Nachwort Gramp ein Mann altert und stirbt

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Nachwort Gramp ein Mann altert und stirbt
Nachwort
Gramp
März 1975
ein Mann altert und stirbt
Die Begegnung einer Familie mit der Wirklichkeit des Todes
(1970-1974)
Von Mark Jury und Dan Jury
Aus dem Amerikanischen von Edwin Ortmann
Berlin/Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.
1982, 3. Auflage 1988
Frank Tugend (1892-1974)
Nachwort
März 1975
Als Frank Tugend gestorben und die große Bewährungsprobe
für die Familie bestanden ist, sagt Nan, seine Frau: „Ich
weiß, dass Gramp all diese Sachen nicht absichtlich
gemacht hat. Ich hoffe nur und bete darum, dass ich nicht
so werde. Dass mich der Herr zu sich nimmt, bevor ich
jemandem zur Last falle. Aber man kann nur abwarten,
mehr nicht.“
Die vierjährige Hillary erinnert sich und spricht oft von den
Fabelgestalten, die den Urgroßvater beschäftigten – die
Paprikaner, die Fadenscheinis, die Mondschwänzler und
Rülpsaugen. „Das sind keine Fantasiegestalten“, erklärte sie
überzeugt, „sie sind wirklich und nicht eingebildet ... Sie
haben Fäden zusammengeknüpft und sich in meinem
Zimmer in ein Mobile verwandelt. Sie schauen jetzt wie
Fische aus. Sie erinnern mich an Gramp.“
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Als der Bestattungsunternehmer gegangen war, betrachtete
ich das leere Bett und begriff plötzlich: die Qual war vorbei.
Drei Jahre lang hatte sich unser Leben – durch Babysitting,
„Missgeschicke“, Windelumlegen und ein ständiges Auf-demTrab-Sein – fast nur um dieses Zimmer gedreht. Jetzt war es
leer.
Zu meiner Überraschung spürte ich keine große
Erleichterung darüber, dass Gramp für immer fort war.
Stattdessen empfand ich eine gewisse Leere, und ich hatte
das Gefühl, dass uns seine Verrücktheiten in unserem Leben
fehlen würden – vor allem aber empfand ich eine große
Hochachtung für diesen zähen alten Bergarbeiter.
„Du hast‘s geschafft, Gramp“, dachte ich, „jetzt hast du‘s
wirklich geschafft.“
Einleitung
Am 11. Februar 1974 nahm der einundachtzig-jährige Frank
Tugend – geistig zweifellos verwirrt, körperlich jedoch völlig
gesund – sein künstliches Gebiss aus dem Mund und
erklärte, dass er nichts mehr essen oder trinken wolle. Er
starb drei Wochen später, auf den Tag genau.
Sein Tod beendete eine drei Jahre währende Prüfung und
eine ebenso lange Aufzeichnung eines schrittweisen, aber
unwiderruflichen Verfalls.
Mit Fotoapparat und Tonbandgerät haben wir Frank Tugends
Auseinandersetzung mit jenem Übel dokumentiert, das von
den einen als Vergreisung, von den anderen als Arterienverkalkung oder allgemeine Arteriosklerose bezeichnet wird.
Einleitung
Im Alltagsleben bedeutete es, dass Frank Tugend
splitternackt vor dem Aussichtsfenster im Wohnzimmer herumstand, dass er sich mit einem roten
Riesenhasen unterhielt, der im Eisschrank lebte, oder
dass er die Toilette nicht mehr rechtzeitig erreichte.
Doch nichts an diesen Ereignissen ist ungewöhnlich –
es gibt Abertausende von Familien in jedem Land, die
sich in diesem Augenblick mit genau dem gleichen
Problem herumschlagen.
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Am Ende fiel Gramp in einen sehr tiefen Schlaf. Neun oder
zehn Stunden lang rührte er sich nicht.
Ich saß bei ihm im Zimmer, ganz in meine Gedanken
versunken, als er plötzlich sehr lebhaft wurde. Er bewegte
seine Arme und stöhnte leise.
