1. ADS hat viele Gesichter

Transcription

1. ADS hat viele Gesichter
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
1. ADS hat viele Gesichter
1. Viele fragen: „Woran erkenne ich ADS?“
„ADS ist eine Modekrankheit, ADS hat heute jeder“, so Meinungen aus der Praxis, die häufig geäußert werden. Weder das eine, noch das andere stimmt. Richtig
ist, dass ADS heute – im Vergleich zu früher – öfter diagnostiziert und mehr behandelt wird, doch längst noch nicht ausreichend genug, was die tägliche Arbeit
der Ärzte beweist, die sich auf die Diagnostik und Behandlung von ADS spezialisiert haben.
Die Disposition, d. h. die Veranlagung zum ADS mag häufig sein, aber behandlungsbedürftig werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene erst dann, wenn ihre
Entwicklung und Lebensqualität deutlich beeinträchtigt sind. Unerkannt und unbehandelt führt ADS zur inneren Verunsicherung der Betroffenen mit psychischer
Instabilität und schlechtem Selbstwertgefühl. Kinder, Jugendliche und Erwachsene
werden dann schnell zum Außenseiter und fühlen sich von ihrer Umwelt unverstanden. Sie wissen, dass sie vieles können und durchschauen, aber sie sind nicht
in der Lage, dies aufs Papier zu bringen und es ihren Angehörigen, Freunden und
Kollegen verständlich zu machen.
Das ist aber nur die aktuelle Seite der ADS-Problematik. Viel schwerwiegender
ist die Gefahr der späteren psychischen Instabilität mit einer hohen Rate an sekundären seelischen und körperlichen Erkrankungen. Das Selbstwertgefühl entwickelt
sich in der Kind- und Schulzeit, etwa in der Zeit vom achten bis elften Lebensjahr,
und es entscheidet mit darüber, wie das betroffene Kind sein weiteres Leben in den
verschiedenen Bereichen meistern wird. Deshalb die große Bedeutung der Frühdiagnostik und Frühbehandlung des ADS.
Die Symptomatik des ADS ist sehr vielfältig und nicht anhand von Tabellen
oder Skalen zu erfassen. Diese dienen mehr der Verlaufskontrolle und der Orientierung, wann an ein ADS gedacht werden sollte. Die Kinder und Jugendlichen
selbst merken nur, dass sie anders reagieren und dass sie trotz Anstrengung und
fleißigem Lernen auch bei guter Intelligenz keinen für sie ausreichenden Erfolg in
der Schule und im Beruf haben. Sie spüren ihre innere Unruhe und den Drang,
sich immer bewegen zu müssen. Manche müssen alles anfassen, immerzu reden
oder ständig jemanden provozieren. Sie lernen nicht aus Fehlern und hören
schlecht zu. Was sie aber hören wollen, hören sie ganz genau. Sie können sich
auch konzentrieren, wenn sie etwas interessiert, aber es gelingt ihnen nicht immer,
selbst dann nicht, wenn sie es möchten.
In ihren Zeugnissen steht sehr oft sinngemäß der Satz: „Du kannst, wenn du
willst, das hast du schon bewiesen.“ Sie wollen ja, aber sie können die Dauerauf9
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
merksamkeit nicht halten, wenn Nebengeräusche oder andere Dinge sie ablenken.
Sie beginnen voller Freude und Elan das erste Schuljahr und merken bald, dass sie
den Anforderungen nicht gewachsen sind. Sie resignieren langsam und ziehen sich
zurück oder sie werden zum Klassenclown, um sich so Bestätigung zu holen.
Manche entwickeln psychosomatische Beschwerden. Je nachdem, ob das Kind hyper- oder hypoaktiv ist, neigt es zu Aggressionen oder Ängsten als Folge seiner inneren Verunsicherung.
Viel Leid könnte manchem Kind erspart bleiben, wenn das Krankheitsbild des
ADS Eltern aber auch Lehrern, Psychologen und Ärzten besser bekannt wäre und
hilfesuchende Eltern rasch fachkundige Unterstützung erhielten.
Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) wird definiert als eine neurobiologisch bedingte, spezifisch veränderte Steuerungsdynamik der Wahrnehmung,
der kognitiven und emotionalen Verarbeitung und der sich daraus ergebenden
Reaktions- und Verhaltensbildung. Aus epidemiologischen Untersuchungen*) ist
bekannt, dass in Deutschland ca. eine Million Kinder und Jugendliche eine ADSKonstitution mit beratungs- bzw. behandlungsbedürftigen Entwicklungsbeeinträchtigungen haben. Im Erwachsenenbereich liegt die Zahl der Betroffenen bei
etwa 1,5 Millionen. Diese leiden zudem häufig ebenso unter Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen.
Liegt ein ADS vor, ist die Reizverarbeitung beeinträchtigt
• Wahrnehmungen sind oberflächlich und „hüpfend“
• das Arbeitsgedächtnis besitzt nur eine geringe Aufnahmekapazität
• äußere Reize können nicht ausreichend gefiltert werden, die Reizschwelle
ist niedrig
• durch Reizüberflutung reicht die Kanalkapazität nicht aus
• Wichtiges kann nur unzureichend von Unwichtigem unterschieden werden
• aufgrund mangelnder Botenstoffe gelangt zu wenig vom Arbeitsgedächtnis
ins Langzeitgedächtnis
• die Umstellung von einer Tätigkeit zur anderen gelingt nur verlangsamt
• ein schneller Ver-/Abgleich mit „Erinnerungen“ ist nicht möglich
• erlernte Handlungsabläufe werden nur schlecht automatisiert
Die Symptomatik des ADS ist in jeder Altersgruppe etwas unterschiedlich. Sie
wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, ob eine Hypo- oder Hyperaktivität vorliegt.
