(aufgehoben) [Revisionsgründe] § 136 § 137

Transcription

(aufgehoben) [Revisionsgründe] § 136 § 137
§ 137
Revisionsgründe
§ 16 Abs. 1 S. 2 VwRehaG i.d.F. v. 1.7.1997 1620;
§ 12 S. 1 WiSG i.d.F. v. 3.10.1968, BGBl I 1069;
§ 34 S. 1 WpflG i.d.F. v. 30.5.2005, BGBl I 1465;
§ 84 SG i.d.F. v. 30.5.2005, BGBl I 1482;
§ 75 S. 1 ZDG i.d.F. v. 17.5.2005, BGBl I 1346;
§ 137 Abs. 3 TKG v. 22.6.2004, BGBl. I 11901.
5. Ausschluss der Beschwerde. Der Gesetzgeber verbindet mit dem Ausschluss der Berufung zumeist 11
den Ausschluss der Beschwerde, mit Ausnahme der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision,
die mit Blick auf § 135 nicht ausgeschlossen werden kann.2
§ 136 (aufgehoben)
§ 137 [Revisionsgründe]
(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung
1. von Bundesrecht oder
2. einer Vorschrift des Verwaltungsverfahrensgesetzes eines Landes, die ihrem Wortlaut nach mit dem
Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes übereinstimmt,
beruht.
(2) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen
Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.
(3) 1Wird die Revision auf Verfahrensmängel gestützt und liegt nicht zugleich eine der Voraussetzungen
des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 vor, so ist nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden.
2Im übrigen ist das Bundesverwaltungsgericht an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden.
Schrifttum
1. Monographien und Beiträge in Sammelwerken: Christian-Friedrich Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, 1962; Kurt
Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellungen in der Revisionsinstanz, 1964; Hermann
Stumpf, Zur Revisibilität der Auslegung von privaten Willenserklärungen, in: FS für Hans Carl Nipperdey, 1965, Bd. I, 957; Henrich
Schleifenbaum, Die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts als revisibles Bundesrecht (§ 137 VwGO), 1966; Peter Schwerdtner, Das revisible Recht im Verwaltungsprozess, 1966; Gerhard Rothe, Revisionsrügen des Rechtsmittelgegners?, in: Ehrengabe für
Bruno Heusinger, 1968, 257; Hans-Hermann Klumpp, Landesrecht vor Bundesgerichten im Bundesstaat des Grundgesetzes, 1969;
Carl Hermann Ule, Zur Revisibilität des Verwaltungsverfahrensrechts, in: Verfassung, Verwaltung, Finanzen, FS für Gerhard Wacke,
1972, 277; Reiner Martin, Prozessvoraussetzungen und Revision, 1974; Peter Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz,
1975; Paul Kirchhof, Revisibles Verwaltungsrecht, in: FS Menger, 1985, 813; Marion Klaer-Cichon, Die Revisibilität von Landesrecht
vor dem Bundesverwaltungsgericht, 1992; Artur May, Die Revision in den zivil- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren (ZPO,
ArbGG, VwGO, SGG, FGO), 2. Aufl., 1997, 317 ff.; Hans-Dietrich Weiß, Revisibilität des Beamtendisziplinarrechts, in: Öffentliches
Dienstrecht im Wandel, FS für Walther Fürst, 2002, 385; Thomas Mayen, Die Befugnis des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung
behördlicher Willenserklärungen, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, 641.
2. Beiträge in Zeitschriften: H. Schleifenbaum, Die Revisibilität des Grundsatzes von Treu und Glauben im Verwaltungsrecht,
DVBl 1969, 350; H.-J. D. Hardt, Die Revisibilität der allgemeinen Verwaltungsgrundsätze, DVBl 1973, 325; H. Grave/H.-J. Mühle, Denkgesetze und Erfahrungssätze als Prüfungsmaßstab im Revisionsverfahren, MDR 1975, 274; E. Schneider, Die Befugnis des
Rechtsbeschwerdegerichts zur Selbstauslegung, MDR 1981, 885; A. May, Auslegung individueller Willenserklärungen durch das
Revisionsgericht?, NJW 1983, 980; H.-O. Sieg, Eigene Beweiserhebung durch das Revisionsgericht, NJW 1983, 2014; L. Fastrich,
Revisibilität der Ermittlung ausländischen Rechts, ZZP 97 (1984), 423; R. Rudisile, Die Gegenrüge im Revisionsrecht, DVBl 1988,
1135; F. W. Schwöbbermeyer, Die Bedeutung der "Salvatorischen Klausel" in revisiblen Berufungsurteilen, NJW 1990, 1451; H.U. Paeffgen, Art. 30, 70, 101 I GG – vernachlässigbare Normen? – Revisibilität von Landesrecht durch das BVerwG und "vorbeugende
Verbrechensbekämpfung" –, JZ 1991, 437; M. Bertrams, Das vor dem Bundesverwaltungsgericht revisible Recht, DÖV 1992, 97;
H. Oetker, Rechtsvorschriften der ehem. DDR als Problem methodengerechter Gesetzesanwendung, JZ 1992, 608; H. A. Petzold, Ist
Gemeinschaftsrecht Bundesrecht? Zur Europafreundlichkeit von VwGO und FGO, NVwZ 1999, 151; W. Roth, Ungleichzeitige
Parallelgesetzgebung – Verlust der Revisibilität des Offenkundigkeitsmerkmals in § 44 I LVwVfG?, NVwZ 1999, 388; H. Sodan,
Unbeachtlichkeit und Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, DVBl 1999, 729; J. Gundel, Neue Wege zur Auslegung von Lan-
1 Hierzu BVerwG NVwZ-RR 2006, 580.
2 Zur ausnahmsweise zugelassenen Rechtswegbeschwerde vgl. BVerwGE 108, 153; zum gesetzlichen Ausschluss der Beschwerde vgl. § 146 Rn. 31 ff.
Neumann
2723
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
desrecht durch das BVerwG – Die Neubelebung von Art. 99 Alt. 2 GG durch Länderstaatsverträge, NVwZ 2000, 408; T. Pfeiffer,
Die revisionsgerichtliche Kontrolle der Anwendung ausländischen Rechts, NJW 2002, 3306; N. Jansen/R. Michaels, Die Auslegung
und Fortbildung ausländischen Rechts, ZZP 116 (2003), 3.
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Entwicklung des Normbestands . . . . . . . . . . .
2. Bedeutung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Umfang revisionsgerichtlicher Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Beschränkungen aus § 137 . . . . . . . .
bb) Bindung an unanfechtbare Vorentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Begründetheit der Revision . . . . . . . . . . . . .
aa) Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Beruhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . .
II. Revisibles Recht (Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . .
b) Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Andere technische Normen . . . . . . . . . . . . .
d) Beamtenrechtliche Beihilfevorschriften
e) Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Verfassungsrechtlicher Hintergrund . . .
b) Allgemeiner Begriff des Bundesrechts . .
c) Bundesrecht im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . .
aa) Nachkonstitutionelles gesetztes
Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Vorkonstitutionelles Recht . . . . . . .
cc) Besatzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dd) Recht der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ee) Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . .
ff) Allgemeine Regeln des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
gg) Recht der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
hh) Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .
ii) Allgemeine Rechtsgrundsätze des
Verwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . .
jj) Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Abgrenzung Bundesrecht/Landesrecht
aa) Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Ausfüllung von Rahmenrecht . . . . .
cc) Art. 125 a ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Verwaltungsverfahrensgesetze (Abs. 1 Nr. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Bedeutung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Voraussetzungen der Revisibilität . . . . . .
aa) Verwaltungsverfahrensgesetz . . . . .
bb) Wörtliche Übereinstimmung . . . . . .
4. Sonstiges revisibles Landesrecht . . . . . . . . . . . .
a) § 127 Nr. 2 BRRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Art. 99 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Bindung des Revisionsgerichts . . . . . . . . . . . . .
a) Bedeutung der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Grenzen der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Auslegung anhand von Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Überprüfung des Auslegungsergebnisses anhand von Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2724
1
1
4
4
6
9
12
14
17
21
27
28
29
32
33
35
35a
36
36
38
42
43
45
46
47
50
53
54
55
56
70
73
74
79
82
83
84
86
87
88
90
91
96
99
100
103
Bundesrahmenrecht als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Eigene Auslegung irrevisiblen Rechts
durch das Revisionsgericht . . . . . . . . . . . . .
III. Bindung an tatsächliche Feststellungen (Abs. 2)
1. Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Lebenssachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Hilfstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Prozesstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Generelle Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Feststellung von Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Bindung an festgestellte Tatsachen . . . . . . . . .
a) Bedeutung der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Ausnahmsweise Berücksichtigung neuer
Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Änderung der Rechtslage . . . . . . . . .
bb) Berücksichtigung aus Gründen der
Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Offenkundige Tatsachen . . . . . . . . . .
dd) Zeitablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ee) Heilung von Ermessensfehlern . . . .
c) Wegfall der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Rügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Gegenrügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Aktenwidrige Feststellungen . . . . . .