Ich ging in die Küche und sagte zu Nan: „Ich bin sicher, daß
Gramps Seele oder sein Leben oder wie man das nennt eben
seinen Körper verlassen hat.“
Als ich aus Gramps Zimmer kam, ging Nink gerade hinein.
Und während ich Nan noch schilderte, was ich eben erlebt
hatte, kam Nink in die Küche und sagte: „Ich glaube, Papa
ist von uns gegangen.“
Einleitung
Wir waren eine dieser Familien: Frank Tugend war
unser Großvater. Während der letzten drei Jahre
seines Lebens haben wir seine und unsere
Erfahrungen festgehalten.
Und wir mussten uns – wenige Wochen vor seinem
Tod – entscheiden, ob wir es zulassen sollten, dass er
in ein Krankenhaus gebracht und dort künstlich
ernährt würde.
Aber nachdem Gramp unmissverständlich gezeigt
hatte, dass er sterben wollte, beschlossen wir, dass er
zu Hause sterben und seine menschliche Würde nicht
verlieren sollte.
Einleitung
In den letzten Monaten, in denen die Leute aus unserer
Gegend sicherlich glaubten, dass Gramp seinen „Verstand
verloren“ hat, ließ sich bei den Tugends, wo sonst ein reges
Kommen und Gehen war, kaum mehr als ein halbes Dutzend
Besucher blicken.
In dieser Zeit lernten wir vieles über Gramp und vieles
voneinander. Doch am meisten lernte jeder von uns über
sich selbst.
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Was Gramp sich wirklich wünschte, war, dass immer jemand
bei ihm sein sollte. Seine knochigen, aber immer noch
kräftigen Finger umklammerten die Hand desjenigen, der
ihm gerade Gesellschaft leistete.
Einmal, als ich bei Gramp war und den Eindruck hatte, dass
er gar nicht mehr merkte, dass ich im Zimmer war,
versuchte ich, meine Hand aus der seinen zu ziehen. Doch
sofort schlossen sich seine sehnigen Finger fest um meine
Hand.
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Dee war fest entschlossen, Gramp in diesen letzten paar
Wochen seines Lebens jede Möglichkeit zu geben, seinen
Entschluss zu ändern. Beharrlich bereitete sie viele Male am
Tag etwas zu Essen zu und trug es in sein Zimmer, wo sie
ihn geduldig und inständig bat, doch etwas zu essen und zu
trinken.
Selbst wenn er zwischen Koma und Bewusstsein hin und her
schwankte, versuchte Dee ihm etwas Flüssigkeit einzuflößen.
Dan richtete ihn auf und hielt ihn fest, während Dee in
Gramps ausgetrockneten Mund einen Teelöffel von Wasser
flösste.
Die Folge war ein trockenes, würgendes Husten, das tief aus
Gramps Körper herauf zu keuchen schien. Aber schließlich
sagte Dan: „Machen wir uns doch nichts vor. Wir tun das
nicht für Gramp. Wir tun es nur für uns selbst.“
Ein Fremder in seiner und
unserer Welt
Juli 1970
Ein Fremder in seiner und
unserer Welt
Juli 1970
Wann ES begonnen hat keiner von uns weiß es.
Blickt man zurück, so gab es sicherlich viele warnende
Vorzeichen.
Dann kam der Tag, an dem Gramp seinen Wagen in die
Garage fuhr und nie wieder anrührte.
Da Gramp ein sehr bescheidenes Leben führte, hielten sich
die Schwierigkeiten, in die er durch seine „Vergesslichkeit“
und Verwirrtheit geriet, in Grenzen.
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Als Doktor Kline im Gehen war, sprach Nink die Frage aus,
die uns alle beschäftigte. „Wann wird es soweit sein“, fragte
sie. „Ich meine, wann wird er ... fortgehen?“
Doktor Kline zählte einige medizinische
Unsicherheitsfaktoren auf, die der versammelten Familie
nichts sagten. Dann aber fügte er hinzu: „Ich weiß es nicht.