Die Schwere der Symptomatik und damit auch das Ausmaß des Leidensdruckes hängen von vielen Faktoren ab. Eine gute Intelligenz, ein verständnisvolles
soziales Umfeld und geringe Anforderungen bilden schützende Faktoren.
*) Quelle: Artikel von Droll und Huss im ADD-Forum Berlin, Sept. 1998.
10
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Viele fragen „Woran erkenne ich ADS?“
Symptome des ADS
• Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung
• Störung der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
• Störung der Merkfähigkeit
• Innere und motorische Unruhe
• Mangelhafte emotionale Steuerung
• Frustrationsintoleranz
• Impulssteuerungsschwäche
• Störung der Feinmotorik
• Teilleistungsstörungen
Symptome des ADS im Säuglingsalter
Die Symptome des ADS beginnen sich zumeist allmählich, vom ersten Lebensjahr
an, zu entwickeln. Häufig fallen sie zunächst noch nicht merkbar auf, da sie je
nach Ausmaß der Beeinträchtigungen, der Höhe der Anforderungen und der vorhandenen Ressourcen zuweilen noch über einen längeren Zeitraum kompensiert
werden können. Die ersten Anzeichen einer ADS-Problematik sind bereits im
Säuglingsalter zu finden. Sie sind aber noch unspezifisch und lassen nur bei familiärer Veranlagung einen Verdacht zu. Die Kombination folgender Symptome –
die von Eltern von ADS-Kindern häufig beobachtet wurden – könnte im Säuglingsalter auf eine ADS-Veranlagung hindeuten:
ADS-Symptome im Säuglingsalter
• unstillbares Weinen (phasenhaft)
• oberflächlicher Schlaf, hellwach
• können Streicheln nicht genießen
• unruhig und unausgeglichen
• kein Krabbeln
• zeitiges Laufen
• kein ausdauerndes „Spielen“
• Trinkschwierigkeiten
• Hautallergie
Gibt es in einer Familie bereits ADS-Betroffene, sollten die genannten Symptome
Anlass für eine gezielte weitere Beobachtung sein. Eine frühe Diagnose ermöglicht
es sodann, den betroffenen Kindern von Anfang an eine strukturierte Betreuung
mit viel Verständnis und individueller Förderung zu geben.
Neben den Babys und Kleinkindern, bei denen Eltern die Symptome frühzeitig
bemerken, gibt es ebenso völlig unauffällige Säuglinge, die ausgesprochen „pflegeleicht“ sind. Sie entwickeln erst später eine meist hypoaktive oder eine zwischen
den beiden Subtypen liegende ADS-Form.
Trinkschwierigkeiten sind oft die Folge der manchmal vorhandenen unregelmäßigen Atmung und der gestörten Mundmotorik. Hautallergien und Neuroder11
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
mitis haben besonders hyperaktive Säuglinge. Viele von ihnen leben gleich nach
ihrer Geburt im Stress und verunsichern ihre Eltern durch ihre Unruhe. Möglicherweise leiden sie unter einem Noradrenalinüberschuss im Rahmen ihres angeborenen Ungleichgewichts (dysbalance) der Neurotransmitter (Botenstoffe). Dieser Dauerstress destabilisiert das Immunsystem der Kinder und macht ihren
Körper für allergische Reaktionen anfällig. Nicht wenige Eltern berichten, wie anstrengend die Pflege ihres später hyperaktiven Kindes im Säuglingsalter war. Oft
konnten sie sich aus diesem Grund zu keinem weiteren Kind entschließen.
Dass seelisches Wohlbefinden und Immunsystem miteinander verknüpft sind,
zeigt die Tatsache, dass sich eine Allergie bei einem ADS-Kind unter der Behandlung nicht selten deutlich bessert oder gar verschwindet.
Symptome des ADS bei Kleinkindern
ADS-Symptome beim Kleinkind (1.–3. Lebensjahr)
• hochgradige motorische Unruhe oder auffallend ruhig und brav
• spielt nur kurzzeitig, schnell wechselnd in der Beschäftigung, ohne sie zu
beenden
• verzögerte Sprachentwicklung
• fein- und grobmotorisch ungeschickt
• lernt schwer, sich allein anzuziehen
• motzt schnell und unangemessen stark
• fällt „über die eigenen Beine“ und weint leicht
• Auffälligkeiten in der Mundmotorik (offener Mund, sabbert lange)
• Hat Umstellungs- oder Anpassungsprobleme
• überängstlich, klammert, sehr anhänglich
• kann nicht warten, bis es an der Reihe ist
• empfindlich oder extrem unempfindlich gegenüber Außenreizen
• kann sich nicht wehren, gibt schnell auf oder reagiert unangemessen stark
sowohl körperlich als auch gefühlsmäßig
• braucht viel Zuwendung von Seiten der Eltern
Das hyperaktive Kleinkind ist sehr unruhig, umtriebig und schwer lenkbar. Es ist
dauernd in Bewegung, klettert überall hoch, macht alle Schränke auf und reagiert
nicht auf Zuruf. Es wird schnell wütend und schlägt gleich zu. Solche Kinder sind
für ihre Eltern eine große Herausforderung und für ihre Geschwister nicht selten
eine Belastung. Ihr Kommentar lautet oft: Der oder die „nervt“...