4. Abgrenzung Tatsachenfeststellung/Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Juristische Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Rechtsanwendung als Gegenstand der
Tatsachenfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Auslegung von Willenserklärungen . . . .
d) Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . .
e) Fremdes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Mängel der Beweiswürdigung als Verfahrensfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Revisionsgerichtliche Überprüfung der
freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Verletzung allgemeiner Beweiswürdigungsgrundsätze . . . . . . . . . . . .
cc) Verstoß gegen die Denkgesetze . . .
dd) Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ee) Erfahrungstatsachen . . . . . . . . . . . . . .
ff) Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Bindung an die erhobenen Rügen (Abs. 3) . . . . . .
1. Allgemeine Bedeutung der Vorschrift . . . . . .
2. Satz 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Satz 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104
108
Neumann
cc)
111
115
122
123
123
124
126
128
132
135
142
142
146
147
148
150
155
156
157
157
159
161
162
162
163
164
170
171
174
175
179
180
182
183
184
187
190
191
191
193
201
204
§ 137
Revisionsgründe
I. Allgemeines
1. Entwicklung des Normbestands. Es entspricht der Funktion der Revision, dass mit ihr das angefoch- 1
tene Urteil nur eingeschränkt nachgeprüft werden kann. § 137 greift insoweit auf überkommene Regelungen zurück, passt sie aber z.T. den Besonderheiten des Verwaltungsprozesses an.
Die Vorschrift ist seit ihrem Inkrafttreten nur durch § 97 Nr. 3 VwVfG geändert worden. Mit dem 2
VwVfG übernahm der Gesetzgeber ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts
in das geschriebene Recht. Die Länder erließen in einer abgestimmten Aktion wortgleiche Gesetze. Diese
sollten in Übereinstimmung mit dem VwVfG des Bundes ausgelegt werden. Das BVerwG hatte aber
Landesrecht auch dann für irrevisibel gehalten, wenn die Länder in einer abgestimmten Aktion gleichlautende Gesetze erlassen hatten. Deshalb musste entweder jedes Land gem. Art. 99 GG die Revisibilität
seines VwVfG vorsehen oder der Bund eine solche Revisibilität vorschreiben. Letzteres ist mit § 97
Nr. 3 VwVfG (in begrenztem Umfang) geschehen.
§ 97 Nr. 3 VwVfG ist zwar durch Art. 1 Nr. 7 des 2. VwVfÄndG (v. 6.8.1998, BGBl I 2022) gestrichen 3
worden. Dadurch ist aber die Änderung des § 137 Abs. 1 nicht rückgängig gemacht worden.1
2. Bedeutung der Norm. a) Umfang revisionsgerichtlicher Überprüfung. Zusammen mit § 132 Abs. 2 4
bestimmt § 137 Funktion und Eigenart der Revision. Die Revision ist eröffnet, um eine einheitliche
Auslegung und Anwendung des Rechts und dessen Fortbildung zu gewährleisten sowie die Einhaltung
des Verfahrens sicherzustellen. Mit Blick auf diese Funktionen beschränkt § 137 den Umfang, in dem
das Revisionsgericht das angefochtene Urteil nachprüfen darf. Überschreitet das Revisionsgericht diese
Grenzen, kann es den Anspruch der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter verletzen (BVerfGE 31, 145,
165).
§ 137 wirkt auf die Zulassung der Revision vor. Sie kann nur aus Gründen erreicht werden, die im 5
angestrebten Revisionsverfahren geprüft werden können. Die Fragen grundsätzlicher Bedeutung bspw.
müssen solche des revisiblen Rechts sein. Sie müssen sich auf der Tatsachengrundlage stellen, die nach
§ 137 Abs. 2 dem BVerwG im Revisionsverfahren verbindlich vorgegeben ist.
aa) Beschränkungen aus § 137. Zum einen prüft das BVerwG nur nach, ob das angefochtene Urteil auf 6
einer Verletzung des (näher beschriebenen revisiblen) Rechts beruht. Das einschränkende „nur“ in
Abs. 1 bezieht sich vornehmlich auf die Verletzung des Rechts als alleinigen Gegenstand revisionsgerichtlicher Überprüfung. Das Revisionsgericht ist kein Tatsachengericht. Die Revision ermöglicht eine
Nachprüfung des angefochtenen Urteils nur in rechtlicher, nicht aber in tatsächlicher Hinsicht. Diese
Funktion der Revision verdeutlicht § 137 Abs. 2 weiter. Das Revisionsgericht ist an die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz gebunden. Zu den Rechtssätzen, deren Einhaltung das Revisionsgericht
nachprüfen kann, gehören neben den Rechtssätzen des materiellen Rechts die Rechtssätze des Verfahrensrechts. Tatsachenfeststellungen können deshalb mit der Rüge angegriffen werden, sie seien unter
Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen.
Zum anderen prüft das BVerwG nicht die Verletzung jedweden Rechts nach. § 137 Abs. 1 beschreibt 7
das revisible Recht. Eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Rechts und seine Fortbildung erfordern nicht in allen Fällen die Entscheidung des BVerwG als Revisionsgericht. Auf dem Gebiet des
Landesrechts und für anderes Partikularrecht ist grds. das OVG in der Lage, durch seine Rspr. die
Rechtseinheit zu wahren. Revisibel sind deshalb grds. nur die Rechtssätze des Bundesrechts, ferner die
Vorschriften des VwVfG eines Landes, wenn die Vorschrift mit dem VwVfG des Bundes übereinstimmt.
Andere Rechtssätze, namentlich solche des Landesrechts, sind ausnahmsweise revisibel, wenn ein Bundesgesetz oder nach Art. 99 GG ein Landesgesetz dies vorsieht. Ohne Rücksicht auf den Charakter der
einschlägigen Norm wird eine Verletzung gerade von Bundesrecht unwiderleglich vermutet, wenn die
Verletzung der Norm einen Verfahrensmangel i.S.d. § 138 ergibt.
Nach Maßgabe des § 137 Abs. 3 ist das BVerwG in der Nachprüfung des angefochtenen Urteils durch 8
die geltend gemachten Revisionsgründe beschränkt. Eine solche Bindung besteht insbes. an die erhobenen Verfahrensrügen. Keine Bindung besteht an die Gründe, die zur Zulassung der Revision geführt
haben. § 132 Abs. 2 eröffnet zwar die Revision im Wesentlichen zur Wahrung der Rechtseinheit und zur
Fortbildung des Rechts (Nr. 1 und Nr. 2). Ist die Hürde der Zulassung genommen, ermöglicht die Revision aber eine rechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils im vollen Umfang des revisiblen
1 Bader, in: Bader § 137 Rn. 1. Dieselbe Frage stellte sich zu § 44 a; vgl. insoweit: BVerwG NJW 1999, 1729, 1730.
Neumann
2725
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
Rechts ohne Rücksicht darauf, ob die Beantwortung der insoweit gestellten Fragen einen Beitrag zur
Wahrung der Einheit des Rechts oder seiner Fortbildung leistet. Nach ihrer Zulassung bestimmt vielmehr
das individuelle Rechtsschutzinteresse an der richtigen Entscheidung des Einzelfalles das Ziel der Revision.
9 bb) Bindung an unanfechtbare Vorentscheidungen. Das Revisionsgericht kann ferner nicht diejenigen
Entscheidungen überprüfen, die dem Endurteil der Vorinstanz vorausgegangen sind und die nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift unanfechtbar sind (§ 173, § 557 Abs. 2 ZPO). Die Revision kann
nicht darauf gestützt werden, die Vorinstanz habe bei einer prozessualen Zwischenentscheidung prozessrechtliche Vorschriften verletzt, wenn diese Zwischenentscheidung einer Anfechtung entzogen ist.
Dies gilt etwa für die Rüge, die Vorinstanz habe zu Unrecht eine Klageänderung als sachdienlich zugelassen (§ 91 Abs. 3) oder das Berufungsgericht habe die Berufung zu Unrecht zugelassen (BVerwG
NVwZ-RR 2000, 260; NVwZ 1998, 1179). Das BVerwG grenzt diese Beschränkung der revisionsgerichtlichen Überprüfung in zweifacher Hinsicht ein. Zum einen soll § 173, § 557 Abs. 2 ZPO nicht diejenigen Vorentscheidungen erfassen, die zwar nach allgemeinem Prozessrecht anfechtbar sind, aber wegen eines spezialgesetzlich normierten Rechtsmittelausschlusses (hierzu § 146 Rn. 31 ff.) im konkreten
Fall nicht angegriffen werden können (BVerwGE 110, 40, 43 f.). Zum anderen soll die Rüge eines Verfahrensmangels dann zulässig sein, wenn diese Rüge sich nicht unmittelbar gegen die Vorentscheidung
selbst wendet, sondern einen Mangel betrifft, der als Folge der beanstandeten Vorentscheidung weiterwirkend dem angefochtenen Urteil selbst anhaftet.2
10 Diese Deutung des § 557 Abs. 2 ZPO begegnet Bedenken3. Eigentlicher Sinn der Vorschrift ist es schon
nach ihrem Wortlaut, die Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts zu erweitern. Sie unterwirft prozessuale Vorentscheidungen einer Überprüfung des Revisionsgerichts. Das Revisionsgericht kann im Zusammenhang mit der Endentscheidung nachprüfen, ob die prozessuale Vorentscheidung fehlerhaft war.