Es kann heute Nacht sein oder morgen oder in einer Woche.“
Heute Nacht, morgen oder
in einer Woche
März 1974
Ein Fremder in seiner und
unserer Welt
Juli 1970
In einem Zeitraum von ungefähr zwölf Monaten verwandelte
sich Gramps Persönlichkeit – schrittweise zwar, aber
dennoch endgültig. Der scheue und zuvorkommende Mann
wurde aus-gesprochen grantig.
Wir versuchten, über solche Bemerkungen hin-weg zu
gehen. Aber gleichzeitig waren wir mit einer Entwicklung
konfrontiert, die unsere Besorgnis erregte.
Gramp passierte etwas, was wir sein „Malheur“ nannten – er
schaffte es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette.
Er wurde ärgerlich und streitsüchtig, wenn die Rede darauf
kam.
Ein Fremder in seiner und
unserer Welt
Juli 1970
Als wir im Frühjahr den Garten herrichteten, war Gramp
manchmal völlig verwirrt.
„Glaubst du, dass der Kerl was dagegen hat, wenn wir sein
Land umgraben?“ fragte er mich ängstlich.
„Aber es ist doch dein Land, Gramp“, erwiderte ich.
„Gramp hat mich gefragt, was mit ihm los sei“, erzählte
Dan. „Er sagte, er habe nicht gewußt, wer die Leute um ihn
herum seien. Das habe ihm Angst gemacht.“
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
„Das letzte Mal, als ich Mister Tugend untersuchte, lag
ziemlich klar auf der Hand, dass er nicht mehr leben wollte.
Besonders ungewöhnlich ist das freilich nicht. Wirklich
aussergewöhnlich hingegen ist, dass er sein Gebiss herausnahm und erklärte: „Da habt ihr es. Ich brauche es nicht
mehr.“ Das habe ich bei noch keinem Menschen erlebt.
Es war auch nicht ungewöhnlich, dass er sich klar darüber
wurde, dass es Zeit für ihn geworden war, zu sterben. Es ist
meine Überzeugung, dass die menschliche Würde auch im
Sterben nicht verloren gehen darf. Und da er nun beschlossen hatte, dass er dieses entwürdigende Am-Leben-Sein
nicht mehr ertragen wollte, lag es nicht mehr in unserer
Hand, sein Leben zu erhalten. Es wäre, glaube ich, grausam,
denn der Mensch hat Anspruch auf seine Würde; nicht bloß
im Leben, sondern auch beim Sterben.
Als er seine Zähne herausnahm und sagte: „lch will nicht
mehr leben“, war es für mich keine Frage mehr – eine
künstliche Ernährung und medikamentöse Überbrückung
kam nicht mehr in Betracht. Ich wollte, dass er mit Würde
sterben durfte.“
Dr. Ben Kline Hausarzt
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Zu unserer Überraschung setzte er sich eines Nach-mittags
auf. Ich warf einen Blick in sein Zimmer und sah ihn auf dem
Bettrand sitzen, wo er mit zufriedenem Gesicht unsichtbare
„Fadenscheinis“ in der Luft zusammenzwirnte.
Schließlich glitt Gramp in eine Art von Koma. Doktor Kline
kam, um ihn zu untersuchen. Er stellte fest, dass Herz und
Lunge nach wie vor einwandfrei funktionierten – was den
Arzt zu der Bemerkung veranlasste, dass man einen
Menschen, der mit Hilfe von Infusions-schläuchen am Leben
erhalten würde, als „Herz- und Lungenfall“ bezeichnete.
Doch der Standpunkt der Familie war unverrückbar: wenn
Gramp es stoisch hingenommen hatte, dass seine Zunge
wegen des Flüssigkeitsmangels rissig wurde und sein
Gaumen sich abschälte, dann sahen wir keinen Weg mehr,
ihm jetzt noch irgendwelche Nahrung einzuflößen.
