch die Angabe weniger Parameter bestimmen. Durch das Setzen von Keyframes und das Einfügen von Bewegungs- und Formtweenings können die Linien in ihrer Position, KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG 97 Abbildung 6.11: Brushes in Mirage Abbildung 6.12: Formtweening Form und Farbe verändert werden (siehe Abbildungen 6.12). Dadurch, dass Flash mit Vektorgrafiken arbeitet, können die entstehenden Animationen ohne Verluste skaliert werden und behalten dabei ihre Bildqualität. Auch in 3D Programmen wie Maya oder 3dsmax können animierte Linien erzeugt werden. Mit Hilfe von Splines, können Linien verschiedener Ordnungen und Ausrichtungen erzeugt werden. Diese können mit beliebig vielen Kontrollpunkten generiert werden, an denen das Objekt anschließend verändert werden kann. Die äußerliche Erscheinung der Linie kann dabei beim Rendern der Bilder angegeben werden. Zusätzlich besitzt z. B. Maya die sogenannten Paint Effects“, vordefinierte Texturen und Darstellungen, ” die an eine Linie gebunden werden können, um ihre Darstellung zu beeinflussen. Kapitel 7 Diplomprojekt Ars Commota 7.1 Die Idee Die Idee zum Diplomprojekt Ars Commota entwickelte sich aus einem Projekt eines anderen Semesters heraus, bei dem mittels Rotoscoping eine reale Videoszene in eine Animation verwandelt wurde. Da ich den optischen Stil solcher Projekte schon immer als sehr ansprechend empfunden hatte und außerdem noch gern zeichnete, beschloss ich, dass auch mein Diplomprojekt sich mit Linienzeichnungen beschäftigen sollte. Da ich mich auch mit der Kombination von unterschiedlichen Animationsstilen beschäftigen wollte, sollte auch der Hintergrund animiert werden. Um einen möglichst großen Kontrast zu den Linien gewährleisten zu können, wurde eine 3D-Animation gewählt. Diese sollte außerdem optisch möglichst unaufdringlich und reduziert umgesetzt werden, damit die Linienzeichnungen nicht mit dem Hintergrund in Konkurrenz treten müssen. Die Qualität der handgezeichneten Linien selbst sollte dabei nicht zu glatt und korrekt wirken, sondern eher skizzenhaft und in den Bewegungen ruckelnd, da ich diesen Stil für meine Animation sehr passend fand (siehe Abbildung 7.1). Ich wollte mich hierfür am Stil der klassischen Limited Animation orientieren, die neben der optischen Komponente noch einen weiteren Vorteil bereit hielt: der Arbeitsaufwand war für eine einzelne Person leichter zu überblicken als bei der doch extrem aufwändigen Full Animation. Somit fehlte zur Realisierung der ursprünglichen Idee nur noch eine passende Geschichte. Die Story von Ars Commota ist ein einfacher Sketch: die Gemälde einer Kunstgalerie erwachen zum Leben, nachdem der Nachtwächter das Licht in den Ausstellungsräumen gelöscht hat. Einige der Malereien verlassen ihre Rahmen und feiern gemeinsam eine kleine Party, auf der getanzt und gescherzt wird. Als jedoch der Nachtwächter Geräusche und Musik aus eben diesem Raum hört und auf dem Absatz kehrt macht, um nach dem Rechten zu sehen, müssen die 98 KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) ARS COMMOTA 99 (b) Abbildung 7.1: Screencaps aus Ars Commota. Figuren ihre Feier überhastet beenden und in ihre Rahmen zurückkehren. Als der Aufseher den Raum überprüft, bemerkt er, dass eines der Gemälde sich bewegt: eine der Figuren versteckt sich im falschen Rahmen. Die einzelnen, bekannten Gemälde (z.B. die Mona Lisa, Warhols Suppendose, u.