Hyperaktive Kinder fallen frühzeitig durch die Hauptsymptome des ADS:
• motorische Unruhe,
• Impulssteuerungsschwäche mit Spontanhandlungen sowie
• verminderte Konzentration und Daueraufmerksamkeit
auf und grenzen sich durch die Intensität und Beständigkeit dieser Symptome von
den lebhaften, temperamentvollen Kindern ab.
Weniger fallen dagegen die hypoaktiven Kinder auf.
12
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Viele fragen „Woran erkenne ich ADS?“
Symptome des hypoaktiven Kindes im Vorschulalter (4.–6. Lebensjahr)
• verhält sich ängstlich und unsicher
• weint und motzt leicht, ist stimmungslabil
• begreift manches langsam, kann nicht zuhören, sagt gleich: das kann ich
nicht
• Auffälligkeiten in der Mundmotorik, spricht undeutlich
• Auffälligkeiten in der Sprache, verwechselt Konsonanten
• motorische Probleme, malt und bastelt nicht gern
• Probleme beim Schwimmenlernen und beim Fahrrad fahren
• selten Kontaktaufnahme zu gleichaltrigen Kindern
• im Kindergarten Rückzugs- und Regressionstendenzen
• spielt gern allein in der Puppen- oder Bauecke (oft stundenlang)
• hat über viele Jahre immer den gleichen Freund
• in seiner Tätigkeit viel zu langsam oder viel zu schnell
• zieht sich aus dem Stuhlkreis zurück, kann nicht zuhören
• kann sich nicht allein beschäftigen, langweilt sich immer
• vergisst und verliert immer wieder Gegenstände
Die oben genannten Symptome des hypoaktiven Kindes werden zwar häufig übersehen, können jedoch in ihrer Summe seine seelische Entwicklung maßgeblich beeinträchtigen. Unerkannt, unbeachtet und unbehandelt kann das ADS schwere
Folgen für die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit bis hin zum Erwachsenenalter haben.
Bei ausgeprägter Symptomatik sollte das ADS schon vor der Einschulung diagnostiziert und behandelt werden, wenn nötig, auch schon medikamentös mit Stimulanzien. Dies, damit sich das betroffene Kind nach der Einschulung nicht als
„Versager“ erlebt.
Symptome des hyperaktiven Kindergartenkindes (4.–6. Lebensjahr)
• motorisch sehr unruhig, immer in Bewegung
• spricht schnell und laut, schreit herum
• regt sich leicht und übermäßig stark auf
• reagiert spontan und oft unüberlegt, schlägt schnell zu
• fragt viel, wartet aber oft die Antwort gar nicht ab
• kann nicht lange zuhören, vergisst und verliert viel
• bei Unsicherheit schnell aggressiv
• hat Sprachprobleme: Stammeln, Schwierigkeiten einige Konsonanten auszusprechen
• hält den Stift verkrampft und drückt ihn viel zu sehr auf
• kann schlecht malen und Linien einhalten
• hält sich nicht an Regeln, vergisst sie und redet immer dazwischen
• will immer bestimmen, motzt schnell, ist schnell beleidigt
• hat mit sich und anderen keine Geduld
• hat einen großen Gerechtigkeitssinn, verzeiht auch schnell
13
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
•
•
•
•
will im Sport immer der erste sein, bei sozialen Diensten sehr eifrig
schläft spät ein, braucht wenig Schlaf
nässt tagsüber manchmal noch ein, seltener auch nachts
kann sich zu Hause anders als im Kindergarten verhalten
Im Kindergartenalter sind zwischen dem hypo- und hyperaktiven Subtyp schon
verschiedene Übergangsformen zu beobachten. Das hypoaktive Kind ist angepasst
und ängstlich, das hyperaktive Kind dagegen verhaltensauffällig und aggressiv.
Sowohl die Ängstlichkeit als auch die Aggressivität sind jedoch beide Zeichen einer inneren Verunsicherung, die bereits den Beginn einer reaktiven Fehlentwicklung anzeigen.
Symptome des ADS bei Schulkindern
Im Schulalter werden die Unterschiede zwischen hypo- und hyperaktiven Kindern
deutlicher sichtbar, wobei zwischen beiden ADS-Varianten viele Übergänge und
Zwischenstufen existieren: Ein Kind kann z. B. in seinem äußeren Auftreten
hyperaktiv, in seinem Denk- und gezieltem Handlungsvermögen jedoch hypoaktiv
geprägt sein.