Diese Prüfung nimmt das Revisionsgericht nur mit Blick auf die Endentscheidung vor. Nur diese, nicht
aber die Vorentscheidung ist Gegenstand der Revision. Wird die Vorentscheidung im Zusammenhang
mit der Endentscheidung überprüft, lautet die maßgebliche Frage, ob die Endentscheidung als Gegenstand der Revision auf der fehlerhaften Vorentscheidung beruht. Diese Frage nach dem „Beruhen“ der
Endentscheidung auf der fehlerhaften Vorentscheidung ist dann zu bejahen, wenn als Folge der beanstandeten Vorentscheidung der Endentscheidung ein darauf beruhender, weiterwirkender Mangel anhaftet. Von dieser erweiterten Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts macht § 557 Abs. 2 ZPO wiederum Ausnahmen für die Fälle, in denen eine Vorentscheidung unanfechtbar ist. Die Vorschrift verwehrt
dem Revisionsgericht in diesem Fall die sonst eröffnete erweiterte Prüfung. Die Vorschrift wiederholt
nicht einfach die anderweit normierte Unanfechtbarkeit einer Vorentscheidung, sondern untersagt dem
Revisionsgericht gerade, die Vorentscheidung im Zusammenhang mit der Endentscheidung zu überprüfen. Damit ist dem Revisionsgericht die Prüfung verwehrt, ob die Endentscheidung auf einem Mangel
beruht, der sich als weiterwirkende Folge einer fehlerhaften, aber unanfechtbaren Vorentscheidung darstellt.
11 § 557 Abs. 2 ZPO ist deshalb dahin zu verstehen, dass dem Revisionsgericht die Feststellung verwehrt
ist, die beanstandete Vorentscheidung sei fehlerhaft gewesen. Das Revisionsgericht hat vielmehr von der
Richtigkeit einer unanfechtbaren Vorentscheidung und einer durch sie geschaffenen Prozesslage auszugehen. § 557 Abs. 2 ZPO ist aber in anderer Richtung einzuschränken. Trotz Unanfechtbarkeit der
Zwischenentscheidung kann das Revisionsgericht überprüfen, ob wegen deren Fehlerhaftigkeit die anfechtbare Endentscheidung gegen eine verfassungsrechtliche Verfahrensgarantie verstößt, etwa den Anspruch auf den gesetzlichen Richter oder den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
2 BVerwGE 39, 319, 323 f.; BVerwG Beschl. v. 16.2.1988 Buchholz 303 § 548 ZPO Nr. 4; NVwZ 1999, 184, 185;
BVerwGE 110, 40, 44; s.a.: BVerwG NVwZ-RR 1999, 587, 588: die Ablehnung von Prozesskostenhilfe und der Beiordnung eines Rechtsanwalts kann weiterwirkend zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs führen; BVerwG NVwZ-RR 2000,
257, 258: die verfahrensfehlerhafte Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter kann weiterwirkend zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank führen; der Sache nach ebenso BVerwGE 104, 170, 172: die fehlerhafte Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs kann weiterwirkend zu einer vorschriftswidrigen Besetzung der Richterbank bei der Endentscheidung führen, sowie BVerwG NVwZ-RR 1999, 408: die fehlerhafte Ablehnung eines Antrags auf Terminsaufhebung kann weiterwirkend zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs in der mündlichen Verhandlung führen.
3 Krit. auch: M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 100 ff.; P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 24.
2726
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
b) Begründetheit der Revision. Mit dem Umfang revisionsgerichtlicher Überprüfung beschreibt § 137 12
Abs. 1 zugleich eine wesentliche, wenn auch nicht die alleinige Voraussetzung für die Begründetheit der
Revision. Die Revision ist begründet, wenn das angefochtene Urteil auf einer Verletzung revisiblen
Rechts beruht (§ 137 Abs. 1) und sich nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4). Bei
dem verletzten Recht kann sich um Normen des Prozessrechts oder des materiellen Rechts handeln.
Entgegen dem missverständlichen Wortlaut regelt § 137 Abs. 1 nicht die Anforderungen an die (formelle) 13
Begründung der Revision. Diese Anforderungen ergeben sich vielmehr aus § 139 Abs. 3 S. 4. Aus dem
Umfang, in dem das BVerwG das angefochtene Urteil zulässigerweise nachprüfen kann, ergibt sich jedoch spiegelbildlich, auf welche Rügen eine (zugelassene) Revision gestützt werden kann, wenn sie Erfolg
haben will (zulässige Revisionsgründe).
aa) Rechtsverletzung. Revisibles Recht ist verletzt, wenn eine ihm angehörende Norm nicht oder nicht 14
richtig auf den festgestellten Sachverhalt angewendet worden ist (§ 173, § 546 ZPO). Aus welchem
Grund die Norm nicht oder unrichtig angewendet worden ist, ist unerheblich. Der Vorinstanz können
Fehler bei der Auslegung der Norm oder bei der Subsumtion des Sachverhalts unter die richtig ausgelegte
Norm unterlaufen sein (P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 16). Die Vorinstanz kann eine Norm übersehen oder bewusst außer Acht gelassen haben. Sie kann tatsächlich nicht bestehende allgemeine Rechtsgrundsätze angenommen haben, i.d.S. also eine Norm angewandt haben, die es nicht gibt.
Räumt eine Norm des Prozessrechts dem Gericht Ermessen ein, ist die revisionsgerichtliche Überprüfung 15
darauf beschränkt, ob die Vorinstanz von den Grenzen ihres Ermessens eine irrige Auffassung gehabt
hat oder sich dieser Grenzen überhaupt nicht bewusst gewesen ist.4 Räumt eine Norm des Prozessrechts
dem Gericht einen Beurteilungsspielraum ein, liegt eine Rechtsverletzung nur vor, wenn die Vorinstanz
ihren Beurteilungsspielraum überschritten hat. Das BVerwG prüft nach, ob die Vorinstanz den Sinngehalt der Vorschrift beachtet, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine ungeklärten Fragen offen
gelassen sowie bei der Ermittlung und Würdigung der rechtserheblichen Tatsachen die gebotene Sorgfalt
beachtet hat (BVerwG DVBl 1983, 643, 645). Enthält die Norm des Prozessrechts hingegen unbestimmte
Rechtsbegriffe, prüft das BVerwG auch nach, ob die Vorinstanz diese Begriffe richtig angewandt hat.
Das Recht muss durch das angefochtene Urteil verletzt sein. Ist Gegenstand der Revision ein Berufungs- 16
urteil, kommt es darauf an, ob das Berufungsurteil, nicht aber ob das erstinstanzliche Urteil revisibles
Recht verletzt. Diese Unterscheidung ist vor allem von Bedeutung, wenn der Revisionskläger eine Verletzung von Prozessrecht geltend macht. Der gerügte Verfahrensfehler muss dem Berufungsgericht im
Berufungsverfahren unterlaufen sein. Ein Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens ist unerheblich, es sei
denn, er habe sich in der angefochtenen Berufungsentscheidung fortgesetzt (BSG NVwZ-RR 2002, 79,
80).
bb) Beruhen. Eine Verletzung revisiblen Rechts führt nur dann zum Erfolg der Revision, wenn das 17
angefochtene Urteil auf ihr beruht. Die Rechtsverletzung muss für das Ergebnis des angefochtenen Urteils
kausal sein. Für die Gewissheit dieser Kausalität ist zu unterscheiden zwischen Verfahrensfehlern und
materiellrechtlichen Mängeln. Bei einem materiellen Rechtsverstoß ist die erforderliche Kausalität (nur)
gegeben, wenn die Vorinstanz ohne den Rechtsverstoß eine andere Entscheidung getroffen hätte; die
bloße Möglichkeit einer anderen Entscheidung reicht nicht aus (P. Schmidt, in: Eyermann § 137
Rn. 20). Bei einem Verfahrensfehler beruht die Entscheidung hingegen schon auf einem Rechtsverstoß,
wenn mindestens die Möglichkeit besteht, dass das Gericht ohne den Rechtsverstoß zu einem dem
Rechtsmittelführer sachlich günstigeren Ergebnis hätte gelangen können.5 Weil das Revisionsgericht
kein Tatsachengericht ist, kann es regelmäßig nicht abschließend feststellen, welche Entscheidung die
Vorinstanz bei Meidung des Verfahrensfehlers hätte treffen müssen. Bei den in § 138 genannten Verfahrensmängeln wird deren Kausalität unwiderleglich vermutet. In diesen Fällen kommt es nicht einmal
auf die Möglichkeit an, dass sich die Missachtung der Verfahrensvorschrift auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt hat.