ä.), die für Ars Commota verwendet wurden, sollten per Hand abgezeichnet werden. Eine Herausforderung hierbei war es, dass die Bilder in ihren Stilen doch sehr unterschiedlich sind und die Linienzeichnungen aber trotzdem einen gemeinsamen Stil verfolgen sollten. Deshalb entschied ich, dass bei jedem Bild nur die wichtigsten Konturen gezeichnet werden sollten (siehe Abbildung 7.2), damit die Figuren nicht zu überladen wirken würden. Trotz dieser Reduktion sollten die Linien selbst nicht zu homogen und ruhig ein wenig ausgefranst“ wirken, um den gewünschten skiz” zenhaften Look zu erreichen. Die Animationen der Charaktere sollten hierbei außerdem eher roh sein, in den Bewegungen ein bisschen ruckeln und in der Ausführung nicht zu exakt sein. Der dreidimensionale Hintergrund, also die Galerieräume, wurden ebenfalls möglichst spartanisch geplant, mit wenigen Details, die an ein klassisches Museum erinnern (Absperrkordeln, Sitzgelegenheiten, wenige Pflanzen). Dadurch sollten die aufwändigeren Vordergrundanimation nicht mit dem Hintergrund in Konkurrenz treten müssen, außerdem konnte so einerseits die Verwendung von Realvideosequenzen und andererseits die Notwendigkeit einer fotorealistischen Animation umgangen werden. Der Nachtwächter sollte ursprünglich 3D-animiert werden, aber nach reiflicher Überlegung verwarf ich diese Idee wieder, da diese Charaktere meistens sehr comicartig wirken und ich eigentlich genau das schon mit der reduzierten Modellierung des Hintergrunds vermeiden wollte. Also wurde statt dessen die Szenen mit dem Nachtwächter aus der Ich-Perspektive KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) ARS COMMOTA 100 (b) Abbildung 7.2: Screencaps aus Ars Commota. angefertigt und mit einem Wackeln versehen, das an Schritte erinnern sollte. So sollte der Betrachter außerdem sofort erkennen können, dass eine Szene aus der Sicht des Aufsehers gezeigt wird. Außerdem wurden die Sequenzen aus der Sicht des Nachtwächters nachträglich etwas anders, nämlich gelblicher, eingefärbt, um einen möglichst großen Kontrast zu den bläulichen Sequenzen mit den Linienzeichnungen zu gewährleisten. Um den Effekt dieser simulierten Ich-Perspektive noch weiter zu unterstreichen, wurden außerdem Schrittgeräusche eingefügt. 7.2 Die Umsetzung 7.2.1 Animierte Linien Die animierten Linien für die verschiedenen Charaktere wurden mit der Paintsoftware Mirage erstellt. Hierfür wurden zuerst die Konturen jedes einzelnen Gemäldes mit Hilfe eines Grafiktabletts in drei verschiedenen Versionen (dies diente dem ruckelnden Eindruck bei der anschließenden Animation) in Adobe Photoshop nachgezeichnet und anschließend in Mirage importiert. Positiv anzumerken ist hierbei, dass Mirage die Photoshop-Dateien problemlos lesen kann und auch die Ebenen übernimmt. Anhand dieser Referenzzeichnungen wurden anschließend die Animationen erstellt. Hierfür besitzt Mirage noch ein weiteres äußerst praktisches Tool, den Lighting Table: damit ist es möglich, sich beim Zeichnen eine beliebige Anzahl von Frames vor und nach dem aktuellen Bild anzeigen zu lassen. So kann man zuerst die wichtigsten Frames einer Bewegung, die Keyframes, zeichnen und anschließend nach und nach die Zeichnungen dazwischen auffüllen. So lässt sich sehr übersichtlich arbeiten und die Bewegung erscheint so flüssiger. KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT ARS COMMOTA 101 Abbildung 7.3: AutoPaint-Funktion in Mirage. Eine weitere Arbeitserleichterung, die ich verwendete, wenn ein Gemälde seinen Rahmen verließ, ist