Animierte Linien

Transcription

Animierte Linien
Animierte Linien
Entwicklung und Analyse eines Animationsstils
Esther Kremslehner
DIPLOMARBEIT
eingereicht am
Fachhochschul-Masterstudiengang
Digitale Medien
in Hagenberg
im Juni 2006
c Copyright 2006 Esther Kremslehner
Alle Rechte vorbehalten
ii
Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen
und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus anderen Quellen entnommenen
Stellen als solche gekennzeichnet habe.
Hagenberg, am 23. Juni 2006
Esther Kremslehner
iii
Inhaltsverzeichnis
Erklärung
iii
Kurzfassung
vii
Abstract
viii
1 Einleitung
1.1 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Definition der Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Die
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
2.8
Linie im unbewegten Bild
Höhlenmalerei . . . . . . . . .
Piktogramme . . . . . . . . .
Kalligrafie . . . . . . . . . . .
Skizze . . . . . . . . . . . . .
Zeichnung . . . . . . . . . . .
Druckverfahren . . . . . . . .
Comic und Karikatur . . . . .
Bedeutende Künstler . . . . .
2.8.1 Leonardo Da Vinci . .
2.8.2 Albrecht Dürer . . . .
2.8.3 Pablo Picasso . . . . .
2.8.4 Wassily Kandinsky . .
2.9 Aktuelle Tendenzen . . . . . .
3 Die
3.1
3.2
3.3
3.4
Linie im bewegten Bild
Frühe Animationen . . . .
Pencil Tests . . . . . . . .
Produktionsstätten . . . .
Aktuelle Animationen . .
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36
4 Gestalterische Komponenten
40
4.1 Linienformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
4.1.1 Gerade Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
iv
INHALTSVERZEICHNIS
4.2
4.3
4.4
4.1.2 Gebogene Linien . . . . .
4.1.3 Kombinierte Linien . . . .
Graphische Gestaltung der Linie
4.2.1 Linienstärke . . . . . . . .
4.2.2 Spannung . . . . . . . . .
4.2.3 Richtungswirkung . . . .
4.2.4 Detailreichtum . . . . . .
4.2.5 Dynamik . . . . . . . . .
Farbe . . . . . . . . . . . . . . .
Flächenbildung durch Linien . .
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5 Analyse von animierten Linien
5.1 Abstrakte Verwendung von animierten Linien . . . . . . . . .
5.1.1 Musikvisualisierungen am Beispiel von Oskar Fischinger
5.1.2 Abstrakte Linien als ornamentales Gestaltungselement
5.2 Animierte Linien als Hintergrundelemente . . . . . . . . . . .
5.2.1 Wirkung und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Beispiele für Linien als Hintergrundelemente . . . . .
5.3 Linienhafte Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2 Das Strichmännchen – Urform des linienhaften
Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.3 Animierte Konturlinien . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.4 Detaillierte linienhafte Charaktere . . . . . . . . . . .
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6 Technische Erzeugung
6.1 Handgezeichnete Linien . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.1 Full Animation . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.2 Limited Animation . . . . . . . . . . . . . . .
6.1.3 Veränderungen durch neue Technologien . . .
6.2 Maskierung von bestehendem Filmmaterial . . . . .
6.3 Prozedurale Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.1 Splines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.2 Bezier Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.3 Non-Photorealistic Rendering . . . . . . . . .
6.4 Animierte Linien in Kombination mit anderen
Animationstechniken und Realfilm . . . . . . . . . .
6.4.1 2D Animation . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.2 3D Animation . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.3 Realfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.5 Softwarepakete zur Erstellung von animierten Linien
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INHALTSVERZEICHNIS
7 Diplomprojekt
Ars Commota
7.1 Die Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Die Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . .
7.2.1 Animierte Linien . . . . . . . . . .
7.2.2 3D Umgebung . . . . . . . . . . .
7.2.3 Kombination von Linie und Raum
7.3 Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . .
7.3.1 Erzeugung von Tiefe im Raum . .
7.3.2 Sound Design . . . . . . . . . . . .
7.4 Ars Commota im Vergleich mit anderen
linienhaften Charakteren . . . . . . . . . .
7.4.1 Fortress – Pinback . . . . . . . . .
7.4.2 Take On Me – AHA . . . . . . . .
7.4.3 Microsoft Werbekampagne . . . . .
7.4.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . .
vi
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106
107
108
109
8 Zusammenfassung
111
Literaturverzeichnis
113
Kurzfassung
Diese Diplomarbeit befasst sich mit der Entwicklung und Analyse eines Animationsstils - den animierten Linien.
Die bewegte Linie ist heute eine sehr beliebte graphische Gestaltungsvariante für Animationen in Kunst, Musikvideo, Werbung u.a. Trotz allem
ist der animierten Linie bis heute keine große Aufmerksamkeit gewidmet
worden und es gibt kaum Nachschlagewerke oder sonstige Literatur zu ihrer
Wirkung oder Anwendung. Deshalb soll mit Hilfe dieser Arbeit ein Überblick
über die animierte Linie in der Geschichte und eine Analyse ihrer Ausdruckskraft gegeben werden.
Die Geschichte der animierten Linie beginnt nicht erst bei der Erfindung
der Animation, sondern schon in den frühesten Malereien, die der Mensch
hinterlassen hat: den Höhlenmalereien. Daraus entwickelten sich im Laufe
der Zeit wiederum spezifischere Formen von Malerei und Graphik, von denen
sich einige besonders intensiv mit der Linie befassen. Diese Entwicklung
von der Höhlenmalerei bis zur Neuzeit soll in ihren wichtigsten Punkten
abgehandelt werden.
Besonders essentiell für das Verständis der Linie ist eine Begriffsdefinition, mit Hilfe derer die Linien überhaupt erst beschrieben werden können.
Dies wird in Kap. 4 ausgeführt, damit diese Begriffe in der anschließenden
Analyse einiger Beispielanimationen (z.B. Musikvideos von AHA und Pinback bis hin zur letzten Werbekampagne von Microsoft) verwendet werden
können.
Die Arbeit soll somit einen Überblick über die Entwicklung der Linie
bieten. Gleichzeitig sollen anhand der Analyse von unterschiedlichen Animationen, die animierte Linien beeinhalten, die stilistischen Eigenheiten und
Möglichkeiten der Linie aufgezeigt werden.
vii
Abstract
This diploma thesis delves into the development and analyses of an animation style - the animated line.
Today the moving line is a very popular graphical element of design in
arts, music videos, advertising, etc. Nevertheless, the animated line has not
been devoted much attention and there are only very few reference works or
other literature concerning its effects and use. Therefore, with this work an
overview on the animated line concerning its history and an analysis of its
expressiveness should be given.
The history of the animated line doesn´t only begin as recently as the
invention of the animation itself, but already in the primal art that mankind
has consigned: cave paintings. Out of it in the course of time developed again
more specific forms of painting and graphics, of which some are concerned
with the line very intensively. This development should be treated of in its
crucial points.
Very essential for the comprehension of the line itself is the definition
of terms, with which the line in the first place can be described properly.
This will be conducted in chapter 4, so that these terms can be used in the
following analysis of example animations (reaching from music videos by
emphAHA and Pinback to the current Microsoft advertising campaign).
This thesis should offer an overview of the development of the line. Simultaneously by means of the analysis of diverse animations, which deal with
animated lines, the stilistic peculiarities and possibilites of the line should
be given.
viii
Kapitel 1
Einleitung
1.1
Zielsetzung
Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit animierten Linien, deren Entwicklung und der Analyse des Animationsstils. Die Linie ist seit jeher ein wichtiges Stilmittel in Malerei und Zeichnung und hat dadurch auch den Weg in
die Animation gefunden. Ob in abstrakten Gemälden, detaillierten mathematischen und architektonischen Skizzen oder linienhaften Charakteren im
Trickfilm, zieht sich die Linie wie der sprichwörtliche rote Faden durch die
Kunstgeschichte bis hin zu aktuellen Musikvideos. Die animierte Linie hatte
auch auf mich immer eine besondere Anziehung, weil sie durch die starke
Abstraktion Klarheit schafft und gleichzeitig eine besondere Expressivität
besitzt. Durch animierte Linien kann der Blick des Betrachters auf das Wesentliche einer Animation gelenkt werden und regt durch das Fehlen von
Details auch noch die eigene Vorstellungskraft und Kreativität des Zusehers
an, was den Bildern noch mehr Lebendigkeit verleiht. Abgesehen davon ist
die animierte Linie trotz ihrer reduzierten Form im Design immer wieder
unterschiedlich, weil sie durch geringfügige Änderungen von Attributen wie
Linienstärke, Farbtiefe, Transparenz, die Verwendung eines anderen Mediums (z.B. Kohle statt Kreide) oder einer anderen Textur stark verändert
werden kann. Und doch gibt es kaum Literatur oder andere theoretische
Abhandlungen zum Thema Linie, was noch ein zusätzlicher Ansporn zum
Verfassen dieser Arbeit war.
1.2
Definition der Linie
Zuerst soll jedoch geklärt werden, was eine Linie überhaupt ist und wie
bzw. ob man sie überhaupt definieren kann. Da es sehr viele verschiedene
Zugangspunkte zum Thema Linie“ an sich gibt, existieren auch viele unter”
schiedliche Definitionen, die sich mit der Natur der Linie beschäftigen. Zu
diesem Zweck habe ich eine kleine Sammlung von gebräuchlichen Definitio1
KAPITEL 1. EINLEITUNG
2
nen der Linie zusammengestellt, welche einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten bieten soll.
Die bekannteste Definition der Linie ist wohl die mathematische: eine Gerade ist die kürzeste Verbindung von einem Punkt A zu einem Punkt B.
Da die Linie in der Mathematik kein gebräuchlicher Fachbegriff ist, könnte
man diese Definition der Geraden auch für die Linie selbst heranziehen,
nachdem eine Gerade ja nichts anderes als eine spezielle Form der Linie ist.
Aber es gibt auch kurze und lange Linien, gerade und gebogene, waagrechte
und diagonale, gezackte und wellenförmige. Es gibt abstrakte Linien, es gibt
Konturlinien, Linien mit einer Funktion und Linien, die einfach nichts davon sind. Insofern scheint die mathematische Definition in der Kunst keine
besondere Funktion erfüllen zu können.
Der Kunsttheoretiker Manlio Brusatin sagt folgendes über die Linie: Das
”
Leben ist eine Linie, das Denken ist eine Linie, das Handeln ist eine Linie.
Alles ist Linie. Die Linie verbindet zwei Punkte miteinander. Der Punkt
ist ein Augenblick, die Linie beginnt und endet in zwei Augenblicken.“ Folgendes Zitat findet sich in seinem Buch Die Geschichte der Linien [23, S.
9]:
• Eine gerade Linie“ - der Weg der aufrechten Christen.
”
• Symbol moralischer Redlichkeit“ - sagt Cicero.
”
• Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten“ - sagt Archimedes.
”
• Die beste aller Linien“ - sagen Generäle und Kartoffelbauern.
”
Natürlich ist Brusatins Definition nicht ausschlaggebend für die animierte
Linie, zeigt aber doch sehr deutlich in wie vielen Formen das Wort Linie“
”
in unserem Sprachgebrauch und Kulturkreis vorhanden ist und wie ungenau
all ihre Definitionen eigentlich sind.
Für die klassische Antike war die Linie ein Synonym für Deutlichkeit und
Nähe. Im Zeitalter des Humanismus wurden vor allem Bilder produziert,
die sich von religiösen Darstellungen entfernten und sich statt dessen mehr
mit Perspektiven, Farben und Schatten beschäftigten. Auch dies könnte als
klare Linie zwischen dem Auge und der Sinnesempfindung eines Menschen
gedeutet werden [14].
Die Linie gewinnt vor allem ab dem Rennaissancezeitalter auch in der Perspektive und als Horizontlinie Einfluss. Piero della Francesca ist der Meinung, dass Sehstrahlen, also Linien vom Auge ausgehen und auf ein Objekt
treffen und dass das Auge aufgrund dieser Linien die Perspektive und Proportion beurteilt. Francesca gibt auch eine Definition zur Linie ab. Er sagt,
ein Punkt ist etwas so winzig kleines, wie mit dem Auge eben zu erfassen
”
KAPITEL 1. EINLEITUNG
3
ist“, die Linie sei dementsprechend eine einfache Spanne“ von einem Punkt
”
zum anderen, deren Breite“ der des Punktes entspricht. Auch die Seh”
”
strahlen“ seinen samt und sonders Linien“, Linien die von einem Objekt
”
ausgehen und auch vom Auge aus auf diese zugehen [14, S. 42].
Alberti beschreibt die Linie wiederum so [14, S. 44]:
Wenn die Punkte sich in einer Reihe ununterbrochen aneinan”
derfügen, bringen sie eine Linie hervor [...], dessen Breite jedoch
so gering ist, dass man sie nicht aufspalten kann.“
Das Profil wird als eine Linie, die einen Körper durchschneidet gesehen,
man nannte sie deshalb auch sectio“. Diese Schnittlinien bilden laut Alfred
”
Dürer die wahre, verborgende Perspektive eines Körpers. Er nennt dies die
ästhetischen Tomographie [14, S. 54], die auch später seinen gesamten Zeichenstil beeinflussen soll.
Leonardo da Vinci vergleicht die Linie mit einem Zeitraum. Nach seiner
Auffassung ist der Punkt gleichzeitig auch ein Zeitpunkt, also ist für ihn
die Linie, die zwei (Zeit-)Punkte verbindet ebenfalls eine Menge an Zeit“,
”
denn so wie die Punkte Anfang und Ende einer Linie sind, so sind die Zeitpunkte Beginn und Abschluss eines Zeitraums. Die Hand, die der Linie folgt
und sie fixiert, greift so nach Leonardos Vorstellung nach der Zeit und gibt
ihr Form, was die Linie zum Bewußtsein eins Zeitraums und damit zur Dimension einer Idee, die mit der Zeit und durch die Zeit hindurch projiziert
wurde, macht [14, S. 84–85].
Auch in der Architektur ist die Linie von großer Bedeutung. Giorgio Vasari
geht sogar soweit, zu behaupten, dass sie das zentrale Element der Architektur sei [14, S. 53].
Die Zeichnungen jener [Architektur] sind einzig aus Linien zu”
sammengesetzt und diese sind für den Architekten nichts anderes
als Anfang und Ende seiner Kunst, weil das Übrige, das durch
die Holzmodelle vermittelt wird, die nach den besagten Linien
hergestellt sind, nichts weiter ist als das Werk von Steinmetzen
und Maurern.“
Wassily Kandinsky schrieb als einer der wenigen Maler ein kunsttheoretisches Buch namens Punkt und Linie zu Fläche. Darin definiert er die Linie
folgendermaßen [17, S. 57]:
Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die
”
Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist
aus der Bewegung entstanden - und zwar durch Vernichtung der
höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der
KAPITEL 1. EINLEITUNG
4
Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht. Die Linie ist also der größte Gegensatz zum malerischen Urelement zum Punkt. Sehr genau genommen kann sie als ein sekundäres
Element bezeichnet werden.“
Kandinsky sagt, dass die Linie also aus einem Punkt entsteht, auf den
Kräfte von außen einwirken. Die Verschiedenheit der Linien, die so entstehen
können, hänge von der Anzahl und der Kombination dieser Kräfte ab. Er
behauptet, dass alle Linienformen auf zwei Möglichkeiten zurückzuführen
sind [17, S. 57]:
1. Anwendung einer Kraft oder
2. Anwendung von zwei Kräften
(a) ein- oder mehrmalige abwechselnde Wirkung der beiden Kräfte
(b) gleichzeitige Wirkung der beiden Kräfte
An diesen allesamt sehr unterschiedlichen Aussagen wird deutlich, dass
die Linie an sich ein sehr breites Spektrum für Interpretationen gibt, da
sie auch oft als Synonym verwendet wird. Mit jemandem auf einer Linie
”
sein“, aus direkter Linie abstammen“, in erster Linie“, in Linie bringen“
”
”
”
- all diese Ausdrücke verwenden die Linie als ein Symbol für einen linearen
Ablauf oder eine andere direkte Verbindung. Die Linie wird also meist als
Gerade ausgelegt, obwohl dies nicht unbedingt ihre einzige Form sein muss.
In dieser Arbeit soll vor allem mit Kandinskys Interpretation der Linien gearbeitet werden, da diese -im Gegensatz zu vielen anderen Definitionen - im
Bereich der Malerei und somit auch Animation beheimatet ist und so einen
Vergleich mit zeitgenössischen Werken ermöglicht.
Der Inhalt der Diplomarbeit gliedert sich im Anschluss folgendermaßen: Um
einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Linie geben zu können,
wird zuerst die Funktion und Verwendung der Linie im Standbild sowie daraus folgend auch im bewegten Bild, der Animation, gegeben. Dabei werden
die Ursprünge der Linienzeichnung, die wichtigsten Kunstformen und auch
ausgewählte Künstler, die sich mit der Linie beschäftigten, vorgestellt. Auch
im Bereich der animierten Linie soll durch die Abhandlung der wichtigsten
Animationen eine Übersicht über die Entwicklung der Linie gesichert werden. Anschließend wird die Ausdruckskraft und Gestaltung der Linie ausführlich behandelt, damit ein Überblick über die verschiedenen Linienformen
und Möglichkeiten im Design vermittelt werden kann. Hierfür werden unterschiedliche Definitionen der Linie an sich beleuchtet, und verschiedene Linienformen und Gestaltungsvarianten, wie beispielsweise Linienstärke, Spannung oder Richtungswirkung, genauer behandelt. Weiters soll ein Überblick
über die Erstellung von animierten Linien gewährleistet werden, indem einzelne etablierte Animationstechniken wie Rotoscoping und Comic Shading
KAPITEL 1. EINLEITUNG
5
vorgestellt werden. Im Hauptteil der Arbeit sollen anschließend unterschiedliche Animationen analysiert werden. Nach einem Überblick über abstrakte
Linien, wie sie in den Musikvisualisierungen von Oskar Fischinger vorkommen und Linien als Hintergrundelement, soll das Hauptaugenmerk der Analyse auf linienhaften Charakteren liegen. Dabei sollen sowohl am Beispiel
des klassischen Strichmännchens, über die berühmteste animierte Linie La
Linea, die cholerische Figur des italienischen Zeichners Osvaldo Cavandoli,
als auch an zeitgenössischen Musikvideos der norwegischen Popgruppe AHA
und der amerikanischen Alternativeband Pinback die Unterschiede zwischen
den verschiedenen linienhaften Charakteren gegeben werden. Als abschließender Punkt soll zusätzlich noch das eigene Diplomprojekt vorgestellt und
mit den bereits analysierten Arbeiten verglichen werden, um Gemeinsamkeiten, frappante Unterschiede und Stilmittel aufzeigen zu können.
Kapitel 2
Entwicklung der Linie im
unbewegten Bild
In diesem Kapitel soll gezeigt werden, in welchen historischen Kunstwerken und -formen die Linie immer wieder gefunden werden kann. Dies reicht
von der antiken Höhlenmalerei, über die Entwicklung der Schrift bis hin zu
Zeichnungen und Drucktechniken. Weiters möchte ich auch eine kleine Auswahl an bekannten Künstlern vorstellen, die sich durch ihre Zeichnungen und
Malereien mit der Linie auseinandergesetzt haben. Die vorgestellten Persönlichkeiten sind natürlich nur einige aus einer großen Reihe von Künstlern,
die sich in ihren Werken mit der Linie beschäftigt haben. Ich habe sie vor
allem deshalb ausgewählt, weil sie meiner Meinung nach einen großen Einfluss auf die Akzeptanz und Verwendung der Linie hatten und schon allein
deshalb wert sind, erwähnt zu werden.
2.1
Höhlenmalerei
Das Bemalen von Höhlenwänden ist die älteste, dokumentierte Form der
Bilddarstellung des Menschen. Damals verwendeten unsere Vorfahren Farbpigmente und natürlichen Bindemittel. Der bekannteste Fundort sind die
Höhlen von Lascaux in Frankreich, wo auf einer Gesamtausdehnung von
100 Metern Abbildungen von Pferden, Wisenten und anderen Tieren gefunden wurden, die bereits 17000 Jahre vor Christus hinterlassen wurden. Der
Mensch hatte also schon in seinen Anfängen den dringenden Wunsch Zeichen zu hinterlassen und das wiederzugeben, was ihn umgab. Die Motive von
Felszeichnungen stellten meist Symbole, Piktogramme dar, aber auch Zeichnungen von Tieren, Menschen, Jagdszenen oder anderen Begebenheiten, die
für das Leben eines Steinzeitmenschen elementar waren (siehe Abbildungen 2.1). Schon damals stellte die Linie für den Menschen eine bedeutende
Ausdrucksform dar. Die meisten Höhlenmalereien bestehen aus Punkten und
Strichen, die einfach mit den Fingern oder mit Pinseln aus Tierhaar aufge6
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
(a)
7
(b)
Abbildung 2.1: Höhlenmalereien [6].
tragen wurden. Viele Linienzeichnungen in derartigen Höhlen weisen eine
überraschend hohe Qualität auf, da die Zeichner scheinbar schon damals die
Fähigkeit zur Abstraktion und Bilddarstellung besaßen. Dies zeigt sich auch
dadurch, dass viele der gefundenen Höhlenmalereien entweder nur aus Umrisslinien oder manchmal aus sehr geometrischen Flächen bestehen. Schon
damals wiesen die Zeichner beeindruckende räumliche Fähigkeiten auf, indem sie die räumliche Wirkung von Felsspalten und -vorsprüngen in ihre
Arbeiten miteinbezogen [6]. Eine weitere Besonderheit im Umgang mit der
Linie ist die Tatsache, dass die inneren Organe eines Tieres oder einer anderen Figur oft als einzelne Linie zusammenführte. Dies sollte eine Lebens”
linie“ darstellen. Da die Menschen damals glaubten, dass die Seele eines
Wesens in der Darstellung erhalten bleibt und deshalb die Fruchtbarkeit
und den Jagderfolg durch die symbolische Kraft des Zeichnens und der Berührung wieder angeregt werden konnte [6]. Die Höhlenmalerei war somit
ein früher Vorläufer des Piktogramms, dass sich im Laufe der Zeit daraus
entwickelte. Diese symbolhaften Zeichnungen sollen im nächsten Abschnitt
behandelt werden.
2.2
Piktogramme
Auch die Piktogramme entwickelten sich aus der Höhlenmalerei heraus und
stellen eine Vorstufe zur Schrift dar. Ein Piktogramm ist eine stark vereinfachte Zeichnung eines alltäglichen Objekts oder einer Tätigkeit (siehe Abbildungen 2.2). Daraus entwickelten sich Ideogramme 1 und Phonogramme
2 und darauf dann letztendlich das Alphabet und die Schrift. Piktogramme
1
2
Ideogramme sind Symbole, die Ideen oder Gedanken repräsentieren sollten.
Phonogramme sind Symbole für ausgesprochene Klänge.
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
(a)
8
(b)
Abbildung 2.2: Piktogramme [3].
sind für das menschliche Gehirn sehr viel schneller und einfacher zu verarbeiten als komplexe Schriftzeichen, weil sie meist wesentlich einprägsamer
und leichter zu merken als Texte. Überdies sind sie auch über Landes- und
Sprachgrenzen hinaus begreiflich. Ein gutes Piktogramm ist demnach eindeutig und leicht verständlich [3]. Ein Beispiel für derartige Symbole sind
Verkehrszeichen oder Hinweisschilder (siehe Abbildungen 2.2). Ein Problem
entsteht lediglich durch kulturelle Unterschiede, denn manche Symbol haben in unterschiedlichen Kulturkreisen auch völlig unterschiedliche Bedeutungen. Das Piktogramm soll prinzipiell möglichst reduziert dargestellt werden, um die Deutung einfach zu halten. Darum werden hierfür meist simple
geometrische Formen (Linien, Kreise, Rechtecke) verwendet, um einen Sachverhalt darzustellen. Die Linie ist also als bildgestaltendes Element auch aus
dem Piktogramm nicht wegzudenken. Da die Formen eben sehr geometrisch
sind, sind auch die Linien derartigen Symbolen sehr gleichförmig und wirken
deshalb meist sehr kühl und technisch.
2.3
Kalligrafie
Eine weitere wichtige Quelle für die Bedeutung der Linie ist die Kalligrafie,
die Kunst der Schönschrift. Sie wurde und wird bis heute weltweit als eine
Kunstform betrieben, die sich mit der Natur der Linie auseinander setzt.
Im arabischen Raum war die Kalligrafie auch deswegen so verbreitet und
beliebt, da durch das glaubensbedingte Abbildungsverbot andere Wege zur
kunstvollen Verzierung von religiösen Schriften gefunden werden mussten.
In Europa entwickelte sich die Schönschrift vor allem durch die Vervielfältigung von religiösen Schriften. Vor der Erfindung des Buchdrucks in Europa
(tatsächlich war das System der beweglichen Letter“ in Asien aber schon
”
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
9
Abbildung 2.3: Europ. Kalligrafie [11].
Abbildung 2.4: Kalligrafische Schrift von Leonardo Da Vinci [21].
viel früher bekannt) durch Gutenberg im Jahre 1447 wurden Mönche mit der
kunstvollen Abschrift von ganzen Büchern beauftragt (siehe Abbildung 2.3).
Mit der Vervielfältigung von Schriften durch industrielle Druckverfahren verlor die Kalligrafie vor allem in Europa aber immer mehr ihren Stellenwert
und durch die Erfindung des Computers wurde sie beinahe völlig verdrängt
und ist nur noch als Hobby oder Kunstform in Verwendung [1].
Im chinesischen und japanischen Kulturkreis hingegen hat die Kalligrafie
eine ungleich größere Bedeutung, da sie dort bis heute auch eine philosophische Bedeutung hat. Der Schreibende erwirbt durch die Anwendung dieser
Kunst Geduld und Ausdauer und bringt so seine Lebensenergie, das Chi, ins
Lot. Die chinesischen Kalligrafien wurden im Gegensatz zu den europäischen
meist mit Tusche und Pinsel auf Papier gemalt (in Europa war die Verwendung von Tinte und Pergament gebräuchlich), was zu besonders impulsiven
und ausdrucksstarken Schriftzeichen führt. Im Gegensatz zu vielen anderen
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
10
Kulturen (auch in der europäischen), welche die Schönschrift vor allem über
ihre exakte Gleichförmigkeit definierten, wird bei der Kalligrafie im japanischen und chinesischen Raum auf die Leserlichkeit der gemalten Zeichen
nicht so großer Wert gelegt, wie auf die Ausdruckskraft und den künstlerischen Schwung, der in der Zeichenbewegung selbst liegt. Diese Form der
Kalligrafie ist der Zeichnung bereits sehr ähnlich, die Linie ist auch hier
der Hauptbestandteil des gesamten Werkes. Die individuelle Anwendung
der Linie und der persönliche Pinselschwung eines Künstlers prägen so auch
nachweislich den Ausdruck seiner Kalligrafie [1]. Obwohl die Schönschrift in
Europa einen anderen Stil verfolgte als in Asien, hatte auch hier die Kalligrafie einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Linie. Selbst Leonardo
Da Vinci entwickelte seinen Zeichenstil aus der Kalligrafie heraus. Seine
Spiegelschriften zählen bis heute als große kalligrafische Kunstwerke (siehe
Abbildung 2.4).
2.4
Skizze
Die Linie hat nicht nur in der Kunst, sondern auch bereits beim Anfertigen von Skizzen eine große Bedeutung. Als Skizze bezeichnet man einen
Entwurf, ein rohes Konzept, das eine Vorlage für ein gemaltes oder auch
plastisches Werk bildet. Die Skizze wird aber nicht nur in der Malerei und
Zeichenkunst verwendet, sondern auch in der Architektur, der Physik, Mathematik und noch vielen anderen Wissenschaften, bei denen eine grafische
Darstellung als Hilfsmittel zum besseren Verständnis der Materie verwendet
wird. In der Kunst werden als Zeichenmaterialien zum Anfertigen von Skizzen oft Kohlestifte, Kreide oder auch Rötel 3 verwendet. Meist werden aus
Zeitgründen Flächen kaum gefüllt und nur die Umrisslinien eines Entwurfes
oder Bildes skizziert. Bei der Skizze wird kein Wert auf Genauigkeit oder
Detailreichtum gelegt, sondern darauf, dass die Idee für das Kunstwerk ausreichend transportiert wird (siehe Abbildung 2.5). Früher wurden diese Art
von Vorzeichnung oft in so genannten Skizzenbüchern gesammelt, aber sie
galten unglücklicherweise nicht als künstlerisch wertvoll, deshalb sind leider
nur sehr wenige davon erhalten [21].
Die Linien einer Skizze sind im Allgemeinen eher roh und unregelmäßig,
da auf die genaue Führung des Striches im Entwurf kaum Wert gelegt wird.
Gerade aber diese reduzierte und unfertig wirkende Art zu zeichnen und die
eiligen angefertigten Umrisse machen viel vom Charme dieser Zeichenform
aus (siehe auch Abbildungen 2.6). Manche Entwurfsskizzen sind auch so
detailliert und genau ausgefertigt, dass sie bereits als vollständige Zeichnung
und somit auch als finales Kunstwerk betrachtet werden können.