4 BVerwGE 52, 11, 16 (zum Ermessen des Tatsachengerichts bei der Vereidigung von Zeugen); BVerwG DVBl 1999, 987;
Urt. v. 30.6.2004 Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 64; (jeweils zum Ermessen des Berufungsgerichts bei der Anwendung
des § 130 a); BGH NJW 2001, 2551, zur Entscheidung des Berufungsgerichts, ob es eine Sache wegen eines Verfahrensfehlers an die Vorinstanz zurückverweisen will.
5 BVerwGE 14, 342, 346; BFH BFH/NV 2001, 1410,1411.
Neumann
2727
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
18 Hat die Vorinstanz ausschließlich irrevisibles Recht angewandt, kann das Urteil gleichwohl auf einer
Verletzung revisiblen Rechts beruhen. Die Vorinstanz kann zum einen eine an sich einschlägige Norm
des revisiblen Rechts nicht angewandt haben. Das angefochtene Urteil beruht auf der durch Nichtanwendung verletzten Norm des revisiblen Rechts. Die Vorinstanz kann zum anderen bei der Auslegung
und Anwendung des anzuwendenden irrevisiblen Rechts gegen solche Normen des revisiblen Rechts
verstoßen haben, an denen die Auslegung und Anwendung des irrevisiblen Rechts zu messen war. Das
angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung revisiblen Rechts, wenn die angewendete Norm des
irrevisiblen Rechts, sei es auch erst in ihrer Auslegung durch die Vorinstanz, mit revisiblem Recht nicht
vereinbar ist.
19 Ist das angefochtene Urteil auf mehrere je selbständig tragende Gründe gestützt, beruht es nicht auf der
Verletzung revisiblen Rechts, wenn einer dieser Gründe kein revisibles Recht verletzt. Umgekehrt beruht
das angefochtene Urteil auf einer Verletzung revisiblen Rechts, wenn sich nur eine vorgreifliche, aber
fehlerhaft beantwortete Frage nach revisiblem Recht richtet, das Urteil im Übrigen aber auf irrevisibles
Recht gestützt ist (BGHZ 118, 295, 299).
20 Beruht das angefochtene Urteil (möglicherweise) auf einem geltend gemachten Verfahrensfehler, bleibt
die Revision gleichwohl erfolglos, wenn der Beteiligte sein Rügerecht bereits in der Vorinstanz verloren
hat (§ 173, §§ 556, 295 ZPO). Danach kann ein Beteiligter die Verletzung einer Verfahrensvorschrift
nicht mehr rügen, wenn er auf ihre Befolgung verzichtet oder sich in eine mündliche Verhandlung eingelassen hat, ohne den Verfahrensmangel zu rügen, obwohl ihm der Mangel bekannt war oder hätte
bekannt sein müssen. Der Verlust des Rügerechts tritt nicht ein, wenn eine Vorschrift verletzt ist, auf
deren Befolgung ein Beteiligter nicht wirksam verzichten kann. Hat der Beteiligte sein Rügerecht verloren, bleibt der davon betroffene Verfahrensfehler im Revisionsverfahren unberücksichtigt.
21 cc) Maßgeblicher Zeitpunkt. Das Revisionsgericht hat wie jedes Gericht das Recht anzuwenden, das
für den zu entscheidenden Fall gilt. Zwar kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil
auf der Verletzung revisiblen Rechts beruht. Das Revisionsgericht ist deshalb aber nicht darauf beschränkt, nur das bei Erlass der angefochtenen Entscheidung geltende Recht anzuwenden. Maßgeblich
ist vielmehr, ob das angefochtene Urteil objektiv mit dem geltenden Recht übereinstimmt. Das Recht ist
i.S.d. § 137 Abs. 1 verletzt, wenn bei richtiger Anwendung des geltenden revisiblen Rechts die Entscheidung anders ausfallen müsste. Das angefochtene Urteil beruht deshalb auch dann auf einer Verletzung
revisiblen Rechts, wenn es objektiv gegen Recht verstößt, das nach seinem Erlass in Kraft getreten ist.
22 Verletzt das angefochtene Urteil revisibles Recht, kann das BVerwG zudem nicht nur die Entscheidung
aufheben und die Sache an die Vorinstanz zurückverweisen, sondern auch in der Sache selbst entscheiden
(§ 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 1). Diese Befugnis schließt notwendig das Recht und die Pflicht ein, das im Zeitpunkt dieser Sachentscheidung geltende Recht anzuwenden und damit die Rechtsänderungen zu beachten, die seit der angefochtenen Entscheidung eingetreten sind, soweit diese für das streitige Rechtsverhältnis gelten.
23 Hat sich nach Erlass des angefochtenen Urteils das Recht geändert, ist maßgeblich für die Nachprüfung
des angefochtenen Urteils die Rechtslage zum Zeitpunkt der Revisionsentscheidung, wenn das Tatsachengericht, entschiede es jetzt, das geänderte Recht zu berücksichtigen hätte6. Das ist der Fall, wenn es
nach materiellem Recht auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, nicht aber auf den Zeitpunkt
der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung ankommt, und wenn das geänderte Recht sich nach
seinem zeitlichen und inhaltlichen Geltungsanspruch auf den festgestellten Sachverhalt erstreckt
(BVerwGE 100, 346, 348).
24 Unter diesen Voraussetzungen sind nicht nur Änderungen des revisiblen Rechts, sondern grds. auch
solche des irrevisiblen Rechts zu berücksichtigen7. Dem sind aber durch § 137 Abs. 1 Grenzen gesetzt.
Einerseits kann das BVerwG Normen des irrevisiblen Landesrechts selbst auslegen und anwenden, wenn
die Vorinstanz dies von einem anderen rechtlichen Ansatz aus nicht getan hat. Das BVerwG kann deshalb
inzwischen geändertes Landesrecht anwenden, wenn die Vorinstanz diese Rechtsänderung berücksichtigen müsste, entschiede sie jetzt8. Andererseits kann die Revision nur Erfolg haben, wenn das angefochtene Urteil revisibles Recht verletzt. Änderungen des irrevisiblen Rechts führen zunächst nur dazu,
6 BVerwGE 55, 272, 273; 66, 178, 179; 72, 339, 340; 90, 57; 91, 334, 338; 104, 1, 5; 119, 245, 248; 121, 140, 144.
7 BVerwGE 51, 121, 125; BVerwG NVwZ-RR 1993, 65; BVerwGE 97, 79, 81 f.
8 BVerwGE 48, 305, 313; BVerwG NJW 1990, 2768.
2728
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
dass das Urteil, erginge es jetzt, irrevisibles Recht verletzt. Bundesrechtlich kann das angefochtene Urteil
nach wie vor nicht zu beanstanden sein. Es kommt deshalb darauf an, ob die Vorinstanz, entschiede sie
jetzt, ihre Entscheidung infolge der eingetretenen Änderung irrevisiblen Rechts nicht mehr auf die im
angefochtenen Urteil angegebenen Gründe stützen könnte, ohne dadurch zugleich revisibles Recht zu
verletzen (BVerwG 51, 121, 125). Die Änderung irrevisiblen Rechts kann das BVerwG deshalb nur
berücksichtigen, wenn von ihm als Vorfrage die richtige Anwendung revisiblen Rechts abhängt9, oder
wenn die Rechtsänderung sich auf Regelungen erstreckt, die das revisible Recht zumindest berühren
(BVerwG BayVBl 1978, 22; NVwZ 1984, 107, 108).
Das angefochtene Urteil kann schließlich in die Verletzung revisiblen Rechts hineinwachsen, wenn erst 25
im Revisionsverfahren eine bis dahin geltende und von der Vorinstanz angewandte irrevisible Norm
außer Kraft tritt und das streitige Rechtsverhältnis durch eine in Kraft getretene Norm des revisiblen
Rechts geregelt wird (BVerwGE 49, 1, 2).
Wie eine Rechtsänderung ist im Revisionsverfahren auch zu berücksichtigen, dass eine Rechtsnorm, auf 26
die das angefochtene Urteil gestützt ist, inzwischen durch das BVerfG für nichtig erklärt ist. Soweit
Änderungen des irrevisiblen Rechts zu berücksichtigen sind, gilt dasselbe, wenn das Verfassungsgericht
eines Landes eine Norm des irrevisiblen Landesrechts oder ein OVG nach § 47 eine untergesetzliche
Rechtsnorm des Landes- oder Ortsrechts, etwa einen Bebauungsplan, für nichtig erklärt hat (BGH
NVwZ 1982, 329, 330). Ebenso ist zu berücksichtigen, wenn eine Norm durch Zeitablauf außer Kraft
getreten ist (BVerwGE 51, 121, 125, für eine Veränderungssperre).