die AutoPaint-Funktion. Bei dieser können beliebige Aktionen, in meinem Falle das Ausführen der einzelnen Pinselstriche, aufgezeichnet und anschließend automatisch abgespielt werden. So wächst“ ” das Bild über die Zeit an, bis es sich vollständig aufgebaut hat. Die Zeit, die es dabei zum Aufbau benötigt, kann vom Animator beliebig festgelegt werden (siehe Abbildung 7.3). All diese Animationen und Zeichnungen wurden nach ihrer Fertigstellung als png-Sequenz gerendert. Wichtig hierbei war weiters, dass die Einzelbilder nicht pre-multiplied“ 1 gespeichert wurden, da sonst eine Glättung der ” Zeichnung mit dem Hintergrund durchgeführt werden würde. Beim anschließenden Compositing wäre dies hinderlich, sollte der Hintergrund eine andere Farbe als der in Mirage aufweisen. 7.2.2 3D Umgebung Die dreidimensionale Galerie für Ars Commota wurde vollständig in Maya realisiert. Hierfür mussten zwei Räume und ein Verbindungsgang modelliert werden, welche die Umgebung für die Geschichte darstellen sollten. Die Wände und der Boden wurden mit möglichst realistischen, unaufdringlichen Texturen versehen und erhielten zusätzlich noch ein Bump Mapping 2 , um für eine korrekte Lichtstimmung beim Rendern zu sorgen. Auch die Lichtstimmung für die Räumlichkeiten wurde bereits in Maya festgelegt (siehe Abbildungen 7.4 und 7.5). Die einzelnen Malereien wurden hierfür als Texturen auf größenmäßig 1 Pre-Multiplied bedeutet, dass transparente Pixel in einem Bild mit dem Hintergrund multipliziert werden. 2 Bump Mapping ist eine spezielle Form des Mappings, bei dem Oberflächenunebenheiten durch Schattierungen simuliert werden, ohne dass die Geometrie des 3D Objektes dabei verändert werden muss. KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT ARS COMMOTA (a) 102 (b) Abbildung 7.4: Screencaps aus Ars Commota. angepasste Planes gemappt 3 und – wenn nötig – mit einem entsprechenden Rahmen versehen. Um der 3D Umgebung ein wenig mehr Tiefe und ein insgesamt freundlicheres, einladenderes Aussehen zu verleihen, wurden die Räume mit Absperrkordeln, Sitzbänken und einigen wenigen Pflanzen versehen (siehe Abbildungen 7.4 und 7.5). Insbesondere die Absperrungen sind heute in normalen Museen natürlich nicht mehr üblich, aber da sie dem Klischee eines Museums entsprechen, entschloss ich mich dazu, sie trotzdem zu verwenden. So sollte dem Zuschauer glaubhaft vermittelt werden, dass er sich in einer Kunstgalerie und nicht etwa in einem privaten Atelier befindet. Die Pflanzen wurden mit Maya Paint Effects gezeichnet, was ein realistisches Aussehen der Texturen mit sich brachte. Auch alle Kamerafahrten, ob für normale Szenen oder auch die mit dem Nachtwächter, wurden bereits in Maya als Pfadanimationen festgelegt und dann als png-Sequenzen gerendert. 7.2.3 Kombination von Linie und Raum Die verschiedenen png-Sequenzen, die durch die gerenderten Linienzeichnungen aus Mirage und Hintergründe aus Maya entstanden, wurden als finaler Schritt im Compositing zusammengefügt. Um eine größere Tiefenwirkung der Linie selbst erzeugen zu können, wurden die Linienzeichnungen auf eine zweite Ebene dupliziert, stark weichgezeichnet und im Verhältnis zum Original geringfügig in den Hintergrund verschoben. So entsteht ein leichter Schatten der den Zeichnungen mehr 3 Mapping ist ein Vorgang, bei dem die Oberflächen von 3D Objekten mit zweidimensionalen Bildern (Texturen) versehen werden, um ihm das gewünschte Aussehen zu verleihen. KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) ARS