3
Ein Rötelstift ist eine kleine, gedrehte Papierrolle, die zum Verwischen der gezeichneten Linien verwendet wird.
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
11
Abbildung 2.5: Skizze von Leonardo Da Vinci [21].
Abbildung 2.6: Handgezeichnete Skizzen (gezeichnet vom Autor).
2.5
Zeichnung
Die Zeichnung ist eine weitere künstlerische Ausdrucksform, die sich mit dem
Wesen der Linie eingehend beschäftigt. Sie ist somit eine konsequente Fortführung der Skizze. Eine künstlerische Zeichnung, oft auch als Freihandzeichnung bezeichnet, ist eine lineare Darstellung von Konturen auf einem Trägermedium (also z. B. Papier oder Pergament). Diese Umrisslinien können
durch Schraffuren oder Lavierungen 4 ergänzt werden, um einen räumlichen
Eindruck zu erschaffen. Zeichnungen können aber auch mit Hilfsmitteln wie
4
Eine Lavierung ist eine Form der Schattierung, bei der mit Hilfe von stark verdünnter
Tusche eine Zeichnung getönt wird, um Räumlichkeit zu erzeugen.
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
12
Schablonen, Linealen, Zirkeln und ähnlichen Arbeitgeräten erstellt werden,
dies ist aber in der Kunst eher unüblich und findet seine Anwendung häufiger
im Bereich der Architektur und Mathematik, wo durch diese unterstützenden Mittel exakte, maßstabgenaue Pläne und Skizzen angelegt werden. Da
Farbe in den Anfängen der Zeichnung keine Rolle spielte, bestimmte ursprünglich die Linie selbst durch Attribute wie Strichstärke, Nachdruck und
Transparenz den Ausdruck und die Details eines Bildes. Eine wichtige Neuerung für die Zeichnung in Europa stellte der Einmarsch der Araber im 14.
Jahrhundert dar, denn sie brachten eine ursprünglich chinesische Erfindung
nach Europa: das Papier. Waren Trägermedien wie Haut oder Pergament bis
zu diesem Zeitpunkt nur für Mönche und Adelige erschwinglich, so konnte
durch die Entdeckung des Papiers sich auch die breite Masse mit Zeichnungen beschäftigen.
Das Charakteristische an einer Zeichnung ist, dass sie die Linienführung
eines Motivs, sei es nun konkret oder abstrakt, besonders betont. Somit wird
die Linie zum zentralen Element in der Zeichnung. Der Künstler kann naturalistische oder reduzierte, abstrakte Linien wählen, in jedem Fall aber macht
die Wahl der Linienführung die Wirkung des Bildes aus. Ersichtlich wird dies
auch durch den Vergleich der in Abbildung 2.7 dargestellten Zeichnungen.
Beide sind handgezeichnet und beinhalten ein ähnliches Motiv, nämlich eine
Katze. Obwohl beide Abbildungen Zeichnungen von ein und demselben Tier
sind und sogar in einem ähnlichen Stil gehalten sind, also sehr cartoon-haft
und reduziert, sind sie doch in ihrem Ausdruck vollkommen unterschiedlich.
Das Bild links arbeitet mit feinen Linien und Schraffuren, die Zeichnung
wirkt dadurch skizzenhafter und auch etwas unruhig. Die Linien im rechten
Motiv sind äußerst exakt, viel dicker und in ihrer Form dynamischer und die
Schraffuren werden eher zurückhaltend eingesetzt. Durch dieses einfache Beispiel wird ersichtlich, wie ausschlaggebend und elementar die Linienführung
für eine Zeichnung ist. Die Linie markiert Umrisse und Konturen und gibt
der Zeichnung durch Schraffuren, Schummern 5 oder ausgemalte Flächen
mehr Tiefe. Die Linienstärke ist verantwortlich für Tonwerte und Dynamik.
Auch die Tonwerte von Flächen können in der Zeichnung durch die Anwendung von Kreuzschraffuren verändert werden: je enger die Linien einer
Kreuzschraffur sind, desto dunkler wirkt die entstehende Fläche und desto
mehr tritt die betreffende Partie in der Zeichnung optisch in der Hintergrund.
Zeichnungen und auch Skizzen konnten sowohl vor oder auch nach dem
vollendeten Hauptwerk entstehen, waren sie doch lange Zeit nur eine private
und marginale Leistung des Künstlers selbst. Der eigenständige Wert von
5
Beim Schummern wird eine mit Kohlestift schraffierte Fläche mit dem Finger oder
einem speziellen Wischer (Estompes) nachträglich verwischt, um die Oberfläche homogener
wirken zu lassen. [10]
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
Abbildung 2.7: Stilistisch unterschiedliche Zeichnungen einer Katze.
Abbildung 2.8: Zeichnungen von Da Vinci [21].
13
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
14
Zeichnungen wurde erst ab dem 15. Jahrhundert langsam anerkannt, zuvor
waren sie lediglich als bereits erwähnte Vorarbeiten, Skizzen oder zusätzlichen Studien zum Hauptwerk in Verwendung, sie dienten zum Üben und
Lernen. Durch diesen Umstand sind auch nur wenige Zeichnungen überliefert, denn nur Vorstudien von berühmten Werken oder Malern wurden archiviert. Erst als sie als Repräsentation der Realität (siehe Abbildung 2.8) in
die Nähe der Idee rückte, erhielt sie eine intellektuelle und moralische Wertschätzung. Als die Zeichnung endlich anerkannt wurde, wurde die Farbe zur
Seele der Repräsentation, zur eigentlichen Qualität der Malerei [14]. Erst
im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde mit dem Sammeln von Zeichnungen
begonnen. Der Grund hierfür war wohl das steigende Interesse an den einzelnen Etappen eines Kunstwerk zur Beurteilung von Idee, Originalität und
schrittweiser Umsetzung eines Werkes. Immanuel Kant definiert die Zeichnung so [14, S.132]:
Die Zeichnung ist ein reines Urteilen über Formen und zugleich
”
eine intensive Tätigkeit des Geistes, die das Element des Natürlichen vervollständigt und übertrifft.“
2.6
Druckverfahren
Die Linie spielt auch in den klassischen Druckverfahren, auch Reproduktionstechniken genannt, eine große Rolle. Das Aussehen der Linie ist hierbei
von der jeweiligen Drucktechnik abhängig. Bei einem Linolschnitt (siehe
Abbildung 2.9) sind breitere Linien zu erwarten als bei einem Kupferstich
(siehe Abbildung 2.10) oder einer Radierung, bei denen weit feinere Verzweigungen möglich sind. Druckverfahren sind schon seit langer Zeit bekannt,
der Hochdruck (der zum Beispiel schon beim Holzschnitt zur Anwendung
kommt) zählt zu den ältesten Verfahren und wurde schon im alten China, in
Babylonien und Ägypten verwendet. Im Mittelalter wuchs das Interesse an
Drucktechniken wie der Radierung und dem Kupferstich. Letztere Drucktechnik zeichnet sich, wie auch eine Radierung, durch besonders feine Linien
und Schraffuren aus, mit denen die Details eines Bildes besonders genau wiedergegeben werden können (siehe Abbildung 2.10). Dabei wird das Motiv
mit einer feinen Nadel (Stichel) aus einer wenigen Millimeter dicken Kupferplatte geritzt. Da mit dieser Technik keine Flächen sondern nur dünnen
Linien aus der Platte geritzt werden können, sind Schraffuren für den Kupferstich typisch. Ein großer Meister dieser Drucktechniken war zum Beispiel
Albrecht Dürer (siehe auch Kap. 2.6), der die Anwendung dieser feinen Linien perfektionierte.
Beim Holzschnitt oder Linolschnitt hingegen (siehe Abbildungen 2.9)
können auch breite Flächen aus dem Material geschnitten werden, Schraffuren sind für diese Drucktechnik also nicht zwingend notwendig. Trotz-
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
(a)
15
(b)
Abbildung 2.9: (a)Linol- und (b)Holzschnitt [10].
(a)
(b)
Abbildung 2.10: (a)Radierung und (b)Kupferstich [10].
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
16
dem kommen sie aber immer wieder vor, vor allem im leicht abgewandelten
Holzstich-Verfahren (dabei wird eine Holzplatte anstatt mit einem Messer
mit einem Stichel aus dem Kupferstich bearbeitet), mit dem eine größere
Farbtonabstufung möglich ist. In modernen Drucktechniken wie Lithographie und Offsetdruck spielt die Linie eine nicht mehr ganz so große Rolle
wie in den bereits genannten Verfahren, da durch die verbesserte und vereinfachte Technik Farbabstufungen viel einfacher möglich waren. Außerdem
wird in diesen oft plakativen Bilder häufig mit Flächen gearbeitet, was die
Linie nach und nach aus dem Feld der Drucktechnik verdrängt hat.
2.7
Comic und Karikatur
Besonders amüsante und beliebte Formen der Linienzeichnung sind der Comic und die Karikatur. Schon seit Anbeginn der Menschheit war es ein
Ausdruck der Satire, humoristische Darstellungen von berühmten Persönlichkeiten oder von bekannten Vorfällen abzubilden. Mit dem industriellen
Vertrieb der ersten Zeitungen kam es auch zum regelmäßigen Druck von
Karikaturen und Comic Strips, die oft sehr kunstvolle Linienzeichnungen
waren. Als Comics bezeichnet man Bilderfolgen, mit denen ein Vorgang beschrieben oder eine Geschichte erzählt wird. Durch die verflochtene Wirkung
von bildnerischer Gestaltung, Text und Aussage nehmen sie eine besondere
Stellung ein. Der Ursprung der Comics liegt bereits in der Höhlenmalerei.
Auch auf den bemalten Felsen fanden sich ähnliche sequentielle Bilder und
die Entwicklung der Comics zieht sich von ägyptischen Wandmalereien (die
ihrerseits wiederum zur Entwicklung der Hieroglyphen und daraus Schrift
und Kalligrafie führten – siehe auch Kap. 2.1 und Kap. 2.3), griechischen
Reliefdarstellung bis zu mittelalterlichen Illustrationen fort [7]. Schon im 17.
Jahrhundert wurden erstmals Sprechblasen verwendet, um religiöse Abbildungen in ihrer Aussage zu ergänzen. Als geistiger Vater des Comic Strips
wird heute oft Wilhelm Busch erwähnt, dessen Geschichten und Linienzeichnungen noch heute als erheiternde Lektüre vertrieben werden. Die Entwicklung der Comics wurde dann erst entscheidend durch die Entwicklung der
Zeitungswesens und der darin gebräuchlichen Karikaturen beschleunigt (die
sogenannten Pen and Ink Caricatures“). Karikaturen stellen eine komisch
”
überzeichnete Betrachtungsweise von Personen oder gesellschaftlichen Zuständen dar, oft auch mit starkem politischem Charakter. Sie fungiert bis
heute als satirische Kritik am bestehendem System oder an einer Person,
wesentliche Fehler werden besonders zugespitzt und bewußt ins Lächerliche
gezogen [10]. Die ersten richtigen Zeitungscomics entstanden aus den sogenannten Gag Panels“ (Ein-Bild-Cartoons) [5]. Die Zeichner erhielten so die
”
Gelegenheit sequentiell eine kleine, meist humoristische Geschichte zu erzählen. Über die Jahre wurden Comicstrips in Zeitungen sehr populär, aber
erst Anfang der 30er Jahre wurde zum ersten Mal ein Magazin veröffentlicht,
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
(a)
17
(b)
Abbildung 2.11: Cartoons und Karikaturen.
dass ausschließlich mit Comics gefüllt war [5].
Comics und Karikaturen enthalten sehr oft linienhafte Charaktere. Ursprünglich lag dies wohl daran, dass in den Anfängen des Zeitungsdrucks kein Farbdruck und deshalb nur schwarze Linien auf weißem (oder ähnlich hellem)
Grund möglich waren. Auch die zeitgenössischen Tageszeitungen verwenden
immer noch Karikaturen bzw. Comics in diesem monochromen Stil, obwohl
Farbdruck jederzeit möglich wäre. Beinahe jede Zeitung unterhält einen eigenen Karikaturisten, der das Tagesgeschehen satirisch reflektieren soll. Die
Zeichnungen dieser Comics sind oft sehr skizzenhaft, teilweise sogar ungenau,
aber durch bestimmte charakteristische Details (z. B. eine Frisur, ein Kleidungsstück oder ein persönlicher Makel mit Wiedererkennungswert) wird
immer klar, wer durch das Bild karikiert werden soll. Die Linien überlappen
oft, wirken nervös und kritzelig“, doch genau das macht den rohen Charme
”
von Comics Strips und Karikaturen aus. Die Linie spielt im Comic bis heute
eine nicht unwesentliche Rolle: ob als Kontur, Richtungsangabe für Bewegungen, zur Verdeutlichung von Geschwindigkeit und ähnlichem, die Linie
als notwendiges Stilmittel ist aus Comic und Karikatur kaum wegzudenken
(siehe Abbildungen 2.11 6 ).
6
Karikatur aus http://www.paolo-calleri.de/paolo-calleri/karikaturen/steuermann.html,
Comic aus http://wikipedia.openfun.org/wiki/Comics
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
2.8
18
Bedeutende Künstler
In der Kunstgeschichte gibt es viele Künstler, die sich mit der Natur der
Zeichnung und generell mit der Natur der Linie auseinandersetzten. Da diese
aber eindeutig zu umfangreich für diese Diplomarbeit wären, habe ich mir
die Freiheit genommen, die Künstler herauszunehmen, die – meiner Meinung
nach – einen besonders großen Einfluss auf das Ansehen und die Verwendung
der Linie hatten und ihren Bezug dazu überblicksartig darzulegen. Leonardo
Da Vinci und Albrecht Dürer hatten ihrerseits einen großen Einfluss auf die
Akzeptanz und Anerkennung der Zeichnung als Kunstform in der Öffentlichkeit, während Pablo Picasso und Wassily Kandinsky in der Neuzeit durch
ihre extreme Form der Abstraktion den Stellenwert der Linie in der Kunst
verdeutlichten.
2.8.1
Leonardo Da Vinci
Leonardo Da Vinci (1452-1519) gilt durch seine weit gefächerten kulturellen
Interessen als Universalgenie. Bereits in der Renaissance wurde er deswegen
auch Uomo universale“ (Universalmensch) [19] genannt. Er betätigte sich
”
unter anderem als Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Kunsttheoretiker, Erfinder und sogar als Biologe und Mathematiker. Er ist einer der wenigen Künstler, von dem Skizzen und Zeichnungen, denen in der damaligen Zeit kaum
künstlerischer Wert beigemessen wurde, erhalten wurden. Viele seiner bildhauerischen Arbeiten und auch Erfindungen sind heute überhaupt nur noch
aus diesen Skizzen bekannt. Weiters gibt es noch diverse Kopf- und Aktstudien sowie diverse Landschaftszeichnungen, die meisten davon sind Teile seiner Notizen und wissenschaftlichen Untersuchen (siehe Abbildungen 2.14).
Besonders aus seinen anatomischen, biologischen und physikalischen Untersuchungen sind viele Zeichnungen in teilweise überraschend detailgetreuer
Ausführung erhalten, die sein großes Wissen auf all diesen vielfältigen Bereichen beweisen. Er zeichnete Skelette, Organe, einzelne Muskelstränge, sogar
Föten im Mutterleib, die mit ihrem Realismus beeindrucken. Leonardo perfektionierte den Umgang mit der Linie soweit, dass seine Zeichnungen den
Betrachter schon allein durch ihre Plastizität, Detailtreue und den Umgang
mit der Perspektive überzeugen (siehe Abbildung 2.13). Leonardos Zugang
zum Zeichnen entwickelte sich nachweislich aus der Kalligraphie, die damals – ganz im Gegensatz zur Zeichnung – als eigene Kunstform angesehen
wurde. Seine Spiegelschrift kann beispielsweise als brillantes, zeichnerisches
Meisterwerk bezeichnet werden [14] (siehe Abbildung 2.12).
Leonardo Da Vinci ließ sich, wie auch andere Renaissancekünstler, von
griechischen und römischen Kunstwerken inspirieren, was sich auch deutlich
in seinen Zeichnungen widerspiegelt. Mehr als die anderen verstand er sich
darauf, seinen Zeichnungen Tiefe zu verleihen. Er verwendete die Linie nicht
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
19
Abbildung 2.12: Kalligrafische Schrift von Leonardo Da Vinci [21].
Abbildung 2.13: Detailgetreue Zeichnung von Leonardo Da Vinci [21].
nur als Kontur, sondern verstand es auch, mit der Linie räumliche Tiefe
im Bild zu erzeugen. Dieser Naturalismus veränderte den gesamten Ruf der
Zeichnung: waren diese bis dahin nur Skizzen, spontane Entwürfe, so wurden sie dadurch zu einer neuen künstlerischen Disziplin. Im Gegensatz zu
den meisten anderen Künstlern seiner Zeit waren Zeichnungen für Leonardo
nicht nur Entwürfe oder Skizzen, sondern auch selbst Kunstwerke [19]. In
dieser Einstellung ähnelte er Alfred Dürer stark, beide trugen so maßgeblich zur Verbesserung des Rufes der Freihandzeichnung bei. Dadurch, dass
er auch von vielen seiner Zeitgenossen sehr geschätzt und gelobt wurde,
wurden glücklicherweise manche seiner Zeichnungen archiviert und gelten
heute als besondere Kostbarkeiten und Zeitdokumente. Da Vinci ist auch
einer der wenigen Künstler, von dem Skizzenbücher erhalten blieben (siehe
Abbildung 2.14).
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
(a)
20
(b)
Abbildung 2.14: Werke aus den Skizzenbüchern von Da Vinci [21].
2.8.2
Albrecht Dürer
Albrecht Dürer (1471-1528) war ein bekannter deutscher Maler, Zeichner
und Grafiker. Er interessierte sich besonders für die zeitgenössischen italienischen Kupferstiche, die ihn maßgeblich beeinflussten. Dürer war, trotz
bekannter Vorgänger wie zum Beispiel Schongauer, der Künstler, der die
Grafik als Kunstform dem klassischen Gemälde ebenbürtig machte. Seine
Kupferstiche und Holzschnitte waren der damaligen Zeit in Technik, Inhalt
und Form weit voraus. Dies bewirkte unter anderem auch, dass die italienischen Künstler, die er anfangs so bewundert hatte, sich nun ihrerseits an
Dürers Arbeiten orientierten [19].
Zwei seiner bekanntesten Kupferstiche sind Ritter, Tod und Teufel und
Der heilige Hieronymus im Gehäuse (Abbildung 2.15 7 ), die durch ihre besondere künstlerische Reife und hohe Qualität beeindrucken. An diesen sowie
beispielsweise auch an seinem Aquarell eines jungen Feldhasen kann man Dürers Umgang mit der Linie beobachten: durch feine Linien und Schraffuren
schafft er unterschiedlichste Strukturen, Oberflächen, gibt der Malerei Licht
und Schatten. Dadurch werden auch die Möglichkeiten, die der Einsatz der
Linie in jeder künstlerischen Tätigkeit bietet, verdeutlicht: allein durch unterschiedliche Linienstärke, Länge oder Dichte kann ein Gesamtkunstwerk
7
Bilder aus http://www.wyss-art.ch/images/kupferstich lg.jpg und http://www.unituebingen.de/mediaevistik/nachwuchsforum/hieronymus.jpg
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
(a)
21
(b)
Abbildung 2.15: (a) Ritter, Tod und Teufel“ und (b) Der heilige Hieroni”
”
mus im Gehäuse“ von Albrecht Dürer.
kreiert werden, dass keine großen Flächen besitzt. Gerade in Dürers Werken
wird deutlich, dass feine Linien eine extrem große Fülle an Details darstellen
können, die ansonsten, wenn sie mit Flächen realisiert würden, verwaschen
wirken könnten. Eine weitere Neuheit ist Dürers Einstellung zur Zeichnung:
er verwendet sie wie Da Vinci nicht nur als Vorlage für andere Arbeiten,
sondern sieht die Zeichnung selbst als das zu entstehende Kunstwerk. Kein
anderer Künstler seiner Zeit schuf so viele Handzeichnungen (tatsächlich
waren es um 900 Zeichnungen) wie er. Verantwortlich dafür war Dürers
Einstellung zur Kunst. Er verfolgte die Überzeugung, dass Gesetze und
”
Methode niemals die Spontaneität des Ausdrucks unterdrücken dürfen“ [19].
Die Vermutung liegt nahe, dass er durch seine Beschäftigung mit der Linie
im Kupferstich und anderen Druckverfahren auch weit offener für die Bedeutung der Linie in Skizzen und Handzeichnungen als seine Zeitgenossen
war und dass er deshalb diese auch als eigene künstlerische Ausdrucksform
betrachtete.
2.8.3
Pablo Picasso
Der spanische Maler, Grafiker und Bildhauer Pablo Picasso (1881-1973) gilt
als einer der bedeutendsten Künstler der Moderne und prägte die Kunst des
letzten Jahrhunderts maßgeblich. Nach seiner Blauen Periode“ und seiner
”
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
22
Rosa Periode“, wurden seine Bilder allmählich geometrischer und härter, er
”
arbeitete mit stärkeren Farben und einem dichteren Auftrag. Er begann die
Inhalte seiner Bilder immer mehr auf kubische und andere geometrische Formen zu reduzieren. Die Kubisten malten die Dinge nicht wie sie sie sahen“,
”
sondern wie sie sie dachten“ [16]. Picasso beschäftigte sich in dieser Phase
”
stark mit Farben, Flächen und auch der Verwendung von Linien. Doch Picasso widmete sich im Laufe seines Lebens nicht nur mit dem Kubismus,
er war auch ein großer Grafiker und Zeichner. Schon in seinen Anfängen
gab es euphorische Stimmen, die seine Zeichenkunst mit Leonardo Da Vinci
gleichsetzten, doch da Picasso nicht immer klassisch zeichnete – obwohl er
es durchaus gekonnt hätte – belächelten seine Kritiker diese Vergleiche. Picasso kümmerte dies nicht, er wollte seine Bilder rau, beunruhigend und
dramatisch [19]. Die oft harten Linien in seinen Malereien und Grafiken
unterstützen diesen Zugang, sie bringen ein zusätzliche Spannung ins Bild
(siehe Abbildung 2.16 8 ). Die Linien seiner Bilder sind breit und kantig, bilden harte Konturen und schaffen neue Flächen. Seine Zeichnungen sind ausgesprochen reduziert, beinahe schon kindlich und doch sind sie gleichzeitig
durch ihre dynamische Form ausgesprochen expressiv. Pablo Picasso bewies
seinen Kritikern, dass Perspektive und räumliche Tiefe nur einen Zugang zur
Kunst darstellen und dass seine zweidimensionalen, flächig-geometrischen
Werke einfach nur ein neuer, bis dato unbekannter Weg zur Erweckung von
Emotion war.
2.8.4
Wassily Kandinsky
Wassily Kandinsky war ein russischer Maler und Kunsttheoretiker, der jedoch nach seinem Jurastudium von Moskau nach München auswanderte, um
Malerei zu studieren. Kandinsky veröffentlichte 1912 sein kunstheoretisches
Buch Über das Geistige in der Kunst, in dem er sich mit der zunehmenden
Abstraktion von Motiven beschäftigte. Kurz davor hatte er sein erstes, vollständig abstraktes Aquarell gemalt, von dem man weiß, dass es eigentlich
Ritter und Pferd im Kampf darstellen soll. Gemeinsam mit seinen Freunden
Paul Klee, August Macke und Franz Marc gründete er 1911 den Blauen Reiter. Diese expressionistische Gruppierung machte es sich zur Aufgabe, die
bestehenden Grenzen des künstlerischen Ausdrucksvermögens zu erweitern
und zu einer neuen Bildwelt vorzudringen. Kandinsky war der Auffassung,
dass seine Bilder durch die fortgeschrittene Abstraktion und das Arbeiten
mit klaren Formen und Farben (z. B. im Gegensatz zu den früher beliebten
Darstellungen von religiösen Mythen, die für den Menschen heute keine Bedeutung mehr haben) allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein konnten. Intuitiv hatte er erkannt, dass erst durch die Ausschaltung des Bildgegenstandes die Farben und Formen ein eigenes Wesen entwickeln und so zum
8
Bild aus http://www.artnet.de/magazine/reviews/scheuermann/scheuermann05-1705 detail.asp?picnum=4
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
23
Abbildung 2.16: Aktzeichnung Pablo Picasso.
Ausdrucksinstrument von Emotionen und Empfindungen werden konnten.
Jede Farb- und Linienkonstellation in seinen Bildern hat eine beabsichtigte
Aussage und als einer der wenigen Maler ist die Linie für ihn nicht nur Kontur, sondern ein eigenes, aussagekräftiges Bildelement. Durch seinen Einsatz
sowohl in der Malerei als auch in der Kunsttheorie hat er so den Weg für
die absolute“ Malerei, eine Malerei befreit von gegenständlichen Vorgaben,
”
bereitet. 1926 veröffentlichte Kandinsky, der in dieser Phase eng mit dem
deutschen Bauhaus zusammenarbeitete, sein zweites Buch Punkt und Linie
zu Fläche, eine Analyse von Formelementen, Kompositionsmethoden und
deren innere Kräfte. Somit lieferte Kandinsky das Standardwerk schlechthin
für den Umgang mit der Linie. Darin schafft er den Gegensatz von Zeichnung
und Farbe endgültig ab und entwickelt so eine eigene, abstrakte Form. Mit
Hilfe dieser expressiven, ursprünglichen Geometrien komponiert“ er wie”
derum neue Formen. Seine Ansätze erinnern hierbei auch des öfteren an die
Studien Piet Mondrians, finden sich aber auch in seinen eigenen Werken
zur Zeit des Blauen Reiters wieder. Auch in seinen eigenen Bilder spielt die
Linie immer wieder eine große Rolle (siehe Abbildung 2.18) [19]. Die Schlangenlinie rechts im Bild könnte sowohl eine Anspielung auf das im Jugendstil
häufig gebrauchte Peitschenschnur“-Element sein, es wird aber vermutet,
”
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
24
Abbildung 2.17: Komposition VIII“ von Wassily Kandinsky [15].
”
dass es ein von Kandinsky entworfenes Chiffre für Pferd und Reiter ist, das
er schon in früheren Werken verwendete [20]. Dies wiederum verdeutlicht
die Vielfältigkeit der Linie an sich, da sie sowohl als eigenständiges Bildelement, als auch als Synonym für etwas radikal anderes verwendet werden
kann. Kandinsky baut in seinen Bildern durch Linien Spannung auf, lenkt
Blickrichtungen und manchmal verwendet er sie auch synonym für andere
Begriffe. Kandinskys Bilder waren somit zwar sehr abstrakt und geometrisch, aber trotz allem hatte er immer noch einen Bezug zu seinen Motiven.
Wassily Kandinsky hat durch seine Beschäftigung mit der Abstraktion und
geometrischen Darstellungsformen entscheidend dazu beigetragen, dass die
Linie heute nicht nur als notwendige Kontur einer Darstellung, sondern als
eigenständiges Bildelement behandelt wird (siehe Abbildung 2.17).
2.9
Aktuelle Tendenzen
Auch in zeitgenössischen grafischen und malerischen Werken findet sich die
Linie immer wieder als Stilelement. Vor allem in der Werbung zeigt sich momentan einen Trend zur Linie bzw. einen Trend zur Handzeichnung im Allgemeinen. Für diese überraschende Popularität der Linie gibt es verschiedene
Gründe: zum einen sind die technischen Neuerungen dafür verantwortlich, da
durch billige, leicht bedienbare Software mehr Menschen einen spielerischen
Zugang zur Animation finden und so ihre kreativen Ideen abseits des Einflusses von Industrie und Marketing einbringen. Über entsprechende Foren und
Portale im Internet verteilen sich dann diese Home-Made“-Animationen
”
und beeinflussen auch die Industrie, welche dann ihrerseits für das Setzen von
Trends verantwortlich ist. Durch diese Entwicklungen in der Technik (z. B.
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
25
Abbildung 2.18: Rot-Gelb-Blau“ von Wassily Kandinsky [15].
”
Grafiktabletts, Animationssoftware, usw.) ist die Erstellung von Animationen an sich, aber auch von Animationen mit handgezeichnetem Charakter
viel einfacher und somit auch für eine breitere Masse zugänglich geworden.
Weiters ist auffallend, dass momentan ornamentale Verzierungen und Ver”
schnörkelungen“ gerade ausgesprochen beliebt sind. Dies mag auch daran
liegen, dass es bis vor nicht allzu langer Zeit einen Hang zum sehr geometrischen, schnörkellosen Design gab. Wie es in der Kunst schon immer der Fall
war, lösten sich derartige Trends immer wieder gegenseitig ab, nach einer
Zeit der geradlinigen Zurückhaltung folgte dann wieder eine Rückkehr zur
opulenten Verzierung und umgekehrt. Natürlich ist eine solche Popularität,
wie sie die Linie unlängst erfahren hat, immer ein zeitlich begrenztes Phänomen, wie jeder Trend. Nichtsdestotrotz ist die Linie aus Malerei und Grafik
auch heute nicht wegzudenken, ob nun in geometrischen oder verspielten
Kompositionen.