II. Revisibles Recht (Abs. 1)
Unter revisiblem Recht sind alle Rechtssätze zu verstehen, die das Revisionsgericht als Maßstab für seine 27
Nachprüfung des angefochtenen Urteils in rechtlicher Hinsicht heranziehen darf (M. Bertrams,
DÖV 1992, 97). Dazu gehören sowohl die Rechtssätze des materiellen Rechts als auch die Rechtssätze
des Prozessrechts.
28
1. Recht. Revisibel sind nur Rechtssätze (Rechtsnormen)10.
a) Verwaltungsvorschriften. Verwaltungsvorschriften sind keine Rechtsnormen, sondern verwaltungs- 29
interne Richtlinien, die nicht unmittelbar Rechte und Pflichten für Dritte begründen. Schon aus diesem
Grund sind sie nicht revisibel (BVerwG DÖV 1988, 974, 975; InfAuslR 1993, 298; NVwZ-RR 1997,
568; Beschl. v. 18.8.2005 – 5 B 68.05; NVwZ 2007, 708). Im Außenverhältnis können sie Wirkungen
entfalten, weil die Verwaltung verpflichtet ist, den Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1
GG zu wahren. Verbindlichkeit nach außen erlangen sie nur als Ausdruck tatsächlich geübter Verwaltungspraxis. Als Grundlage der tatsächlichen Verwaltungspraxis sind sie revisionsrechtlich als Tatsachen
zu behandeln (BVerwGE 29, 261, 269; BVerwG InfAuslR 1984, 69, 70; DVBl 1986, 110, 111 f.), soweit
sie eine künftig beabsichtigte Verwaltungspraxis verlautbaren, als Willenserklärung des Richtliniengebers11. Das BVerwG prüft nur nach, ob die Auslegung der Verwaltungsvorschriften durch das Tatsachengericht dem Recht, insbes. dem Gleichheitsgrundsatz, entspricht (sehr weitgehend BVerwG
NVwZ 1994, 575) und ob die Auslegung selbst mit den Denkgesetzen oder sonstigen allgemeinen Auslegungsgrundsätzen im Einklang steht, die für Verwaltungsvorschriften gelten12. Dabei ist maßgeblich
die tatsächliche Handhabung der Verwaltungsvorschriften zu berücksichtigen (BVerwGE 79, 249, 251).
9 Bsp.: Während des Revisionsverfahrens, in dem über die Erteilung einer Baugenehmigung gestritten wird, tritt ein Bebauungsplan in Kraft. Die Vorinstanz hat auf der Grundlage des § 34 BauGB einen Anspruch auf die Erteilung der
begehrten Baugenehmigung angenommen. Die Anwendung des revisiblen § 34 BauGB ist mit Inkrafttreten des irrevisiblen Ortsrechts (Bebauungsplan) nicht mehr richtig und verletzt deshalb Bundesrecht; vgl. hierzu BVerwGE 41, 227;
ferner BVerwGE 67, 23, 24; 68, 360, 364; BVerwG NVwZ-RR 1993, 65, für den nachträglichen Erlass einer Veränderungssperre; BVerwG BayVBl 2005, 213, 215, für die Änderung eines Flächennutzungsplans, der die Ausschlusswirkung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB herbeiführen soll; für andere Änderungen des Flächennutzungsplans offen gelassen
BVerwG NVwZ 2003, 1261, 1262.
10 J. Bader, in: Bader § 137 Rn. 4; Kopp/Schenke § 137 Rn. 18; H.-J v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 137 Rn. 5;
P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 4.
11 BVerwG Urt. v. 7.5.1981 Buchholz 232 § 8 BBG Nr. 19; Urt. v. 7.5.1981 Buchholz 232 § 25 BBG Nr. 1; NVwZRR 1990, 619, 620; NVwZ 1993, 692, 693; ZBR 1995, 238; NVwZ-RR 1996, 47; BayVBl 1997, 696.
12 BVerwG Urt. v. 7.5.1981 Buchholz 232 § 25 BBG Nr. 1; NVwZ-RR 1990, 619, 620; Beschl. v. 21.9.1993 Buchholz 310
§ 139 VwGO Nr. 181; NVwZ 1993, 692, 693.
Neumann
2729
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
30 Verweist der Richtliniengeber, um das von ihm Gewollte zu kennzeichnen, auf gesetzliche Vorschriften,
sind die in Bezug genommenen Vorschriften nicht als (revisible) Rechtsnormen anzuwenden, sondern
lediglich als Bestandteil der Verwaltungsrichtlinien heranzuziehen.13
31 Den Charakter allenfalls von Verwaltungsvorschriften besitzen sowohl die VOB als auch die VOL/A.
Sie stellen deshalb kein revisibles Recht dar (BVerwG NVwZ 1999, 653; NZBau 2000, 529; NJW 2001,
1440). Ob gegen sie verstoßen wurde, ist Tatfrage. Schreibt der Gesetz- und Verordnungsgeber nur die
Anwendung der Verdingungsordnungen in bestimmten Fällen vor, werden diese dadurch nicht selbst zu
Rechtsnormen (offen gelassen von BVerwG NJW 2001, 1440). Sie finden auch dann nur als Verwaltungsvorschriften Anwendung. Anders verhält es sich, wenn der Gesetz- und Verordnungsgeber eine
eigene Rechtsfolge an Tatbestände anknüpft, die in den Verdingungsordnungen geregelt sind. Insoweit
hat er eine eigene Regelung in Form einer Rechtsnorm getroffen, bei der er nur darauf verzichtet hat,
den Tatbestand selbst unter Wiederholung des Wortlauts der Verwaltungsvorschrift auszuformulieren.
32 b) Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften. Anders als die Auslegung und Anwendung sonstiger Verwaltungsvorschriften können die Auslegung und Anwendung technischer Normen, die als Verwaltungsvorschriften ergangen sind, revisionsgerichtlich überprüfbar sein. Dies gilt etwa für bestimmte
atomrechtliche Verwaltungsvorschriften (BVerwGE 72, 300, 320 f.), insbes. aber für die TA-Luft und
TA-Lärm14. Sie dienen der Ausfüllung eines der Verwaltung eingeräumten Beurteilungsspielraums. Mit
ihnen wird die Ausfüllung dieses Beurteilungsspielraums von der Einzelentscheidung in eine abstrakt
generalisierende Regelung vorverlagert, um so die Einheitlichkeit des Verwaltungshandelns sicherzustellen. Soweit sie die unbestimmten Rechtsbegriffe des Gesetzes durch grds. verbindliche Festlegungen
und Vorgaben konkretisieren, ist ihnen unter bestimmten Voraussetzungen eine auch im gerichtlichen
Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zuzuerkennen. Solche Verwaltungsvorschriften können
demgemäß i.R. ihrer normkonkretisierenden Funktion rechtliche Außenwirkung entfalten.
33 c) Andere technische Normen. Verweist der Gesetzgeber in gesetzlichen Bestimmungen auf die „Regeln
der Technik“ und nimmt er sie dadurch in seinen Regelungswillen auf, werden sie nicht ihrerseits selbst
zu Rechtsnormen (BVerwG NVwZ-RR 1997, 214; NVwZ 2007, 708). Als geeignete Quellen für anerkannte Regeln der Technik kommen DIN-Normen und andere anerkannte technische Regelwerke in
Betracht. Ihre Anwendung auf den Einzelfall ist keine Rechtsanwendung. Welche anerkannten Regeln
der Technik bestehen und ob ein bestimmtes Vorhaben oder eine bestimmte Anlage in ihrer konkreten
Ausführung den Regeln der Technik entspricht, ist Feststellung einer Tatsache (BVerwG NVwZRR 1997, 214, 215).
34 Technischen Normen kann die Bedeutung von allgemeinen Erfahrungssätzen zukommen. Als solche sind
sie keine Rechtssätze, sondern Hilfsmittel bei der Auslegung von Rechtsnormen oder – häufiger – bei
der Feststellung von Tatsachen.15 Sie können vom Revisionsgericht nicht wie Normen ausgelegt werden.
Ihre Anwendung oder Nichtanwendung durch das Tatsachengericht ist nur als Teil der Sachverhaltsund Beweiswürdigung unter den hierfür geltenden Voraussetzungen und Einschränkungen im Revisionsverfahren angreifbar (BVerwG DÖV 1999, 35).
35 d) Beamtenrechtliche Beihilfevorschriften. Ähnlich wie normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften
hat das BVerwG die beamtenrechtlichen Beihilfevorschriften als revisibles Recht behandelt, soweit diese
nur als Verwaltungsvorschriften, nicht aber – wie in manchen Bundesländern – als Rechtsverordnung
ergangen sind16.
35a e) Rechtsbegriffe. Das BVerwG hat teilweise bestimmten Begriffen Revisibilität zuerkannt, wie dem
Begriff der politischen Partei (BVerwGE 6, 96, 97) oder dem Begriff der Prüfung (BVerwG Urt.
v. 12.5.1961 Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 11), dem Begriff des Gemeingebrauchs17 oder den Be13 BVerwGE 91, 77, 80; BVerwG DÖV 1988, 974, 975; Beschl. v. 21.9.1993 Buchholz 310 § 139 VwGO Nr. 181; Beschl.
v. 18.8.2005 – 5 B 68.05.