Symptome des hypoaktiven Schulkindes
• ist unkonzentriert, verträumt und viel zu langsam
• hat Probleme in der Feinmotorik, beim Schreiben und Malen
• leicht ablenkbar, vergisst und überhört viel
• innerlich und motorisch unruhig, im Denken langsam und umstellungserschwert
• ist zu empfindlich, weint leicht, ist schnell gekränkt
• kann Kritik nicht vertragen, fühlt sich ungeliebt und missverstanden
• macht zu Hause stundenlang und nicht allein Hausaufgaben
• ist ängstlich und traut sich nichts zu
• bleibt in der sozialen Reife zurück, spricht manchmal in Babysprache
• hat oft Kopf- oder Bauchschmerzen
• lässt sich leicht ärgern, kann sich nicht entsprechend wehren
Im Folgenden sei der Kommentar einer Lehrerin zum Abschlusszeugnis der ersten
Klasse eines Jungen (Tobias) wiedergegeben, der ein Jahr später – trotz sehr guter
Intelligenz – die zweite Klasse wiederholen musste (siehe S. 15). Die Gründe dafür
lagen vor allem in einem zu langsamen Arbeitstempo des Jungen sowie in seinen
zu vielen Fehlern im Diktat und beim Rechnen. Zu Hause war Tobias ständig unzufrieden mit seinen Hausaufgaben, bei denen er mehr radierte als er schrieb. Da
er sich zwischendurch sehr erregte und weinte, brauchte er für die Hausaufgaben
ein bis drei Stunden. Lautes Lesen verweigerte er. Die Ursache dafür war ein ADS
ohne Hyperaktivität mit Lese-Rechtschreibschwäche infolge multipler Störungen
in der Informationsverarbeitung.
14
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Viele fragen „Woran erkenne ich ADS?“
Wenn man dieses Zeugnis genau liest, lassen sich schon am Ende der ersten Klasse
Schwierigkeiten erkennen, die von der Lehrerin sehr gut beobachtet und beschrieben wurden. Nach deren Ursachen wurde zunächst allerdings leider nicht weiter
geforscht, sonst wäre dem Jungen einiges erspart geblieben.
Kommentar zum Abschlusszeugnis der ersten Klasse von Tobias
Tobias hat nach wie vor große Schwierigkeiten, sich im Schulalltag zurechtzufinden. Mit den anderen Kindern kommt er meist gut zurecht. Häufig muss er
noch daran erinnert werden, die vereinbarten Regeln einzuhalten. Manchmal
stört er durch Dazwischenreden und lautes Lachen den Unterricht. Leicht ablenkbar kann er diesem nur phasenweise folgen und sich nur für kurze Zeit
konzentrieren. Seine Mitarbeit ist noch zu gering. An Gesprächen beteiligt er
sich äußerst selten und muss zur Mitarbeit immer erst aufgefordert werden.
Meist ist er gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt, träumt, schaut aus
dem Fenster – dadurch bekommt er viele Erklärungen nicht mit.
Erst in den letzten Wochen gelang es ihm Arbeitsanweisungen, die für alle
gegeben wurden, auch auf sich selbst zu beziehen und umzusetzen. Dabei
muss er sein Arbeitstempo noch erheblich steigern und seine Hefte sorgfältiger führen.
Erst sehr spät verstand Tobias das Leseprinzip. Allerdings kennt er noch
nicht alle Buchstaben sicher und hat große Mühe, sie zu unterscheiden. Er
liest noch sehr stockend, bei längeren Wörtern muss er noch lautieren, so dass
er den Sinn des Gelesenen nicht versteht. Schriftliche Arbeitsanweisungen
kann Tobias erst nach persönlicher Erklärung umsetzen. Er sollte täglich lautes Lesen üben.
Tobias‘ Stifthaltung ist noch sehr verkrampft, sein Schriftbild sehr eckig
und ungleichmäßig. Vorgegebene Reihen werden nicht eingehalten. Beim Abschreiben macht er wenig Fehler, aber es erfolgt viel zu langsam. Bei Diktaten
sind nur ganz wenige Wörter lesbar. Nach intensivem Üben kann er auch fast
fehlerfrei schreiben.
Tobias erzählt gern von eigenen Erlebnissen, dabei zeigt er einen reichhaltigen und differenzierten Wortschatz. Hier ist er den meisten Kindern seiner
Klasse weit voraus.
Im Rechnen hat er den erarbeiteten Zahlenraum weitgehend erfasst. Einfache Plus- und Minusaufgaben rechnet er meist richtig. Für neue und ungewohnte Aufgaben braucht er noch zu viel Zeit. Bei Sachaufgaben findet er selten den Rechenweg allein.
Musische Tätigkeiten scheinen ihn eher zu langweilen, aber im Sportunterricht ist er für alle Bewegungsspiele schnell zu begeistern und bemüht sich immer der Erste zu sein.
Das hyperaktive Kind zeigt dagegen ein anderes, fast gegenteiliges Erscheinungsbild, wenngleich beiden ADS-Varianten die wesentlichsten Symptome gemeinsam
sind, da bei beiden die gleiche Grundstörung vorliegt.
15
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
Symptome des hyperaktiven Schulkindes
• ist motorisch unruhig, immer in Bewegung und zappelt viel
• unkonzentriert, kann nicht zuhören und vergisst viel
• spielt und arbeitet unbeständig, wechselt schnell von einer Beschäftigung
zur anderen
• hat motorische Probleme, kann seine Kraft schlecht dosieren
• guter Beobachter, bemerkt alles, kann andere gut durchschauen
• nimmt alles wahr, kann schlecht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden
• antwortet oft, noch bevor die Frage richtig gestellt wurde
• glaubt alles zu können und überschätzt sich leicht
• lernt nicht aus Fehlern, fühlt sich schnell ungerecht behandelt
• ist sehr laut, aber selbst oft geräuschempfindlich
• kann schlecht mit den Hausaufgaben anfangen und unterbricht sie oft
• will immer bestimmen, kann Gefahren schlecht einschätzen
• setzt sich für andere ein, auch wenn es dadurch selbst Ärger bekommt
• kommt mit Gleichaltrigen schlechter aus als mit älteren oder jüngeren
• sammelt nutzlose Dinge
Viele Schulkinder, ob hyper- oder hypoaktiv, haben Probleme beim Lösen von
Textaufgaben und beim Aufsatzschreiben.