Ein aktuelles Beispiel für die Verwendung der Linie in der Grafik ist die
Werbung der Firma Musicload, bei der mit handgezeichneten Schriftzeichen
gearbeitet wird [13] (siehe Abbildungen 2.19).
Die eigentlich geradlinigen, farblich wenig aufdringlichen Plakate bekommen durch die handgezeichneten Elemente eine verspielte, moderne Note.
Die Schriftarten der Handzeichnungen (insbesondere das M“ in Musik“,
”
”
siehe Abbildung 2.9) erinnern zum Beispiel im rechten Bild an das Logo
der Metal-Band Metallica, was einen noch größeren Bezug zur Welt der
angesprochenen Zielgruppe erwirkt. Durch die natürliche Unregelmäßigkeit
einer Handzeichnung wirkt es zusätzlich noch glaubhafter, als wenn diese
beabsichtigte Ähnlichkeit durch computergenerierte Fonts erzielt worden
wäre. Jeder Mensch hat schon einmal aus purer Langeweile eine Werbung
übermalt, hat den Models eine andere Lippenstiftfarbe verpasst, dem bra-
KAPITEL 2. DIE LINIE IM UNBEWEGTEN BILD
26
Abbildung 2.19: Werbekampagne von Musicload [13].
ven Buchhalter ein Lippenpiercing oder dem glatzköpfigen Metaller Heidi“”
Zöpfchen. Genau dieses Prinzip verfolgt auch diese Werbung, mit dem Unterschied, dass die realen und handgzeichneten Elemente natürlich penibel
aufeinander abgestimmt wurden, um die Werbebotschaft zu transportieren.
Trotzdem fühlt sich der Betrachter durch die Bilder automatisch angesprochen, weil er sich mit den Zeichnungen identifizieren kann, da er meist selbst
schon einmal derartige Ornamente oder Verzierungen zu Papier gebracht
hat. Durch die Linie kann eine natürliche Lebendigkeit vermittelt werden,
ohne die das Plakat allein eher langweilig wirken würde.
Kapitel 3
Entwicklung der Linie im
Bewegtbild
In diesem Abschnitt der Diplomarbeit soll im Gegensatz zum vorangegangenen die Linie in bewegten Bilder, also im Animationsfilm behandelt werden.
Da die Linie auch schon in der Zeichnung, Comic und Karikatur eine große
Rolle spielte, ist es eine logische Schlussfolgerung, dass sie auch die gezeichnete Animation stark beeinflusst hat. Dieses Kapitel soll einen Überblick
über die Linie in der Entwicklung der Animation vom simplen Daumenkino
bis hin zu namhaften Produktionsstudios wie UPA geben.
3.1
Frühe Animationen
Eine sehr frühe, aber beliebte Form der Animation ist das Daumenkino
(auch genannt Flip Books“ oder Flipper Books“). 1868 erschien es zum
”
”
ersten Mal als Weltneuheit und begeisterte Erwachsene und ganz besonders
Kinder. Das Daumenkino ist eine sehr simple Form der Animation: auf beliebig viele Seiten werden sequentielle Zeichnungen (jede Zeichnung darf nur
geringfügig anders sein als die vorhergehende, um eine flüssige Bewegung
erzeugen zu können) von hinten nach vorne aufgebracht, die Seiten werden
an einem der Ränder gebunden wie ein Buch und können dann mit dem
Daumen durchgeblättert werden (siehe Abbildung 3.1). Durch das schnelle
Umblättern wird dem trägen menschlichen Auge eine Bewegung vorgegaukelt [22]. Wenn man die einzelnen Bilder eines Daumenkinos abfotografiert
und anschließend zusammengesetzt würde, erhielte man einen ganz klassischen Animationsfilm. Mit diesem Prinzip haben auch Animatoren lange
Zeit gearbeitet: der Animator legt seine Zeichnungen auf einen Stoß übereinander und blättert sie dann mit dem Daumen durch. So kann er einfach
überprüfen, ob augenscheinliche Fehler in der Sequenz gemacht wurden, ob
die Bewegung flüssig wirkt und wie lange die Animation ungefähr in der finalen Version dauern wird [18]. Gerade im Daumenkino werden bis heute sehr
27
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
28
Abbildung 3.1: Daumenkino [11].
gerne einfache Linienzeichnungen wie zum Beispiel Strichmännchen verwendet, da diese relativ schnell gezeichnet werden können und dabei trotzdem
eine glaubhafte Bewegung erzeugen. Natürlich können auch im Daumenkino
andere Formen als die Linienzeichnung verwendet werden, doch wie in vielen
anderen frühen Formen der Animation auch, ist die einfache Strichzeichnung
noch immer sehr beliebt [18].
Doch auch andere frühe Formen der Animation beschäftigten sich mit der
Liniezeichnung. Schon 1886, als die Animation noch in ihren Kinderschuhen
steckte, experimentierte Thomas Edison bereits mit bewegten Bildern [22].
Edison wurde damals von einem New Yorker Zeitungscartoonisten namens
James Stuart Blackton interviewt. Dieser fertigte während des Interviews
ein paar Skizzen von Edison an, welcher beeindruckt von den schnellen,
kunstfertigen Zeichnungen war. Edison bat ihn ein paar weitere Sequenzen
zu zeichnen und fotografierte diese dann ab. 1906 veröffentlichten die beiden
schlussendlich ihren Kurzfilm Humorous Phases of Funny Faces, für den
Blackton über 3000 Zeichnungen angefertigt hatte (siehe Abbildung 3.2).
Da er Cartoonist war, arbeiteten die beiden mit linienhaften Charakteren –
abgesehen davon hat er sich dadurch wohl auch sehr viel Arbeit mit dem
Colorieren erspart. Die beiden wurden so zu den Urvätern des animierten
Cartoons und der kurze Sketch wurde durch seinen Humor ein Publikumshit.
1907 kam Emile Cohl [12] in Kontakt mit dem Kino und produzierte im
Anschluss seinen ersten Animationsfilm in Paris. Die Figuren waren zwar
kindlicher Natur und bestanden aus weißen Linien auf schwarzem Grund,
aber die Story war anspruchsvoll (siehe Abbildung 3.2). Er verlieh sogar
leblosen Gegenständen Bewegung, Intelligenz, Gefühle und Stimmungen und
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
(a)
29
(b)
Abbildung 3.2: (a) Humorous Phases of Funny Faces und (b) Emile Cohl
[12].
prägte so einen der wichtigsten Grundsätze der Animation [22, S.16]:
Mach nicht, was du auch mit einer Kamera machen kannst –
”
mach das, was eine Kamera nicht kann!“
1911 veröffentlichte Windsor McCay, der Schöpfer der Little Nemo in
Slumberland Comicstrips, ebenfalls einen Film, in dem er seine Hauptfigur
Nemo durch 4000 Zeichnungen zum Leben erweckte. 1914 zeichnete er dann
seinen bekanntesten Kurzfilm Gertie the Dinosaur (siehe Abbildung 3.3).
Damals trat er sogar live im Kino auf und bot dem Tier auf der Leinwand
einen Apfel an. Tatsächlich war die Animation so gezeichnet, dass Gertie
den Hals senkte und den Apfel scheinbar verspeiste. Der Kurzfilm wurde
zur Sensation, wohl auch deswegen, weil zum ersten Mal einer Cartoonfigur
Persönlichkeit eingehaucht wurde [22]. All diese frühen Animationen haben
eines gemeinsam: die Charaktere und Hintergründe bestehen meist aus Linienzeichnungen ohne farbige Füllung. Damals war dies aber nicht nur ein
Stilmittel, sondern eine Notwendigkeit. Da die Trickfilmsequenzen meist aus
der Feder nur einer Person stammten und dieser Tausende von Zeichnungen
anfertigen musste, konnte dadurch Zeit und Arbeitsaufwand gespart werden.
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
30
Abbildung 3.3: Gertie the Dinosaur von Windsor McCay [12].
3.2
Pencil Tests
Ein traditioneller Pencil Test (dts. Pinseltest“) überprüft eine Animations”
sequenz immer wieder während der Produktion auf ihre Qualität. So konnten
die Animatoren überprüfen, ob die Bewegungen flüssig und fehlerlos waren
und ob der gesamte Zeichenstil passend war, bevor die Zeichnungen auf das
teure transparente Acetat gedruckt wurden. Hierfür wurden die bis dato nur
auf normalem Papier angefertigten Zeichnungen abfotografiert und in kurze
Filmsequenzen zusammengesetzt. Durch diese Technik konnten Produktionsfirmen fehlerhafte Animationen vorab einsehen und verändern, ohne Geld
für nicht mehr verwendbare Cels zu verlieren. Heute kommen viele Animatoren ganz bewusst nicht mehr über dieses Stadium hinaus, da sich aus den
Pencil Test die Linienanimation herausgebildet hat [18]. Die Zeichner bleiben oft bei einem relativ reduzierten, einfachen Artwork (also beispielsweise
simple Strichmännchen) aus dem anschließend die Animationen produziert
werden. Wurde diese Art der Animation ursprünglich nur zum Testen verwendet, so hat sie sich heute weiter zu einer eigenen Form der Animation
weiterentwickelt. Die Bewegungen dieser Animationen sind aber nicht notgedrungen roh und unausgegoren, die Zeichner haben nur durch die Reduktion
der Motive und dem Wegfallen der farbigen Füllung einen anderen Weg gefunden, um Zeit einzusparen und ihren Zeichnungen durch die verwendeten
Linien größtmögliche Ausdrucksstärke zu verleihen (siehe Abbildungen 3.4
1 ).
1
Bilder
(a)
aus
http://www.millan.net/olaf/olafp.gif,
Bild
http://www.geocities.com/amy paulsons official site/AnimationTest.gif.
(b)
aus
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
(a)
31
(b)
Abbildung 3.4: Penciltests
3.3
Produktionsstätten
Für die Verwendung der Linie und von linienhaften Charakteren im Film
gab es ein kommerziell erfolgreiches Produktionsstudio, dass durch seine
Innovationen nach seiner Gründung 1944 ein neues Zeitalter der Animation
einläutete: UPA (United Productions of America). Man wollte bewusst einen
Konterpart zu traditionellen Animationsstudios wie Disney einnehmen und
begann Themen und auch Optik der Cartoons stark zu verändern. War in
den ersten Jahrzehnten der Animation noch die Magie“ ein nicht wegzuden”
kender Faktor im Trickfilm, so verlor diese plötzlich an Bedeutung und auch
die Animation begann sich mit realeren, kritischeren Themen zu befassen.
Das relativ kleine, aber innovative Studio UPA [12] fand hier einen neuen
Zugang zum Cartoon, abseits von halsbrecherischen Verfolgungsjagden und
Tortenschlachten wurde ein rastloser, beinahe neurotischer Humor entwickelt, der Verwandtschaft zu Comic Magazinen wie MAD aufwies. Neben
den Veränderungen an den Geschichten selbst, entwickelte UPA einen unverwechselbaren Stil. Entgegen der klassischen Animation mit ihren runden
Formen und Bewegungen (O-Style), brachte UPA vor allem durch die Arbeit
von John Hubley einen neuen Look hervor: die Farbe überlappte auf einmal
die Konturen und wurde als eigenes Stilmittel verwendet, Linienzeichnungen wurden nicht mehr ausgefüllt, die Figuren waren absichtlich flach und
zweidimensional, die Formen kantig, schräg und eckig. Hintergründe waren
oft nur noch rohe Skizzen oder farbige Flächen und erhielten durch diese
extreme Reduzierung oft einen surrealen Einschlag. Hubley gehorchte so der
Bildsprache weitaus mehr als den traditionellen Regeln des Erzählens und
erschuf so einen neuen künstlerischen Zugang zur Animation, der von der
Unmittelbarkeit der Malerei, wie sie beispielsweise beim Action Painting
zum Ausdruck gebracht wurde, beeinflusst wurde. Optisch erinnerten die
Animationen stark an die klaren, stark strukturierten Malereien von Ma-
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
32
tisse, Klee und Picasso. UPA sprach so der Zeichnung selbst eine tragende
Rolle bei der Aussage einer Animation zu. Durch die reduzierten Formen, die
oftmalige Wiederverwendung von Bewegungszyklen und der künstlerischen
Bildsprache, nannte man diese stilistische Form bald Limited Animation
(siehe auch Kapitel 6.1.2), welche für die damalige Zeit eine ausgesprochen
innovative Stilrichtung darstellte. Die Limited Animation hatte aber auch
viele Kritiker, da die Anhänger der traditionellen Full Animation eben diese
reduzierte Darstellung als fehlendes Talent und Inkompetenz deuteten. Doch
UPA hatte mit diesem Animationsstil eine Vorreiterrolle eingenommen, da
sie die Animation nicht nur mehr für komödiantische Themen, sondern auch
für grafische und bildhafte Forschung nach Themen, Stilen und Genres kommerziell zugänglich machte. Dadurch stellen sie bis heute die Pioniere der
Kunstanimation dar. Heute existieren Full und Limited Animation nebeneinander und finden beide immer wieder ihren Einsatz [12].
Nach frühen Produktionen wie Robin Hoodlum (1948) und The Magic
Fluke (1949), in denen bereits die typischen stilisierten Zeichnungen verwendet wurden, hatte der wohl bekannteste Charakter von UPA sein Leinwanddebut in Ragtime Bear (1949): Mr. Magoo. Hier zeigte sich bereits,
dass UPA einen diffizileren Zugang zu seinen Figuren pflegte als andere Studios. Mr. Magoo (siehe Abbildung 3.5) war keine heldenhafte Figur, vielmehr erregte er durch seine Tolpatischigkeit und schlimme Fehlsichtigkeit
das Mitleid des Zusehers. Eine visuell besonders interessante UPA Produktion ist zweifelsohne Gerald McBoing Boing (1951) (siehe Abbildung 3.5).
Diese Animation erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, welcher der
Sprache nicht mächtig ist und sich deshalb mit Geräuschen (Boing! Boing!)
verständlich macht. Hier wird deutlich, dass die Linie als Stilmittel für
UPA´s (Kunst)Animationen bereits eine große Rolle spielt. Linie und Fläche
sind gleichwertige zeichnerische Stilmittel und bestimmen das Aussehen der
Zeichnungen. Die Linie soll vor allem in den Hintergrundelementen als rohe
Skizze das Motiv verständlich machen, ohne unnötige Details darstellen zu
müssen. Auch nach diesen bekannten Filmen bringt UPA neue Ansätze in die
Animation, wie zum Beispiel Unicorn in the Gardens (1953), einer der wohl
elitärsten amerikanischen Cartoons, oder auch eine Verfilmung von Edgar
Allen Poe´s The Tell-Tale Heart (1953), das als erster animierter Horrorfilm gilt. UPA hat somit mit einer präzisen Verbindung zwischen Humor,
Zeichnung und Animation die kommerzielle Trickfilmproduktion nachhaltig
beeinflusst [12].
Auch andere Produktionen begannen sich nach dem überraschenden Erfolg der neuen stilistischen Linie von UPA mit der Limited Animation zu befassen. Der Stil wurde zwar oft kopiert, vor allem in Verbindung mit Slapstick
Filmen, bei denen man auf eine schnellere, Produktion und Kostenersparnis hoffte, aber nicht immer wurden seine Möglichkeiten verstanden und voll
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
(a)
33
(b)
Abbildung 3.5: (a)Mr.Magoo und (b)Gerald Mcboing Boing von UPA [12]
Abbildung 3.6: Das oskarprämierte Toot, Whistle, Plunk and Boom von
Disney.
ausgeschöpft. Doch sogar das extrem traditionelle Produktionsstudio Disney
begann sich für den von UPA entwickelten Stil zu interessieren und brachte
1954 Toot, Whistle, Plunk and Bloom (Abbildung 3.6 2 ) auf den Markt,
das sogar einen Oskar gewann. Sogar Chuck Jones, der berühmte Zeichner
von Bugs Bunny und den Looney Toons bei Warner Bros. beschäftigte sich
1960 in seinem oskarnominierten Kurzfilm High Notes(siehe Abbildung), bei
denen die Figuren lediglich als einzelne Noten dargestellt wurden, mit der
reduzierten Limited Animation [12].
Auch Terrytoons, die sich beispielsweise für die beiden Krähen Heckle
2
aus http://home.comcast.net/ wardomatic2/stringsdrums-lg.jpg.
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
34
und Jeckle verantwortlich zeichneten, änderten den Stil des Produktionsstudios, vernachlässigten bereits bestehende Charaktere und stellten Gene
Deitch ein, der bereits bei UPA ausgebildet worden war. Dieser verfolgte
einen noch extremer reduzierten Stil als UPA selbst, was z.B. bei Flebus
(1955) ersichtlich wird. Nach einigen Produktionen wie Another Day, Another Doormat, The Juggle of a Lady und Sidney the Elephant wird Deitch
von Bill Weiss ersetzt, da er dem Studio zu fortschrittlich war. Auch MGM
orientiert sich mit Tex Avery an den Neuerungen in der Animation. Kritiker
bezeichnen diese Produktionen als äußerst anti-Disney, surreal und gewälttätig, aber Avery hatte ursprünglich bei ihnen gelernt und ihren Stil vervollständigt. Seine Charaktere waren somit nicht nur graphisch interessant,
sondern auch geborene“ Schauspieler [12].
”
Doch nicht nur die großen, kommerziellen Produktionsfirmen beschäftigten sich mit der Limited Animation und somit auch mit der Animation von
Linien. Schon viel früher, allerdings ohne kommerziellen Einfluss und somit
auch ohne größere Bekanntheit, experimentieren einzelne Künstler mit dieser
Art der Animation. An der amerikanischen Westküste bildet sich zum Beispiel über spirituelle Ansätze und den Einfluss der europäischen Surrealisten
ein neuer Zugang. Diese Filmemacher kapseln sich von der Hollywoodmaschinerie ab und veranstalten das Arts of Cinema Festival. Bekannte Vertreter
dieser Linie waren Harry Smith, dessen direkt auf Film gemalte Animationen sehr grafisch-expressiv und dynamisch waren, Hy Hirsch, der sich dem
Avantgarde Kino zuwandte und ebenfalls graphisch sehr reduzierte Arbeiten produzierte und Jordan Belson. Letzterer machte neben experimentellen
Animationen auf Papierrollen auch direkte Zeichnungen auf Film und war
von 1957-59 Direktor der Vortex Concerts, bei denen elektronische Musik
und abstrakte Bilder zeitgleich präsentiert wurden. Viele seiner Arbeiten
beschäftigten sich ebenfalls mit der Musikvisualisierung. Seine Werke Allures (1961) (siehe Abbildung 3.7) und Raga (1959) arbeiten sehr illustrativ
und dekorativ, er zeigt dynamische Figuren von Sternen und Molekülen, die
auf linienhafte Formen reduziert sind [12].
Auch in Europa findet die Limited Animation vor allem im Kunstbereich ihre Anhänger. Der Deutsche Herbert Seggelcke zeichnete sein StrichPunkt-Balett direkt auf Film (siehe Abbildung), doch schon bald darauf
wurden diese Zeichnungen und Animationen von den Nazis als entartete
Kunst verboten. Auch in Finnland regten sich nach Ende des Naziregimes
begabte Animatoren, unter ihnen der Maler, Zeichner und Bildhauer Eino
Ruutsalo [12], der seine linienhaften Charaktere direkt auf bereits bestehendes Filmmaterial zeichnete (siehe Abbildungen 3.8). In Jugoslawien schrieb
die Zagreb School [12] Animationsgeschichte. Besonders in ihrer ersten Ära
(1957-64), die von einheimischen Größen wie Vlado Kristl, Dusan Vukolic
und Vatroslav Mimica dominiert wurden, zeigen die jugoslawischen Trick-
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
35
Abbildung 3.7: Allures von Jordan Belson [12].
(a)
(b)
Abbildung 3.8: Zeichnungen auf Film von Eino Ruutsalo [12].
filme ihre ganz eigene Form der Limited Animation in einem collagenartigen
Stil mit breiten Linien und starken Flächen. Auch inhaltlich wird es zum
Markenzeichen der Zagreb School sich anstatt mit humorigen Episoden mit
dem Horror des Lebens und des Alltags zu beschäftigen, was die typisch düstere Stimmung dieser Animationen ausmacht (siehe Abbildungen 3.9) [12].
In der Türkei wurde zum wiederholten Male der Zusammenhang zwischen Kalligraphie und Zeichnung durch den Animationsfilm How the Boat
of Belief Proceeded (1972) von Tonguc Yasar [12] deutlich gemacht (siehe
Abbildungen 3.10). Die graphischen Zeichnungen bestehen ausschließlich
aus den Buchstaben des türkischen Alphabets, welches heute nicht mehr gebräuchlich ist.
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
36
Abbildung 3.9: Werke der Zagreb School [12].
Abbildung 3.10: How the boat of belief proceeded von Tonguc Yasar [12].
Bis zum heutigen Tage gibt es viele Beispiele von Künstlern und Filmen,
die sich mit der Limited Animation und mit der Verwendung der Linie im
Speziellen beschäftigt haben, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen
würden. Durch die bereits genannten Studios und Solokünstler sollte lediglich ein Überblick über die Entwicklung der linienhaften Animation gegeben
werden.
3.4
Aktuelle Animationen
Auch in der Musikvisualisierung und dem Musikvideo sind animierte Linien
immer gern in Verwendung. Schon in den Anfängen der Animation beschäftigten sich Künstler mit den Zusammenhängen zwischen Musik und Bild.
Viking Eggeling, 1880 in Schweden geboren, beschäftigte sich mit visueller
”
Musik“. Seine bekanntesten Werke, das Horizontal-Vertikal-Orchester (Abb.
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
37
Abbildung 3.11: Horizontal-Vertikal-Orchester von Viking Eggeling [12].
3.11) und die Diagonale Symphonie, sind starke graphische Zeichnungen auf
schwarzem Grund, die sich mit der Metamorphose von abstrakten Formen in
einem musikalischen Rhythmus beschäftigen. Der bekannteste Vertreter der
Musikvisualisierung ist und bleibt jedoch das deutsche Universalgenie Oskar
Fischinger (siehe auch Kap. 5.1.1) Schon in seinen frühen Werken war es
ihm ein Anliegen Klarheit in seine Aussagen zu bringen, was wohl der erste
Schritt für die immer stärkere Abstraktion und Reduktion von Formen und
Farben war. Fischinger könnte somit als der Urvater“ des abstrakten Mu”
sikvideos bezeichnet werden.
Neben den traditionellen Animationen finden seit den 80er Jahren aber
auch immer mehr Linienanimationen ihren Weg in die Musikvideos. Neben
der klassischen gezeichneten Animation von Charakteren, wie zum Beispiel
bei norwegische Popgruppe AHA mit ihrem Video zu Take On Me oder
die Engländer von den Charlatans mit Try Again Today (siehe Abbildung
3.12), gibt es auch immer abstraktere Videos, von linienhaften Charakteren
(z.B. Pinback mit Fortress), Hintergründen (Beck mit E-Pro, siehe Abbildung 3.13) bis zu ornamentalen Linien, die sich in ständiger Metamorphose
befinden (z.B. Funkstörung mit Punk Motherfucker (siehe Abbildung 3.14)
oder auch das bereits genannte Charlatans Video zu Try Again Today, welches sowohl Charaktere als auch abstrakte Linien vereint). Die Linie ist im
Animationsvideo zum gern gesehenen Stilmittel geworden und findet vor allem in künstlerisch wertvollen Produktionen immer wieder einen Platz. Eine
genauere Analyse der Videos von AHA und Pinback finden sich in Kapitel 5.
In der Werbung ist die Linie heutzutage ein beliebtes Stilmittel, um Animationen um graphische Elemente zu erweitern. Viele Realvideoaufnahmen
werden dabei von ornamentalen Linien überlagert, um zusätzliche Spannung im Bild zu erzeugen oder Zusatzinformationen abzubilden). Auch die
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
Abbildung 3.12: Screencaps aus dem Charlatans-Video Try Again Today.
Abbildung 3.13: E-Pro von Beck.
Abbildung 3.14: Screencaps aus dem Funkstörung-Video Punk Motherfucker.
38
KAPITEL 3. DIE LINIE IM BEWEGTEN BILD
39
letzte Werbekampagne von Microsoft arbeitete mit Linien, sogar mit linienhaften Charakteren (siehe Abbildungen). Diese animierten Linien wurden
immer dann eingesetzt, wenn dem Betrachter vermittelt werden sollte, welche Möglichkeiten ihm durch die Software von Microsoft geboten werden
können. Eine genauere Betrachtung der Microsoft Kampagne findet sich im
Abschnitt 7.4.3.
Kapitel 4
Gestalterische Komponenten
der animierten Linie
Schon Wassily Kandinsky kritisierte in seiner Veröffentlichung Punkt und
Linie zu Fläche, dass die abstrakte Linie von vielen Kunsttheoretikern nicht
auch als Grundelement der Malerei sondern nur der Grafik verstanden wurde
[17, S.126].
“Die Linie wird hier als ein graphisches“ Element taxiert, das bei
”
malerischen“ Absichten nicht verwendet werden darf, obwohl ein
”
Wesensunterschied zwischen Grafik“ und Malerei“ nicht gefun”
”
den werden kann, und also auch von den erwähnten Theoretikern
nie aufgestellt werden konnte.“
Heute muss die Linie glücklicherweise nicht mehr um ihre Akzeptanz in
der Kunst kämpfen. Auch in modernen Animationen erfreut sie sich zur Zeit
größter Beliebtheit, ganz besonders in ihrer abstrakten Form. Die Linie kann
gerade wegen ihrer Einfachheit und ihrer Abstraktion durch geringfügige
Veränderungen in ihrem Design in ihrer Wirkung sehr stark verändert werden, was wohl auch ihre momentan gehäufte Verwendung erklären könnte.
Wie sich diese Attribute nennen und welche Wirkung sie auf eine Linie
ausüben, soll in diesem Kapitel behandelt werden. Weiters sollen die verschiedenen Liniengrundformen vorgestellt werden, aus denen sich eine Linie
zusammensetzen kann. Dieser Abschnitt basiert vor allem auf den theoretischen Erkenntnissen und Aussagen von Wassily Kandinsky, soweit seine
Ausführungen nicht zu sehr ins Detail gehen und ich mich mit seinen Theorien identifizieren kann.
40
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
41
Abbildung 4.1: Gerade Linien.
4.1
Linienformen
4.1.1
Gerade Linien
Eine Gerade entsteht, wenn ein Punkt von einer von außen kommenden
Kraft in eine beliebige Richtung bewegt wird, die unveränderlich bleibt
und ins Unendliche läuft. Die Gerade stellt laut Wassily Kandinsky die
”
knappste Form der unendlichen Bewegungsmöglichkeiten“ dar. Er teilt den
Begriff Bewegung in zwei Subtermini ein: Spannung – die einem Element
innewohnende Kraft und Richtung. Durch diese Unterscheidung macht er
eine genaue Einteilung bestimmter Linienformen möglich: die Horizontale,
die knappste Form der unendlichen kalten Bewegungsmöglichkeit“, die Ver”
tikale, die knappste Form der unendlichen warmen Bewegungsmöglichkeit“
”
und die Diagonale, die knappste Form der unendlichen kaltwarmen Bewe”
gungsmöglichkeit“ [17]. Bei allen übrigen diagonalartigen Linien, auch freie
”
Geraden“ genannt, wird nie ein Gleichgewicht zwischen Wärme und Kälte
hergestellt, was sie auch von der klassischen Diagonale unterscheidet (siehe
Abbildung 4.1).
Auch die eckigen Linien werden bei Kandinsky als Unterform der Gerade behandelt. Die einfachsten Formen entstehen, wenn zwei Kräfte durch
einen einmaligen Stoß auf eine Linie einwirken. Dies bewirkt gleichzeitig
auch den größten Unterschied zur Geraden: die Eckige hat bereits eine viel
größere Verbindung zur Fläche, sie wird zur Brücke einer entstehenden Flä-
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
42
che. Verschiedenheiten zwischen den Eckigen entstehen durch Unterschiede
im Winkelmaß sowie im Längenmaß der einzelnen Bruchstücke. Kandinsky
entlehnt Begriffe aus der Musik und leitet nach dem Winkelmaß einer Eckigen unterschiedliche Klänge ab [17]:
• Das Kalte und Beherrschte (rechter Winkel)
• Das Scharfe und Höchstaktive (spitzer Winkel)
• Das Unbeholfene, Schwache und Passive (stumpfer Winkel)
Eine mehrfach eckige Linie entsteht, wenn zwei Kräfte stoßweise und abwechselnd auf einen Punkt einwirken. Die entstehenden Eckigen, die auch
als Zickzacklinien“ bezeichnet werden, unterscheidet man dann anhand der
”
Länger ihrer Bruchteile und der Kombination ihrer unterschiedlichen Winkel.
Gerade, geometrische Linien sind besonders beliebt in der Verwendung für
Musikvisualisierungen. Heute werden diese Linien meist prozedural angelegt,
früher wurden auch sie handgezeichnet. Ein besonders gutes Beispiel für die
Verwendung von abstrakten Geraden sind die Werke von Oskar Fischinger
(siehe auch Kap. 5.1.1).