Angewiesen auf „die beiden
Kerls“
Juni 1971
Angewiesen auf „die beiden
Kerls“
Juni 1971
Gramps zunehmende Abhängigkeit von uns begriffen wir
erst, als wir feststellten, dass er sich nicht mehr selbst
rasieren konnte.
Gramps Probleme aber erschöpften sich nicht in seiner
Unfähigkeit, sich zu rasieren. Immer häufiger erkannte er
uns nicht mehr, wusste nicht mehr, wer wir waren.
Und da er seine eigene Bestürztheit in diesen Augenblicken
nicht ertrug, zog er sich mehr und mehr zurück.
Es wurde immer sichtbarer, dass er unter schweren,
zunehmenden Verhaltensänderungen litt.
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Je schwächer Gramp wurde, desto einfacher wurde seine
Pflege. Da er körperlich nun nicht mehr imstande war, sein
Zimmer auf den Kopf zu stellen, konnte Nink (zum ersten
Mal seit über einem Jahr) Gramps Bett neu beziehen.
Mit Windeln und Gummihöschen wurden wir der
„Missgeschicke“ Herr, und wir entdeckten auch, dass es
unsinnig war, Gramp jeden Tag von neuem anzuziehen; sein
Bademantel war nun sein einziges Kleidungsstück.
Gramp selbst döste fast den ganzen Tag über in einem
Sessel vor sich hin.
Angewiesen auf „die beiden
Kerls“
Juni 1971
Wir beschlossen, zu unserem Hausarzt zu gehen, um
herauszufinden, ob Gramp medizinisch irgendwie zu helfen
sei.
Gramp, bis dahin ungewöhnlich gesund, war mit seinen 78
Jahren nur ein einziges Mal beim Arzt gewesen – wegen
eines verstauchten Hand-gelenks.
Beim Gespräch mit dem Arzt brachte Gramp Orte, Zeiten
und Personen durcheinander.
Dr. Kline erklärte uns die Folgen einer Arterien-verkalkung
und verschrieb Gramp ein Kreislauf-mittel. Schließlich warf
er die Frage auf, ob Gramp nicht in ein Pflegeheim gehörte.
Angewiesen auf „die beiden
Kerls“
Juni 1971
Ich erklärte ihm, dass wir Gramp nirgendwohin geben,
sondern lediglich sichergehen wollten, dass auch in
medizinischer Hinsicht alles für ihn getan würde.
Als wir im Begriff waren zu gehen, packte mich Gramp am
Arm, schaute sich mit einem komplizenhaften Blick um und
flüsterte mir zu: „Weißt du, der Kerl, dem dieser Laden
gehört, der zieht einem wirklich das letzte Hemd aus, aber
nimm‘s ihm nicht übel, er ist so freundlich dabei.“
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
„An diesem Abend begriff ich zum ersten Mal, dass Gramp sterben würde.
Es ist seltsam, dass man von etwas überwältigt sein kann, ohne dass man
wirklich begreift, was es ist. Ich selbst – von den anderen weiß ich es
nicht – habe ganz frei über Gramps unvermeidlichen Tod gesprochen. Und
ich habe über ihn gesprochen, als redete ich von der Unvermeidlichkeit
meines nächsten Geburtstages, als verdiente der Tod auch nicht mehr
Beachtung.
Heute Abend jedoch stand ich in Gramps Zimmertür, und plötzlich begriff
ich, daß Gramp möglicherweise schon in wenigen Tagen jenen dunklen,
ungewissen Ort aufsuchen würde, der jeden von uns beschäftigt – und
den wir alle fürchten. Und ich fragte mich, ob Gramp sich bewusst sei,
dass ihn der Tod erwarte. Sieht er den Tod vielleicht? Hat er sich mit ihm
vertraut gemacht? Begreift er überhaupt, dass er dem Tode nahe ist?
Das Gefühl, dass Gramp geduldig auf den Tod wartet, fasziniert mich
wahrscheinlich am meisten. Er liegt dort, rührt sich nicht, bittet um nichts,
nicht einmal um Trinken und Essen, um den qualvollen Durst und die
Möglichkeit zu verhungern zu beenden.