Die neurobiologisch bedingten Defizite können bei ADS-Kindern im Schulalter
aufgrund der erhöhten Anforderungen im Leistungs- und Verhaltensbereich zu
verschiedenen Funktionsstörungen führen, die in ihrer Vielfalt bei jedem einzelnen
Kind in eine unterschiedliche individuelle Symptomatik münden. Diese weist ein
immer gleiches Grundmuster auf, das jedoch in verschiedener Schwere ausgeprägt
ist.
Abbildung 1: Verschiedene Formen des ADS
16
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Auch das ist ADS – Berichte über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADS
Jessica, 9 Jahre, hyperaktiv, hochbegabt und mit Problemen
in der sozialen Integration
Die 9-jährige Jessica ist ein hyperaktives Mädchen, das einerseits hochbegabt, andererseits Probleme in der sozialen Integration besitzt. Sie besucht die 3. Klasse, als
sie mit ihrer Mutter – von der Lehrerin geschickt – in die Praxis kommt. Sie sei in
der Schule unruhig, unkonzentriert, frage sehr viel und rede dabei immer dazwischen, so dass sie die anderen ständig ablenke. Die Schulpsychologin, die bei Jessica eine sehr hohe Intelligenz festgestellt hat, vermutet eine Unterforderung des
Mädchens. Ihre Schulleistungen, so die Mutter, seien bis auf Rechnen sehr gut.
Dort vergesse sie schnell alles einmal gekonnte. Jetzt könne sie das Einmaleins perfekt, habe aber vergessen, wie Minusaufgaben gerechnet werden. Gäbe es diese
Probleme nicht, würde die Mutter dem Rat der Psychologin folgen und Jessica eine
Klasse überspringen lassen. Denn bei neuen Unterrichtsinhalten sei Jessica konzentrierter und sie besitze die Fähigkeit, den Lernstoff sehr schnell zu begreifen.
Die Mutter berichtet, dass Jessica ein aufgewecktes und schon immer sehr
wissbegieriges Mädchen sei. Dabei sei sie ungeduldig. Bevor man ihre Frage beantworten könne, habe sie sich schon wieder etwas anderem zugewandt. Sie habe
im Kindergarten schon den Boss gespielt, alle richteten sich nach ihr, dort war sie
der Mittelpunkt. Jetzt scheine sich das zu ändern, Jessica habe immer weniger
Freunde, mit denen sie auskomme. Sie werde kaum noch zu Geburtstagen eingeladen und finde alle früheren Freundinnen „blöd und langweilig“. – „Ist Jessica also
doch zu begabt, und die anderen können ihr nicht folgen?“
Aus der Schule bringt Jessica sehr gute Noten nach Hause; wenn sie mal eine
drei schreibt, wird sie wütend und nennt sich einen Versager. Ansonsten sei ihr
Abbildung 4: Jessica malt Haus, Baum und Mensch
33
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
Verhalten in der Schule viel besser als zu Hause. Dort sei sie sehr impulsiv. „In ihrem Körper tobt manchmal ein richtiges Gewitter“, so ihre Mutter. Sie lebe alle
Gefühle sofort aus und könne nicht warten, wenn sie etwas haben möchte. Sie
müsse immer ihren Willen durchsetzen und diskutiere dann endlos. Nach außen
ein „Power-Mädchen“, sei sie innerlich hoch sensibel. Mit ihrem starken Gerechtigkeitssinn vergesse sie die kleinste Ungerechtigkeit nicht, selbst wenn sie schon
eine Ewigkeit zurückliege. Sie fühle sich schnell beleidigt und benachteiligt. Dabei
berichte Jessica aus der Schule nur wenig.
Die Schulaufgaben erledigt Jessica schnell und zügig. Wenn sie länger schreiben muss, schmerzt ihr die Hand. Sie drückt zu sehr auf und schreibt verkrampft.
Die zweite Feder vom mittlerweile dritten oder vierten Füllhalter ist schon wieder
verbogen. Sie hat schon viele Sachen verloren oder irgendwo liegengelassen und
wusste nicht mehr wo. Wenn sie sich aufregt, wird ihre Schrift viel schlechter und
sie verrechnet sich häufiger. Bemängelt man das, flippt sie aus.
Gleich nach den Hausaufgaben geht sie spielen, sie braucht viel Bewegung. Sie
ist dann draußen gern mit älteren Kindern zusammen, auf die sie zugeht und von
denen sie auch akzeptiert wird. Manchmal, wenn keiner von den älteren Kindern
zu sehen ist, wendet sie sich kleineren Kindern auf dem Spielplatz zu, die sie dann
fürsorglich betreut. Dabei kann sie sanft und ausgeglichen sein. Kleine Kindern
schreit sie niemals an, aber mit Gleichaltrigen kommt sie nicht aus. Es gibt rasch
Streit und Tränen, dort fühlt sie sich schnell unverstanden.