4.1.2
Gebogene Linien
Der zweite, elementare Typ Linie ist die Gebogene: sie entsteht, wenn zwei
Kräfte eine Wirkung auf einen Punkt ausüben, so dass immer eine Kraft die
andere in ihrem Druck überbietet. Diese Linie nennt man eine einfache Gebogene [17]. Eigentlich ist auch sie eine Gerade, aber durch den Druck dieser
Kräfte entstand eine Spannung und sie wurde in eine bestimmte Richtung
abgelenkt. Je größer diese Spannung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Linie sich selbst abschließen, also einen Kreis, die stabilste
Fläche, bilden will. Wenn diese Kräfte nämlich permanent auf einen Punkt
einwirken, so gelangt die Gebogene irgendwann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück (siehe Abbildung 4.2).
Manlio Brusatin beschreibt diese Linienart folgendermaßen [14, S.9–10]:
Es besteht kein Zweifel, dass die gebogene Linie schöner sein
”
kann als die Gerade, wenngleich diese Gabe auch ein Fluch sein
kann. Darum sehnt sich die Kurve nach weiterer Vollendung, die
sie im Kreis findet: diesem ist die Niederlage der Gerade eingeschrieben, die wie ein Uhrzeiger zum Durchmessen eines gekrümmten Horizonts gezwungen ist und ihre starre Konventionalität verlassen muss. So entsteht der Kreis als Rad oder Ser-
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
43
Abbildung 4.2: Gebogene Linie.
pentine der Zeit, die dort beginnt, wo sie endet, aber eines Mittelpunkts und einer Gerade bedarf, um gekrümmte wie gerade
Flächen zu überwinden. So entstand aus der gekrümmten Linie
das Rad, das Hand und Fuß so vieler unbeseelter und phantastischer Wesenheiten geworden ist. Die Linien, Maß und Richtung
aller Dinge, werden Umriss, Kontur, Profil.“
Brusatin ist also der Meinung, dass erst aus der gebogenen Linie die Zeichnung, also Kontur, Umriss und Profil“, entstehen können. Sie ist also die
”
Grundlage der gesamten Zeichenkunst und auch der handgezeichneten Animation (siehe auch Abschnitt 6.1.
Der Unterschied zwischen einer Geraden und einer Gebogenen liegt also
vor allem in der Spannung. Obwohl der gebogenen Linie der Winkel fehlt,
besitzt sie eine noch größere Kraft, die aber durch das Fehlen der Ecken
nicht so aggressiv auf den Betrachter wirkt. Ein weiterer Unterschied ist die
Tatsache, dass auch die Gebogene den Kern einer Fläche angibt (was eine
Gerade naturgemäß nicht kann). Die Gerade und die Gebogene bilden somit
das ursprünglich-gegensätzliche Linienpaar“ [17].
”
Variationsmöglichkeiten der gebogenen Linie ist die komplizierte Gebogene
(Wellenartige). Sie kann aus geometrischen Zirkelteilen, freien Teilen oder
Kombinationen der beiden bestehen und deckt somit jede mögliche gebogene Linie ab. Eine weiter Möglichkeit zur Veränderung der Linie ist der
Liniennachdruck. Dies wird vor allem in Abbildung 4.3 deutlich. Durch den
veränderten Nachdruck bekommt die abgebildete Gebogene ein völlig verändertes Richtungsverhalten.
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
44
Abbildung 4.3: Richtungswirkung der Gebogenen.
4.1.3
Kombinierte Linien
Die dritte und letzte Liniengrundart ist eine Kombination der Geraden und
der Gebogenen, deshalb wird sie auch die Kombinierte genannt. Ihre Aussage
und ihr Charakter wird bestimmt durch ihre einzelnen Bruchteile. Sie ist
eine [17]:
• Geometrischkombinierte, wenn sie ausschließlich aus geometrischen Teilen besteht
• Gemischtkombinierte, wenn sich an geometrische Teile freie anschließen
• Freikombinierte, wenn sie sich ausschließlich aus freien Linien zusammensetzt
Ganz abgesehen von den unterschiedlichen charakterlichen Eigenschaften der Linie, setzt sich auch immer noch eine weiter Eigenschaft deutlich fest: die Kraft selbst. Durch welche Kraft die Linie auch erzeugt wurde
(z.B. ein Pinselstrich, ein Lineal), es bleibt immer ein lebendiger Teil selbst
in der entstehenden Linie vorhanden. Daraus schließt Kandinsky, dass die
Komposition nichts weiter als eine exakt-gesetzmäßige Organisierung der in
”
Form von Spannungen in den Elementen eingeschlossenen lebendigen Kräfte“
ist [17, S.100].
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
4.2
4.2.1
45
Graphische Gestaltung der Linie
Linienstärke
Die Stärke einer Linie hat einen starken Einfluss auf ihre optische Wirkung.
Eine besonders dicke Linie wirkt schwerer und zieht den Blick des Betrachter schneller auf sich als eine dünne. Da die Grenze zwischen Linie und
Fläche sehr fließend ist, stellen sich einige Fragen: Wann ist eine Linie so
breit, dass sie schon eigentlich wieder eine Fläche ist? Wie breit darf der
Ausgangspunkt also maximal sein? Bilden die äußeren Kanten einer Linie
nicht schon wieder eine Fläche? (siehe auch Abschnitt 4.4) Fakt ist, dass
eine breite Linie, also eine flächigere Darstellung, mehr Aufmerksamkeit auf
sich zieht als eine sehr feine Linie. Sie hat eine schwerere, dominantere Wirkung im Bild. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der graphischen Gestaltung
ist eine Veränderung in der Linienstärke, entweder spontan oder allmählich.
Dies nennt man den sogenannten Nachdruck. Er erzeugt eine gewisse Dynamik in einer Linie, er gibt ihr eine größere Spannung (siehe auch Abschnitt
4.2.2), eine Richtungswirkung und macht die Linie lebendiger, weil er weiter
vom geometrischen Standard abweicht. Er bringt so eine Lockerung in die
sonst so steife Linie und kann weit mehr Atmosphäre erzeugen als eine gleich
bleibende Linienstärke.
4.2.2
Spannung
Da ich mit der Meinung von Kandinsky konform gehe, möchte ich auch dessen Definition der Spannung benutzen. Er definiert die Spannung der Linie,
indem er außerdem noch die Bewegung der Linie beachtet. Die Spannung
einer Linie wird also für ihn auch durch die ausgeführte Bewegung festgelegt. Ein weiterer Einfluss auf die Spannung ist die Richtung der Bewegung,
welche in Abschnitt 4.2.3 ausführlicher behandelt wird. Auch eine Gerade
kann ihre Spannung durch die Richtung ihrer Bewegung verändern (siehe
Abbildung 4.4). Die horizontale Gerade (linkes Bild) weist für den Betrachter beispielsweise eine geringere Spannung auf als die Diagonale (rechtes
Bild) [17].
Bei einer eckigen Linie ist die Spannung abhängig vom Winkel, den sie
aufweist (siehe auch Abbildung 4.5). Ein spitzer Winkel hat naturgemäß
eine höhere Spannung als ein stumpfer, letztere wirkt durch das Offene in
ihrer Darstellung weniger aggressiv [17].
Doch die Spannung einer Linie entsteht auch durch den Druck, der auf
sie einwirkt, weshalb eine Gebogene auch eine größere Spannung aufweist
als eine Gerade. Bei einer einfachen Gebogenen wirkt ein seitlicher Druck
auf die Linie ein, je größer diese Kraft ist, desto größer ist auch die entstehende Spannung. Wenn diese ein Maximum erreicht, neigt die Linie dazu,
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
46
Abbildung 4.4: Spannung von horizontaler und diagonaler Linie.
Abbildung 4.5: Eckige Linien.
sich selbst abzuschließen und bildet einen Kreis [17]. Kandinsky führt diese
Spannungen auf die Kräfte zurück, die auf eine Linie einwirken. Er benennt
diese als positiven und negativen Druck, die sich immer wieder abwechseln
können. Dadurch dass entweder der positive oder auch der negative Druck
die Oberhand gewinnt und somit die Geometrie verschwindet, bekommt die
Linie eine Spannung in eine bestimmte Richtung (siehe Abbildung 4.6, der
positive Druck treibt die Spannung der Linie nach oben).
Die Spannung einer Linie kann aber nicht nur durch ihre Richtung oder
Krümmung verändert werden, sondern auch durch die Linienstärke oder
auch durch eine Veränderung derselben. Dies wird durch Abbildung 4.7
ganz einfach veranschaulicht. Beide Linien weisen eine Grundspannung auf,
aber in der rechten Abbildung, in welcher der Nachdruck kontinuierlich reduziert wird, also die Linienstärke verändert wird, wird eine erhöhte Spannung
nach oben erzielt, der Betrachter hat das Gefühl, als würde die Linie aufsteigen. Man könnte auch mutmaßen, dass diese Empfindung durch auch
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
47
Abbildung 4.6: Gebogene Linie mit aufsteigender Spannung.
durch natürliche Phänomene begünstigt wird. Die rechte Linie könnte beispielsweise durch ihre Form an einen Grashalm erinnern und diese wachsen
ja bekanntlich auch nach oben.
Bei der animierten Linie verstärkt sich dieses Empfinden noch, wenn auch
die Zeichenbewegung von unten nach oben durchgeführt wurde. Dadurch
dass die Linie von unten mit der Zeit aufsteigt und dabei gleichzeitig noch
dünner wird, stellt sich das Gefühl ein, die Linie würde aufsteigen und dabei
immer leichter werden. Das Spannung der Linie wird dadurch noch erhöht.
4.2.3
Richtungswirkung
Die Richtungswirkung wird von der Bewegung einer Linie erzielt. Ohne die
Spannung, die vor allem auch durch die Richtung, in die eine Linie weist,
erzeugt wird, würde man eine Horizontale nicht von einer Vertikalen oder
Diagonalen unterscheiden können. Wassily Kandinsky hat eine ganz eigene
Art entwickelt, die Richtungswirkung der Linie nach einer Temperaturskala zu beurteilen. Die Horizontale hat seiner Definition nach eine kalte
Bewegung, die Vertikale eine warme und die Diagonale eine kalt-warme Bewegungsmöglichkeit. Linien in einem anderen Winkel haben demnach eine
Tendenz zu wärmerer oder kälterer Temperatur [17]. Obwohl ich nicht ganz
nachvollziehen kann, warum Kandinsky die Richtungswirkung gerade als
Temperatur bezeichnet, so ist es auch für mich eindeutig, dass die Richtung
eine sehr große Wirkung auf die Spannung und auch auf den Gesamteindruck der Linie hat. An dieser Stelle noch zu einer ganz eigenen These: Ich
finde, dass auch die Bewegung des menschlichen Auges einen Einfluss auf
die Richtungswirkung einer Linie haben. Es ist erwiesen, dass der Mensch
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
48
Abbildung 4.7: Gebogene Linien mit aufsteigender Spannung und wechselndem Nachdruck.
ein Bild folgendermaßen betrachtet: der Blick des Menschen tastet ein Bild
in sogenannten Stakkaden, also in unregelmäßigen Sprüngen, ab, da das
menschliche Auge sehr selektiv auf Reize reagiert. Er sucht sich besonders
plakative Elemente eines Bildes, verweilt dort kurz und springt dann weiter
zum nächsten optischen Reiz.
Bei einem Blickverlauf am Beispiel des goldenen Schnitts (der Blick beginnt
in der Mitte, wandert nach links oben und zuletzt nach rechts unten; die
Bereich links unten ist ein schwacher Brachbereich, der rechts oben ein stärkerer), würde eine Diagonale wie in Abbildung 4.7 aufsteigend erscheinen,
wäre der Blickverlauf genau entgegengesetzt würde sie absteigend wirken
(Abbildung 4.8). Also kann die Richtungswirkung einer Linie durch das
Setzen von besonders plakativen Bildelementen, die den menschlichen Blick
lenken, beeinflusst werden.
Bei einer animierten Linie, die ihre Bewegungsrichtung immer wieder
sprunghaft oder auch kontinuierlich ändern ist die Richtungswirkung nicht
mehr so eindeutig zu klären. Die Linie kann eine Weile in den warmen Temperaturbereich wandern, dann aber auch wieder in den kalten so viele verschiedene Empfindungen auslösen. Ausschlaggebend ist in diesem Fall wohl
eher das Gefühl, das die gesamte Bewegung der Linie beim Betrachter aus-
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
49
Abbildung 4.8: Gebogene Linien mit absteigender Spannung und wechselndem Nachdruck.
löst, nicht nur die Richtung, in die sie gerade weist.
4.2.4
Detailreichtum
Eine Punkt, der meiner Meinung nach noch einen Einfluss auf die optische
Wirkung einer Linienzeichnung hat, ist ihr Detailreichtum. Manche Zeichner
bevorzugen eine klare, eindeutig geschwungene Linie, manche krakelige oder
schnörkelige Linien, manche setzen sehr viele kurze Linien aneinander, die
sich zu einer gesamten zusammen fügen (siehe Abbildungen 4.9). Natürlich
ist dies schon beinahe ein Aspekt, der mehr vom Stil des Zeichners abhängt
als von der Natur der Linie selbst, aber meiner Meinung nach ist auch dies
ein wichtiger Punkt im Ausdruck, den eine Linie erzeugen soll. Glatte, geschwungene Linien erzeugen ein Gefühl von Ordnung und Klarheit, während
eine gebrochene oder krakelige Linie weit mehr Unordnung und Nervosität
hervorruft (als Beispiel hierfür könnte auch der Unterschied zwischen einer Zeichnung und einer hastig angefertigten Skizze herangezogen werden).
Beim Attribut des Detailreichtums unterscheidet sich eine animierte Linie
nicht von einer statischen, können aber durch die Bewegung noch zusätzlich unterstützt werden. Eine einfache, geschwungene Linie, die sich langsam
bewegt, löst ein Gefühl von Ordnung, Klarheit und Kraft aus. Eine krakelige Linie, die sich schnell bewegt und dabei oftmalige Richtungsänderungen
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
50
Abbildung 4.9: Unterschiede im Detailreichtum.
vollführt verstärkt hingegen ein Empfinden von Unordnung, Nervosität und
Unentschlossenheit.
4.2.5
Dynamik
Den Begriff Dynamik möchte ich an dieser Stelle für die animierte Linie einführen, auch wenn Kandinsky diesen bereits anders genutzt hat. Da er sich
aber nur mit statischen Linien in der Malerei und Grafik beschäftigte, weisen
diese eine völlig andere Dynamik auf als bewegte Linien in der Animation.
Kandinsky definierte zur Beschreibung der Linie viele verschiedene Termini,
wobei die Begriffe Dramatik und Zeit auch einen Einfluss auf meine eigene
Definition der Dynamik haben. Als Dramatik bezeichnete er das Einwirken
von zwei verschiedenen Kräften auf die selbe Linie, was zur Bildung von
Eckigen oder Gebogenen führt. Eine gleichzeitige Wirkung von zwei (oder
mehreren) Kräften ist dabei dramatischer als eine abwechselnde. Eine besonders dramatische Linie besitzt also auch eine dynamischere Ausstrahlung
als eine eher gleichförmig-statische. Auch die Zeit ist für Kandinsky bei der
Wirkung einer Linie von Bedeutung – selbst bei einer unbewegten Linie –
da der Mensch dazu neigt, den Verlauf einer Linie mit dem Auge nachzuge”
hen“. Dabei können aber Eckige andere zeitliche Empfindungen hervorrufen
als Gebogene, obwohl sie eigentlich die selben Längen besitzen. Zeit ist somit
ein Attribut, dass vor allem von der gefühlten Zeitspanne des Betrachters
abhängt. Bei der animierten Linie ist der Zeitbegriff für mich von weit größerem Belang als bei einer statischen. Gleichzeitig bedeutet Zeit bei einer
animierten Linie aber die Dauer, die eine Linie von ihrem Anfangspunkt
bis zu ihrem Endpunkt benötigt und die wiederum ist abhängig von der
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
51
Abbildung 4.10: Unterschiede in der Dynamik einer Zickzack- und einer
Wellenlinie.
Geschwindigkeit, in der die Bewegung ausgeführt wird. Die Geschwindigkeit ist demnach als Überbegriff der Zeit besonders ausschlaggebend für die
Dynamik einer Bewegung. Eine schnelle Bewegung wird vom Betrachter im
Allgemeinen als dynamischer bewertet als eine langsame. Doch die Dynamik
kann auch durch Änderungen in der Geschwindigkeit erhöht werden, wenn
zum Beispiel eine Linie wie vergleichsweise bei der Form einer Achterbahn
durch eine aufsteigende Bewegung immer wieder abgebremst und dann beim
Abfallen wieder beschleunigt wird. Auch die Spannung ist ein wichtiger Einfluss auf die Dynamik einer animierten Linie. Je größer die Grundspannung
einer Linie ist, desto größer ist auch deren Dynamik, wenn diese in einer bewegten Form dargestellt wird. Abbildung 4.10 zeigt, dass eine Wellenlinie
demnach eine größere Dynamik aufweist als eine Zickzacklinie.
Ebenfalls ausschlaggebend für die Dynamik einer Linie ist ihre Form
selbst, abhängig von ihrem Detailreichtum. Eine schnörkellose, sanft geschwungene Linie wirkt selbst in einer langsamen Bewegung oft dynamischer als eine krakelige Linie, die in großer Geschwindigkeit entsteht (siehe
Abbildung 4.11). Der Betrachter neigt dazu, runde Bewegungen als dynamischer zu interpretieren als sprunghafte, eckige. Dies zeigt sich auch an einem
Vergleich der beiden Musikvideos Punk Motherfucker von Funkstörung und
Try Again Today von The Charlatans. Im ersten Video werden schwungvolle,
wogende Linien mit starken Änderungen im Nachdruck vewendet, wodurch
die Animation eine große Grundspannung aufweist. Im Gegensatz dazu werden im Charlatans-Video schnell hingekritzelte“ Linien dargestellt, die sich
”
schnell bewegen und verändern. Dadurch wirkt die Animation sehr viel nervöser und unsteter als im Funkstörung-Video (siehe auch Kap. 5).
Die Linienstärke an sich ist prinzipiell für die Dynamik der animierten
Linie nicht von großer Bedeutung, außer durch die Unterschiede, die bei
der Variation des Nachdrucks entstehend. Dies wird vor allem an Abbildung
4.12 deutlich: beide Linien zeigen eine Wellenlinie, welche schon naturgemäß
schon eine höhere Dynamik aufweist als eine Zickzacklinie. Durch die Veränderung im Nachdruck wirkt die Linie im rechten Bild noch dynamischer,
weil der Betrachter das Gefühl hat, eine schwungvollere Bewegung darin zu
erkennen.
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
52
Abbildung 4.11: Unterschiede in der Dynamik einer geschwungenen und
einer krakeligen Linie.
Abbildung 4.12: Unterschiede in der Dynamik einer Zickzack- und einer
Wellenlinie mit wechselndem Nachdruck.
Die Dynamik der animierten Linie ist somit ein sehr vielfältiger Begriff,
da er von den verschiedenen Teilwirkungen von Spannung, Dramatik, Geschwindigkeit, Nachdruck und auch Detailreichtum abhängig ist und nur in
seiner Gesamtheit beurteilt werden kann.
4.3
Farbe
Kandinsky ordnet den Linien nach ihrer Spannung und Richtung verschiedene Farben zu. Er ordnet beispielsweise der Horizontalen, die er als kalte
Linie bezeichnet, schwarz als Farbe zu, da schwarz eher eine kalte Farbe
ist als weiß. Die Vertikale als warme Linie ist seiner Definition nach also
weiß dargestellt, die Diagonale mit den Grundfarben rot und grün (oder
auch grau), die freie Gerade mit blau oder gelb. Er weist auch den Flächen
ihre Farben je nach Formen zu. Diese These bezüglich der Farbe einer Linie (oder auch eines anderen geometrischen Objekts), ob nun animiert oder
nicht, kann ich eigentlich nicht unterstützen, auch wenn Kandinsky dazu
ausführliche Erklärungen gibt (er sagt z. B., dass ein Quadrat, das durch
seine horizontalen und vertikalen Linien eine kaltwarme Form darstellt, mit
der Farbe Rot in Verbindung gebracht wird, weil Rot eine Mittelstufe zwi”
schen Gelb und Blau darstellt und die kaltwarmen Eigenschaften in sich
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
53
trägt“ [17, S. 76]). Ich denke nicht, dass einer Linie nur aufgrund ihrer Richtung, Temperatur oder Spannung eine einzelne Farbe zugeordnet werden
kann, aber ich finde, dass die Farbe einer Linie durchaus einen anderen Ausdruck verleihen kann. An Abbildung 4.13 kann man erkennen, dass die
selbe Linie in Rot eine völlig andere Wirkung ausstrahlt als in Blau. Dies
könnte wohl vor allem durch eine ausführliche Analyse mit Hilfe der Farbpsychologie geklärt werden, in der Blau eine beruhigende, harmonische (da
es an Wasser oder Eis erinnert) und Rot eine leidenschaftliche, lebendigere
(es steht für Feuer und Glut) Wirkung zugesprochen wird. Unbestritten ist
allerdings auch, dass auch die Farbpsychologie keine exakte Wissenschaft
ist. Das Empfinden, welches durch eine bestimmte Farbe beim Betrachter
ausgelöst wird, schwankt sowohl mit seinen persönlichen Vorlieben und seiner Tagestimmung als auch vom Kontext, in dem die Farbe verwendet wird.
Versuche belegen aber, dass helle, leuchtende Farben eine größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als dunkle, die vom Betrachter meist als schwer empfunden werden, oder schwach gesättigte. Diese Erkenntnisse werden auch im
Produktdesign verwendet [4]. Sogar innerhalb Europas können kulturelle
Unterschiede in der Verwendung von Farben beobachtet werden: während
im deutschsprachigen Raum blau sein“ ein Synonym für das Betrunkensein
”
ist, bezeichnet to be blue“ in englischsprachigen Ländern ein Gefühl der
”
Melancholie. Auch zeitliche Faktoren haben Einfluss auf die Bedeutung von
Farbe: heute steht Rot für Leidenschaft und Liebe und ist auch in Mode
und Design eine beliebte Farbe, im Mittelalter jedoch wurde Rot mit Hexerei und schwarzer Magie in Verbindung gebracht. Diese Angst ging soweit,
dass im Zuge der Hexenverfolgung sogar Frauen mit roten Haaren auf dem
Scheiterhaufen landeten. Heute erscheint es uns lächerlich, rote Haare mit
dem Teufel zu assoziieren, aber dieses Beispiel zeigt deutlich, dass auch die
Interpretation der Farben einem zeitlichen Wandel unterliegt. Inwieweit den
verschiedenen Farben tatsächlich eine bestimmte Empfindung hervorrufen
können, ist also nicht nachweisbar. Eindeutig ist aber, dass eine rote Linie
eine andere Wirkung hervorruft als eine blaue.
4.4
Flächenbildung durch Linien
Schon bei einer einfachen eckigen Linie wird eine Fläche aufgespannt. Die
Eckige stellt somit eine Brücke zur tatsächlichen Fläche dar. Bei einer mehreckigen Linie wird der Fall schon diffiziler: eine Zickzacklinie löst beim Betrachter nicht so schnell das Gefühl aus, sie würde eine Fläche darstellen als
eine Eckige mit drei Winkeln, also ein Dreieck, wie in Abbildung 4.14. Auch
eine Gebogene kann eine Brücke zur Fläche bilden. Je stärker die Kraft ist,
die auf eine einfach gebogene Linie einwirkt, desto stärker wird der Eindruck,
sie würde eine Fläche aufspannen. Bei maximaler Krafteinwirkung wird sogar tatsächlich ein Kreis, also eine Fläche gebildet. Kandinsky bezeichnet
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
54
Abbildung 4.13: Unterschiede im Ausdruck durch Farbänderung.
Abbildung 4.14: Flächenbildung einer Zickzacklinie und einer dreieckigen
Form.
Dreieck und Kreis als das ursprünglich-gegensätzliche Flächenpaar, genauso
wie er die Gerade und die Gebogene als das ursprünglich-gegensätzliche Linienpaar bezeichnet [17]. Je mehr Kräfte auf eine Linie einwirken und je
vielfältiger ihre Richtungen sind, desto variantenreicher sind auch die Flächen, die dadurch entstehen. Die Möglichkeiten zur Flächenbildung durch
die Linie sind also unerschöpflich. Weiters besagen seine Studien, dass die
”
auch die unerschöpflichen Variationen der Flächen, die ihre Entstehung der
Gebogenen verdanken, nie eine, wenn auch sehr entfernte Verwandtschaft
mit dem Kreis, verlieren, da sie Kreisspannung in sich tragen“. Auch die
animierte Linie kann wie auch eine statische eine Fläche aufspannen. Diese
ist aber durch die beständige Bewegung der Linie immer in Veränderung
begriffen. Somit ist auch die Wirkung, die eine Fläche hervorruft über die
Zeit veränderbar.
Wie bereits erwähnt ist auch die Grenze zwischen der Fläche und der
Linie selbst fließend. Ab welcher Linienstärke ist eine Linie schon eine Fläche? Oder könnten nicht auch die Kanten einer Linie ebenfalls schon wieder
eine schmale Fläche aufspannen? Alberti’s Definition der Linie besagt, dass
KAPITEL 4. GESTALTERISCHE KOMPONENTEN
55
die Linie die Breite eines Punktes besitze, der nicht mehr gespalten werden kann [14]. Aber ab wann ist dieses Stadium erreicht? Wenn der Punkt
mit bloßem Auge nicht mehr teilbar ist? Oder erst unter dem Mikroskop?
Da schon allein der Punkt bei genauerer Betrachtung eine Fläche darstellen
können, gilt dieses Phänomen auch für die Linie. Schon Kandinsky konnte
auf diese Frage keine genaue Antwort geben [17, S. 97].
Wie soll die Frage beantwortet werden, wann der Fluss aufhört
”
und das Meer beginnt?“
Da es also keine Definition für den Übergang von der Linie zur Fläche geben
kann, ist der Unterschied wohl nur im Kontext und in der persönlichen
Empfindung beim Betrachten des Bildes oder der Animation zu finden.
Kapitel 5
Analyse von animierten
Linien
Anhand der Analyse einiger Animationen, die allesamt mit Linienzeichnungen arbeiten, manche mit abstrakten Linien, manche wiederum mit linienhaften Charakteren, sollen die Möglichkeiten, visuellen Eigenschaften und
Eigenheiten der Linie verdeutlicht werden. Die Schlussfolgerungen, die ich
dabei ziehe, stützen sich dabei nicht auf Fremdliteratur sondern lediglich
auf meine persönliche Interpretation der Animationen und können somit
nicht als allgemeingültige Aussagen verstanden werden, da die Wirkung von
Kunst und Design bekanntlich immer im Auge des Betrachters liegt.
5.1
Abstrakte Verwendung von animierten Linien
Animierte Linien müssen natürlich nicht immer Charaktere oder Objekte
formen, sie können auch in abstrakter Form verwendet werden und einfach
für sich selbst stehen. Durch Linien können ornamentale Formen gebildet
werden, die sich immer wieder selbst verändern, auflösen und neue Muster
bilden. Abstrakte animierte Linien können sowohl in einer 2D als auch in
einer 3D Umgebung dargestellt werden. Diese Form des Morphings 1 ist eine
optisch ausgesprochen interessante Technik und wird beispielsweise auch im
Musikvideo Punk Motherfucker der deutschen Elektronik-Band Funkstörung
verwendet. Dort entwickeln sich völlig wirre, abstrakte Linien immer wieder zu konkreteren Formen und lösen sich dann wieder auf, um neue Abbildungen hervorzubringen. Auch in der Entwicklung des Avantgarde Kinos
wurde die animierte Linie in ihrer abstrakten Form immer wieder verwendet.
Viele von Surrealismus und Dadaismus beeinflusste Künstler produzierten
abstrakte Filme, die sich mit der Veränderung von Form und Farbe beschäftigten. Viele dieser Arbeiten wiederum beschäftigten sich dabei auch mit
1
Morping ist die automatische Berechnung von Übergängen zwischen zwei Bildern.
56
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
57
einer Visualisierung von Tönen und Klangfolgen durch ebendiese Darstellungsweise. Diese Musikvisualisierungen folgten oft sehr puristischen und
geometrischen Mustern und übten damit einen großen Einfluss auf die Musikvideos der heutigen Zeit aus. Auch heute beschäftigen sich noch Videokünstler mit der abstrakten Darstellung von Klängen, wie es schon am Anfang des letzten Jahrhunderts durch namhafte Künstler erprobt wurde. Wie
bereits in Kap. 3.4 erwähnt, war Oskar Fischinger einer der bekanntesten
Animationskünstler, der sich mit der Musikvisualisierung befasste. Auch er
verwendete die Linie in ihrer abstrakten Form, experimentierte mit geometrischen Grundformen und Farben und versuchte so eine direkte Darstellung
der wiedergegebenen Musik zu erzeugen.