COMMOTA 103 (b) Abbildung 7.5: Screencaps aus Ars Commota. Tiefe verleiht. Außerdem sollten die Linienzeichnungen ein wenig transparent sein, sodass man den Hintergrund leicht durchscheinen sieht. Die Linien im Vordergrund wurden zusätzlich mit einem Shine Effect aus einem Plugin namens TrapCode versehen. So entsteht ein leichtes, bläuliches Schimmern um die Linien herum, diese wirken dadurch nicht mehr so hart und fügen sich besser in den Hintergrund ein. Die Farbe und das leichte Glühen an sich verstärken außerdem den surrealen Eindruck und unterstützen so den Effekt einer Traumsequenz“. ” Damit eine größere Tiefenschärfe im dreidimensionalen Raum vorgetäuscht werden konnte, wurden die Linienzeichnungen, die nicht im Fokus des Betrachters liegen, stark weichgezeichnet. Elemente die sich im Raum weiter hinten“ befinden, wurden ebenfalls weichgezeichnet und mit einer gerin” geren Helligkeit ausgestattet. So entsteht der Eindruck einer gestaffelten Wahrnehmung (siehe Abbildung 7.6). Ein weiterer wichtiger Punkt war die Überschneidung von mehreren Linienzeichnungen. Das Problem dabei ist, dass es für den Betrachter nicht mehr sofort erkennbar ist, welche Linien nun zu welcher Figur gehören und die Erkennbarkeit leidet drastisch darunter. Außerdem kann das Auge die Tiefe der unterschiedlichen Elemente nicht mehr auf Anhieb bestimmen, was eine noch größere Verwirrung bewirkt. Für den Fall, dass derartige Überschneidungen entstanden, wurden sie unter Zuhilfenahme von Masken entfernt. Die Kamerafahrten aus der Sicht des Portiers wurden erst in Adobe After Effects durch simulierte Schritten verändert. Die einzelnen Ebenen einer KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) ARS COMMOTA 104 (b) Abbildung 7.6: Screencaps aus Ars Commota. (a) (b) Abbildung 7.7: Screencaps aus Ars Commota. Komposition mussten hierfür in 3D Ebenen umgewandelt werden, damit eine in After Effects gesetzte Kamera auf sie einwirken konnte. Ebendiese Kamera wurden anschließend ganz geringfügig animiert, um den Eindruck eines gehenden Menschen entstehen zu lassen. All diese entstehenden Kompositionen wurden als unkomprimierte Videos aus After Effects gerendert und in das Videoschnittprogramm Adobe Premiere Pro importiert, um dort den Feinschnitt vorzunehmen. Weiters wurde in Premiere auch ein kurzer Vor- und Abspann hinzugefügt. KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT 7.3 7.3.1 ARS COMMOTA 105 Erweiterungen Erzeugung von Tiefe im Raum Obwohl ich während der Projektlaufzeit versucht habe, den Figuren eine passende optische Raumtiefe zu geben, könnte diese eindeutig noch verbessert werden. Obwohl der Ansatz mit den weichgezeichneten Figuren, die außerhalb des Fokus oder weiter hinten im Raum dargestellt werden sollten, durchaus korrekt ist, könnte dieser eventuell durch eine exzessivere Anwendung noch verstärkt werden. Ein weiterer verstärkender Faktor zur Erzeugung von mehr Raumtiefe könnte außerdem bereits in Maya gemacht werden. Hierfür müsste in Maya ein Raumnebel (Volume Fog) erzeugt werden, um in Verbindung mit der Kamera einen größeren Tiefeneindruck erzeugen zu können. Durch den Nebel wird der perspektivische Eindruck verstärkt, da weiter entfernte Objekte nicht mehr deutlich genug erkennbar sind. 7.3.2 Sound Design Das bestehende Sound Design zum Diplomprojekt Ars Commota wurde aus bereits existenten Geräuschen verschiedener Sound Libraries, lizenzfreier Sounds aus dem