14 BVerwG Beschl. v. 15.2.1988 Buchholz 406.25 § 48 BImSchG Nr. 2; Beschl. v. 10.1.1995 Buchholz 406.25
§ 48 BImSchG Nr. 4; Beschl. v. 21.3.1996 Buchholz 406.251 § 22 UVPG Nr. 4; BVerwGE 110, 216, 218; BVerwG
NVwZ 2001, 1165. Ebenso BVerwGE 107, 338, für die Allgemeine Rahmen-Verwaltungsvorschrift über Mindestanforderungen an das Einleiten von Abwasser in Gewässer.
15 Vgl. Kopp/Schenke § 137 Rn. 18; H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 137 Rn. 5.
16 BVerwGE 64, 333, 334; 65, 184, 186; 72, 119, 121; 79, 249, 251; BVerwG BayVBl 1996, 218, 219.
17 BVerwGE 4, 342, 343; anders wohl für den Begriff des Anliegergebrauchs: BVerwG Beschl. v. 19.9.2007 – 9 B 22.06.
2730
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
griffen der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl (BVerwGE 118, 345). Das ist missverständlich. Revisibel ist Bundesrecht. Unter Recht kann jedoch nur ein Rechtssatz, nicht ein Begriff verstanden werden.
Der einzelne Begriff ist nur ein unselbständiger Bestandteil eines Rechtssatzes, in den er eingegangen ist.
Revisibel sind nur die bundesrechtlichen Rechtssätze, die den jeweiligen Begriff enthalten. Enthält ein
Landesgesetz denselben Begriff, kann dessen Auslegung an der bundesrechtlichen Vorschrift zu messen
sein. Ihr kann zu entnehmen sein, dass auch der Landesgesetzgeber diesen Begriff nur mit demselben
Inhalt verwenden kann. Eine abweichende Auslegung verletzt dann die bundesrechtliche Maßstabsnorm.
2. Bundesrecht. a) Verfassungsrechtlicher Hintergrund. Dass das BVerwG als Revisionsgericht grds. 36
darauf beschränkt ist, das angefochtene Urteil auf die Verletzung von Bundesrecht nachzuprüfen, folgt
nicht aus der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes und der verfassungsrechtlich vorgegebenen
Stellung eines Bundesgerichtes in dieser bundesstaatlichen Ordnung18. Nach Art. 74 Nr. 1 GG hat der
Bund die Kompetenz, Verfahren und Gerichtsverfassung der Verwaltungsgerichte zu regeln. Der Bund
kann deshalb auch bestimmen, ob und in welchem Umfang das BVerwG als Revisionsgericht entscheiden
soll, wenn es um die Anwendung von Landesrecht geht. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus
Art. 74 Nr. 1 GG ist nicht dahin eingeschränkt, dass der Bundesgesetzgeber die Zuständigkeit von Bundesgerichten für die Auslegung und Anwendung von Landesrecht nicht begründen dürfte (BVerfGE 10,
285, 292 ff.). Die Rspr. ist eine eigenständige Staatsgewalt und nicht bloße Staatsfunktion des Bundes
und der Länder. Sie ist materiell und funktionell dem Ganzen, der Gemeinschaft von Bund und Ländern,
zugeordnet. Die Aufgabenverteilung zwischen Bundesgerichten und den Gerichten der Länder hat lediglich gerichtsorganisatorische Bedeutung. Die Rechtsprechungskompetenz folgt nicht der Gesetzgebungskompetenz.
Dass im Verwaltungsprozess grds. nur Bundesrecht revisibel ist, ist allein durch gerichtsorganisatorische 37
Gründe erklärbar. Diese Beschränkung wird durch Erwägungen der Zweckmäßigkeit getragen.19 Der
Gesetzgeber konnte aus Gründen der Verfahrensökonomie, der Entlastung der Revisionsinstanz und der
Spezialisierung die verbindliche Auslegung von Landesrecht und anderem Partikularrecht den OVG
überlassen. Die Wahrung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung dieses Rechts war durch die
insoweit spezialisierteren OVG hinreichend gewährleistet. Für jedes Bundesland besteht nur ein OVG,
das eine einheitliche Auslegung des jeweiligen Landesrechts und anderen Partikularrechts sicherstellen
kann.
b) Allgemeiner Begriff des Bundesrechts. § 137 Abs. 1 Nr. 1 enthält keine allgemeine Definition des 38
Bundesrechts. Der Begriff knüpft an den Normgeber an. Maßgeblich ist darauf abzustellen, welches
Organ den Rechtsanwendungsbefehl erteilt hat (vgl. P. Kirchhof, FS-Menger, 1985, 813, 817 ff.). Bundesrecht ist deshalb das Recht, das für die zu entscheidende Streitsache aufgrund des Rechtsetzungsbefehls eines Rechtsetzungsorgans des Bundes gilt (BVerwG Urt. v. 3.11.1982 Buchholz 310 § 40 VwGO
Nr. 202; Beschl. v. 21.3.2006 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 25). Hingegen ist Recht, das für
den zu entscheidenden Fall aufgrund des Rechtsetzungsbefehls eines Rechtsetzungsorgans des Landes
gilt, kein revisibles Bundesrecht (vgl. auch M. Bertrams, DÖV 1992, 97. Von Landesorganen gesetztes
Recht ist Landesrecht auch dann, wenn sein Erlass auf einer Ermächtigung des Bundesrechts beruht oder
sein Erlass des Einvernehmens mit einem Bundesminister bedurfte (BVerwG NVwZ-RR 1997, 568).
Hingegen kommt es nicht entscheidend auf den räumlichen Geltungsbereich des einschlägigen Rechts- 39
satzes an. Im gesamten Bundesgebiet einheitlich oder übereinstimmend geltende Rechtssätze sind noch
nicht allein aus diesem Grund Bundesrecht (BVerwGE 22, 299, 300). Das Interesse an einer bundeseinheitlichen Auslegung und Anwendung solcher Rechtssätze eröffnet nicht die revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit (BVerwG NVwZ-RR 1997, 568). Deshalb ist eine Vorschrift des Landesrechts auch dann
irrevisibel, wenn die entsprechenden Gesetze der anderen Länder eine wortgleiche Vorschrift enthalten,
selbst wenn dies auf einer konzertierten Aktion der Landesgesetzgeber oder auf einem gemeinsamen
Musterentwurf beruht (BVerwG DVBl 1990, 530; BVerwGE 99, 351, 353 f.). Irrevisibel sind ferner die
Bestimmungen in Staatsverträgen der Länder untereinander, die durch die jeweils zuständigen Gesetzgebungsorgane der Länder in Landesrecht transformiert sind20. Die Länder haben nur die Möglichkeit,
18 I.d.S. wohl H.-U. Paeffgen, JZ 1991, 437; wie hier: H.-J. D. Hardt JZ 1973, 325, 328.
19 P. Kirchhof, FS-Menger, 1985, 813, 814; enger wohl C. H. Ule, FS-Wacke, 1972, 277, 283.
20 BVerwGE 22, 299, 300 (ZDF-Vertrag); BVerwG NJW 1998, 1578; NJW 2006 632, 633; Beschl. v. 22.6.2006 Buchholz
422.2 Rundfunkrecht Nr. 41 (Rundfunkgebührenstaatsvertrag).
Neumann
2731
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
für diese bundesweit geltenden Normen gem. Art. 99 GG eine Überprüfung durch das BVerwG zuzulassen (BVerwG NJW 2006, 632, 633). Andererseits gibt es partielles Bundesrecht, dessen Geltungsbereich sich auf einen Teil des Bundesgebietes beschränkt. Es ist nicht deshalb irrevisibel, weil es nicht im
gesamten Bundesgebiet gilt.
40 Das BVerwG hat das Bundesrecht als das Recht umschrieben, das aufgrund einheitlicher Kompetenz im
ganzen Bundesgebiet gilt (BVerwGE 35, 277). Mit dieser Definition wollte es das Recht der Europäischen
Gemeinschaften erfassen. Ob damit auch im Übrigen eine tragfähige Definition des Bundesrechts gegeben ist, ist zweifelhaft. Mit der Geltung aufgrund einheitlicher Kompetenz enthält die Definition ein
brauchbares Kriterium, um das revisible Bundesrecht von Landesrecht und anderem Partikularrecht
abzugrenzen. Sie grenzt damit solche Normen aus dem Bundesrecht aus, die im Bundesgebiet einheitlich
gelten, weil sie von den Ländern abgestimmt für ihren jeweiligen Kompetenzbereich erlassen wurden.
Diese Normen gelten nicht aufgrund einheitlicher Kompetenz. Andererseits greift die Definition zu kurz,
weil sie nicht das von Rechtsetzungsorganen des Bundes gesetzte partielle Bundesrecht erfasst.