Nink erzählte mir eben von den Vorkehrungen, die für das Begräbnis von
Gramp getroffen werden müssten. Ein Beweis dafür, dass diese Reise
zügig dem Tod entgegen geht. Doch wird mir dann, wenn ich Gramps
Leichnam sehe, immer noch alles als so einfach, als so
selbstverständlicher Verlauf vorkommen? Ich frage mich, mit welchen
Gefühlen ich darauf reagieren werde? Wird mich nach all diesen Monaten
der Vorbereitung der Tod immer noch unerwartet treffen?
In einem Punkt bin ich mir sicher. Ganz gleich, wie oft ich Gramp
saubermachen, füttern, schnäuzen oder mitten in der Nacht, wenn mein
Körper nichts mehr von ihm wissen will, versorgen muss, ich werde mich
zuerst immer an die guten Zeiten mit ihm erinnern, bevor mir die
schlechten einfallen.“
Aus Dans Tagebuch
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Angewiesen auf „die beiden
Kerls“
Juni 1971
„Seit einer Woche hat Gramp jetzt nichts gegessen. In den
ersten Tagen brachte ich ihn dazu, dass er sich zu uns an
den Tisch setzte, weil ich glaubte, er könnte seinen
Entschluss ändern und doch etwas essen.
Es war hoffnungslos, jetzt versuchen wir ihn so weit zu
bringen, daß er Eierflips, stark proteinhaltige Flüssigkeiten
und etwas Orangensaft zu sich nimmt. Ab und zu trinkt er
auch einen kleinen Schluck, aber kaum hat er feste Nahrung
im Mund, spuckt er sie wieder aus.“ Aus Dans Tagebuch
Gramps ständige Weigerung, feste oder flüssige Nahrung zu
sich zu nehmen, bedeutete natürlich, dass er Tag für Tag
schwächer wurde. Der Arzt sagte, dass Gramp zwar einige
Zeit ohne Essen auskommen könnte, doch dass seine
normalen Körperfunktionen wie das Schwitzen und Urinieren
mehr Flüssigkeit verbrauchten, als er aufnehme.
Gramp schaute stundenlang aus dem großen
Wohnzimmerfenster in eine Welt hinaus, die allein in seinem
Kopf existierte.
Paprikaner, Mondschwänzler
und ein paar Fadenscheinis
Juli 1972
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Wir setzten unsere Versuche fort, Gramp durch Betteleien,
Bitten oder bloßen Zwang zum Essen zu bewegen. Doch er
gab nicht nach.
Als Nink ihn anflehte, er solle sich doch zumindest zu uns an
den Tisch setzen, erwiderte er: „Nein, ich bleibe hier liegen,
bis es passiert.“ „So hat er noch nie geredet“, berichtete
Nink.
Wenn Gramp also nicht zum Essen kommen wollte, dann
sollte das Essen zu ihm kommen. Jedes Familienmitglied
versuchte, ihn zum Essen zu bringen, was oft darauf
hinauslief, dass man ihm quer durch den Raum hinterherlief.
Doch wenn Nink dann endlich dachte, Gramp habe ein wenig
von dem stark proteinhaltigen „Raumfahrer-Frühstück“
hinuntergeschluckt, spuckte er die Flüssigkost plötzlich
gurgelnd in die Tasse zurück.
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Die meiste Zeit zog er sich in sein Zimmer zurück und
weigerte sich, zum Essen zu kommen.
Nink suchte Doktor Kline auf, der ihr erklärte, dass es keine
Möglichkeit gebe, Gramp zum Essen zu bewegen – außer der
Zwangsernährung in einem Krankenhaus. Ein Ausweg, den
die Familie nie akzeptiert hatte.