Abbildung 5: Jessica schreibt auf, was sie gerne ändern würde
34
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Auch das ist ADS – Berichte über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADS
Jessica kann ganz verschieden sein, sie hat zwei Seiten. In ihrer Freizeit hat sie viele Aktivitäten angefangen und immer wieder abgebrochen. Sie war in verschiedenen Sportvereinen und im Tanzzirkel aktiv und begann Geigenunterricht. Aber zu
allem fehlte ihr die nötige Ausdauer.
Die Diagnostik in der ärztlichen Praxis ergab bei Jessica ein ADS bei sehr guter intellektueller Ausstattung. Trotzdem wurde hier vom Überspringen einer Klassenstufe abgeraten, da Jessicas Unkonzentriertheit nicht als Folge einer geistigen
Unterforderung, sondern als eines von vielen ADS-Symptomen erkannt wurde, die
Jessica teilweise überfordern. Obwohl sie glücklicherweise nur unter wenigen Teilleistungsstörungen leidet, waren doch deutliche Auffälligkeiten im Verhaltensund Leistungsbereich nachweisbar. Das Überspringen einer Klassenstufe hätte das
Gegenteil des gewünschten Effekts mit sich gebracht und für Jessica alles noch
verschlimmert.
Erst durch eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung konnte Jessica
ihre sehr guten intellektuellen Fähigkeiten im vollen Umfang kontinuierlich und
zuverlässig nutzen und ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln.
Bei sehr oder hochbegabten Kindern, die in der Schule und im Elternhaus
deutliche Verhaltensprobleme aufweisen, sollte mehr als bisher an die Verbindung mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gedacht werden. Die ärztliche Praxis offenbart, dass dieses in solchen Fällen gar nicht so selten vorliegt.
Eric, 10 Jahre, besucht die Hauptschule, ADS ohne Hyperaktivität
Eric besucht die 5. Klasse der Hauptschule und hat große Probleme, die ihn an
sich selbst zweifeln lassen. Er hat ein ADS ohne Hyperaktivität bei fast Hochbegabung, aber beides wusste er bisher noch nicht.
In der Sprechstunde berichtet Eric über sich: Er sei mit sich nicht zufrieden,
seine Mathematiknoten liegen zwischen vier und fünf, die Diktatnoten zwischen
drei und fünf. Seine Schrift sei schlecht, im Sport sei er jedoch sehr gut. Er gehe
auch nicht gern in die Schule und habe keine Lust, Hausaufgaben zu machen, die
er sowieso oft vergesse. Er fühle sich meist nicht verstanden, weder zu Hause noch
in der Schule. Eigentlich wollte er auf das Gymnasium, dort hin gehe auch sein
bester Freund, den er seit der Kindergartenzeit habe (beim Erzählen bekommt Eric
Tränen in die Augen, deshalb wechseln wir schnell das Thema).
Sein kleiner Bruder nerve ihn, mit seinen Eltern sei er dagegen zufrieden. Sie
sagen immer, er sei zu langsam. Er könne aber nicht schneller, selbst nicht, wenn
er sich anstrenge. Er rege sich schnell auf, weine leicht und dann gehe gar nichts
mehr. Er wolle Fußballer werden. Eric liest in der Hauptsache Comics, sitzt gern
vor dem Fernseher, macht Computerspiele, spielt mit dem Gameboy und fährt
gern Inliner.
Seine Mutter erzählt, dass Eric sehr empfindlich sei und man ihm gar nichts sagen dürfe. Dabei brauche er ständig Anleitung. Sie mache sich Sorgen. Eric sei mit
sich überhaupt nicht zufrieden. Er rede nur schlecht über sich und traue sich gar
nichts zu. Er sage oft: „Niemand könne ihn leiden und wir als Eltern würden ihn
35
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
auch nicht verstehen.“ Er grübele sehr viel und male schwarze, aggressive Bilder,
die er gleich wieder zerreiße.
Dabei sei Eric – so die Mutter – ein liebes Kind gewesen: „Er war unser Sonnenschein“. Als Säugling war er sehr anstrengend. Er schlief wenig und war ein
ausgesprochenes „Schreikind“. Er schlief nur, wenn die Eltern ihn umhertrugen
oder im Kinderwagen herumfuhren. Er sei nicht gekrabbelt, aber habe gerobbt
und sei mit zehn Monaten gelaufen. Die Sprachentwicklung war gut. Nachts
war er mit zwei Jahren sauber, tagsüber aber erst im vierten Lebensjahr; deshalb
kam er später in den Kindergarten. Er brauchte schon immer viel Aufmerksamkeit, wollte stets alles wissen und konnte stundenlang mit seinen Legobausteinen sehr schöne Burgen bauen. Den anderen Kindern gegenüber war er sehr bestimmend.
Im Kindergarten gab es keine Probleme. Eric hatte viel Freiraum, spielte immer
in der Bauecke, hatte damals schon den gleichen Freund wie heute. Als einziges
Kind besaß er allerdings keine Vorschulmappe. Er wollte nicht malen oder schreiben, war aber sonst sehr pfiffig, lernte schnell auswendig. Die Kindergärtnerin
sagte, er sei ein kluger Junge und körperlich sehr geschickt.
In der ersten Klasse hatte er Probleme, beim Schreiben die Linien einzuhalten.