41 Es bedarf keiner allgemeinen Definition des Bundesrechts, die das Recht der EU ausdrücklich erfasst.
Der Begriff des Bundesrechts ist ergänzend von der Aufgabe der Revision her zu deuten. Diese liegt darin,
das Interesse der Allgemeinheit an einheitlicher Auslegung, Anwendung und Fortbildung des Rechts zu
wahren. Diese Aufgabe ist für das Landesrecht und sonstiges Partikularrecht durch das OVG sichergestellt. Der Begriff „Bundesrecht“ bezeichnet in § 137 Abs. 1 deshalb den Gegensatz zum Landesrecht
und zum sonstigen Partikularrecht. Die einheitliche Auslegung und Anwendung des Rechts der EU kann
aber durch die OVG nicht sichergestellt werden, weil sein Geltungsbereich über die Grenzen eines Bundeslandes hinausreicht. Derartiges Recht muss von der Funktion der Revision her revisibel sein.
42 c) Bundesrecht im Einzelnen. Im Einzelnen gehört zum revisiblen Bundesrecht:
43 aa) Nachkonstitutionelles gesetztes Bundesrecht. Zum Bundesrecht gehören das Bundesverfassungsrecht, also das Grundgesetz und die aus ihm abgeleiteten verfassungsrechtlichen Grundsätze (M. Bertrams, DÖV 1992, 97), sowie das von Bundesorganen gesetzte Recht, nämlich die förmlichen Bundesgesetze und die Rechtsverordnungen, welche die Bundesregierung, eine Bundesbehörde oder eine bundesunmittelbare Körperschaft erlassen hat. Rechtsverordnungen, die von Landesorganen erlassen sind,
sind auch dann kein Bundesrecht, wenn sie ihre Ermächtigungsgrundlage im Bundesrecht haben
(BVerwGE 54, 54, 56). Bundesrecht sind ferner die Satzungen bundesunmittelbarer Körperschaften und
Anstalten. Satzungsrecht anderer Körperschaften und Anstalten ist dagegen auch dann kein Bundesrecht,
wenn die Ermächtigungsgrundlage zum Erlass dieser Satzungen dem Bundesrecht angehört.21
44 Revisibel sind ferner als Bundesrecht erlassene Vorschriften, die nach Verlust der Gesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Art. 125 a ff. GG als Bundesrecht fortgelten.
45 bb) Vorkonstitutionelles Recht. Vorkonstitutionelles Recht22 ist revisibel, soweit es nach Art. 124
oder 125 GG als Bundesrecht fortgilt. Soweit vorkonstitutionelles Landesrecht nach Art. 124 GG und
Art. 125 GG als Bundesrecht fortgilt, ist dadurch revisibles (Rn. 39) partielles Bundesrecht entstanden
(vgl. BVerwGE 11, 89, 90; BVerwG DVBl 1958, 391, 392).
46 cc) Besatzungsrecht. Besatzungsrecht23 gehört zum revisiblen Recht, sofern es Bundesrecht wäre oder
geworden wäre, falls es von deutschen Organen erlassen worden wäre (BVerwGE 81, 1). Wie vorkonstitutionelles deutsches Recht sind solche Gesetze zu behandeln, die deutsche Rechtsetzungsorgane auf
besatzungsrechtlicher Grundlage erlassen haben.
47 dd) Recht der DDR. Das Recht der DDR ist revisibel, soweit es nach Art. 9 Abs. 2 und 4 EVtr als
Bundesrecht fortgilt (BVerwG VIZ 1993, 452, 453; VIZ 1996, 511). Soweit es nach Art. 9 Abs. 5 EVtr
als Landesrecht fortgilt, ist es irrevisibel (BVerwG NVwZ 1996, 998; Beschl. v. 11.4.2006 Buchholz 310
§ 137 Abs. 1 VwGO Nr. 26).
48 Vor dem Beitritt war das Recht der DDR nicht revisibel (BVerwGE 66, 277, 279). Revisionsrechtlich
war es fremdes Recht und als solches wie ausländisches Recht zu behandeln. Hierbei ist es für solche
Bestimmungen geblieben, welche bereits vor dem Beitritt ausgelaufen waren. Dasselbe gilt für solche
21 Vgl. BVerwG BayVBl 1990, 154 für einen als Satzung beschlossenen Bebauungsplan.
22 Dazu gehört neben dem Reichsrecht auch das von Zonen- oder Bizonenverwaltung erlassene Recht: H.-J. v. Oertzen,
in: Redeker/von Oertzen § 137 Rn. 9.
23 Sein Fortgelten bestimmte sich nach Art. 1 Abs. 1 des Überleitungsvertrages, BGBl II 1955 405.
2732
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
Bestimmungen, die mit dem Beitritt ausgelaufen sind, weil der Einigungsvertrag sie weder zum fortgeltenden Bundesrecht noch zum fortgeltenden Landesrecht bestimmt hat24. Die Auslegung und Anwendung dieser Bestimmungen ist wie bei ausländischem Recht revisionsrechtlich als Tatsachenfeststellung
zu behandeln. Ihre Auslegung ist nach denselben Regeln überprüfbar, die für Tatsachenfeststellungen
und die Feststellung ausländischen Rechts gelten.
Nicht mehr fortgeltendes Recht der DDR hat noch Bedeutung, wenn bundesrechtliche Bestimmungen 49
den Fortbestand von Rechten oder Rechtsverhältnissen regeln, die in der DDR begründet wurden. Diese
bundesrechtlichen Bestimmungen verweisen dabei zwangsläufig auf das (inzwischen ausgelaufene)
Recht der DDR, das solche Rechte oder Rechtsverhältnisse begründet haben kann. Das BVerwG ist
namentlich an die Feststellung der Vorinstanz gebunden, dass nach dem Recht der DDR das in Rede
stehende Recht entstanden oder nicht entstanden war. Bei dieser Feststellung kann dem Tatsachengericht
eine fehlerhafte Rechtsanwendung, und zwar des revisiblen Bundesrechts, unterlaufen sein, wenn nach
Wortlaut, Systematik und Zweck der jeweiligen bundesrechtlichen Vorschrift maßgeblich auch auf die
gelebte Rechtswirklichkeit in der DDR abzustellen ist, die Vorinstanz die Maßgeblichkeit der Rechtswirklichkeit aber verkannt hat. Hingegen ist die Ermittlung der Rechtswirklichkeit Tatsachenfeststellung, die dem Tatsachengericht obliegt; sie ist aber vom BVerwG darauf hin nachprüfbar, ob die Vorinstanz etwa allgemeinkundige Erkenntnisse zur Rechtswirklichkeit der DDR missachtet hat (BVerwG
VIZ 2000, 35).
ee) Völkerrechtliche Verträge. Völkerrechtliche Verträge, die der Bund geschlossen hat, enthalten Bun- 50
desrecht, sofern sie durch Bundesgesetz in innerstaatliches Recht transformiert worden sind (Art. 59
Abs. 2 S. 1 GG).25 In innerstaatliches Recht transformierte Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge des
Deutschen Reiches können unter den Voraussetzungen von Art. 123 und 124 GG als Bundesrecht fortgelten (BVerwGE 80, 233, 235).
Regelt ein vom Bund geschlossener völkerrechtlicher Vertrag Fragen, welche die ausschließliche Ge- 51
setzgebungskompetenz der Länder betreffen, sind diese Bestimmungen auch dann kein revisibles Recht,
wenn die für die Bundesgesetzgebung zuständigen Organe dem Vertrag durch Bundesgesetz zugestimmt
haben. Für die innerstaatliche Wirksamkeit bedarf es der Transformation des für die Landesgesetzgebung zuständigen Organs. Die Regelungen gelten dann als Landesrecht (BVerwG Beschl. v. 10.12.1976
Buchholz 421.11 § 2 GFaG Nr. 5).
Keinen völkerrechtlichen Vertrag stellt der Einigungsvertrag dar. Er ist nach Wirksamwerden des Bei- 52
tritts trotz des damit eingetretenen Wegfalls eines der vertragsschließenden Teile als Bundesrecht aufrechterhalten geblieben (Art. 45 Abs. 2 EVtr).
ff) Allgemeine Regeln des Völkerrechts. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind gem. Art. 25 GG 53
Bundesrecht und damit revisibel.
gg) Recht der EU. Das Recht der EU ist revisibel26, und zwar sowohl das primäre als auch das sekundäre 54
Gemeinschaftsrecht. Für bloße Richtlinien der EU gilt dies jedenfalls dann, wenn die Frist abgelaufen
ist, die in der Richtlinie für ihre Umsetzung in deutsches Recht vorgesehen ist (BVerwGE 74, 243,
246 f.). Das BVerwG kann ferner nachprüfen, ob die Vorinstanz an sich irrevisibles Recht richtlinienkonform ausgelegt und angewandt hat. Richtlinien können mithin revisibler Maßstab für die Auslegung
irrevisiblen Rechts sein (vgl. auch M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 40 f.).
hh) Gewohnheitsrecht. Revisibel sind die Sätze des Gewohnheitsrechts, soweit sie in den Bereich der 55
Rechtsetzungskompetenz des Bundes fallen, insbes. soweit sie gesetztes Bundesrecht ergänzen.27
ii) Allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Ver- 56
waltungsrechts können revisibel sein. Sie sind Rechtssätze. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts sind solche Rechtssätze, die unabhängig von einem bestimmten Sachgebiet grds. für alle
24 BVerwG VIZ 2000, 35; BVerwGE 117, 233, 235; BVerwG Beschl. v. 28.8.2007 – 8 B 31.07; a.A.: H. Oetker, JZ 1992,
608, 613 f.: nunmehr revisibles Recht.