Die Vorstellung war für uns alle unannehmbar, dass dieser
zähe, freiheitsliebende, manchmal so ungemein
anstrengende und doch so freundliche und bescheidene
Mann, an den Armen Infusions-schläuche, festgeschnallt in
einem Krankenhaus-bett liegen könnte.
Paprikaner, Mondschwänzler
und ein paar Fadenscheinis
Juli 1972
Wir lernten neben den roten Hasen eine bunte Fülle der
verschiedenartigsten Geschöpfe kennen, die Gramps
ureigene Welt bevölkerten. Sie hatten wundersame Namen –
da gab es Paprikaner, Mondschwänzler, Fadenscheinis,
Rülpsaugen und die allgegenwärtigen Aufderlauergeier.
Auch Gramps Art, sich anzuziehen, wurde immer
fantasievoller. Einmal trug er über zwei paar Boxershorts
zwei paar lange Hosen, die eine von innen nach außen
gewendet.
Oder er benutzte einen Damenstrumpf als Schal, zu dem er
sich als Kopfbedeckung ein Badetuch auserkoren hatte.
Paprikaner, Mondschwänzler
und ein paar Fadenscheinis
Juli 1972
In vieler Hinsicht wurde Gramp ebenso kindisch wie kindlich.
Wenn er ganz einfache Dinge tat – die Post vom Briefkasten
zu holen oder den Mülleimer rauszubringen –, so wollte er
hinterher dafür gelobt werden.
Doch Nan (seine Frau) fand fast nie ein lobendes Wort für
diesen erwachsenen Mann, der seine alltäglichen Pflichten
„vernachlässigte“.
Gramps bizarre Art, sich anzuziehen, zusammen mit seinem
unberechenbaren Verhalten bedeutete das Ende von
jahrzehntelangen Freundschaften.
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Gramps Zustand hatte sich verschlechtert. Er weigerte sich
noch immer zu essen, trank sehr wenig und wurde jeden
Tag etwas schwächer.
Da fiel mir ein, dass er vor einigen Monaten zu Dan gesagt
hatte: „Lass uns von hier fortgehen. Sonst besiegen uns
noch die Frauen der Jahreszeit.“
Wenn ich Gramp jetzt ansah, erschien es mir, als habe er
mit den unerträglichen Problemen abgeschlossen, die ihm
das Leben aufgezwungen hatte. Er war bereit, besiegt zu
werden.
Besiegt von den Frauen der
Jahreszeit
März 1974
Paprikaner, Mondschwänzler
und ein paar Fadenscheinis
Juli 1972
Während Nan und Nink durch Gramp eine Anzahl alter
Familienfreunde verloren, entdeckte eine Reihe von anderen
Leuten diesen völlig ungezwungenen alten Gentleman für
sich.
Meine Freunde, die bei uns Station machten, wenn sie in die
Gegend kamen, fanden Gramps Gesellschaft
hochinteressant, und Dan brachte einen neuen
Freundeskreis mit nach Hause – lauter junge Leute, die den
Frank Tugend von früher nicht gekannt hatten.
Und während ein Gramp-Satz wie „Komm zu mir mit einer
Kappe in deiner Kanne und einem doppelten
Aufderlauergeier mit einem Pferd in deinen Händen“ jenen
Leuten wirklich Angst einjagte, die schon mit Gramp
zusammen im Musikantenverein von Dalton gesungen
hatten, so war der gleiche Satz für diese andere Gruppe von
Leuten die reinste Poesie.
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
Bei Gott, es ist eine qualvolle
Prüfung
Februar 1974
Ohne dass wir eine Lösung gefunden hatten, reiste ich ab;
ich musste nach Florida, um einige längst überfällige
Fotoaufträge zu erledigen.
Wir waren jedoch übereingekommen, dass sich die Familie
nach meiner Rückkehr zusammensetzen und einige für
Gramp notwendige Entschlüsse fassen sollte.
In der Zwischenzeit zogen Dee und Dan zu den Tugends, um
dort im Haus mitzuhelfen.