Internet und einem Musikstück der Funk-Soul-Gruppe Jestofunk realisiert. Die Geräuschkulisse wurde anhand der Aktionen der einzelnen Charaktere bereits im Storyboard festgelegt und nach der Fertigstellung der Animationen hinzugefügt. Die Musik für Ars Commota sollte die Stimmung der Figuren vermitteln: sie sollte zum einen einen klaren, tanzbaren Beat und einen Geigensound besitzen. Da bereits in der Story selbst eine Geige aus einer bekannten Picasso-Zeichnung ihren Rahmen verlässt, wollte ich, dass diese zum Klang der Musik mitspielen“ würde. So entsteht ” der Eindruck, dass der DJ“ aus dem Keith Haring Bild, den elektronischen ” Part der Musik auflegen würde und die Geige dazu die melodischen Teile spielt. Die einzelnen Sounds und Geräusche wurden bei diesem Projekt untypischerweise in Adobe Premiere importiert und angeordnet, das sich normalerweise nicht besonders zum Audioschnitt anbietet. Da ich aber nur wenig unterschiedliche Sounds und Musik für das Video benötigte, beschloss ich – auch unter dem Aspekt, dass der Sound von Ars Commota ja ohnehin noch überarbeitet wird – trotz allem die Audioumgebung in Premiere zu erstellen. Leider entsteht durch die Wahl des Musikstücks aber auch ein Problem, da ich keine Lizenzrechte dafür besitze. Somit ist mir eine kommerzielle Nutzung der Musik untersagt. Deshalb wäre es vorteilhaft, beispielsweise in Steinberg CubaseSX, ein eigenes Musikstück zu komponieren, das einen Technobeat und eine Geigenmelodie besitzt, um dieses Problem zu umgehen. Außerdem bedarf das Sound Design auch noch an anderer Stelle einiger KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT ARS COMMOTA 106 Überarbeitung. Wie bereits im Abschnitt 6.1.2 erwähnt, arbeitet die Limited Animation verstärkt mit der Unterstützung durch das Sound Design. Durch eine breiter gefächerte Geräuschkulisse mit besseren (z.B. selbst aufgenommenen Klängen) oder passenderen Sounds, könnte das Sound Design und somit auch die Qualität des gesamten Films noch verbessert werden. 7.4 Ars Commota im Vergleich mit anderen linienhaften Charakteren Ars Commota arbeitet mit linienhaften Charakteren und kann natürlich somit auch anderen Animationen mit ähnlichem Ausgangspunkt gegenübergestellt werden. In diesem Fall soll ein kurzer Vergleich mit anderen linienhaften Charakteren aus den bereits analysierten Musikvideos von AHA und Pinback (siehe auch Kap. 5), sowie mit der aktuellen Microsoft Werbekampagne, die ebenfalls mit animierten Linien arbeitet, gegeben werden. 7.4.1 Fortress – Pinback Ars Commota weist vor allem in seiner Einfachheit große Gemeinsamkeiten mit dem Musikvideo von Pinback auf. Die Figuren in Ars Commota sind sehr simpel ohne überflüssige Details gehalten, auch die Gesichtsmerkmale sind so reduziert, dass gerade noch durch Augen oder Mund Mimik erzielt werden kann. Im Video zu Fortress ist dies ebenfalls zu beobachten. Auch in den Bewegungen sind frappante Ähnlichkeiten vorhanden: beide Animationen orientieren sich stark an der Limited Animation. Sie verwenden Bewegungszyklen (siehe Abbildung 7.8) und auch Übertreibungen in der Gestik. Die Videos sind zudem beide ausgesprochen zweidimensional und erzeugen rein durch die Animation der Figuren kaum Perspektive. Auch in den Linienzeichnungen selbst lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen. Die Animationen verwenden beide gleichförmige Linien ohne große Änderungen im Nachdruck, wobei die Linien bei Ars Commota aber einen deutlichen