5.1.1
Musikvisualisierungen am Beispiel von Oskar Fischinger
Oskar Fischinger wurde 1900 in Hessen geboren. Als er nach seiner Schulausbildung eine Arbeitsstelle als technischer Künstler begann, experimentierte er bereits mit der Visualisierung von Theaterstücken und Musik. Da
man seine Werke anfangs als schwer verständlich abtat, versuchte Fischinger
seine Arbeiten noch einfacher und klarer zu gestalten. Er fand seine Antwort indem er bewegte Gemälde, also Animationen, studierte, die er durch
das Kino kennen lernte. Schon 1921 entwarf er eine Maschine, mit der er
Experimente im Bereich des abstrakten Films durch die Verwendung von
farbigen Wachsen durchführte. Schon einer seiner ersten Beispielfilme Orgelstäbe verwendete eine abstrakte Linienanimation: die Animation setzte
sich aus verschiedenen parallelen Balken zusammen, die sich zu unterschiedlichen Rhythmen bewegtenEine weitere Besonderheit bei diesem Film war
der Aufbau der Bewegung auf geometrischen Grundgesetzen, nämlich die
Darstellung der Linie als Projektion eines verschobenen Punktes. Dabei beschränkt er sich auf vertikale Projektionen, verdickt die Linien und fasst sie
zu Quadraten und Rechtecken zusammen, was die Bewegungen der Objekte
beim Betrachter dreidimensional wirken lässt. Oskar Fischinger ist damit
einer der ersten, der mit räumlichen Eindrücken experimentiert (siehe Abbildungen 5.1).
Fischingers Linien wirkten meist ausgesprochen geometrisch und durch
ihre Breite auch oft schon sehr flächig, obwohl auch einige unveröffentlichte
Pencil Tests und Sketches von ihm publik wurden, die sich mit Linien beschäftigten, die auch optisch viel eher handgezeichneter Natur waren. Meist
wirkten seine Linien aber beinahe steril und maschinell gefertigt, da sie meist
ausgesprochen exakt gearbeitet waren. Im krassen Gegensatz dazu suchen
heute die Softwareentwickler nach Wegen, um computeranimierte Linien immer lebendiger und analoger“ darstellen zu können. Fischinger vertonte
”
auch verschiedenste Musikstücke, vom Jazz bis zur Klassik, mit abstrakten
Kreidezeichnungen. 1929 und 30 komponierte“ er so acht einzelne Studien,
”
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
58
Abbildung 5.1: Spiralförmige Linien von Oskar Fischinger.
(a)
(b)
Abbildung 5.2: Ton-Ornamente von Oskar Fischinger.
die sich mit der visuellen Darstellung von Ton und Rhythmus beschäftigten.
Auch hier setzte er seinen klaren, reduzierten Stil fort, oft verwendete er
ausschließlich weiße Linien auf schwarzem Grund, die sich in ihrer Breite,
Dicke und Ausrichtung veränderten, um die Musik zu verbildlichen (siehe
Abbildung 5.1). Fischinger fungierte so als Vorreiter für die moderne Musikvisualisierung. Bis heute beschäftigen sich Künstler mit der abstrakten
Darstellung von Musikstücken und orientieren sich dabei immer noch an
seinen Werken und Erkenntnissen. Im Gegensatz zu ihm produzieren diese
Künstler ihre Linien aber auch sehr oft digital, da der maschinelle, klar geschnittene Look Fischingers Art der Musikvisualisierung optisch weiterführt
und erweiterte technische Möglichkeiten, wie beispielsweise die Verwendung
von verlustlos skalierbaren Vektorgrafiken, bietet (siehe Abbildung 5.2 2 ).
2
Abbildung (a) aus http://www.digitalartexchange.net/ e/g fischinger.html, Abbil-
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
59
Abbildung 5.3: Screencaps aus dem Try again today-Video der Charlatans.
5.1.2
Abstrakte Linien als ornamentales Gestaltungselement
Abstrakte Linien können als ornamentale Gestaltungselemente in 2D und
auch in 3D Animationen verwendet werden. In beiden Fällen ist die Umsetzung sowohl mit generisch produzierten Linien, wie zum Beispiel in FlashVektorgrafiken oder 3D Splines, als auch mit handgezeichneten Linien möglich. In der 2D Animation können die Linien entweder direkt per Hand in
die zu erstellende Sequenz eingefügt werden, was sich technisch nicht von jeder anderen handgezeichneten Animation unterscheidet. Die Linien werden
genauso für jedes Bild neu gezeichnet oder erweitert, wie es der Animator
auch für einen normalen Charakter durchführen muss. Dies kann beispielsweise am Musikvideo Try Again Today der Charlatans beobachtet werden
(siehe Abbildungen 5.3). Diese Animation arbeitet mit vielen konfusen, wirren Kritzeleien und Linien, die einfach plan in einer (oder manchmal auch
mehreren) Ebene zu den bereits bestehende Videoelemente hinzugefügt werden. Die Linie ist in einem solchen Video zwar ein interessantes Stilelement,
ist aber für die restliche Animation eigentlich kaum von Bedeutung, da beide
Bereiche separat abgearbeitet werden können. Durchgeführt werden können
solche Animation neben den klassischen Zeichenprogrammen auch mit Programmen wie Flash, die Vektorgrafiken und deren Manipulation unterstützen (siehe auch Kap. 6).
Sehr viel schwieriger wird dies schon, wenn die Linie in Kombination
mit der 3D Animation oder einem Realfilm einen räumlichen Eindruck erzeugen soll. Als Beispiel hierfür dient wiederum ein Musikvideo, nämlich
Punk Motherfucker der deutschen Gruppe Funkstörung. Auch hier beginnt
man mit einem rein zweidimensionalen Gewirr aus Linien unterschiedlicher
Stärke und Nachdrucks (siehe Abbildung 5.4), doch als der Hauptdarsteldung (b) aus http://kulturinformatik.uni-lueneburg.de/grossmann/monitor/fischi1.gif.
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
60
Abbildung 5.4: Screencaps aus dem Punk Motherfucker -Video von Funkstörung.
ler das Plakat, auf dem sich die Linien befinden zerreißt, wandern diese
in den 3D Raum über. Eine dreidimensionale Kurve kann dabei direkt im
Programm in eine 3D Animation eingefügt werden, ohne dass großer Aufwand entsteht. Doch wenn die Linien mit Realfilm kombiniert werden sollen,
der noch dazu über viele Bewegungen in der Kameraführung verfügt, wird
man nicht darum hin kommen, Tracking zu verwenden. Dies ist vor allem
notwendig, damit die animierte Linie, auch wenn sie ein rein virtuelles Objekt ist, in die Kamerabewegung des Realfilms miteinbezogen wird, damit
es tatsächlich wirkt, als würde sich die Linie — wie im Beispiel von Punk
Motherfucker — durch die reale Welt bewegen. Auch die Linien in Punk
Motherfucker wurden eindeutig virtuell generiert, da ihre Ausführung viel
exakter und korrekter ist, als dies mit einer Handzeichnung jemals durchführbar wäre (siehe Abbildung 5.4). Außerdem wurden sie noch mit einem
leichten Glühen versehen, um sie noch lebendiger, quasi wie eine außerirdische Lebensform, behandeln zu können.
Die Verwendung von abstrakten animierten Linien ist also in Verbindung
mit jeglicher Art von Animation und auch Realfilm möglich, allerdings sollte
man immer darauf achten, dass der Stil der verwendeten Linie auch tatsächlich zum bereits bestehenden Video- oder Animationsfootage passt.
5.2
5.2.1
Animierte Linien als Hintergrundelemente
Wirkung und Ausdruck
In manchen Fällen wird die Linie nicht zur Darstellung der Figuren verwendet, sondern auch zur Abbildung der Hintergrundelemente. Diese Verwendung von animierten Linien kommt zwar nicht besonders oft vor, hat
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
61
aber wohl gerade deshalb so eine außergewöhnliche Wirkung. Der Hintergrund wirkt bei reinen Linienzeichnungen meist aufgeräumter und luftiger
als ausgefüllte Flächen, die Animationen wirken dadurch noch skizzenhafter, verhindern aber gleichzeitig auch das Aufkommen von Verwirrung beim
Betrachter. Ein großer Vorteil von Linienanimationen im Hintergrund ist
natürlich auch die Arbeitsersparnis, die durch das Vernachlässigen der Flächenfüllungen und das Aussparen von Details, die für das Verständnis einer Szene nicht von Bedeutung sind, entsteht. Durch die Vereinfachung der
Zeichnung kann der Künstler schneller arbeiten, was eine Kostensenkung
erzielt und gleichzeitig kann der Betrachter das Dargestellte schneller begreifen. Außerdem können gezielt eingesetzte Linien auch im Hintergrund
die Aufmerksamkeit des Zusehers auf den gewünschten Blickpunkt richten.
Ein weiterer Vorteil ist, dass eine Animation durch die Verwendung von
Linienanimationen im Hintergrund sofort einen künstlerischen Touch, statt
einem im Animationsfilm eher cartoonhaften Ausdruck, verliehen wird. Der
Stil, der durch die Verwendung von klaren Linien, geometrischen Formen
und ausdrucksstarken Farben entsteht, erinnert durch die starke Abstraktion an Künstler wie Matisse, Kandinsky und Klee. Beim UPA Trickfilm
Gerald Mc Boing Boing, ein besonders bekanntes Werk aus der Blütezeit
des revolutionären Produktionsstudios, wird ebenfalls der Stil verwendet,
für den UPA bekannt wurde: die Limited Animation, die auch besonders
mit dem künstlerischen Ausdruck der Animation beschäftigte. In den Mc
Boing Boing Animationen kommen auch immer wieder Ansammlungen von
menschlichen Figuren vor, die im Gegensatz zur damals üblichen Methode
nur aus skizzenhaften Umrisslinien gezeichnet wurden. Die Linien überkreuzen sich wirr, die Menschen besitzen teilweise keine Gesichter und gehen so
nahtlos ineinander über. Die Anwendung von Linienzeichnung unterstützt
also in diesem Fall sogar den Ausdruck der gesamten Szene und produziert so eine gesichtslose, einheitliche (Menschen)Masse ohne Individualität,
durch die Überlagerung wird die Instabilität und Verwirrtheit der Menge
dargestellt.
5.2.2
Beispiele für Linien als Hintergrundelemente
Eine der bekanntesten und wohl auch eine der beispielhaftesten Animationen, bei der auch die Hintergründe in einem linienhaften Stil realisiert wurden, ist bis heute UPA´s Gerald Mc Boing Boing (1951). Die Geschichte
selbst handelt dabei von einem kleinen Jungen, der nicht sprechen kann und
sich statt diesen mit Geräuschen ausdrückt. Linie und Fläche sind in dieser Limited Animation gleichwertige zeichnerische Stilmittel und bestimmen
den künstlerischen Stil der Bilder. Die Linie macht dabei als Skizze das Motiv für den Betrachter erkennbar, ohne überflüssigen Aufwand für Details zu
verschwenden. Die Linien bei Gerald McBoing Boing ruckeln und sind nicht
so flüssig ausgeführt, wie es für damalige Produktionen im O-Style eigentlich
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
62
Abbildung 5.5: Gerald McBoing Boing.
typisch war. Es kommen wiederholbare Bewegungszyklen und Einschränkungen in der gesamten Beweglichkeit der Figuren zu Tage, was für den UPA
Stil absolut charakteristisch ist. Die Linienzeichnungen selbst sind trotz allem noch sehr klassisch, sie werden wie völlig normale Comiczeichnungen
angelegt, abgesehen davon, dass sie teilweise einfach nicht vollständig oder
gar nicht coloriert wurden (siehe Abbildung 5.5 3 ). Alle Linienzeichnungen,
die in Gerald McBoing Boing vorkommen, sind lediglich in schwarzer Farbe
gehalten, keine Linie ist jemals in einer anderen Farbe dargestellt.
Ein anderes, zeitgemäßeres Beispiel für die Verwendung von Linien als
Hintergrundelementen ist das Video des skandinavischen Alternative-Künstlers
Beck zu E-Pro. Auch hier sind alle Hintergrundelemente rudimentäre Linienzeichnungen, während der Vordergrund aus verfremdeten Realvideosequenzen (vor allem Aufnahmen des Sängers) besteht. Obwohl beide der vorgestellten Beispiele das selbe Prinzip nutzen, sind die Darstellungen doch
grundverschieden. Im Gegensatz zum eindeutig handgezeichneten Stil von
Gerald McBoing Boing verwendet das Beck -Video Linien, die sowohl durch
ihre Optik als auch durch die Story selbst an ein altes Videospiel der 80er
Jahre erinnern. Die Linien sind dünn, gleichförmig, glatt, extrem exakt und
ganz eindeutig mit dem Computer angefertigt, was der ganzen Animation
einen sehr kühlen, technischen Ausdruck verleiht. Auch die Farbgebung erinnert an ein altes Computerspiel, die Linien sind in knalligen Neonfarben
3
Abbildung aus http://home.comcast.net/ wardandandrea/gerald1.jpg
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
63
Abbildung 5.6: Screencaps aus dem Beck -Video von Beck.
und weiß auf schwarzem Grund gehalten. Der Sänger selbst tritt nur in
der Nichtfarbe“ weiß auf und sticht so umso mehr aus den farbigen Linien
”
heraus, ohne aber diese aus dem Blickfeld des Betrachters zu drängen. Ein
weiterer Unterschied zur eindeutig zweidimensionalen Welt des Gerald McBoing Boing ist, dass die Linienzeichnung im Musikvideo zu E-Pro die Konturen und Kantenlinien dreidimensionaler Objekte darstellen. Dies wird vor
allem durch dauernde Kamerafahrten und -bewegungen unterstrichen, die
die Linien der scheinbaren 3D Objekte von verschiedenen Seiten zeigen und
den räumlichen Eindruck so sehr stark unterstützen (siehe Abbildung 5.6).
Wahrscheinlich wurden die Objekte und zugehörigen Kamerafahrten sogar in
einem 3D Programm erstellt und anschließend nur die Konturlinien anstatt
des gesamten Objekts in diesem entsprechend maschinellem Stil gerendert.
Dies ist allerdings nur meine persönliche Einschätzung und Annahme, da ich
leider keine Informationen finden konnte, die diese Vermutung unterstützen.
5.3
5.3.1
Linienhafte Charaktere
Einführung
In diesem Abschnitt soll die Verwendung von linienhaften Charakteren in der
Animation behandelt werden. Unter einem linienhaften Charakter soll hierbei jede gezeichnet oder anderweitig erzeugte Form einer Figur bezeichnet
werden, die ausschließlich aus Linien besteht. Dies beinhaltet unter anderem die einfachste Form des linienhaften Charakters, das Strichmännchen,
welches bereits in frühen Höhlenmalereien, Piktogrammen und Vorläufern
der Schrift zu finden war. Weiters soll eine weitere interessante Form der Linienzeichnung behandelt werden, nämlich die animierte Konturlinie. Diese
soll vor allem am Beispiel der bekannten Animationsserie La Linea des italienischen Animationskünstlers Osvaldo Cavandoli vorgestellt werden. Ein
besonders wichtiger Abschnitt ist die Behandlung von detaillierten linien-
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
64
haften Charakteren, also Figuren, die zwar nur aus Linien bestehen, aber
die selben Ausdrucksmöglichkeiten wie eine vollständige O-Style-Animation
(siehe auch Abschnitt 3.3) besitzen.
5.3.2
Das Strichmännchen – Urform des linienhaften
Charakters
Ein Strichmännchen, welches die rudimentärste Urform eines linienhaften
Charakters darstellt, ist eine stilisierte, extrem abstrahierte Darstellung eines Menschen oder anderen Lebewesens. Dabei werden die Gliedmaßen auf
einfach Striche und andere geometrische Grundformen (zum Beispiel ein
Kreis oder Oval für den Kopf) beschränkt. Gerade durch diese starke Abstraktion und Reduktion auf das Wesentliche kann ein Strichmännchen sehr
intuitiv und verständlich Emotionen und Handlungen ausdrücken, die für
Menschen aller Kulturkreise und Altersgruppen verständlich sind (z.B. auch
in Verkehrs- oder Warnschildern). Auf Details wird beim Zeichnen eines
Strichmännchen meist verzichtet, außer sie sind für das Verständnis eines
Bildes bzw. einer Szene dringend von Nöten (z.B. Augenbrauen für einen
wütenden oder besorgten Gesichtsausdruck). Prinzipiell gilt aber, dass ein
Strichmännchen, wie bereits im Namen enthalten, möglichst aus einfachen,
klaren Strichen bestehen soll, die nur das Notwendigste darstellen. Schon
beim Betrachten von Kinderzeichnungen fällt ins Auge, dass Kinder schon
in den Anfangsstadien des Zeichnens sogenannte Kopffüßer zu Papier bringen, die sich dann im Laufe der Zeit immer mehr in Strichmännchen und
schließlich in detailliertere Zeichnungen verwandeln.
Einsatzgebiete
Schon in der Geschichte der Sprache finden sich Strichmännchen wieder:
in Bilderschriften wie den ägyptischen Hieroglyphen kamen Strichmännchen
zum Einsatz. Durch diese Piktogramme wurden historische oder auch religiöse Szenen intuitiv dargestellt. Diese Darstellungen mögen sehr kindlich
und statisch wirken, aber sie sollten auch nicht einen besonderen visuellen
Eindruck, sondern einen allgemeinen Einblick in das Wesen einer Person
oder Situation darstellen. So könnte man die Strichmännchen, die in alten
Hieroglyphen vorkommen, auch als einen primitiven Vorläufer der Schrift bezeichnen. Durch die Vereinfachung in einzelne Wortsilben oder auch von speziellen Zeichnungen, entwickelte sich aus dem für jedermann verständlichen
Strichmännchen das geschriebene Wort. Bis heute werden Strichmännchen
auch in modernen Piktogrammen (zum Beispiel für Verkehrschilder) verwendet, da ihre Darstellung in allen Kulturkreisen abseits der Einschränkungen
von Sprache und Schrift verständlich ist (siehe Abbildung 5.7 4 ). Dabei wird
4
Abbildung aus http://www.klassifizierung.de/piktogramme/piktogramm kat a.jpg
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
65
Abbildung 5.7: Strichmännchen in Piktogrammen.
meist auf Details im Gesicht (die meisten Strichmännchen aus Kinderzeichnungen besitzen sehr wohl Augen und Mund) verzichtet, da diese für die
Verständlichkeit eines Piktogramms nicht von Bedeutung sind. Auch in der
Animation sind Strichmännchen eine beliebte Möglichkeit zum Testen von
Rohversionen. Dadurch, dass sie sich sehr einfach, schnell und kostensparend
zeichnen lassen, werden neben normalen Storyboards auch oft Animatics 5
damit erstellt, bei denen z.B. nur die Bewegung, nicht aber das Aussehen
der Figur überprüft werden soll. Durch seine einfache Struktur eignet sich
das Strichmännchen auch sehr gut für Bewegungsanalysen. Diese können
anschließend als Vorlage für eine zu verwirklichende Animation oder aber
auch für eine kinematische Darstellung in der Sportwissenschaft verwendet
werden.
Ausdruck – Möglichkeiten und Einschränkungen
Durch die starke Abstraktion werden bei Strichmännchen ihre Ausdrucksmöglichkeiten in der Animation vor allem durch ihre Bewegungen festgelegt.
Die selbe Bewegung, zum Beispiel ein Laufen, kann durch das Hinzufügen
kleiner Details verändert werden (siehe Abbildung 5.8)). Durch die angewinkelten Arme wirkt das Männchen als würde es völlig normal sportlich
dahinlaufen. Das dritte Strichmännchen macht in der selben Laufbewegung
einen Rundrücken und lässt die Arme baumeln, wodurch es müde und erschöpft wirkt. Das Männchen Nummer 2 hingegen drückt den Rücken durch
und wirft die Arme über den Kopf, was es aussehen lässt, als würde es hys5
Ein Animatic ist ein animiertes Storyboard, dass dem Entwickler ein Gefühl für das
Timing, die Länge der einzelnen Szene und die Ansicht selbst geben soll.
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
66
Abbildung 5.8: Gestik eines Strichmännchens.
terisch vor etwas oder jemand flüchten. Der Betrachter eines Strichmännchens braucht also zur Beurteilung des Ausdrucks gar keine Darstellung
eines Gesichts, schon allein durch die Körperhaltung und die vereinfachten
Bewegungsabläufe kann intuitiv beurteilt werden, was das Strichmännchen
ausdrücken möchte.
Auch einfache Gesichtsausdrücke können ohne großen Aufwand durch ein
Strichmännchen dargestellt werden (siehe Abbildung 5.9)). Diese Ausdrucksmöglichkeiten sind zu vergleichen mit der Erfindung des Smileys durch Harvey Ball, aus dem sich die heute vor allem im Internet gebräuchlichen Emoticons entwickelten. Inzwischen gibt es die verschiedensten Darstellungsformen für Smileys, vom traditionellen glücklichen über den verängstigten bis
hin zum besonders coolen“ Gesichtsausdruck. Wie beim klassischen Strich”
männchen werden dort Emotionen und Empfindungen klar und einheitlich
durch nur wenige Punkte und Striche verdeutlicht. Natürlich entsteht durch
diese vereinfachte Form eines Charakters auch eine gewissen Einschränkung.
Detaillierte Gesichtsausdrücke und Mienenspiele, die bei einem traditionellen
animierten Charakter oder realem Darsteller oft essentiell für eine Animation
sind, können mit einer so stark abstrahierten Figur wie einem Strichmännchen kaum noch dargestellt werden. Um ähnliche Reaktionen wie durch die
Mimik eines Charakters hervorrufen zu können, müsste man beim Strichmännchen die gesamte Körpersprache miteinbeziehen, um die Gefühle des
Protagonisten unmißverständlich klar machen zu können.
Eine weitere Einschränkung ist die extrem flache Perspektive, in der ein
Strichmännchen dargestellt wird. Natürlich kann unterschieden werden, in
welche Richtung die Figur sich bewegt oder ob sie von vorne oder seitlich
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
67
Abbildung 5.9: Mimik eines Strichmännchens.
dargestellt wird, aber problematisch wird es bei komplexeren Ansichten.
Würde sich ein Strichmännchen leicht aus seiner angestammten Perspektive
herausdrehen“, so würde dies für den Betrachter nur eine Verzerrung in der
”
Darstellung der Gliedmaßen bewirken, nicht aber eine korrekte perspektivische Bewegung. Um solchen Probleme in der Darstellung zu vermeiden, sollte
man bei einem Strichmännchen also eher die klassische Front- und Seitenansicht beibehalten. Das Strichmännchen bietet also durch seine reduzierte
Form und Struktur eine einfache Möglichkeit zum Ausdruck von Bewegung
und elementaren Gefühlen, kann aber natürlich durch das begrenzte Mienenspiel und die Einschränkungen in der Perspektive einen detaillierteren
Charakter nur bedingt ersetzen.
5.3.3
Animierte Konturlinien
Typische Merkmale
Das Einzigartige an animierten Konturlinien ist, dass sie tatsächlich nur die
Umrisse einer Figur darstellen ohne dabei auf weitere Details am Objekt
bzw. Körper einzugehen. Da die Konturlinie durch das Fehlen der Mimik in
ihrem Ausdruck etwas eingeschränkt sind, müssen sie dieses Manko durch
plakativere Gesten und größere Übertreibungen in der Bewegung ausgleichen. Dadurch dass Konturlinien auch weniger Wiedererkennungswert besitzen als ein vollständig ausgeführter Charakter, müssen die Figuren auch
mit eindeutigen Attributen ausgestattet werden, damit der Betrachter sie
leichter zuordnen kann. Verdeutlicht werden kann das zum Beispiel bei der
Darstellung von zwei verschieden weiblichen Charakteren: die Umrisse unterscheiden sich durch Frisur und Kleidung, was den Wiedererkennungswert
der einzelnen Figuren eindeutig erhöht.
Analyse des Ausdrucks am Beispiel La Linea
La Linea (italienisch für Die Linie“) ist die wohl bekannteste animierte
”
Linie in der Filmgeschichte. Kreiert wurde es von Osvaldo Cavandoli, einem italienischen Karikaturisten, der 1920 am Gardasee geboren wurde. In
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
68
den 40er Jahren drehte er seine ersten Animationsfilme, in den 50ern beschäftigte er sich vorzugsweise mit Puppenanimationen. Der Erfolg stellte
sich erst ein, als er 1969 für einen Werbespot La Linea, eine Figur, die auf
einer unendlichen horizontalen Linie lebt, geht und auch von ihr geformt
wird, entwickelte. Der cholerische Protagonist Lui war bei den Zusehern vor
allem deshalb beliebt, weil er immer wieder lautstark nach der Hand des
Cartoonisten verlangt, wenn er eine Veränderung in seiner linearen Welt
wünscht. Auch das unverständliche Gebrummel und Geschimpfe von Lui
dient während der Animation als Running Gag. Cavandoli löste sich recht
schnell wieder von der Werbung und produzierte seine eigene TV-Serie, einige Filme und Comic Bücher, die sich allesamt mit seiner Lieblingsschöpfung La Linea beschäftigten. Besonders beispielgebend für all seine Produktionen sind die Nachahmung von Gesten und ein Sinn für Rhythmus und
Timing. Die Hauptfigur Lui (siehe Abbildungen 5.10), welcher auf seine essentiellen Merkmale reduziert ist und immer im Profil dargestellt wird, zeigt
sofortige, impulsive Reaktionen und bezeichnende Charakterzüge. Obwohl
die Darstellung dieser einen einzelnen Linie ein krasser Gegensatz zum klassischen Disney Stil darstellt, orientiert sich Cavandoli doch stark an deren
Schule, besonders was die Bewegung und Performance seines Hauptdarstellers betrifft. Die Animationen sind flüssig und ähneln in ihrer Optik mehr
einer Karikatur als einem Avantgardegemälde, wie es bei der Limited Animation oft üblich ist. Wie bereits erwähnt lebt die animierte Konturlinie vor
allem von ihrer Gestik und Bewegung, da wichtige Ausdrucksmöglichkeiten
wie die Augen ausgespart werden. Cavandoli kehrt mit seiner Kreation so
zu den anfänglichen Beziehungen zwischen dem Bild und der Hand zurück,
wie es bereits in frühen Sketches auftauchte. Die endlose“ Linie bricht im”
mer wieder ab, der Protagonist deutet dem Zeichner lautstark, er solle diese
doch fortsetzen oder gibt diesem sogar genaue Anweisungen, was er ihm für
seine Welt zeichnen soll. Cavandoli erfüllt seiner Figur diese Wünsche meist
und quält sie doch gerade damit immer wieder, weil diese Veränderungen
ihn immer in neue Schwierigkeiten bringen. Oft führen sie auch zur Auflösung der Linie (z.B. dreht Lui einen Wasserhahn auf und er selbst läuft mit
der gesamten restlichen Linie ab), die dann durch den Zeichner wieder zum
Leben erweckt wird, um sich dann erneut durch ihren neugierigen Hauptdarsteller selbst zu zerstören. Gegen Ende der einzelnen Sketches löst sich
die gesamte Linie meist durch eines dieser Missgeschicke“ auf und beendet
”
so die Animation. Die reale Hand (die übrigens durch Stop Motion Aufnahmen realisiert wurde) amüsiert den Zuseher dabei in der fließenden Welt der
Linien und erinnert ihn so immer wieder an die filmische Kunstfertigkeit des
Zeichners selbst. Für den zeichnerischen Stil von Cavandolis Linie ist vor allem der breite, glatte Pinselstrich bezeichnend. Die gesamte Linie wirkt wie
mit einem dicken Filzstift gezeichnet, die Kanten sind glatt, es gibt keine
Überlagerungen. Leblose Objekte, wie zum Beispiel Fahrzeuge oder ähnliches, werden meist mit einer sehr gleichförmigen Linienführung dargestellt,
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
69
im Gegensatz dazu werden die lebenden Darsteller mit einer dynamischeren Linie, die größere Unterschiede im Nachdruck aufweist gezeichnet. Für
immer wiederkehrende Zeichnungen, zum Beispiel für Lui´s Kopfform, benutzte Cavandoli außerdem Schablonen, was den Bildern ebenfalls einen besonderen Schwung verleiht. Eine ebenfalls bemerkenswerte Tatsache ist, dass
die einzelnen Objekte und Figuren tatsächlich immer nur aus einer einzigen
langen Linie bestehen. Sobald eine Überschneidung von zwei Objekte auftritt, ändert sich die gesamte Kontur und bildet eine Gesamtdarstellung der
sich überkreuzenden Objekte. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb
wirkt die gesamte Linie, ob sie nun lebende oder statische Objekte darstellt,
besonders homogen und dynamisch. Selten wird die Linie auch für die Darstellung von Details an einer Figur unterbrochen, was aber die Kontinuität
der gesamten Linie nicht beeinträchtigt. Beim Abspielen in Slow Motion
machte ich eine interessante Entdeckung: bei schnelleren Bewegungen (z.B.
bei einem Zusammenstoß) wird auch die Darstellung der Linie ungenauer, sie
wird transparenter, reißt an manchen Stellen aus und verschwimmt an anderen als wäre sie mit Wasserfarben gezeichnet. Dies könnte man als Ausdruck
für die Flüchtigkeit einer schnellen Bewegung deuten, die Geschwindigkeit
eines Ablaufs spiegelt sich in der Unvollkommenheit der Linie wieder.
Manchmal verwendet Cavandoli zur Verdeutlichung der Geschwindigkeit
auch Hilfslinien, die den Schwung und die Richtung einer Bewegung markieren, wie es auch oft in der Karikatur üblich ist. So unterstreicht er die
animierte Bewegung zusätzlich.