Ich rief von Florida aus an, um mich nach Gramp zu
erkundigen. „Es geht ihm ganz gut“, berichtete Dan, „aber
er hat sein Gebiss herausgenommen und es mir gegeben. Er
sagt, dass er es nicht mehr braucht und dass er nichts mehr
essen will.“
„Er wird schon wieder essen, wenn‘s ihm besser geht und
wenn er Hunger kriegt“, sagte ich.
Bei Gott, es ist eine qualvolle
Prüfung
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
Wir riefen Dr. Kline an und berichteten ihm über Gramps
jüngste Schwierigkeiten. Er kam und untersuchte ihn. Doch
konnte auch er uns keine Patentlösung für unser Dilemma
bieten. Er sagte bloß: „Ich glaube, Mister Tugend ist ein
Kandidat für dieses und dieses Pflegeheim.“
„Ich glaube, da kommt noch einiges auf uns zu“, sagte
jemand aus der Familie, als wir Gramp dabei entdeckten,
wie er sich die Hände im Toilettenbecken wusch.
Februar 1974
Doch er machte seinen Vorschlag so halbherzig, dass keiner
von uns mit ihm darüber diskutierte. Trotzdem machte sich
Nink die Mühe, die not-wendigen Informationen über das
von ihm ge-nannte Heim einzuholen: es sollte 750 Dollar im
Monat „zuzüglich Arzneimittel“ kosten.
Außerdem erfuhren wir, dass Gramp zweifellos in einem
solchen Pflegeheim „ruhiggestellt“, in bestimmten
Situationen am Bett festgeschnallt werden würde – sein
ruheloses Auf- und Abgehen hätte man dort nicht geduldet.
September 1973
Und so war es. Als Freunde von Nink zum Kaffee-trinken
kamen, nahm Gramp sein künstliches Gebiss aus dem Mund,
reichte es dem Mann neben ihm und bat, „Könnten Sie mir
das wohl mit Butter bestreichen?“
Gramp vergaß, wo sein Zimmer lag, und irrte unablässig im
Haus herum, bis er völlig erschöpft war. Wo immer er dann
auch zur Ruhe kam, fiel er in den tiefsten Schlaf.
Nichts war sicher vor seinen neugierigen Händen – er nahm
den Ofen auseinander, warf den Weihnachtsbaum um,
zerlegte die Stehlampen und montierte alle Türgriffe ab, die
er dann auch prompt versteckte.
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
Selbst wenn Gramp in sein Zimmer gebracht und
buchstäblich ins Bett gesteckt wurde, stand er mitten in der
Nacht auf und brachte das ganze Zimmer durcheinander.
Er riss das Bettzeug herunter und verstreute es quer durch
den Raum, er durchwühlte seine Kommode und leerte seinen
Wandschrank völlig aus – all seine Kleidung und
Habseligkeiten lagen im Zimmer umher.
Nacht für Nacht wiederholte er dieses „Ritual“.
Bei Gott, es ist eine qualvolle
Prüfung
Februar 1974
„Der Tag, an dem Gramp völlig die Kontrolle verlor, hat sich
mir deshalb eingeprägt, weil Gramp sich von da an nicht
mehr wehrte, wenn ich seine Wäsche wechselte – er wollte
nur davon befreit werden.
Früher – als er hin und wieder in die Hose pinkelte – hat er
sich gesträubt, wenn ich versuchte, das festzustellen oder
ihn auf die Toilette zu bringen. Er hatte noch dieses
Schamgefühl, dass keine Frau damit was zu tun haben
sollte, schon gar nicht auf der Toilette.
Aber als das nun passierte, schien er sich damit abzufinden,
dass er es selbst nicht mehr schaffte, und so war es ihm nun
egal, wer ihn sauber-machte und badete.“
Dee
Bei Gott, es ist eine qualvolle
Prüfung
Februar 1974
Gramp war über die Entwicklung der Dinge genauso verstört
wie wir selbst.
Auf jedes „Mißgeschick“ reagierte Gramp mit einem
irritierten Brummton.