handgezeichneten Charakter aufweisen. Die Linien wirken phasenweise etwas zittrig“, wie es oft bei Handzeichnungen vorkommt, wogegen ” jene im Fortress-Video sehr geometrisch ohne jeden Ausreißer sind (siehe Abbildung 7.9). Ein anderer großer Unterschied ist die Tatsache, dass die Animationen in Ars Commota bewusst flackern, da auch bei Standbildern nach jedem zweiten Frame eine andere Zeichnung verwendet wird, um der Figur mehr Bewegung und somit auch Leben zu verleihen. Dies ist bei Pinback nicht der Fall. KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) ARS COMMOTA 107 (b) Abbildung 7.8: Vgl. Fortress und Ars Commota. (a) (b) Abbildung 7.9: Vgl. Fortress und Ars Commota. 7.4.2 Take On Me – AHA Das Take On Me-Video von AHA unterscheidet sich bereits weit stärker von Ars Commota, obwohl beide Animationen mit Handzeichnungen arbeiten. Die Charaktere bei AHA sind sehr detailliert ausgearbeitet, die Personen können durch die Gesichtsmerkmale sehr einfach identifiziert werden und haben auch dementsprechend große Ausdrucksmöglichkeiten in ihrer Mimik. Die Figuren in Ars Commota sind stark reduziert und nur aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades der einzelnen Gemälde in ihrer realen Form auch in der Animation erkennbar. Auch die Mimik ist dadurch schon eingeschränkter. Ein weiterer großer Unterschied ist, dass im Video zu Take On Me die Perspektive sehr viel stärker genutzt wurde (v.a. durch Kamerafahr- KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) ARS COMMOTA 108 (b) Abbildung 7.10: Vgl. Take On Me und Ars Commota. ten), was der Animation sehr viel mehr Tiefe verleiht. Die Charaktere in Ars Commota hingegen sind absolut flach und zweidimensional, Perspektive entsteht lediglich durch die Anordnung der einzelnen Figuren in verschiedenen Ebenen. Die Linien bei Take On Me sind klassische, fein ausgearbeitete Bleistiftzeichnungen, jene bei Ars Commota hingegen erinnern viel mehr an typische Comiczeichnungen. Eine Gemeinsamkeit der beiden Animationen ist die flackernde Optik, die bei AHA durch zusätzliche Bildelemente (Querstriche und Schraffuren über das gesamte Bild) und bei Ars Commota durch die Änderungen an den Figuren selbst zustande kommt (siehe Abbildung 7.10). 7.4.3 Microsoft Werbekampagne Auch der Softwareriese Microsoft verwendete für seine letzte Werbekampagne Linienzeichnungen (siehe Abbildung 7.11). Das Design der Charaktere und Objekte ähnelt dem von Ars Commota stark, obwohl die Linien eindeutig nicht handgezeichnet sind. Mit welcher Technik die Linien erzeugt wurden, konnte ich leider auch durch eine ausgiebige Recherche nicht ermitteln. Die Vermutung liegt aber nahe, dass die Animationen entweder mit digitalem Rotoscoping (digital vor allem wegen der maschinellen Gleichförmigkeit der Linien, die mit einer Handzeichnung kaum zu erzielen wären) oder aber auch durch ein geeignetes Comic Shading von realen Videoaufnahmen (dabei werden die Konturen des Realvideos automatisch herausgefiltert) erzeugt wurden. Für eine Umsetzung durch Rotoscoping sprechen vor allem die Bewegungen der Animation, da diese zwar sehr realitätsnah aber nicht immer flüssig sind. Dies deutet daraufhin, dass die Animation mit 12 Frames pro Sekunde (also die Hälfte der Bilder, die bei einer normalen Full Animation zum Einsatz kommen) produziert wurde, was aus Gründen der Arbeits- und Zeitersparnis bei gezeichneten Animationen meist bevor- KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT (a) Abbildung 7.11: Vgl. Microsoft www.microsoft.com) und Ars Commota. ARS COMMOTA 109 (b) Werbekampagne (Bild: zugt wird. Die Bewegungen in der Microsoft Werbung sind demnach sehr verschieden von jenen bei Ars Commota, die ja, wie bereits erwähnt, sehr reduziert ausgeführt wurden. Die Zeichnungen der beiden Animationen sind bis auf das Flackern der Figuren, das bei Ars Commota erzeugt wurde, stilistisch sehr ähnlich, wobei der Microsoft Werbung der handgezeichnete Charakter der Zeichnungen eindeutig fehlt. Eine weitere Gemeinsamkeit der Animationen ist der Bildaufbau, der bereits in Abschnitt 7.2.1 behandelt wurde. Ars Commota verwendet die AutoPaint Funktion von Mirage, mit welcher der Aufbau eines Bildes aufgezeichnet und anschließend als Animation abgespielt werden kann. In der Microsoft Werbung werden die einzelnen Objekte und Figuren auf eine vergleichbare Weise aufgebaut. 7.4.4 Schlussfolgerungen Das Design und der zeichnerische Stil von Ars Commota hält, wie in den Abschnitten 7.4.1 bis 7.4.3 gezeigt wurde, dem Vergleich mit anderen Animationen, die mit linienhaften Charakteren arbeiten, durchaus stand. Natürlich wurde Ars Commota mit sehr viel geringeren Mitteln als die anderen genannten Videos und vor allem nur von einer Einzelperson produziert und musste dadurch schon unter anderen Gesichtspunkten begonnen werden. Obwohl der Arbeitsaufwand für die Zeichnungen von mir bereits im Vorfeld so reduziert wurde, dass ich das Projekt innerhalb eines Semesters realisieren konnte, unterscheiden sich die Animationen an sich nicht so stark von den anderen genannten Videos. Natürlich ist das Projekt bei weitem nicht fehlerfrei und könnte durch bereits genannte Änderungen an der Tiefenwirkung, den Bewegungen und dem Soundtrack noch stark verbessert werden. Trotz allem war es eine sehr lehrreich zu erfahren, wie eine solche Linienanimation KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT ARS COMMOTA 110 hergestellt wird, welchen Arbeitsaufwand man dabei zu bewältigen hat und welche vergleichbaren Projekte es bereits gibt, an denen man sich orientieren kann. Jede Linienanimation, ob nun die Microsoft Werbekampage, die Musikvideos von AHA und Pinback oder auch Ars Commota hat trotz all ihrer Gemeinsamkeiten, die schon allein durch die Verwendung von linienhaften Charakteren an sich entstehen, ihren ganz eigenen optischen Stil und somit auch einen individuellen Ausdruck. Kapitel 8 Zusammenfassung Die animierte Linie ist ein sehr vielschichtiges graphisches Gestaltungsmittel. Durch geringfügige Änderungen an Attributen wie Linienstärke, Nachdruck, Detailreichtum, Transparenz oder Textur können große Veränderungen in der stilistischen Aussage bewirkt werden, obwohl die Linie an sich schon eine sehr reduzierte Form darstellt. Auch die Geschwindigkeit mit der sich die animierte Linie bewegt, ist für ihre Dynamik und Spannung ausschlaggebend. Anhand der Analyse verschiedener Beispielanimationen konnte aufgezeigt werden, welche Möglichkeiten die Verwendung der animierten Linie bietet: • Sie kann den Blick des Betrachters durch das Bild lenken. • Die Animation wirkt meist aufgeräumt und übersichtlich. Dies kann durchaus auch daher rühren, dass bei einer Linienanimation viel weniger unterschiedliche Farben eingesetzt werden, durch die das menschliche Auge überfordert werden könnte. • Durch linienhafte Charaktere, Hintergründe oder auch abstrakte Linien können durch geringfügige Änderungen in der