Er wurde ständig von der Lehrerin ermahnt. Er schrieb manchmal Spiegelschrift
und verwechselte die Buchstaben. Mit der Lehrerin kam er nicht gut zurecht. „Wir
glaubten“, so die Mutter, „sie hat ihn aufgegeben.“ Eric sollte die 1. Klasse wiederholen, was die Eltern aber nicht wünschten, da er ein sehr guter Rechner war.
Sie veranlassten einen Klassenwechsel. Ab der 2. Klasse hatte er eine Lehrerin, die
einen strukturierten Unterricht machte. Eric mochte diese Lehrerin – die streng,
aber gerecht war – gut leiden. Trotzdem hatte er weiterhin Probleme beim Abschreiben von der Tafel, im Lesen war er zu langsam und beim Rechnen von Minusaufgaben machte er viele Flüchtigkeitsfehler.
Erics Schulzeugnisse der folgenden Jahren spiegeln seine Probleme und Hilflosigkeit deutlich wider:
Zeugnis der 1. Klasse
„Eric ist ein friedlicher, hilfsbereiter Junge mit gutem sozialem Verhalten. Er
nimmt rege am Unterricht teil, denkt mit und bringt sein ausgezeichnetes Vorwissen ein. Arbeitsaufträge, die ihm zusagen, führt er selbstständig und konzentriert
aus, allerdings dauert es oft viel zu lange bis er sein Arbeitsmaterial auf dem Tisch
hat und zu arbeiten anfängt. Ab und zu zeigt er sich eigenwillig und stur, dann
verweigert er alle Anweisungen, besonders häufig das Schreiben. In Mathematik
hat Eric keine Probleme. Im Lesen ist er viel zu langsam. Das Lesen muss noch
flüssiger werden. Auch das Aufschreiben von Wörtern gelingt ihm oft nur fehlerhaft. Seine Schrift entspricht oft seiner Einstellung zur Arbeit. Seine Hefte sind leider weniger ordentlich geführt.“
Zeugnis der 2. Klasse (1. Halbjahr, Lehrerwechsel)
„Eric, du bist ein besonderer Schüler. Ein schlaues, vielschichtig begabtes, toll mitdenkendes Kerlchen, das bei ganz normalen Anforderungen hin und wieder in den
Streik tritt. Wenn du dann noch unter dem Tisch sitzt, verstehe ich die Welt nicht
mehr. Mit dir kann man schon richtig diskutieren, da passt dieses sture Verhalten
nicht dazu. Man kann als Erwachsener nicht ohne Lesen und Schreiben auskom36
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Auch das ist ADS – Berichte über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADS
Abbildung 6: Eric malt Mandalas aus (vor und nach Behandlungsbeginn)
37
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
men, auch dann nicht, wenn man im Rechnen gut ist. Dein Lesen hat sich gebessert; es ist aber noch viel zu langsam und zu stockend. Beim Auswendigschreiben
geübter Sätze machst du noch viel zu viele Fehler. Das Theater, das du wegen der
Hausaufgaben machst, ist schrecklich. Es nützt doch gar nichts. Deine Hefte und
deine Schrift könnten ordentlicher aussehen. Die Buchstaben hängen teilweise
zwischen den Linien.“
Zeugnis der 2. Klasse (2. Halbjahr)
„Lieber Eric, dir ein Zeugnis zu schreiben ist nicht einfach, wie du auch nicht einfach bist. Oftmals zeigst du dich zugänglich und voller Schwung im Unterricht. Es
gibt aber auch Tage, da trödelst du und träumst vor dich hin, schaltest auf stur
und arbeitest überhaupt nicht mit, obwohl du sicher viel mehr könntest. Du hast
nur keine Lust, es gefällt dir gerade nicht, dies zu erledigen, also tust du nichts.
Eric, mit diesem Verhalten kannst du im 3. Schuljahr nicht bestehen!!! Das wird
sich auf deine Leistungen auswirken und das wäre schade. Du kannst nun schon
deutlich besser lesen, machst in den Diktaten nur wenige Fehler und kannst fantasievolle Geschichten schreiben. Im Rechnen löst du die gestellten Aufgaben deutlich sicherer. Deine Hefte allerdings sehen unmöglich aus. Die Schrift ist holprig,
die Buchstaben hängen zwischen den Linien.“
Zeugnis der 3. Klasse (eine neue Klassenlehrerin)
„Eric ist im Unterricht meistens nicht aufmerksam. Er muss zur Mitarbeit aufgefordert werden. Er arbeitet außerdem nicht immer sorgfältig und gewissenhaft. Mehr
Wert sollte er auf eine saubere Formgebung und auf einen sachgerechten Gebrauch
von Arbeits- und Lernmaterialien legen. Es gelingt ihm noch immer schwer, vereinbarte schulische Regeln und Ordnungen einzuhalten. Das größte Problem ist aber
sein Arbeitstempo. Er vermag manche Arbeitsanweisungen nicht aufzunehmen und
entsprechend ohne Hilfe umzusetzen. Es gelingt ihm oft nicht, seine Arbeiten in
vorgesehener Zeit abzuschließen, besonders kann er das Tempo im Diktat nicht
einhalten.“ Bei sonst guten Noten, Rechtschreibung: 4; Mathematik 4
Zeugnis der 4. Klasse
„Eric ist ein höflicher, freundlicher Junge. Er ist vielseitig interessiert und beteiligt
sich je nach vorherrschender Stimmungslage mit guten mündlichen Beiträgen am
Unterricht. Bei Schreibaufgaben fällt es ihm schwer, einen Anfang zu finden und
im angemessenen Tempo weiter zu arbeiten. Im Unterricht scheint er zuweilen völlig abgelenkt und taucht in seine Gedankenwelt ab. Erics Verhalten ist immer
noch auffällig. Er pflegt nur zu wenigen Mitschülern Kontakte.“ Noten alles 3;
Schrift: 4; Rechtschreibung: 4; Sprachgestaltung: 4.