Der Protagonist Lui ist meist in die Mitte des Bildes und somit ins Zentrum
der Aufmerksamkeit gerückt, auch wenn er Gehbewegungen vollführt (siehe
Abbildung 5.11) verlässt er seine Position in der Mitte selten. Trotzdem hat
der Betrachter den Eindruck, dass er sich dadurch weiter fortbewegt, da
die eintönige Linie meist keine Anhaltspunkte für den Hintergrund gibt und
man so automatisch annimmt, dass sich der Hintergrund verändert.
Der Hintergrund selbst definiert sich nur über seine Farbe und die ändert
sich mit dem Auftreten von neuen Situationen oder manchmal auch mit der
Laune des cholerischen Strichmännchens. Inhaltlich transportiert La Linea
vor allem humoristischen Stoff. Cavandoli nutzt die Möglichkeiten der Animation durch seine unkonventionelle Darstellung bestmöglich aus und kann
so ein Thema besonders plakativ vermitteln. Auch der Ton ist eine besonders wichtige Komponente für La Linea, da sich die Hauptfigur – obwohl
die Worte selbst unverständlich sind – mit ihrer Stimme bemerkbar macht
(gesprochen von Carletto Bonomi). Sie wirkt dabei als unterstützendes Element für die Stimmungslage des Characters, indem sie seine Bewegungen
und Gesten mit den passenden Lauten für jede Empfindung unterstützt.
Früher wurden alle Zeichnungen von Cavandoli selbst mit der Hand abgefilmt und zusammengesetzt, heute benutzt auch er moderne Technik um
seine Animationen zu erstellen. Trotz allem ist La Linea bis heute handge-
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
Abbildung 5.10: La Linea von Osvaldo Cavandoli.
Abbildung 5.11: Die berühmteste animierte Linie: La Linea von Osvaldo
Cavandoli.
70
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
71
zeichnet, auch wenn die Zeichnungen neuerdings gescannt und am Computer
nachberabeitet und zusammengesetzt werden – und das ist auch noch immer
am Schwung der endlosen Linie erkennbar.
5.3.4
Detaillierte linienhafte Charaktere
Wirkung und Ausdruck
Ein linienhafter Charakter kann in verschiedensten Formen umgesetzt werden. Dies reicht von einer klassischen Comic- oder Karikaturzeichnung, die
lediglich aus Linien besteht, bis hin zu reduzierteren Formen, die aber trotzdem mehr Details aufweisen als ein Strichmännchen oder eine animierte
Konturlinie (siehe Abbildungen). Die Wirkung dieser sehr unterschiedlichen
Figuren ist entsprechend vielfältig, da von lebensnahen Zeichnungen bis zum
Comic alles möglich ist, solange mit der Figur Mimik und Gestik entsprechend genau transportiert werden können. Wie alle Linienzeichnungen haben
auch Figuren, die nur aus Linien bestehen, eine besondere bildliche Wirkung:
• Auch detaillierte Charaktere wirken durch die Verwendung von Linienzeichnungen übersichtlich und klar, da auf die Verwendung von Farbe
oder Texturen, Licht und Schatten einfach verzichtet wird oder sie
zumindest nur ausgesprochen spärlich eingesetzt werden. Durch diese
Abstraktion wird eine besondere bildliche Klarheit und Ausdruckskraft
geschaffen.
• Auch linienhafte Charaktere lenken den Blick des Betrachters durch
das Bild, insbesondere wenn sie in Verbindung mit anderen Animationsarten oder Realvideo verwendet werden, da dann der Kontrast
zwischen der harten, eindeutigen Linie und dem vielfältigen Hintergrund besonders hoch ist.
• Eine Figur, die nur aus animierten Linien besteht, lässt dem Betrachter
mehr Freiraum für eigenen Interpretationen und seine eigene Vorstellungskraft. Dies ist ein Punkt, den Zuseher oft als besonders positiv
erachten, da ihre eigene Kreativität gefordert ist und die Animation
für ihn so lebendiger wird.
• Linienhafte Charaktere können durch die Verwendung von unterschiedlichen Linienarten (krakelig, geschwungen, geometrisch) mit geringen
Mitteln stark verwendet werden. Wenn die selbe Animation (also auch
die selbe Geschichte) mit zwei unterschiedlichen dargestellt wird, lassen sich große Unterschiede in der stilistischen Wirkung (und selbst in
ihrer inhaltlichen Aussage) feststellen.
Gerade weil die Möglichkeiten so weit gefächert sind, kann der Ausdruck
und die Wirkung eines linienhaften Charakters aber meist nur anhand ei-
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
72
nes genauen Beispiel beschrieben werden, da aus diesem Grund kaum allgemeingültige Schlüsse gezogen werden können. Eine ausführliche Analyse
soll deshalb auch in dieser Arbeit an zwei sehr unterschiedlichen Beispielen
für die Umsetzung von linienhaften Charakteren im Abschnitt 5.3.4 gegeben
werden.
Analyse am Beispiel von Fortress (Pinback ) und Take On Me
(AHA)
Dieser Punkt der Diplomarbeit soll einen Vergleich von zwei sehr unterschiedlichen Animationen, beide sind Musikvideos, die mit linienhaften Charakteren arbeiten, behandeln. Es sollen dabei Unterschiede und auch Gemeinsamkeiten im Ausdruck der Figuren aufgezeigt werden. Das erste analysierte Video wurde 1985 von der norwegischen Popgruppe AHA unter der
Regie von Steve Barron, welcher mehr als die Hälfte aller AHA-Videos produzierte, zu ihrem Nummer Eins Hit Take On Me veröffentlicht und erregte durch seine aufwendigen Zeichnungen Aufsehen. Ursprünglich sollte
ein völlig anderes Video zur Single gedreht werden, indem die Band vor einer Menge junger Frauen auftreten sollte. Die Musiker lehnten den Dreh des
Videos aber aufgrund des unpassenden Inhalts aber ab und entschieden sich
dazu, eine sehr viel künstlerische Variante zu produzieren. Nachdem diese
Variante des Videos, in der Realvideoaufnahmen aus einem Cafe mit Handzeichnungen kombiniert wurden, veröffentlicht wurde, beeinflusste dies die
Verkaufszahlen der Single so stark, dass sie auf Platz Eins in die amerikanischen Billboardcharts einstieg. Die künstlerische Komponente des Musikvideos hat also maßgeblich zum Erfolg der Musik beigetragen. Das Video
selbst setzt sich aus Realvideoszenen und handgezeichneten Animationen
zusammen. Obwohl die Darsteller, solange sie sich innerhalb des Comics befinden eigentlich vollständig handgezeichnet sind, wird die Animation aber
immer wieder durch Fenster“, die wie Comicbilder wirken, in die Realität
”
(diese zeigen Realvideoaufnahmen der Protagonisten) unterbrochen und ergänzt. Die romantische Heldengeschichte dieses Videos handelt von einer
jungen Frau, die in einem Café eine Comiczeitschrift liest. Ein junger Mann,
dargestellt vom Sänger der Band AHA, gewinnt in diesem Comic ein Motorradrennen vor seinem erbitterten Konkurrenten. Dieser junge Mann zwinkert
der Frau auf einmal auf einer der Zeichnungen zu und reicht ihr sogar seine
Hand aus dem Magazin heraus (siehe Abbildung 5.12) und fordert sie auf,
ihm zu folgen. Sie nimmt sein Angebot an und findet sich inmitten des Comicmagazins wieder, wo der Mann mit seiner Band für sie spielt und singt.
Zwischenzeitlich ist die Kellnerin im Café verärgert, weil sie glaubt, dass die
junge Frau ohne zu bezahlen verschwunden ist. Sie zerknüllt Magazin, das
immer noch am Tisch liegt und wirft es hinter der Theke in den Müllkorb.
Im Comic werden unterdessen der Sänger und die Frau von dem Mann mit
einem riesigen Schraubenschlüssel attackiert, den der Sänger von AHA im
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
73
Abbildung 5.12: Screencaps aus dem Video zu Take On Me.
Motorradrennen geschlagen hat, und müssen flüchten. Der Sänger reißt“
”
ein Loch in die Papierwand“, verhilft der Frau so zur Flucht in die Realität
”
und opfert sich so für sie. Diese taucht vor den Augen der Menschen im
Café neben dem Müllkübel wieder auf, greift sich das Magazin und flüchtet
nach Hause. Sie blättert das Magazin durch, in der Hoffnung ihr gezeichneter Freund hätte sich gegen seinen Konkurrenten behaupten können, doch
eines der Bilder zeigt in regungslos am Boden liegend. Doch dann bemerkt
sie, dass er in einem anderen Bild mit den Fäusten gegen den Rahmen der
Zeichnung hämmert und versucht sich aus dem Magazin zu befreien (siehe
Abbildung 5.12). So taucht er schließlich als gezeichnete Figur in der realen
Welt auf, bis er sich schließlich selbst in einen realen Menschen verwandelt.
Die kalifornische Indie-Pop-Gruppe Pinback veröffentlichte 2004 zur Single Fortress ebenfalls ein Musikvideo, das mit linienhaften Charakteren arbeitet. Auch hier steht wie bei dem Video von AHA die künstlerische Komponente im Vordergrund. Alle Lebewesen, ob Tiere oder Menschen, sind in der
Animation als Linienzeichnungen, die in ihrer Reduktion schon beinahe an
Strichmännchen erinnern, umgesetzt, während die Hintergründe und sonstigen Animationen in farbig texturierten zweidimensionalen Bilder gehalten
ist. Obwohl auch die Hintergründe sehr ausdrucksstark gefertigt wurden,
setzen sich die Linienanimationen durch eine klare weiße Farbe stark ab
und ziehen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich und lenken ihn so
durch die Story der Animation. Das Pinback Video erzählt die märchenhafte
Geschichte eines Prinzen und seiner Prinzessin, das gemeinsam in einer wundersamen, farbenfrohen Welt ein prächtiges Schloss bewohnt. Eine menschliche Darstellung der Natur selbst streut Samen von Blumen und Bäumen
in dieser farbenfrohen Welt, durch die das verliebte Paar wandelt. Doch als
der Prinz für seine Prinzessin eine Blume pflückt, bricht ihre Welt mitsamt
ihrem Schloss auseinander, trennt sie und macht sie zu erbitterten Feinden,
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
74
Abbildung 5.13: Screencaps aus dem Video zu Take On Me und Fortress.
die sich gegenseitig solange in blutigen Schlachten bekriegen bis eine Bombe
ihren Krieg beendet und ihre Welt verwüstet. Auch die Stimmung, die durch
die aufwändig texturierte Umgebung geschaffen wird, ändert sich dabei mit
dem Beginn des Kampfes von einer blühenden, farbenprächtigen Welt in
eine düstere, bedrohliche Vision eines Schlachtfelds.
Das Take On Me-Video von AHA wurde mittels Rotoscoping nach einer
bestehenden Realvideovorlage angefertigt und arbeitet mit sehr detaillierten,
lebensechten Bleistiftzeichnungen, bei denen durch Schraffuren und Schattierungen Tiefe erzeugt wird. Durch das Rotoscoping entsteht eine sehr flüssige,
lebensnahe Bewegung ohne die für Animationen üblichen Übertreibungen in
Mimik und Gestik, was für einen stärkeren Bezug zur Realität sorgt. Im Gegensatz dazu sind die Linienzeichnungen im Pinback -Video sehr viel reduzierter und geometrischer, sie wirken beinahe wie kindliche Strichmännchen,
verfügen jedoch über genügend Details um Emotionen durch Gesichtsausdrücke und Bewegungen ausdrücken zu können. Ein weiterer Unterschied
ist auch die technische Erzeugung: das Musikvideo zu Fortress wurde nicht
handgezeichnet, sondern wurde als 2D Animation mit dem Computer erzeugt, was den Figuren zusätzlich einen technischen, gleichförmigen Look
verleiht und für eine kühlere, weniger dynamische Darstellung sorgt. Obwohl
heutzutage auch bereits computeranimierte Linien (und auch Zeichnungen
im Allgemeinen) erzeugt werden können, die eine echte Handzeichnung annähernd imitieren können, fehlt den künstlich erzeugten Linien trotz allem
oft die natürliche Dynamik, die einer handgezeichneten innewohnt. Dies wird
auch an Abbildung 5.13 deutlich.
Obwohl die Linienzeichnungen im Pinback -Video sehr abstrakt gehalten
sind, verfügen sie doch über mimische Details wie Augen, Augenbrauen und
Mund, was die Ausdrucksmöglichkeiten im Gegensatz zu beispielsweise ei-
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
75
Abbildung 5.14: Screencaps aus dem Video zu Fortress.
ner animierten Konturlinie stark vereinfacht. In diesem speziellen Fall sind
die Augen meist nur als Punkte oder ein Punkte mit Linie dargestellt. Soll
eine Figur blinzeln, wird der Punkt kurz zu einer Linie, soll sie wütend
werden stellen sich die Linien schräger und der Mund öffnet sich (siehe Abbildung 5.14). Durch solche stark vereinfachte Darstellung von Gefühlen ist
es für den Betrachter ohne Anstrengung möglich, die Emotionen einer Figur
sofort zu erkennen und zu interpretieren, obwohl wichtige Details im Gesicht
des Charakters (z.B. Nase oder Ohren) fehlen. Außerdem verwendet diese
Animation die für Cartoons klassischen Übertreibungen in der Bewegung sowohl von Mimik als auch von Gestik (Vgl. La Linea). Beispielsweise ist die
Darstellung von wirren Linien über das Auge sofort als Wut oder Wahnsinn
erkennbar, ohne das eine solche Reaktion jemals in der Natur vorkommen
würde.
Zu Beginn des AHA-Videos werden Standbildaufnahmen aus dem Comic
heraus gezeigt, die sich eigentlich nur durch ein leichtes Flimmern bewegen
(dies soll das Lesen der Hauptdarstellerin im Comicmagazin symbolisieren).
Dadurch wirkt die Bilderabfolge ähnlich wie ein Animatics 6 . Im weiteren
6
Animatics sind animierte Storyboards, in denen das Timing und die Bewegungen der
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
76
Verlauf des Videos verläuft die Animation durch das Rotoscoping, also eine
Variante der Full Animation, aber ausgesprochen flüssig und erzielt so eine
realistische Darstellung der menschlichen Bewegungen. Die Bewegungen im
Pinback -Video hingegen sind stark reduziert, die Figuren vollführen nur die
notwendigsten Bewegungen und auch diese sind wiederum abstrahiert und
deuten eine Bewegung oft nur an. Oft sind sie sehr sprunghaft, im Timing
fehlerhaft (zu schnell oder zu langsam), um real zu wirken oder sie schwim”
men“ über dem Hintergrund, ohne sich ihm anzupassen. Pinback arbeiten
hier also mit der Limited Animation, was auch dadurch deutlich wird, dass
immer wiederkehrende Bewegungszyklen und duplizierte Objekte verwendet
werden. Abbildun 5.15 zeigt tanzende bzw. marschierende Soldaten (diese
sollen das Marionettenhafte an Soldaten repräsentieren und durch den Tanz
die Lächerlichkeit und Sinnlosigkeit eines Krieges an sich verdeutlichen, was
durch die abstrahierten Zeichnungen noch zusätzlich unterstützt wird), welche einfach dupliziert wurden und sich deshalb völlig gleichförmig bewegen
und nicht unterscheiden (dadurch wird wiederum gezeigt, das Soldaten für
den Durchschnittsmenschen meist völlig gesichtslos“ sind). Auch die Hin”
tergründe und sonstigen animierten Objekte sind im I-Style dargestellt, die
Bewegungen sind sprunghaft und steif. Den Linienzeichnungen mangelt es
außerdem durch die sehr geometrische Darstellung und oftmalige Verwendung von Gerade oder nur wenig Gebogenen an Dynamik, was in den bewegungstechnisch langsameren Einstellungen noch verstärkt wird. Erst in
den Kampfszenen, in denen die Bewegungen sehr roh und schnell sind und
außerdem noch mehr gebogene Linien verwendet werden, erhöht sich die
Dynamik der Animationen (siehe Abbildung 5.15).
Die Animationen im Take On Me-Video verwenden die Linie nicht nur
für die gezeichneten Charaktere und anderen Objekte, sondern auch zur Darstellung Geschwindigkeit und Perspektive. Gerade in den Standbildern, die
anfangs gezeigt werden, wird dies deutlich (siehe Abbildung 5.16). Durch
die Linien wird dem Bild eine Richtungswirkung und Dynamik verliehen,
die selbst eine Bewegung im Pinback -Video nicht auslösen kann. Die Linie
dient weiters auch bei schnellen Übergängen von einem Bild zum nächsten
als Bindeglied und erzeugt so in Verbindung mit der Kamerabewegung ein
Gefühl von Beschleunigung. Gerade, geometrische Linien werden hier vor
allem zum Erzeugen einer simplen räumlichen Umgebung genutzt, was beim
Betrachter ein Gefühl von Tiefe erzeugen soll (siehe Abbildung 5.16). Die
Erzeugung von Perspektive wird außerdem durch Kamerafahrten, welche die
Figuren umkreisen und so zusätzlich eine Dreidimensionalität vortäuschen,
unterstützt (siehe Abbildung 11). Abstrakte Linien, die an die Struktur von
Animation getestet werden, ohne dass dabei tatsächlich vollständig ausgefertigte Bewegungssequenzen verwendet werden. Dabei werden die Einzelbilder des Storyboards im
korrekten Timing zusammengeschnitten und gegebenenfalls mit Dialogen oder Sounds
unterlegt.
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
77
Abbildung 5.15: Screencaps aus dem Video zu Fortress.
Papier erinnern, verleihen den so erzeugten Wänden“ im Raum noch mehr
”
Tiefe. Durch den Einbau von Realvideosequenzen inmitten eines Fensters
”
zur Realität“, das wie ein Einzelbild eines Comics wirkt, verstärken den
räumlichen Eindruck zusätzlich, da im Realvideo auch natürliche Perspektive und Schatten gezeigt werden (Abbildung 5.16). Durch breite, exakte
Geraden rund um die Sequenzen wird der Kontrast zu den handgezeichneten Charakteren noch stärker ausgeprägt (Abbildung 12).
In Abbildung 5.15 wird außerdem noch der Kontrast zwischen der Verwendung von exakten Geraden und geschwungen, gebogenen Linien deutlich:
die Geraden definieren die räumlichen Ebenen, während die dynamischeren
Gebogenen für Charaktere verwendet werden. Die flüssigen Bewegungen der
Charakter im AHA-Video werden aber durch ein Stilelement beeinflusst,
dass ihnen noch mehr Lebendigkeit verleiht, aber gleichzeitig die Animation
auch flackernder und abgehackter“ erscheinen lässt: wechselnde Schraffu”
ren und Unregelmäßigkeiten werden bewusst in die Zeichnungen eingefügt
und erzeugen so das Gefühl von dauerhafter Bewegung. Die linienhaften
Charaktere werden dadurch nicht immer vollständig und exakt dargestellt,
sondern weisen Lücken auf (siehe Abbildung 5.16). Die Zeichnungen sind
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
78
Abbildung 5.16: Screencaps aus dem Video zu Take On Me.
mit schnellen, dynamischen Strichen ausgeführt und vernachlässigen dabei
mitunter auch Details, die aber für die Erkennbarkeit und den Realismus in
einer Szene nicht zwingend nötig sind. Obwohl die Animation so eigentlich
weniger realistisch wirken müsste, ist genau das Gegenteil der Fall. Durch
die wechselnden Schraffuren und Konturen erscheinen die Linienzeichnungen noch beweglicher und lebensechter. Die flackernden Linien und Flächen,
die diese Unregelmäßigkeiten in den Zeichnungen verursachen, bewegen sich
dabei meist diagonal über das Bild, was mehr Wärme und Lebendigkeit erzeugt, als es eine vertikale oder horizontale Linie könnte (diese würde eher
an das Bildrauschen erinnern, das oft bei alten Kinofilmen beobachtet werden kann).
Das Pinback -Video arbeitet hier wiederum mit dem genauen Gegensatz:
die Linienzeichnungen sind völlig flach ohne jegliche Schattierung, Schraffur
oder Andeutung von Schatten, die einzige Perspektive, die hier erzeugt wird,
entsteht durch das Anordnen von Vorder- und Hintergrundebenen mit Hilfe
der detailreich texturierten Umgebungsanimationen (siehe Abbildung 5.17).
Die linienhaften Charaktere zielen in dieser Animation auch gar nicht darauf ab, eine räumliche Darstellung zu erreichen, sie fungieren durch ihre
kontrastreichen, einfachen Linien für sich selbst als Stilmittel.
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
79
Abbildung 5.17: Flache Linienführung.
Abbildung 5.18: Screencaps aus dem Video zu Take On Me.
Die Linien selbst, die im Video zu Take On Me verwendet werden, erzeugen ausgesprochen detailreiche Zeichnungen. Sie überlagern sich teilweise,
bilden so dickere Striche und Linien, sie erzeugen Tiefe durch Schattierungen und Schraffuren und erzeugen so eine starke Spannung. Diese Spannung
wird neben dem grundsätzlichen Flackern im Bild auch vor allem dadurch
unterstützt, dass die Linien trotz all ihrer Details nicht verschnörkelt sondern schwungvoll und dynamisch wirken. Diese Dynamik wird auch durch
die Veränderungen im Nachdruck, also die Veränderungen in der grundsätzlichen Linienstärke, verstärkt, die für die Handzeichnung so typisch ist.
Gerade dieser Veränderungen an der Linie selbst, lassen das entstehende Gesamtbild bewegt und lebendig wirken, wie es einer starren, gleichförmigen
Linie nie gelingen könnte.
Im Gegensatz dazu sind die Linien im Musikvideo Fortress sehr exakt
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
80
Abbildung 5.19: Screencaps aus dem Video zu Fortress.
ohne jegliche Ausreißer gearbeitet. Die Linienstärke ist absolut gleichförmig
und unveränderlich, was die Figuren sehr kühl und wenig lebensnah erscheinen lässt (siehe Abbildung 5.19). Selbst die wirren, krakeligen Linien, die
an den Augen des Öfteren zur Verbildlichung von Wut verwendet werden,
weisen keinerlei Veränderungen im Nachdruck auf. Die Linien sind außerdem wenig detailreich und durch ihre geometrische Darstellung auch selten
dynamisch (wie bereits im Kap. 4 erwähnt, weist eine Gerade eine geringere
Grundspannung und somit auch Dynamik auf als eine Gebogene). Auch die
steifen Bewegungen der Figuren erzeugen in Kombination mit den starren
Linien nur wenig Spannung, erst durch die Geschwindigkeit wirken diese
sie geringfügig dynamischer. Obwohl viele vertikale Linien in der Animation verwendet werden (diese wirken laut Kandinsky wärmer als horizontale
oder diagonale, siehe auch Kap. 4), sind die Figuren kühl und unbewegt,
was wohl auch durch die fehlende Dynamik der Linien selbst und durch die
kurzen, ruckartigen und wenig schwungvollen Bewegungen der Charaktere
entsteht. Die transparenten Linienzeichnungen, durch die immer der Hintergrund durchscheint, zeigen hier, dass der Mensch zwar sehr wohl materiell,
aber doch vergänglich und Veränderungen unterworfen ist. Im Kontrast dazu
stehen die opulenten Hintergründe, welche die Permanenz und dauernde Erneuerung der Natur versinnbildlichen. Die schmalen, kontrastreichen Linien
wirken vor dieser Umgebung surreal und beinahe als Fremdkörper, da sie
sich so stark von ihr abheben.
Schlussfolgerungen
Animierte linienhafte Charaktere können, wie die vorangegangene Analyse
zeigt, eine völlig unterschiedliche Wirkung und Ausdruck hervorrufen, ganz
je nachdem wie die Linie an sich gestaltet ist. Obwohl es zwischen den beiden
KAPITEL 5. ANALYSE VON ANIMIERTEN LINIEN
81
Animationenen, den Musikvideos von AHA und Pinback kaum Ähnlichkeiten im Design gibt, können durch die Verwendung der Linie als Stilmittel
an sich durchaus Gemeinsamkeiten entdeckt werden:
• Der Fokus des Betrachters liegt immer an den Charakteren selbst,
da sie sich durch die Verwendung der Linie stark von der Umgebung
abheben.
• Die Charaktere sind durch die Reduktion auf die Linie übersichtlicher
und klarer strukturiert.
• Dem Betrachter wird durch das Wegfallen von Details mehr Freiraum
für eigene Interpretationen gelassen.
• Das Bild wirkt auch bei größeren Ansammlungen von Linienzeichnungen aufgeräumter.
• Durch comichafte Charaktere können auch surreale Begebenheiten realistischer dargestellt werden, als dies bei einer Umsetzung in Realfilm
der Fall wäre.
Je nachdem, wie ähnlich sich einzelne Arbeiten auch untereinander sind,
desto mehr Gemeinsamkeiten im Ausdruck lassen sich natürlich entdecken.
Prinzipiell sind die Möglichkeiten, die im Ausdruck mit der Linie erzielt
werden können aber ausgesprochen vielfältig und können deshalb auch nur
immer für jede Animation an sich separat beurteilt werden. Dies ist von
der Wahl der Linienform (klare, geometrische Linien, verschnörkelte Linien,
skizzenhafte Linien, etc.), der Linienstärke (und auch den entsprechenden
Veränderungen im Nachdruck) und anderen Attributen, die von der Linie
selbst beeinflusst werden, sowie auch von der designtechnischen Umsetzung
der Charakters an sich (comichaft, realistisch, etc.) abhängig.
Kapitel 6
Technische Erzeugung
von animierten Linien
In diesem Kapitel soll die technische Erzeugung von animierten Linien behandelt werden. Dabei sollen die Animationen in handgezeichnete und prozedurale Linien (siehe 6.3) unterteilt werden und zu jeder Linienform sollen
mögliche Produktionswege vorgestellt werden. Weiters soll vor allem im Bereich der handgezeichneten Linie auf Veränderungen im Produktionszyklus
eingegangen werden, die durch die Benutzung des Computers entstanden
sind. Auch die Kombination der so erzeugten Linien mit anderen Animationen bzw. Realfilm soll kurz angeschnitten werden, sowie ein Überblick über
Softwarepakete gegeben werden, die sich für die Erzeugung von animierten
Linien eignen.
6.1
6.1.1
Handgezeichnete Linien
Full Animation
Mit dem Begriff Full Animation bezeichnet sich eine Animationstechnik mit
konstanten Bewegungen. Dabei verwendet die Full Animation nur selten
Bewegungszyklen, die Künstler verwenden jede Zeichnung einer Animation
möglichst nur ein Mal. Die Bilder dieser Animationstechnik sind sehr metamorph, die Formen der Charaktere werden geändert, um Reaktionen und
Gefühle auszudrücken (z.B. Squash and Stretch-Prinzip). Außerdem verändern die Figuren ihre Proportionen im Bezug zur Bewegung der z-Achse,
damit soll mehr Tiefe simuliert werden. Für die Full Animation ist eine
große Anzahl von Einzelbildern pro Sekunde notwendig, damit die Bewegungen auch tatsächlich flüssig wirken. Da dieser Produktionsstil für seine
runden“ Darstellungsformen und Bewegungen bekannt ist, wird er auch
”
O-Style genannt. Da die Produktion von voll animierten Filmen sehr aufwändig ist, werden diese Animationen vor allem für Kinofilme verwendet. In
82
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
83
der klassischen Animation wurden ursprünglich Rostrum Cameras“ (spe”
zielle Kameratische), verwendet um mehrere Schichten Cels 1 übereinander
platzieren zu können. Auf der untersten Ebene wurde der Hintergrund aufgelegt oder bei etwaigen Kamerabewegungen für jede Einstellung geringfügig
in ihrer Position verändert. Darüber befanden sich diverse Vordergrundelemente. Das entstehende Bild wurde dann abfotografiert und danach mit den
anderen so angefertigten Frames zusammen gesetzt.
Als Hilfsmittel zur Erstellung von animierten Linien (und auch von anderen handgezeichneten Animationen) wird bis heute oft das so genannte
Rotoscoping verwendet. Rotoscoping ist eine spezielle Animationsart, mit
der besonders flüssige, lebensechte Bewegungen erzielt werden können. Dabei werden die Einzelbilder eines Realvideos Frame für Frame nachverfolgt
und abgezeichnet“. Dadurch bleibt die erzeugte Bewegung sehr nah an der
”
realen Vorlage und wirken dementsprechend echt, weil kaum Raum für Übertreibungen oder Karikaturen bleibt [18]. Ursprünglich wurde der Realfilm bei
dieser Technik auf eine Glasplatte projiziert, der Zeichner konnte sein Papier
auf dieser Scheibe platzieren und die Einzelbilder auf einer bildschirmartigen
Oberfläche nachverfolgen und abzeichnen. Anschließend wurden diese Einzelbilder abfotografiert und daraus wurde der neue, animierte Film erzeugt.
Heute können die Einzelbilder eines Films auch direkt digital am Computer
nachbearbeitet und abgezeichnet“ werden (siehe Abbildung 6.1).