Gestaltung der Linie große Änderungen im Ausdruck bewirkt werden. Durch geometrische Linien mit gleichbleibender Stärke kann eine sehr technische, kühle Animation erstellt werden. Gleichzeitig kann durch schwungvolle, gebogene Linien mit Änderungen im Nachdruck ein sehr lebendiger und natürlicher Eindruck erzeugt werden (siehe auch Kap. 5). • Durch animierte Linien können sowohl extrem rudimentäre Figuren (wie Strichmännchen) als auch sehr aufwändige, detaillierte und lebensnahe Charaktere (wie in Abschnitt 5.3.4) erzeugt werden, welche beide große Ausdrucksstärke aufweisen. Auch ein Strichmännchen kann mit zwei Punkten für die Augen und einer Linie für den Mund eine eindeutige Expressivität besitzen, obwohl ihm andere mimische Details völlig fehlen. Obwohl mit einem detaillierterem Charakter ein 111 KAPITEL 8. ZUSAMMENFASSUNG 112 größerer Grad an Mimik erreicht werden kann, ist dieser nicht unbedingt ausdrucksstärker als eine vergleichbare Figur, die nur aus wenigen Linien und Details besteht. Die animierte Linie kann somit jeden beliebigen Stil verkörpern und dabei trotz allem eine Verwandtschaft zu jeder anderen Linienanimation bewahren. • Auch inhaltliche Aussagen können durch die Verwendung von animierten Linien unterstützt werden. Bei Gerald McBoing unterstreichen die sich überkreuzenden Linien einer Menschenmenge den Eindruck, dass die Masse in sich verschwimmt und die Personen gesichtslos werden (siehe auch Abschnitt 5.2). La Linea hingegen verwendet zur Verdeutlichung von Geschwindigkeit sich auflösende, verwaschene Linien (siehe Abschnitt 5.10). • Durch die natürliche Abstraktion einer Linienzeichnung wird eine bildliche Klarheit und Ausdrucksstärke geschaffen. • Da bei einer Linienzeichnung nie alle Details einer Figur oder eines Objekts ausgearbeitet werden, bietet die animierte Linie dem Betrachter einen größeren Freiraum für eigene Interpretationen, was wiederum dessen Phantasie fordert. • Zu guter Letzt bietet die Linie auch eine gewisse Arbeitsersparnis, da der Aufwand für das Colorieren eines Hintergrundes oder einer Figur dadurch wegfällt. Die Verwendung von animierten Linien bietet somit viele unterschiedliche Varianten zur Darstellung ein und des selben Sujets. Die animierte Linie hat sich zu einem akutellen Trend entwickelt, zum einen wohl, weil nach einer Zeit der kühlen Geradlinigkeit immer wieder ein konträrer Stil, wie eben momentan die Handzeichnung, in Mode“ kommt. Zum anderen ist die Her” stellung von Animationen durch die modernen technischen Möglichkeiten auch für Privatanwender möglich geworden, was wiederum die Entstehung von Handzeichnungen und experimentellen, künstlerischen Animationen begünstigt. Natürlich wird auch dieser Trend früher oder später wieder von einer neuen Tendenz abgelöst, nichtsdestoweniger sollte die Handzeichnung und die animierte Linie im Speziellen nicht in Vergessenheit geraten, da sie als vielschichtiges Stilelement zur graphischen Gestaltung von Animationen herangezogen werden kann. Literaturverzeichnis [1] Alles zur Kalligrafie. URL, http://www.kalligraphie.de/. Kopie auf CDROM (kalligrafie.pdf). [2] Bèzier - Fachbegriffe Online Lexikon? . URL, http://www.at-mix.de/ bezier kurve.htm. Kopie auf CD-ROM (bezier.pdf). [3] Das Piktorgramm - der schnelle Schuss ins Gehirn. URL, http://www.tekom.de/index neu.jsp?url=/servlet/ControllerGUI?action= voll&id=932. Kopie auf CD-ROM (piktogramm.pdf). 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