Zeugnis 5. Klasse (Hauptschule)
Mitarbeit: unbefriedigend; Verhalten: befriedigend; Deutsch 5; Musik, Biologie
und Physik 3. Sonst alles 4. – In der Beurteilung steht: „Dem Unterricht folgst
du mittlerweile leider desinteressiert, sehr oft bist du abgelenkt, zu dem zeigst
du wenig Anstrengungsbereitschaft. Du versinkst in eine Traumwelt und lässt
dich nur phasenweise zur Mitarbeit aktivieren. Dann arbeitest du aber viel zu
langsam, trotzdem bekommst du wichtige Lerninhalte nicht vollständig mit. Du
musst aufhören zu träumen und dein Arbeitstempo unbedingt beschleunigen.
Dass du es kannst, hast du schon bewiesen, wenn auch sehr selten. In den
schriftlichen Arbeiten bist du sehr oberflächlich und wenig sorgfältig. Trotz der
38
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
Auch das ist ADS – Berichte über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADS
Abbildung 7: Schriftproben von Eric vor und nach Behandlungsbeginn
39
© 2007 W. Kohlhammer, Stuttgart
www.kohlhammer.de
ADS hat viele Gesichter
vielen Zeit, die du benötigst, scheinst du beim Schreiben überhaupt nicht nachzudenken.“
Eric kam auf Initiative seiner Mutter in die ärztliche Praxis. Dort war aus seiner
Lebensgeschichte folgendes zu erfahren: Wegen einer leichten Rechtschreibschwäche erhielt der Junge Ergotherapie. Da Eric zunehmend zu Hause ängstlicher und
mit sich unzufrieden wurde, absolvierte er bei einer Psychologin eine Spieltherapie. Die Psychologin stellte bei ihm Hochbegabung fest. 1997 schrieb die Psychologin: „hochbegabter Junge, der einen geringen Spannungsbogen und ein gestörtes
Selbstwertgefühl hat; trotzdem dieses sehr gute Ergebnis im Intelligenztest“.
Eric entwickelte immer mehr Ängste: Dunkelangst, Trennungsangst, Angst in
die Schule zu gehen und dort ausgelacht zu werden. Er hielt sich für einen Versager, wurde sehr affektlabil und unsicher. Schließlich traute er sich gar nichts mehr
zu und zog sich zurück.
In die Ergotherapie ging Eric gern. Sie dauerte über drei Jahre und verfolgte im
Wesentlichen vier Behandlungsziele, nämlich die Förderung a) der sozialen sowie
emotionalen Kompetenzen, b) der Konzentration und Ausdauer, c) der Selbstständigkeit und Alltagsbewältigung sowie d) der sensorischen Integration. Dass die
Ergotherapie allein jedoch nicht in der Lage war, Erics Schwierigkeiten zu beseitigen, geht aus dem Abschlussbericht der Therapeutin hervor: „Erics Mutter ist besorgt wegen der sich verschlechternden Schulsituation und möchte ihren Sohn
weiter in Bezug auf eine ADS-Störung untersuchen lassen.“
Die Untersuchungsbefunde von Eric (HAWIK von 1997: Gesamt-IQ = 131; Verbalteil IQ = 136; Handlungsteil IQ = 119; aktuelle Befunde von 2001: KramerEntwicklungstest: IQ = 115; Raven-Test: IQ = 115) zeigen klar, dass der Junge
eine überdurchschnittliche Intelligenz besitzt.
Die in der psychiatrischen Praxis gestellte Diagnose für Eric:
•
•
•
•
•
ADS ohne Hyperaktivität.
Lese-Rechtschreibschwäche
Multiple Teilleistungsstörungen
Räusper-Tic
Selbstwertproblematik mit Versagensängsten
Aus Erics Beispiel lässt sich ein typisches Schicksal für ein hypoaktives Kind
ablesen. Die Symptomatik der Hypoaktivität ist dabei immer noch zu wenig
bekannt, obwohl den betroffenen Kindern sehr erfolgreich geholfen werden
kann. Gerade hierfür ist die Zusammenarbeit mit der Schule sehr wichtig.
Denn oft sind es die Lehrerinnen und Lehrer, die als erste auf die Symptome
(in den Zeugnissen) unmissverständlich hinweisen.
Anna-Maria, eine 15-jährige Jugendliche mit ADS ohne
Hyperaktivität und sehr guten Schulnoten
Anna-Maria besucht die 9. Klasse des Gymnasiums. Sie ist eine sehr gute Schülerin, sehr fleißig, sehr motiviert und leistungsorientiert mit hohem Anspruch an
sich selbst. Seit drei Jahren entwickelt sie zunehmend soziale Ängste und insbeson40