”
6.1.2
Limited Animation
Die Limited Animation wurde zum ersten Mal vom kleinen, aber sehr innovativen Produktionsstudio UPA kommerziell verwertet und eingesetzt (siehe
auch Abschnitt 3.3). Im Gegensatz zur Full Animation verwendet die Limited Animation sehr viele Bewegungszyklen, um die Einzelbildanzahl und den
Arbeitsaufwand zu reduzieren, was natürlich Zeit und Geld spart. Außerdem
gibt es bei der Limited Animation viel weniger Änderungen im Bezug auf
Form und Proportion und es werden weniger Bilder pro Sekunde verwendet, was oft einen abgestuften Effekt in der Bewegung auslöst. Eine weitere
Eigenheit ist die oftmalige Verwendung von Kamerabewegungen (z.B. ein
Schwenk über eine geringere Augenbewegung) und relativ langen Kameraeinstellungen (oft werden einige Frames vor und nach einer Bewegung aufge1
Als Cels werden transparente, beschreib- oder bedruckbare Folien bezeichnet, die zur
Erstellung von gezeichneten Animationsfilmen verwendet werden. Ursprünglich wurde bei
Zeichentrickfilmen das gesamte Bild auf ein einzelnes Blatt Papier gezeichnet, was aber
einen sehr großen Arbeitsaufwand bedeutete, weil auch die Hintergründe einer Szene jedes
Mal wieder neu gezeichnet werden mussten. Außerdem begann das Bild dadurch oft zu
Zittern oder Ruckeln, da kein Hintergrund absolut deckungsgleich mit dem vorhergehenden
war. Um diese Probleme zu umgehen, wurden Vorder- und Hintergrund sowie die bewegte
Figur auf transparente Folien gezeichnet. So musste der Animator den Hintergrund nur
einmal erarbeiten und sich auf die Animation konzentrieren.
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
84
Abbildung 6.1: Rotoscoping der Konturen eines Bildes in Photoshop
zeichnet, damit eine Szene etwas länger dauert). Um die visuellen Einschränkungen aufzuheben, wird bei der Limited Animation großer Wert auf das
Sound Design gelegt. Es wird Voice-over-Narration (ein Erzähler aus dem
Off) verwendet und es gibt viele, manchmal auch sehr lange Dialoge. Bei
letzteren wird oft der Mund der Figur oder zumindest Teile davon verdeckt,
um so die Lippensynchronisation weniger komplex gestalten zu können oder
überhaupt Animationsarbeit einsparen zu können. Nichtsdestoweniger bedeuten diese Einschränkungen nicht, dass die Limited Animation schlechter
ist als die Full Animation, aber aufgrund ihres reduzierten Stils wurde sie in
ihrem Wert oft nicht hoch genug eingeschätzt. Beide Animationsstile haben
ihre Vor- und Nachteile, der Künstler sollte den Animationsstil im Bezug
auf das Ziel der Arbeit einschätzen und dann das richtige Werkzeug dazu
auswählen.
Gerade in den Ursprüngen der Limited Animation war die Linie ein wichtiges
Stilmittel (siehe auch Abschnitt 3.3), da die starke Abstraktion von Formen
auch zu einem vermehrten Auftauchen von geometrischen Flächen und Linien führte. Damals war diese Animationsform sehr kontrovers, da sich die
Zuseher mit der dynamischen, sehr künstlerischen Optik der Trickfilme nicht
anfreunden konnten und sie als Faulheit und schlechte zeichnerische Fähigkeiten missinterpretierten. Heute wird die Limited Animation weit besser
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
85
von den Menschen akzeptiert, als in ihren Anfängen. Wohl auch deshalb,
weil die heutige Jugend schon mit den animierten Fernsehserien aufgewachsen ist, die nach dem Prinzip der Limited Animation produziert wurden,
weil sich diese durch die große Kostenersparnis für TV Produktionen eignete. Sie wird sogar schon als eigene Kunstform betrachtet und als kreative
und ästhetische Bildsprache eingesetzt.
6.1.3
Veränderungen durch neue Technologien
Durch den Einsatz digitaler Hilfsmittel hat sich in der klassischen Animation
die Arbeitsweise mit der Zeit verändert und vereinfacht. Fast alle analogen
Techniken können durch Zuhilfenahme von aktuellen Technologien auch digital umgesetzt werden.
Mit Hilfe von Grafiktabletts können die Animationskünstler heute direkt
am Computer zeichnen ohne den Umweg über Handzeichnungen und Einscannen oder Abfotografieren gehen zu müssen. So wird der Arbeitsvorgang
stark vereinfacht und beschleunigt, da einige Arbeitsschritte so komplett
wegfallen. Das Arbeiten mit einem Grafiktablett kann allerdings sehr gewöhnungsbedürftig sein. Viele Künstler beschweren sich über eine sehr gewöhnungsbedürftige Bedienungsweise der Stifte, die eingeschränkte Auflösung
und eine somit geringere Qualität eines Bildes. Doch allen Kritikern zum
Trotz sind Grafiktabletts in jedem Fall eine große Erleichterung im Arbeitsalltag eines Animators.
Auch beim digitalen Rotoscoping sind diese digitalen“ Vorteile deutlich
”
spürbar. Entweder kann jedes Einzelbild in ein entsprechendes Bildbearbeitungsprogramm geladen werden und dort einzeln abgezeichnet werden
oder das gesamte Videomaterial wird in ein entsprechendes Animationsprogramm geladen (z. B. Mirage, ToonBoomStudio) und dann Frame für Frame
abgezeichnet. Beide Arbeitsweisen bieten einige Vor- und Nachteile (bei
der Arbeitsweise im Bildbearbeitungsprogramm wird zwar wenig Speicher
verbraucht, aber dafür müssen die Einzelbilder danach noch in einem Videoschnittprogramm zusammengesetzt werden – das Animationsprogramm
hingegen benötigt zwar mehr Speicher, dafür ist aber kein zusätzliches Videoschnittprogramm notwendig), deshalb muss der Zeichner individuell entscheiden, welche Technik sich für seine Ziele besser eignet.
Im Zeitalter digitaler Technik ist das Erstellen von gezeichneten Animationen durch den Einsatz virtueller Ebenen stark vereinfacht worden, da jedes
professionelle Bildbearbeitungs-, Animations- und Videoschnittprogramm
heute mit der Layer-Technologie arbeitet (siehe auch Abbildung 6.2). Die
Verwendung der Rostrum Cameras ist somit obsolet, da durch diese Technologie sehr viel einfacher, schneller und auch viel billiger gearbeitet werden
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
86
Abbildung 6.2: Verwendung von Ebenen in Mirage
kann. Diese Tatsache hat auch eine prinzipielle Auswirkung auf die Animation an sich: früher war es schon allein aus Gründen der technischen Ausstattung fast nur professionellen Animatoren möglich, sich mit der Animation
zu beschäftigen und zu experimentieren. Heute ist diese Barriere durch die
leichte Zugänglichkeit von Animationssoftware gefallen und viele – vor allem
junge – Menschen beschäftigen sich hobbymäßig mit der Animation. Diese
Hobby-Animatore haben einen anderen, weniger kommerziellen Zugang zur
Animation und bringen durch ihren spielerischen Umgang eine große Frische
in das Gewerbe.
Selbst Pencil Tests können heute digital durchgeführt werden, es gibt
sogar spezielle Programme zum Erstellen derselbigen. Da es auch heute für
einen Animator unerlässlich ist, dass er die Bewegungen seiner Figur vorab
beurteilen kann, werden diese heute bereits digital durchgeführt. Digitale
Pencil Tests sind in ihrer Qualität den ursprünglichen Tests weit überlegen.
Damals mussten noch mehrere Schichten Papier übereinandergelegt, von
hinten beleuchtet und abfotografiert werden. Dies brachte vor allem dadurch
Probleme mit sich, da das Papier von hinten meist schlecht beleuchtet war
und die Konturen der Animation so verschwammen. Ein weiterer großer
Vorteil ist die Tatsache, dass das digitale Bild, das aus einem zeitgemäßen
Pencil Test hervor geht, direkt weiter bearbeitet werden kann und so zum
finalen Cartoon wird, ohne dass der Zeichner den Umweg über Einscannen
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
87
oder Abfotografieren gehen muss.
6.2
Maskierung von bestehendem Filmmaterial
Animierte Linien lassen sich auch durch die Nachbearbeitung von bestehendem Filmmaterial erzeugen. Die Arbeitsweise soll hier kurz am Beispiel der
bekannten Post Production Software Adobe AfterEffects erläutert werden.
Wenn eine Videoaufnahme vor einem homogenen Hintergrund, also z. B. in
einer Green- oder Blue-Box, gedreht wurde, kann dieser durch das sogenannte Keying 2 nachträglich aus der Aufnahme entfernt werden. So kann
ein bewegliches Objekt aus dem Vordergrund freigestellt werden. Sobald
das Objekt freigestellt ist, wird es mit Hilfe eines Filters (z. B. durch starkes
Verringern von Kontrast und Helligkeit) in eine homogene, einfärbige Fläche
verwandelt. Dann muss es dupliziert und geringfügig verkleinert am selben
Punkt positioniert werden. Mit Hilfe einer weiteren Maske wird dann die
kleinere Version vom Originalobjekt abgezogen. So entsteht eine Konturlinie (siehe Abbildung 6.3).
Die Maskierung in einem Compositingprogramm ist zwar prinzipiell zur
Erstellung von Konturlinien verwendbar, ist aber eine sehr umständliche und
arbeitsintensive Methode. Die Skalierung und Position der beiden Objekte
muss für jedes Bild erneut angepasst werden und ist dadurch dementsprechend zeitaufwändig.
6.3
Prozedurale Linien
In der Computergrafik werden auch prozedurale Linien verwendet. Diese
Form von Linien wird automatisch anhand vorgegebener Regeln und mathematischer Formeln direkt vom Computer generiert und kann mittels festgelegter Parameter vom Benutzer verändert werden. Derartige Linien werden
zum Beispiel in Illustrationsprogrammen wie Macromedia Freehand oder Adobe Illustrator bis hin zu Animationsprogrammen wie 3dsmax, Maya oder
Macromedia Flash verwendet, um Linien zu erzeugen. Durch prozedurale
Linien wird aber nur die Form einer Kurve festgelegt, nicht aber ihre Linienstärke, Farbe, Form oder Transparenz. Die so berechneten Kurven haben
den Vorteil, dass sie nicht für jedes Bild mit der Hand neu gezeichnet werden
müssen, da sie mit Hilfe von Kontrollpunkten manipuliert werden. So müssen für eine Animation nur die Keyframes 3 angegeben werden, die Bilder
2
Beim Keying können durch Extraktion von bestimmten Farb- oder Helligkeitswerten
(Chroma Key bzw. Luma Key) und anderen Methoden, Bildelemente – wie ein einfärbiger Hintergrund – aus einem Bild entfernt werden und so z. B. ein anderer Hintergrund
eingefügt werden.
3
Keyframes sind die wichtigsten Bilder einer Animation, sogenannte Schlüsselbilder,
welche die extremste Position einer Bewegung wieder geben. Sie sind das erste, was von ei-
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
88
Abbildung 6.3: Maskierung von Filmmaterial in AfterEffects
dazwischen werden automatisch von der Software berechnet.
Prozedural generierte Linien werden neben Animationsfilmen und Kunstprojekten auch häufig zur Verwendung von mathematischen, physikalischen
oder anderen wissenschaftlichen Skizzen eingesetzt. Nichtsdestotrotz besteht
noch immer ein visueller Unterschied zwischen einer handgezeichneten und
einer automatisch generierten Linie, der auch für den Laien erkennbar ist.
Die so generierten Linien sind sehr gleichförmig und wirken sehr technisch.
Sollen sie aber lebhafter erscheinen und stärker an eine Handzeichnung erinnern, müssen sie z. B. durch Paint Effects (siehe auch Abschnitt 6.5) oder
Comic Shading (siehe auch Abschnitt 6.3.3) nachbearbeitet werden. Oftmals
ist dieser Unterschied aber für den Erfolg eines Projektes nicht von Bedeutung und es kann sich durchaus lohnen, schon allein aufgrund der enormen
Arbeitsersparnis, z. B. einen Cartoon Shader (siehe auch refsec:rendering)
zu verwenden anstatt alle Zeichnungen mit der Hand anzufertigen.
ner Animation gezeichnet wird. Die Bilder zwischen den Keyframes nennt man In-Between
oder auch Tweenings.
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
(a) 3dsmax
89
(b) Freehand
Abbildung 6.4: Splines im 2D und 3D Programm.
6.3.1
Splines
Der Name Spline“ 4 kommt ursprünglich aus dem Schiffbau. Dabei wurden
”
dünne, elastische Holz- oder Metalllatten zur Festlegung einer Kontur durch
mehrere bestimmte Punkte gelegt. Als Entdecker der Splines gilt der rumänische Mathematiker Isaac Jacob Schoenberg, welcher als Erster 1949 in einer
Arbeit den Begriff Splines verwendet. Dieses Prinzip wurde auch in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern für die Computergrafik übernommen.
Durch das kurvige Karosseriedesign wurden bei Citroen, Renault und General Motors mehrere, voneinander unabhängige Ansätze für die Darstellung
von Kurven, genannt Splines, entwickelt [8]. Splines lassen sich zur Darstellung von Kurven sehr gut verwenden und kommen deshalb auch häufig in
CAD Anwendungen zum Einsatz. Diese Kurven basieren ihrerseits auf dem
Prinzip des B-Splines 5 . Eine solche B-Spline-Kurve basiert auf der Erstellung einer konvexen Hülle, welche die Form der Kurve festlegt. Diese Hülle
wird durch die sogenannten De Boor Punkte festgelegt [9], durch welche
die Kurve auch in ihrem Aussehen beeinflusst werden kann (siehe Abbildung 6.4).
6.3.2
Bezier Kurven
Pierre Bezier entwarf in den sechziger Jahren schwungvolle, kurvige Autokarosserien für Renault und entwickelte zur Darstellung auf dem Großrechner
ein System zur Kurvenbeschreibung, das die Basis für alle Vektorgrafikprogramme wurde. Die kubische Bezier Kurve 6 ist bis heute ein ausgesprochen
4
Ein Spline ist eine Kurve, die durch eine vorgegebene Anzahl von Punkten verläuft
und diese möglichst glatt durch gleichmäßige, schrittweise polynomische Annäherung miteinander verbindet.
5
Jedes (stückweise) Polynom hat einen Vektorraum und eine Basis. Ein B-Spline ist
eine Spline, der in seiner Basis dargestellt wird.
6
Eine Bezier-Kurve ist somit eine besondere Art eines Splines. Dabei wird durch Bernsteinpolynome ein Kontrollpolygon rund um die Kurve gebildet, welches ihre Form festlegt.
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
90
Abbildung 6.5: Bezier Kurven in 3dsmax
wichtiges Element der Computergrafik, da mit ihr fast alle Formen und Zeichenumrisse dargestellt werden können. Abbildung 6.5 zeigt, wie die Gestalt
der Kurve festgelegt wird: durch einen Start- und Endpunkt sowie durch die
Bezier-Kontrollpunkte, die außerhalb der eigentlichen Linie verlaufen (nicht
wie beim Spline durch die Basis selbst) – diese bilden Tangenten durch den
Start- und Endpunkt – erhält diese ihre Form [2]. Beinahe alle grafischen
Formen und Schriftzeichen außer Geraden und Rechtecke werden mittels der
Bezier-Kurve beschrieben, deshalb ist diese Darstellung auch so verbreitet.
6.3.3
Non-Photorealistic Rendering
Eine weitere Möglichkeit zum Erzeugen animierter Linien ist das Verwenden
eines sogenannten Non-Photorealistic Renderings 7 bzw. Comic Shaders 8
(manchmal auch Cartoon oder Toon Shading genannt) beim Erzeugen eines
animierten 3D Modells. Das Feld des Non-Photorealistic Rendering reicht
hierbei von eigenen Programmiersprachen, wie beispielsweise bei Pixar´s
Renderman, das beinahe unbegrenzte Möglichkeiten zur Darstellung der errechneten Linien ermöglicht, bis hin zu Plugins für Animationsprogramme
oder selbst erstellten Materialien in 3D Programmen. Beim Cartoon Shading
7
Rendering nennt man die Erzeugung eines digitalen Bildes durch eine zwei- oder dreidimensionale Bildbeschreibung.
8
Shading nennt man die Simulation einer Objektoberfläche durch ein spezielles Beleuchtungsmodell. Dabei wird Farbe und Helligkeit für die einzelnen Punkte eines dreidimensionalen Objektes berechnet und ausgegeben.
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
91
Abbildung 6.6: Materialen zur Simulation von Cartoon Shading in 3dsmax
wird kein Wert auf Realismus gelegt, sondern auf starke Kanten und harte
Schatten. Durch entsprechende Parameter kann so der Look des Shadings
bestimmt werden (z. B. Linienstärke, nachträgliche Änderungen im Nachdruck, Detailreichtum, Farbe). So können anstatt einer normalen CartoonOptik auch abhängig vom gewünschten Effekt lediglich Konturlinien erzeugt
werden. Nach dem Rendern der gesamten Sequenz wirken die Figuren dann,
als würden sie lediglich aus animierten Linien ohne flächiger Füllung bestehen. Diese Art von Comic Shading ist inzwischen sowohl als Plugin für
Programme wie 3dsmax oder Flash erhältlich (siehe Abbildung 6.7), sie können aber auch direkt im 3D Programm als kombinierte Materialien selbst
angelegt werden (siehe Abbildung 6.6 9 ). Allerdings sind diese Materialien
in ihrer Qualität den meisten professionellen Plugins eindeutig unterlegen.
6.4
Animierte Linien in Kombination mit anderen
Animationstechniken und Realfilm
Natürlich können animierte Linien auch mit anderen Animationselementen
und -techniken kombiniert werden. Eine animierte Linie kann mit den unterschiedlichsten Techniken vom 3D Spline, über Cartoon Shading bis zur
Handzeichnung erzeugt werden und kann dementsprechend auch mit allen
anderen Techniken kombiniert werden. In den nachfolgenden Punkten soll
9
Abbildung aus http://www.flashfilmmaker.com/index.php?id=2,3,0,0,1,0
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
92
Abbildung 6.7: Rendering von handgezeichneten Linien mit dem Comic
Shader Toon Titan
ein Überblick gegeben werden, wie dies von statten gehen kann.
6.4.1
2D Animation
Da die Linie auch selbst oft als 2D Animation entsteht, kann sie sehr einfach
mit anderen 2D Animationstechniken kombiniert werden. Bei der gezeichneten Animation, ob per Hand oder digital am Computer, werden animierte
Linien oder linienhafte Charaktere wie jedes andere zweidimensionale Objekt
behandelt. Wenn die animierten Linien mittels Rotoscoping erstellt werden,
muss die dadurch entstehende Animation einfach, beispielsweise mit einem
Compositingprogramm wie After Effects, in einer neuen Ebene in die bereits bestehende Sequenz eingefügt und entsprechend angeordnet werden.
Falls die animierten Linien durch einen Cartoon Shader erzeugt wurden,
kann ein eventuell bereits bestehender Hintergrund durch Keying oder die
Verwendung von Masken entfernt werden und die so übrig bleibenden Linien
wiederum als eigenständiges Element in einer Animationssequenz verwendet
werden. Doch animierte Linien können nicht nur in klassischen Zeichenprogrammen realisiert, sondern auch als standardisierte, prozedurale Objekte
erstellt werden, wie es in Vektorprogrammen wie Freehand oder Flash üblich
ist (siehe auch 6.3). Hier wird vom Benutzer eine Linie nach einer bereits
existierenden Vorlage angelegt und kann dann im Nachhinein im Bezug auf
ihre Form, Farbe oder Textur manipuliert und verändert werden. Ein Vorteil
der Animation von Linien mit Vektorprogrammen ist, dass diese so erzeugten, vektorisierten Linien ganz einfach verlustfrei veränder- und skalierbar
sind, was die Erstellung und Handhabung der Animation sehr vereinfacht.
Durch diese Technik muss nicht jedes Bild einzeln gezeichnet werden, die
Animation zwischen zwei festgelegten Keyframes wird vom Programm durch
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
(a)
93
(b)
(c)
Abbildung 6.8: Formtweenings in Flash.
Interpolation der Werte selbstständig erledigt (siehe Abbildung 6.8).
6.4.2
3D Animation
Das Einfügen von animierten Linien in eine 3D Animation kann entweder
direkt im 3D Programm oder — für den Fall, dass zweidimensionale Linienzeichnungen verwendet werden sollen — in einem Compositingprogramm
nach Abschluss der 3D Animation vorgenommen werden. Letztere Möglichkeit unterscheidet sich kaum von der Kombination der Linien mit einer
zweidimensionalen Animation, da die Linien erst nachträglich hinzugefügt
und somit an die dreidimensionalen Objekte angepasst oder ansonsten einfach planar über die Animation gezeichnet oder generiert werden müssen.
Dreidimensionale, abstrakte Linien können beispielsweise direkt in Maya als
Splines angelegt werden. Dort können die Linien dann im Raum frei animiert
und in ihrer Bewegung durch Setzen von Keyframes verändert werden. Die
Frames dazwischen werden genau wie in Flash interpoliert und so entsteht
letztendlich eine flüssige Bewegung (siehe Abbildung 6.8 und 6.12). Ein weiterer Vorteil bei der Erzeugung der Linien direkt im 3D Programm ist, dass
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
94
die Kamerabewegungen, die für die Animation von Nöten sind, auch automatisch auf die animierten Linien ausgeführt werden und so einfach ein
räumlicher Eindruck erzeugt wird.
6.4.3
Realfilm
Die Verbindung von animierten Linien und Realfilm ist wohl die aufwändigste der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten. Natürlich können auch
über den Realfilm ganz einfach gezeichnete oder vektorisierte Linien gelegt
werden, die mit dem Bild keine tiefere Verbindung eingehen. Will man aber,
dass die Linien sich auch den Kamerabewegungen anpassen – also wenn die
virtuellen Linien in der Szene wirken sollen, als wären sie tatsächlich mit
der selben Kamera wie das Realbild aufgenommen worden – so muss man
die Kamerabewegungen des bestehenden Videomaterials mittels Tracking 10
analysieren. Die virtuellen Objekte übernehmen so die Kamerabewegungen
des Realvideos und integrieren sich dadurch bestmöglich in das Bild. Dies
ist vor allem wichtig, wenn die Realvideosequenz mit starken Kamerabewegungen aufgenommen wurde oder durch Ruckeln und Zittern beeinträchtigt
ist. So bekommt der Betrachter den Eindruck, dass alle Aufnahmen, ob real
oder virtuell, mit der selben Kamera getätigt wurden. Wird in so einem
Fall ohne Tracking gearbeitet, könnten die gezeichneten Objekte anfangen
auf dem Bild zu schwimmen“, was der Animation naturgemäß einen sehr
”
unrealistischen Eindruck verleiht.
6.5
Softwarepakete zur Erstellung von animierten
Linien
Zum digitalen Zeichnen von Animationen, also auch von animierten Linien,
gibt es diverse verschiedene Softwarepakete. Diese übernehmen die meisten
Funktionen aus der klassischen handgezeichneten Animation (z. B. den Lighting Table, eine Funktion mit Hilfe derer sich der Animator eine beliebige
Anzahl von Bildern vor und nach einem speziellen Frame anzeigen lassen
kann) in eine digitale Form und vereinfachen so die Arbeit des Zeichners
enorm. Lediglich das Zeichnen am Computer selbst mit Hilfe eines Grafiktabletts ist gewöhnungsbedürftig und erreicht auch nie die selbe Qualität
und Dynamik wie eine richtige Handzeichnung. Aber auch die Verwendung
von Grafiktabletts ist heute schon sehr weit fortgeschritten: die Programme
erkennen den Nachdruck, es können Texturen für den Pinselstrich ausgewählt und nach Belieben angelegt werden, und vieles mehr. Zwei beliebte
10
Tracking umfasst alle Bearbeitungsschritte, die der Verfolgung von bewegten Objekten
dienen. Ziel dieser Verfolgung ist zum einen die Extraktion von Informationen über den
Verlauf der Bewegung und die Ermittlung der Lage eines Objektes, damit weitere virtuelle
Objekte anhand der errechneten Bewegungskoordinaten eingefügt werden können.
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
95
Abbildung 6.9: Szenen- und Compositingansicht in ToonBoomStudio.
Programme für die Herstellung von gezeichneten Animationen sind die Bauhaussoftware Mirage und ToonBoomStudio, welche mir hier als Beispiel für
Zeichenprogramme dienen sollen.
ToonBoomStudio (siehe Abbildung 6.9) ist ein hilfreiches Tool zur Erstellung von animierten Zeichnungen, da die Animationen auch hier mit Elementen aus anderen Bildbearbeitungs- und Vektorgrafikprogrammen kombiniert
werden können. Der Arbeitsablauf sieht im Allgemeinen folgendermaßen aus:
zuerst werden im Zeichenmodus die Linienzeichnungen selbst angelegt, wobei der Benutzer aus vordefinierten Linienformen auswählen kann. Dabei
kann mit einem Exposure Sheet 11 , das auch zum Storyboarding Vorteile
bietet, gearbeitet werden, damit der Überblick über die gesamte Animation
gewährleistet bleibt. Dann werden die einzelnen Elemente in einer Szene
nach dem Wechseln in den sogenannten Szenenplanungsmodus angeordnet
und die Sequenz danach im entsprechenden Format exportiert.
Im Gegensatz dazu ist Mirage vielfältiger in seinen Anwendungsmöglichkeiten, da auch Bildkorrekturen, Special Effects, Texturierung von 3D
Objekten und Ähnliches vorgenommen werden können. Das Programm ist
in seinem Aufbau ähnlicher zu anderen Bildbearbeitungs- und Animationsprogrammen als es bei ToonBoomStudio der Fall ist, was ohne Zweifel die intuitive Arbeit des Benutzers und vor allem den Einstieg in das Programm begünstigt. Mirage unterstützt wie auch ToonBoomStudio die Verwendung von
Ebenen, gängige Funktionen wie den Lighting Table (siehe Abbildung 6.10),
aber auch Spezialeffekte wie die Aufnahme von Zeichnung oder Partikeleffekte (z. B. für Feuerwerke o.ä.). Erwähnenswert ist hierbei auch, vor allem
weil es für animierte Linien von Bedeutung ist, dass die Pinselspitzen (auch
11
Ein Exposure Sheet enthält Informationen über die Anzahl und Anordnung von Sequenzen und Ebenen, Kamerabewegungen, Hintergründe, Sounds [18].
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
96
Abbildung 6.10: Brushes in Mirage
genannt Brushes) für das Zeichnen auch direkt vom Benutzer festgelegt werden können (z. B. durch zuvor angefertigte Texturen). Doch auch ohne Zutun des Benutzer kann Mirage schon mit einer breit gefächerten Palette an
vordefinierten Pinselspitzen aufwarten, was das Arbeiten mit einem Grafiktablett sehr vereinfacht. Die Linien können so sehr einfach individuell und
lebendig gestaltet werden (siehe Abbildung 6.11).
Prinzipiell hat jedes Zeichenprogramm seine Vor- und Nachteile und jedem ist die Bedienung eines anderen angenehm. In jedem Fall ist aber eines
bei allen Programmen gleich, sie arbeiten mit Pixelgrafiken, die nach der
Erstellung nicht mehr beliebig verändert werden können, deshalb muss eine
Animation zuvor vom Künstler genau geplant werden, damit nicht im Nachhinein Unstimmigkeiten auftreten können. Weiters kommen sie einer Handzeichnung im Gegensatz zu prozeduralen Linien schon relativ nahe, was den
so erstellten Zeichnungen mehr Leben einhaucht.
Neben den Zeichenprogrammen können aber animierte Linien auch mit Vektorprogrammen wie Flash erstellt werden. Auch hier wird die Verwendung
von unterschiedlichen Sequenzen und Ebenen gestattet. Der User erstellt
eine Linie und kann dabei ihre Länge und Dicke durch die Angabe weniger
Parameter bestimmen. Durch das Setzen von Keyframes und das Einfügen
von Bewegungs- und Formtweenings können die Linien in ihrer Position,
KAPITEL 6. TECHNISCHE ERZEUGUNG
97
Abbildung 6.11: Brushes in Mirage
Abbildung 6.12: Formtweening
Form und Farbe verändert werden (siehe Abbildungen 6.12). Dadurch, dass
Flash mit Vektorgrafiken arbeitet, können die entstehenden Animationen
ohne Verluste skaliert werden und behalten dabei ihre Bildqualität.
Auch in 3D Programmen wie Maya oder 3dsmax können animierte Linien erzeugt werden. Mit Hilfe von Splines, können Linien verschiedener
Ordnungen und Ausrichtungen erzeugt werden. Diese können mit beliebig
vielen Kontrollpunkten generiert werden, an denen das Objekt anschließend
verändert werden kann. Die äußerliche Erscheinung der Linie kann dabei
beim Rendern der Bilder angegeben werden. Zusätzlich besitzt z. B. Maya
die sogenannten Paint Effects“, vordefinierte Texturen und Darstellungen,
”
die an eine Linie gebunden werden können, um ihre Darstellung zu beeinflussen.