Nachdem wir unzählige Male mit ihm auf der Toilette
gewesen waren (an diesem Vormittag hatten wir nach dem
neunten Mal aufgehört zu zählen), sagte Dee:
„Nein, bitte, Gramp, du hast doch nicht schon wieder in die
Hosen gemacht, nicht wahr?“
„Nein“, antwortete Gramp, „das war der andere Kerl.“
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
„Aus irgendeinem Grund verwechseln die Leute, wenn sie
senil werden – das heißt, wenn sie ein organisches
Hirnsyndrom entwickeln – den Tag mit der Nacht. Sie irren
dann die ganze Nacht umher.
Und darin liegt das eigentliche Problem des Alterns – die
Familie muss sich buchstäblich rund um die Uhr als
Krankenschwester betätigen.
Wäre der alternde Mensch immer nur am Tag oder immer
nur sechs oder acht Stunden lang pflegebedürftig, so wäre
das tragbar.
Doch es sind jeden Tag vierundzwanzig Stunden, und das
macht es für die Familie so schwierig, für die Alten zu
sorgen.“
Dr. Ben Kline, Hausarzt
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
Der Morgen war für Gramp die schwierigste Zeit. Im
Vergleich zu seiner rastlosen Unruhe während der Nacht
wirkte Gramp am Morgen oft wie betäubt.
Als er eines Morgens auf alle Versuche Ninks, ihn zu wecken,
überhaupt nicht reagierte, begann seine Tochter sich zu
ängstigen und rief: „Vater! Papa! Wach auf! Fehlt dir
etwas?“
Und Gramp wälzte sich herum, öffnete das eine Auge einen
Spaltbreit und fragte: „Haben sie den Osterhasen jetzt schon
umgebracht?“
Bei Gott, es ist eine qualvolle
Prüfung
Februar 1974
Gramp konnte seinen Stuhlgang nun überhaupt nicht mehr
kontrollieren.
An einem einzigen unbeschreiblichen Tag verwandelte sich
der Haushalt der Tugends in eine Art von militärischem
Operationsfeld, auf dem es nur noch um Windeln, Rollen von
Toilettenpapier und die aufeinander abgestimmten
„Einsatzkommandos“ ging, die ihn saubermachten, bevor
das nächste „Missgeschick“ passierte.
Diese Krise kam so unerwartet und brach so heftig über uns
herein, dass keiner von uns so richtig merkte, dass die Zeit
angebrochen war, vor der wir uns alle gefürchtet hatten.
An diesem Tag sprach Nan die Gefühle eines jeden von uns
aus, als sie, zu niemand besonderem, sagte: „Bei Gott, es
ist eine qualvolle Prüfung!“
Bei Gott, es ist eine qualvolle
Prüfung
Februar 1974
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
Gramp war nicht mehr in der Lage, sich anzuziehen. Immer
wenn er aufstand, musste einer von uns dabei sein.
Gewöhnlich suchten wir zuerst nach seinem Gebiss, das er
fast jede Nacht versteckte.
Und wenn ihm wieder so ein „Missgeschick“ passiert war,
mussten wir ihn saubermachen.
Wir machten auch Frühstück für ihn und halfen ihm beim
Essen.
War er einmal angezogen und hatte er gefrühstückt und
schon etwas Gesellschaft gehabt, so kam er auf eine
erstaunliche Weise wieder zu sich selbst und fand sich in
seiner eigenen Welt zurecht.
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
Haben sie den Osterhasen
jetzt schon umgebracht?
September 1973
Innerhalb nur weniger Monate fiel dieses morgendliche
Wiederauftauchen immer kläglicher aus.
Außerdem zog Gramp sich jetzt von der Familie zurück.
Nachdem er zwei Jahre lang „tagtäglich auf Trab“ gewesen
war, saß er jetzt am liebsten allein in seinem Zimmer.
Und da er nun während der Nacht auch aus dem Bett fiel,
legten wir, um ihn vor Verletzungen zu bewahren, seine
Matratze auf den Fußboden.