Kapitel 7
Diplomprojekt
Ars Commota
7.1
Die Idee
Die Idee zum Diplomprojekt Ars Commota entwickelte sich aus einem Projekt eines anderen Semesters heraus, bei dem mittels Rotoscoping eine reale
Videoszene in eine Animation verwandelt wurde. Da ich den optischen Stil
solcher Projekte schon immer als sehr ansprechend empfunden hatte und
außerdem noch gern zeichnete, beschloss ich, dass auch mein Diplomprojekt
sich mit Linienzeichnungen beschäftigen sollte. Da ich mich auch mit der
Kombination von unterschiedlichen Animationsstilen beschäftigen wollte,
sollte auch der Hintergrund animiert werden. Um einen möglichst großen
Kontrast zu den Linien gewährleisten zu können, wurde eine 3D-Animation
gewählt. Diese sollte außerdem optisch möglichst unaufdringlich und reduziert umgesetzt werden, damit die Linienzeichnungen nicht mit dem Hintergrund in Konkurrenz treten müssen. Die Qualität der handgezeichneten
Linien selbst sollte dabei nicht zu glatt und korrekt wirken, sondern eher
skizzenhaft und in den Bewegungen ruckelnd, da ich diesen Stil für meine
Animation sehr passend fand (siehe Abbildung 7.1). Ich wollte mich hierfür am Stil der klassischen Limited Animation orientieren, die neben der
optischen Komponente noch einen weiteren Vorteil bereit hielt: der Arbeitsaufwand war für eine einzelne Person leichter zu überblicken als bei der
doch extrem aufwändigen Full Animation. Somit fehlte zur Realisierung der
ursprünglichen Idee nur noch eine passende Geschichte. Die Story von Ars
Commota ist ein einfacher Sketch: die Gemälde einer Kunstgalerie erwachen
zum Leben, nachdem der Nachtwächter das Licht in den Ausstellungsräumen gelöscht hat. Einige der Malereien verlassen ihre Rahmen und feiern
gemeinsam eine kleine Party, auf der getanzt und gescherzt wird. Als jedoch
der Nachtwächter Geräusche und Musik aus eben diesem Raum hört und
auf dem Absatz kehrt macht, um nach dem Rechten zu sehen, müssen die
98
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
ARS COMMOTA
99
(b)
Abbildung 7.1: Screencaps aus Ars Commota.
Figuren ihre Feier überhastet beenden und in ihre Rahmen zurückkehren.
Als der Aufseher den Raum überprüft, bemerkt er, dass eines der Gemälde
sich bewegt: eine der Figuren versteckt sich im falschen Rahmen.
Die einzelnen, bekannten Gemälde (z.B. die Mona Lisa, Warhols Suppendose, u.ä.), die für Ars Commota verwendet wurden, sollten per Hand
abgezeichnet werden. Eine Herausforderung hierbei war es, dass die Bilder
in ihren Stilen doch sehr unterschiedlich sind und die Linienzeichnungen
aber trotzdem einen gemeinsamen Stil verfolgen sollten. Deshalb entschied
ich, dass bei jedem Bild nur die wichtigsten Konturen gezeichnet werden
sollten (siehe Abbildung 7.2), damit die Figuren nicht zu überladen wirken
würden. Trotz dieser Reduktion sollten die Linien selbst nicht zu homogen und ruhig ein wenig ausgefranst“ wirken, um den gewünschten skiz”
zenhaften Look zu erreichen. Die Animationen der Charaktere sollten hierbei außerdem eher roh sein, in den Bewegungen ein bisschen ruckeln und
in der Ausführung nicht zu exakt sein. Der dreidimensionale Hintergrund,
also die Galerieräume, wurden ebenfalls möglichst spartanisch geplant, mit
wenigen Details, die an ein klassisches Museum erinnern (Absperrkordeln,
Sitzgelegenheiten, wenige Pflanzen). Dadurch sollten die aufwändigeren Vordergrundanimation nicht mit dem Hintergrund in Konkurrenz treten müssen, außerdem konnte so einerseits die Verwendung von Realvideosequenzen
und andererseits die Notwendigkeit einer fotorealistischen Animation umgangen werden. Der Nachtwächter sollte ursprünglich 3D-animiert werden,
aber nach reiflicher Überlegung verwarf ich diese Idee wieder, da diese Charaktere meistens sehr comicartig wirken und ich eigentlich genau das schon
mit der reduzierten Modellierung des Hintergrunds vermeiden wollte. Also
wurde statt dessen die Szenen mit dem Nachtwächter aus der Ich-Perspektive
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
ARS COMMOTA
100
(b)
Abbildung 7.2: Screencaps aus Ars Commota.
angefertigt und mit einem Wackeln versehen, das an Schritte erinnern sollte.
So sollte der Betrachter außerdem sofort erkennen können, dass eine Szene
aus der Sicht des Aufsehers gezeigt wird. Außerdem wurden die Sequenzen
aus der Sicht des Nachtwächters nachträglich etwas anders, nämlich gelblicher, eingefärbt, um einen möglichst großen Kontrast zu den bläulichen Sequenzen mit den Linienzeichnungen zu gewährleisten. Um den Effekt dieser
simulierten Ich-Perspektive noch weiter zu unterstreichen, wurden außerdem
Schrittgeräusche eingefügt.
7.2
Die Umsetzung
7.2.1
Animierte Linien
Die animierten Linien für die verschiedenen Charaktere wurden mit der
Paintsoftware Mirage erstellt. Hierfür wurden zuerst die Konturen jedes einzelnen Gemäldes mit Hilfe eines Grafiktabletts in drei verschiedenen Versionen (dies diente dem ruckelnden Eindruck bei der anschließenden Animation) in Adobe Photoshop nachgezeichnet und anschließend in Mirage importiert. Positiv anzumerken ist hierbei, dass Mirage die Photoshop-Dateien
problemlos lesen kann und auch die Ebenen übernimmt. Anhand dieser Referenzzeichnungen wurden anschließend die Animationen erstellt. Hierfür besitzt Mirage noch ein weiteres äußerst praktisches Tool, den Lighting Table:
damit ist es möglich, sich beim Zeichnen eine beliebige Anzahl von Frames
vor und nach dem aktuellen Bild anzeigen zu lassen. So kann man zuerst die
wichtigsten Frames einer Bewegung, die Keyframes, zeichnen und anschließend nach und nach die Zeichnungen dazwischen auffüllen. So lässt sich sehr
übersichtlich arbeiten und die Bewegung erscheint so flüssiger.
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
ARS COMMOTA
101
Abbildung 7.3: AutoPaint-Funktion in Mirage.
Eine weitere Arbeitserleichterung, die ich verwendete, wenn ein Gemälde
seinen Rahmen verließ, ist die AutoPaint-Funktion. Bei dieser können beliebige Aktionen, in meinem Falle das Ausführen der einzelnen Pinselstriche,
aufgezeichnet und anschließend automatisch abgespielt werden. So wächst“
”
das Bild über die Zeit an, bis es sich vollständig aufgebaut hat. Die Zeit,
die es dabei zum Aufbau benötigt, kann vom Animator beliebig festgelegt
werden (siehe Abbildung 7.3).
All diese Animationen und Zeichnungen wurden nach ihrer Fertigstellung
als png-Sequenz gerendert. Wichtig hierbei war weiters, dass die Einzelbilder nicht pre-multiplied“ 1 gespeichert wurden, da sonst eine Glättung der
”
Zeichnung mit dem Hintergrund durchgeführt werden würde. Beim anschließenden Compositing wäre dies hinderlich, sollte der Hintergrund eine andere
Farbe als der in Mirage aufweisen.
7.2.2
3D Umgebung
Die dreidimensionale Galerie für Ars Commota wurde vollständig in Maya
realisiert. Hierfür mussten zwei Räume und ein Verbindungsgang modelliert werden, welche die Umgebung für die Geschichte darstellen sollten. Die
Wände und der Boden wurden mit möglichst realistischen, unaufdringlichen
Texturen versehen und erhielten zusätzlich noch ein Bump Mapping 2 , um
für eine korrekte Lichtstimmung beim Rendern zu sorgen. Auch die Lichtstimmung für die Räumlichkeiten wurde bereits in Maya festgelegt (siehe
Abbildungen 7.4 und 7.5).
Die einzelnen Malereien wurden hierfür als Texturen auf größenmäßig
1
Pre-Multiplied bedeutet, dass transparente Pixel in einem Bild mit dem Hintergrund
multipliziert werden.
2
Bump Mapping ist eine spezielle Form des Mappings, bei dem Oberflächenunebenheiten durch Schattierungen simuliert werden, ohne dass die Geometrie des 3D Objektes
dabei verändert werden muss.
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
ARS COMMOTA
(a)
102
(b)
Abbildung 7.4: Screencaps aus Ars Commota.
angepasste Planes gemappt 3 und – wenn nötig – mit einem entsprechenden Rahmen versehen. Um der 3D Umgebung ein wenig mehr Tiefe und
ein insgesamt freundlicheres, einladenderes Aussehen zu verleihen, wurden
die Räume mit Absperrkordeln, Sitzbänken und einigen wenigen Pflanzen
versehen (siehe Abbildungen 7.4 und 7.5). Insbesondere die Absperrungen
sind heute in normalen Museen natürlich nicht mehr üblich, aber da sie dem
Klischee eines Museums entsprechen, entschloss ich mich dazu, sie trotzdem
zu verwenden. So sollte dem Zuschauer glaubhaft vermittelt werden, dass er
sich in einer Kunstgalerie und nicht etwa in einem privaten Atelier befindet.
Die Pflanzen wurden mit Maya Paint Effects gezeichnet, was ein realistisches Aussehen der Texturen mit sich brachte. Auch alle Kamerafahrten,
ob für normale Szenen oder auch die mit dem Nachtwächter, wurden bereits in Maya als Pfadanimationen festgelegt und dann als png-Sequenzen
gerendert.
7.2.3
Kombination von Linie und Raum
Die verschiedenen png-Sequenzen, die durch die gerenderten Linienzeichnungen aus Mirage und Hintergründe aus Maya entstanden, wurden als finaler
Schritt im Compositing zusammengefügt.
Um eine größere Tiefenwirkung der Linie selbst erzeugen zu können, wurden die Linienzeichnungen auf eine zweite Ebene dupliziert, stark weichgezeichnet und im Verhältnis zum Original geringfügig in den Hintergrund
verschoben. So entsteht ein leichter Schatten der den Zeichnungen mehr
3
Mapping ist ein Vorgang, bei dem die Oberflächen von 3D Objekten mit zweidimensionalen Bildern (Texturen) versehen werden, um ihm das gewünschte Aussehen zu verleihen.
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
ARS COMMOTA
103
(b)
Abbildung 7.5: Screencaps aus Ars Commota.
Tiefe verleiht. Außerdem sollten die Linienzeichnungen ein wenig transparent sein, sodass man den Hintergrund leicht durchscheinen sieht. Die Linien
im Vordergrund wurden zusätzlich mit einem Shine Effect aus einem Plugin
namens TrapCode versehen. So entsteht ein leichtes, bläuliches Schimmern
um die Linien herum, diese wirken dadurch nicht mehr so hart und fügen
sich besser in den Hintergrund ein. Die Farbe und das leichte Glühen an sich
verstärken außerdem den surrealen Eindruck und unterstützen so den Effekt
einer Traumsequenz“.
”
Damit eine größere Tiefenschärfe im dreidimensionalen Raum vorgetäuscht
werden konnte, wurden die Linienzeichnungen, die nicht im Fokus des Betrachters liegen, stark weichgezeichnet. Elemente die sich im Raum weiter
hinten“ befinden, wurden ebenfalls weichgezeichnet und mit einer gerin”
geren Helligkeit ausgestattet. So entsteht der Eindruck einer gestaffelten
Wahrnehmung (siehe Abbildung 7.6).
Ein weiterer wichtiger Punkt war die Überschneidung von mehreren Linienzeichnungen. Das Problem dabei ist, dass es für den Betrachter nicht
mehr sofort erkennbar ist, welche Linien nun zu welcher Figur gehören und
die Erkennbarkeit leidet drastisch darunter. Außerdem kann das Auge die
Tiefe der unterschiedlichen Elemente nicht mehr auf Anhieb bestimmen, was
eine noch größere Verwirrung bewirkt. Für den Fall, dass derartige Überschneidungen entstanden, wurden sie unter Zuhilfenahme von Masken entfernt.
Die Kamerafahrten aus der Sicht des Portiers wurden erst in Adobe After Effects durch simulierte Schritten verändert. Die einzelnen Ebenen einer
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
ARS COMMOTA
104
(b)
Abbildung 7.6: Screencaps aus Ars Commota.
(a)
(b)
Abbildung 7.7: Screencaps aus Ars Commota.
Komposition mussten hierfür in 3D Ebenen umgewandelt werden, damit
eine in After Effects gesetzte Kamera auf sie einwirken konnte. Ebendiese
Kamera wurden anschließend ganz geringfügig animiert, um den Eindruck
eines gehenden Menschen entstehen zu lassen.
All diese entstehenden Kompositionen wurden als unkomprimierte Videos
aus After Effects gerendert und in das Videoschnittprogramm Adobe Premiere Pro importiert, um dort den Feinschnitt vorzunehmen. Weiters wurde
in Premiere auch ein kurzer Vor- und Abspann hinzugefügt.
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
7.3
7.3.1
ARS COMMOTA
105
Erweiterungen
Erzeugung von Tiefe im Raum
Obwohl ich während der Projektlaufzeit versucht habe, den Figuren eine
passende optische Raumtiefe zu geben, könnte diese eindeutig noch verbessert werden. Obwohl der Ansatz mit den weichgezeichneten Figuren, die
außerhalb des Fokus oder weiter hinten im Raum dargestellt werden sollten,
durchaus korrekt ist, könnte dieser eventuell durch eine exzessivere Anwendung noch verstärkt werden. Ein weiterer verstärkender Faktor zur Erzeugung von mehr Raumtiefe könnte außerdem bereits in Maya gemacht werden.
Hierfür müsste in Maya ein Raumnebel (Volume Fog) erzeugt werden, um
in Verbindung mit der Kamera einen größeren Tiefeneindruck erzeugen zu
können. Durch den Nebel wird der perspektivische Eindruck verstärkt, da
weiter entfernte Objekte nicht mehr deutlich genug erkennbar sind.
7.3.2
Sound Design
Das bestehende Sound Design zum Diplomprojekt Ars Commota wurde aus
bereits existenten Geräuschen verschiedener Sound Libraries, lizenzfreier
Sounds aus dem Internet und einem Musikstück der Funk-Soul-Gruppe Jestofunk realisiert. Die Geräuschkulisse wurde anhand der Aktionen der einzelnen Charaktere bereits im Storyboard festgelegt und nach der Fertigstellung der Animationen hinzugefügt. Die Musik für Ars Commota sollte die
Stimmung der Figuren vermitteln: sie sollte zum einen einen klaren, tanzbaren Beat und einen Geigensound besitzen. Da bereits in der Story selbst
eine Geige aus einer bekannten Picasso-Zeichnung ihren Rahmen verlässt,
wollte ich, dass diese zum Klang der Musik mitspielen“ würde. So entsteht
”
der Eindruck, dass der DJ“ aus dem Keith Haring Bild, den elektronischen
”
Part der Musik auflegen würde und die Geige dazu die melodischen Teile
spielt.
Die einzelnen Sounds und Geräusche wurden bei diesem Projekt untypischerweise in Adobe Premiere importiert und angeordnet, das sich normalerweise nicht besonders zum Audioschnitt anbietet. Da ich aber nur wenig
unterschiedliche Sounds und Musik für das Video benötigte, beschloss ich –
auch unter dem Aspekt, dass der Sound von Ars Commota ja ohnehin noch
überarbeitet wird – trotz allem die Audioumgebung in Premiere zu erstellen.
Leider entsteht durch die Wahl des Musikstücks aber auch ein Problem,
da ich keine Lizenzrechte dafür besitze. Somit ist mir eine kommerzielle
Nutzung der Musik untersagt. Deshalb wäre es vorteilhaft, beispielsweise
in Steinberg CubaseSX, ein eigenes Musikstück zu komponieren, das einen
Technobeat und eine Geigenmelodie besitzt, um dieses Problem zu umgehen. Außerdem bedarf das Sound Design auch noch an anderer Stelle einiger
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
ARS COMMOTA
106
Überarbeitung. Wie bereits im Abschnitt 6.1.2 erwähnt, arbeitet die Limited Animation verstärkt mit der Unterstützung durch das Sound Design.
Durch eine breiter gefächerte Geräuschkulisse mit besseren (z.B. selbst aufgenommenen Klängen) oder passenderen Sounds, könnte das Sound Design
und somit auch die Qualität des gesamten Films noch verbessert werden.
7.4
Ars Commota im Vergleich mit anderen
linienhaften Charakteren
Ars Commota arbeitet mit linienhaften Charakteren und kann natürlich
somit auch anderen Animationen mit ähnlichem Ausgangspunkt gegenübergestellt werden. In diesem Fall soll ein kurzer Vergleich mit anderen linienhaften Charakteren aus den bereits analysierten Musikvideos von AHA und
Pinback (siehe auch Kap. 5), sowie mit der aktuellen Microsoft Werbekampagne, die ebenfalls mit animierten Linien arbeitet, gegeben werden.
7.4.1
Fortress – Pinback
Ars Commota weist vor allem in seiner Einfachheit große Gemeinsamkeiten
mit dem Musikvideo von Pinback auf. Die Figuren in Ars Commota sind
sehr simpel ohne überflüssige Details gehalten, auch die Gesichtsmerkmale
sind so reduziert, dass gerade noch durch Augen oder Mund Mimik erzielt
werden kann. Im Video zu Fortress ist dies ebenfalls zu beobachten. Auch in
den Bewegungen sind frappante Ähnlichkeiten vorhanden: beide Animationen orientieren sich stark an der Limited Animation. Sie verwenden Bewegungszyklen (siehe Abbildung 7.8) und auch Übertreibungen in der Gestik.
Die Videos sind zudem beide ausgesprochen zweidimensional und erzeugen
rein durch die Animation der Figuren kaum Perspektive.
Auch in den Linienzeichnungen selbst lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen. Die Animationen verwenden beide gleichförmige Linien ohne große
Änderungen im Nachdruck, wobei die Linien bei Ars Commota aber einen
deutlichen handgezeichneten Charakter aufweisen. Die Linien wirken phasenweise etwas zittrig“, wie es oft bei Handzeichnungen vorkommt, wogegen
”
jene im Fortress-Video sehr geometrisch ohne jeden Ausreißer sind (siehe
Abbildung 7.9).
Ein anderer großer Unterschied ist die Tatsache, dass die Animationen
in Ars Commota bewusst flackern, da auch bei Standbildern nach jedem
zweiten Frame eine andere Zeichnung verwendet wird, um der Figur mehr
Bewegung und somit auch Leben zu verleihen. Dies ist bei Pinback nicht der
Fall.
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
ARS COMMOTA
107
(b)
Abbildung 7.8: Vgl. Fortress und Ars Commota.
(a)
(b)
Abbildung 7.9: Vgl. Fortress und Ars Commota.
7.4.2
Take On Me – AHA
Das Take On Me-Video von AHA unterscheidet sich bereits weit stärker von
Ars Commota, obwohl beide Animationen mit Handzeichnungen arbeiten.
Die Charaktere bei AHA sind sehr detailliert ausgearbeitet, die Personen
können durch die Gesichtsmerkmale sehr einfach identifiziert werden und
haben auch dementsprechend große Ausdrucksmöglichkeiten in ihrer Mimik. Die Figuren in Ars Commota sind stark reduziert und nur aufgrund
des hohen Bekanntheitsgrades der einzelnen Gemälde in ihrer realen Form
auch in der Animation erkennbar. Auch die Mimik ist dadurch schon eingeschränkter. Ein weiterer großer Unterschied ist, dass im Video zu Take On
Me die Perspektive sehr viel stärker genutzt wurde (v.a. durch Kamerafahr-
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
ARS COMMOTA
108
(b)
Abbildung 7.10: Vgl. Take On Me und Ars Commota.
ten), was der Animation sehr viel mehr Tiefe verleiht. Die Charaktere in Ars
Commota hingegen sind absolut flach und zweidimensional, Perspektive entsteht lediglich durch die Anordnung der einzelnen Figuren in verschiedenen
Ebenen. Die Linien bei Take On Me sind klassische, fein ausgearbeitete Bleistiftzeichnungen, jene bei Ars Commota hingegen erinnern viel mehr an typische Comiczeichnungen. Eine Gemeinsamkeit der beiden Animationen ist
die flackernde Optik, die bei AHA durch zusätzliche Bildelemente (Querstriche und Schraffuren über das gesamte Bild) und bei Ars Commota durch die
Änderungen an den Figuren selbst zustande kommt (siehe Abbildung 7.10).
7.4.3
Microsoft Werbekampagne
Auch der Softwareriese Microsoft verwendete für seine letzte Werbekampagne Linienzeichnungen (siehe Abbildung 7.11). Das Design der Charaktere
und Objekte ähnelt dem von Ars Commota stark, obwohl die Linien eindeutig nicht handgezeichnet sind. Mit welcher Technik die Linien erzeugt
wurden, konnte ich leider auch durch eine ausgiebige Recherche nicht ermitteln. Die Vermutung liegt aber nahe, dass die Animationen entweder mit
digitalem Rotoscoping (digital vor allem wegen der maschinellen Gleichförmigkeit der Linien, die mit einer Handzeichnung kaum zu erzielen wären)
oder aber auch durch ein geeignetes Comic Shading von realen Videoaufnahmen (dabei werden die Konturen des Realvideos automatisch herausgefiltert) erzeugt wurden. Für eine Umsetzung durch Rotoscoping sprechen
vor allem die Bewegungen der Animation, da diese zwar sehr realitätsnah
aber nicht immer flüssig sind. Dies deutet daraufhin, dass die Animation mit
12 Frames pro Sekunde (also die Hälfte der Bilder, die bei einer normalen
Full Animation zum Einsatz kommen) produziert wurde, was aus Gründen
der Arbeits- und Zeitersparnis bei gezeichneten Animationen meist bevor-
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
(a)
Abbildung
7.11: Vgl.
Microsoft
www.microsoft.com) und Ars Commota.
ARS COMMOTA
109
(b)
Werbekampagne
(Bild:
zugt wird. Die Bewegungen in der Microsoft Werbung sind demnach sehr
verschieden von jenen bei Ars Commota, die ja, wie bereits erwähnt, sehr
reduziert ausgeführt wurden. Die Zeichnungen der beiden Animationen sind
bis auf das Flackern der Figuren, das bei Ars Commota erzeugt wurde,
stilistisch sehr ähnlich, wobei der Microsoft Werbung der handgezeichnete
Charakter der Zeichnungen eindeutig fehlt. Eine weitere Gemeinsamkeit der
Animationen ist der Bildaufbau, der bereits in Abschnitt 7.2.1 behandelt
wurde. Ars Commota verwendet die AutoPaint Funktion von Mirage, mit
welcher der Aufbau eines Bildes aufgezeichnet und anschließend als Animation abgespielt werden kann. In der Microsoft Werbung werden die einzelnen
Objekte und Figuren auf eine vergleichbare Weise aufgebaut.
7.4.4
Schlussfolgerungen
Das Design und der zeichnerische Stil von Ars Commota hält, wie in den
Abschnitten 7.4.1 bis 7.4.3 gezeigt wurde, dem Vergleich mit anderen Animationen, die mit linienhaften Charakteren arbeiten, durchaus stand. Natürlich wurde Ars Commota mit sehr viel geringeren Mitteln als die anderen
genannten Videos und vor allem nur von einer Einzelperson produziert und
musste dadurch schon unter anderen Gesichtspunkten begonnen werden. Obwohl der Arbeitsaufwand für die Zeichnungen von mir bereits im Vorfeld so
reduziert wurde, dass ich das Projekt innerhalb eines Semesters realisieren
konnte, unterscheiden sich die Animationen an sich nicht so stark von den
anderen genannten Videos. Natürlich ist das Projekt bei weitem nicht fehlerfrei und könnte durch bereits genannte Änderungen an der Tiefenwirkung,
den Bewegungen und dem Soundtrack noch stark verbessert werden. Trotz
allem war es eine sehr lehrreich zu erfahren, wie eine solche Linienanimation
KAPITEL 7. DIPLOMPROJEKT
ARS COMMOTA
110
hergestellt wird, welchen Arbeitsaufwand man dabei zu bewältigen hat und
welche vergleichbaren Projekte es bereits gibt, an denen man sich orientieren
kann. Jede Linienanimation, ob nun die Microsoft Werbekampage, die Musikvideos von AHA und Pinback oder auch Ars Commota hat trotz all ihrer
Gemeinsamkeiten, die schon allein durch die Verwendung von linienhaften
Charakteren an sich entstehen, ihren ganz eigenen optischen Stil und somit
auch einen individuellen Ausdruck.
Kapitel 8
Zusammenfassung
Die animierte Linie ist ein sehr vielschichtiges graphisches Gestaltungsmittel.
Durch geringfügige Änderungen an Attributen wie Linienstärke, Nachdruck,
Detailreichtum, Transparenz oder Textur können große Veränderungen in
der stilistischen Aussage bewirkt werden, obwohl die Linie an sich schon
eine sehr reduzierte Form darstellt. Auch die Geschwindigkeit mit der sich
die animierte Linie bewegt, ist für ihre Dynamik und Spannung ausschlaggebend.
Anhand der Analyse verschiedener Beispielanimationen konnte aufgezeigt
werden, welche Möglichkeiten die Verwendung der animierten Linie bietet:
• Sie kann den Blick des Betrachters durch das Bild lenken.
• Die Animation wirkt meist aufgeräumt und übersichtlich. Dies kann
durchaus auch daher rühren, dass bei einer Linienanimation viel weniger unterschiedliche Farben eingesetzt werden, durch die das menschliche Auge überfordert werden könnte.
• Durch linienhafte Charaktere, Hintergründe oder auch abstrakte Linien können durch geringfügige Änderungen in der Gestaltung der
Linie große Änderungen im Ausdruck bewirkt werden. Durch geometrische Linien mit gleichbleibender Stärke kann eine sehr technische,
kühle Animation erstellt werden. Gleichzeitig kann durch schwungvolle, gebogene Linien mit Änderungen im Nachdruck ein sehr lebendiger und natürlicher Eindruck erzeugt werden (siehe auch Kap. 5).
• Durch animierte Linien können sowohl extrem rudimentäre Figuren
(wie Strichmännchen) als auch sehr aufwändige, detaillierte und lebensnahe Charaktere (wie in Abschnitt 5.3.4) erzeugt werden, welche beide große Ausdrucksstärke aufweisen. Auch ein Strichmännchen
kann mit zwei Punkten für die Augen und einer Linie für den Mund
eine eindeutige Expressivität besitzen, obwohl ihm andere mimische
Details völlig fehlen. Obwohl mit einem detaillierterem Charakter ein
111
KAPITEL 8. ZUSAMMENFASSUNG
112
größerer Grad an Mimik erreicht werden kann, ist dieser nicht unbedingt ausdrucksstärker als eine vergleichbare Figur, die nur aus wenigen Linien und Details besteht. Die animierte Linie kann somit jeden
beliebigen Stil verkörpern und dabei trotz allem eine Verwandtschaft
zu jeder anderen Linienanimation bewahren.
• Auch inhaltliche Aussagen können durch die Verwendung von animierten Linien unterstützt werden. Bei Gerald McBoing unterstreichen die
sich überkreuzenden Linien einer Menschenmenge den Eindruck, dass
die Masse in sich verschwimmt und die Personen gesichtslos werden
(siehe auch Abschnitt 5.2). La Linea hingegen verwendet zur Verdeutlichung von Geschwindigkeit sich auflösende, verwaschene Linien (siehe
Abschnitt 5.10).
• Durch die natürliche Abstraktion einer Linienzeichnung wird eine bildliche Klarheit und Ausdrucksstärke geschaffen.
• Da bei einer Linienzeichnung nie alle Details einer Figur oder eines Objekts ausgearbeitet werden, bietet die animierte Linie dem Betrachter
einen größeren Freiraum für eigene Interpretationen, was wiederum
dessen Phantasie fordert.
• Zu guter Letzt bietet die Linie auch eine gewisse Arbeitsersparnis, da
der Aufwand für das Colorieren eines Hintergrundes oder einer Figur
dadurch wegfällt.
Die Verwendung von animierten Linien bietet somit viele unterschiedliche Varianten zur Darstellung ein und des selben Sujets. Die animierte Linie
hat sich zu einem akutellen Trend entwickelt, zum einen wohl, weil nach einer Zeit der kühlen Geradlinigkeit immer wieder ein konträrer Stil, wie eben
momentan die Handzeichnung, in Mode“ kommt. Zum anderen ist die Her”
stellung von Animationen durch die modernen technischen Möglichkeiten
auch für Privatanwender möglich geworden, was wiederum die Entstehung
von Handzeichnungen und experimentellen, künstlerischen Animationen begünstigt. Natürlich wird auch dieser Trend früher oder später wieder von
einer neuen Tendenz abgelöst, nichtsdestoweniger sollte die Handzeichnung
und die animierte Linie im Speziellen nicht in Vergessenheit geraten, da sie
als vielschichtiges Stilelement zur graphischen Gestaltung von Animationen
herangezogen werden kann.
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