25 BVerwGE 42, 148, 149; 44 156, 160; BVerwGE 115, 274, 284.
26 BVerfGE 82, 159, 196; BVerwGE 35, 277; 67, 305, 307; 87, 154, 156; 90, 18, 19; BVerwG NVwZ 1993, 770;
NVwZ 1997, 178; BFHE 119, 439, 440; H. Petzold, NVwZ 1999, 151; zur Begründung vgl. Rn. 40 f.
27 BVerwGE 2, 22, 24; M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 65; Kopp/Schenke § 137 Rn. 5; P.
Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 5; P. Schwerdtner, Das revisible Recht, 1966, 59 ff.
Neumann
2733
§ 137
57
58
59
60
61
62
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
Materien des Verwaltungsrechts gelten. Es handelt sich um ungeschriebene Rechtssätze, die ihren Geltungsgrund in der allgemeinen Rechtsüberzeugung haben. Ihre Funktion ist es, Lücken zu schließen, die
sich im gesetzten Recht auftun.
Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts sind nicht als solche, also nicht deshalb revisibel, weil sie allgemeine Grundsätze sind. Sie gehören dem revisiblen Bundesrecht an, wenn sie Bundesrecht ergänzen. Soweit sie Landesrecht oder anderes Partikularrecht ergänzen, sind sie hingegen irrevisibel.28 Hat die Vorinstanz allgemeine Rechtsgrundsätze herangezogen, um das geschriebene irrevisible Recht zu ergänzen, kann das BVerwG nicht nachprüfen, ob diese Rechtsgrundsätze richtig angewandt sind. Ebenso wenig kann das BVerwG nachprüfen, ob die Vorinstanz allgemeine Rechtsgrundsätze zur Ergänzung irrevisiblen Rechts hätte heranziehen müssen oder dies fälschlich unterlassen hat.
Denn nur aus dem irrevisiblen Recht kann sich ergeben, ob und wie dieses ergänzungsbedürftig ist.
Revisibel ist aber die Frage, ob die Vorinstanz mit der Herleitung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes
die Grenzen überschritten hat, die das BVerfG der richterlichen Rechtsfortbildung zieht (BVerwGE 42,
222, 228).
Z.T. werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts generell dem revisiblen Bundesrecht zugerechnet29: Ihr Entstehungsgrund sei nicht eine gesetzgeberische Entscheidung, sondern die
Rechtsüberzeugung der Rechtsbeteiligten. Ihre Anwendung im konkreten Fall lasse sich nicht dem Gesetzgebungsbefehl eines Landesorgans oder eines Bundesorgans zuordnen. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz lasse sich in seinem Geltungsbereich auch nicht auf das Hoheitsgebiet eines Landes beschränken. Die Entwicklung von Rechtsüberzeugungen sei nicht an Landesgrenzen gebunden.
Die bundesweite Geltung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ist als Gesichtspunkt für die Zuordnung
zum Landesrecht oder zum Bundesrecht indes unergiebig. Die Entwicklung von Rechtsüberzeugungen
macht zwar an Landesgrenzen nicht halt; die Bildung einer allgemeinen Rechtsüberzeugung kann sich
aber entweder bundesweit oder parallel in den Ländern vollziehen. Die allgemeine Rechtsüberzeugung
als Entstehungsgrund für die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts hindert zwar daran,
sie dem Bundes- oder Landesrecht danach zuzuordnen, wessen Organ den Rechtsanwendungsbefehl
erteilt hat. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts können jedoch anhand der Gesetzgebungskompetenz dem Bundes- oder Landesrecht zugeordnet werden (so ausdrückl. BVerwG NJW 1957,
391, 392). So verfährt das Grundgesetz etwa in Art. 124 und 125 GG mit Normen des vorkonstitutionellen Rechts, die ebenfalls außerhalb der Rechtsetzungsvorschriften des Grundgesetzes mit seiner Verteilung auf Bund und Länder entstanden sind.
Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts dienen dazu, Lücken in den besonderen Verwaltungsgesetzen auszufüllen. Das in eine Lücke tretende Recht steht auf der gleichen Stufe wie das von
ihm aufgefüllte Recht. Im Bundesstaat kann es allein der Ebene zugeordnet werden, der das Recht angehört, zu dessen Ergänzung es herangezogen wird (BVerwG Beschl. v. 22.6.2006 Buchholz 422.2
Rundfunkrecht Nr. 41). Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise geschriebenes Recht der Ergänzung bedarf, kann nur in Anwendung dieser geschriebenen Rechtssätze beantwortet werden.30
Allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts lassen sich mitunter auf geschriebenes Recht zurückführen. Hieran knüpft das BVerwG z.T. für ihre Zuordnung zum Bundes- oder Landesrecht an.
Wenn und soweit solche Grundsätze auf das Bundesrecht rückführbar sind, soll sich daraus ihre Revisibilität ergeben, ohne dass ihre Stellung als allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts daran etwas
ändere (BVerwG DÖV 1971, 857, m.Anm. von O. Bachof, DÖV 1971, 859).
Als solche aus dem Bundesrecht abgeleitete und deshalb stets revisible allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts hat das BVerwG bspw. anerkannt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Abwägungsgebot als rechtsstaatliche Schranke der planerischen Gestaltungsfreiheit (BVerwGE 61, 295, 301;
BVerwG NJW 1982, 1473), den Grundsatz des Vertrauensschutzes mit seinem bundesverfassungsrechtlichen Kernbestand (BVerwGE 51, 310, 315), den Grundsatz der Chancengleichheit und das Gebot der
Fairness bei Prüfungen31, den Grundsatz der Folgenbeseitigung (BVerwG DÖV 1971, 857;
28 BVerwG Beschl. v. 23.10.2000 Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 69; Beschl. v. 1.4.2004 Buchholz 310 § 137 Abs. 1
VwGO Nr. 21; BGHZ 118, 295, 299.
29 H.-J. D. Hardt, JZ 1973, 325; P. Kirchhof, FS-Menger, 1985, S. 813, 819 ff.
30 BVerwG NJW 1986, 1629, 1630; NVwZ-RR 1990, 208; Beschl. v. 10.6.1996 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO
Nr. 11; NVwZ-RR 1998, 513; P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 5.
31 BVerwGE 55, 355, 358; BVerwG BayVBl 1982, 662, 663; DVBl 1993, 51; NVwZ 1993, 686, 688.
2734
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
BVerwGE 82, 24). Anders als der Folgenbeseitigungsanspruch soll hingegen der öffentlich-rechtliche
Erstattungsanspruch kein Institut des revisiblen Bundesrechts sein. Als gleichsam umgekehrter Leistungsanspruch teile er dessen Rechtsqualität, gehöre also entweder dem Bundesrecht oder dem Landesrecht an, je nach dem, welchem Recht der rückabzuwickelnde Leistungsanspruch zuzurechnen ist.32 Das
soll auch dann gelten, wenn der rückabzuwickelnde Leistungsanspruch durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag begründet war, der auf den stets revisiblen §§ 54 ff. VwVfG beruht (BVerwGE 111, 162,
172).
Die Zuordnung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts zum revisiblen Bundesrecht dann,
wenn sie auf Rechtssätze des Bundesrechts zurückführbar sind, überzeugt nicht (vgl. auch M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 68). Diese geschriebenen Rechtssätze finden nicht
unmittelbar Anwendung. Der in ihnen ausgedrückte allgemeine Rechtsgrundsatz wird nur unter Beachtung der Besonderheiten der jeweils einschlägigen Rechtsmaterie entsprechend angewandt. Für ihre Zuordnung zum revisiblen Bundesrecht oder zum irrevisiblen Recht ist es deshalb unergiebig, wenn sie
ihren Ausdruck auch in Sätzen des geschriebenen Rechts gefunden haben und aus solchen herleitbar
sind. Denn im konkreten Fall finden sie nicht aufgrund dieses Normsetzungsbefehls Anwendung.
Hiervon zu unterscheiden ist freilich eine andere Funktion bestimmter allgemeiner, insbes. aus Bundesverfassungsrecht ableitbarer Rechtsgrundsätze. Sie können Maßstab dafür sein, ob die Vorinstanz das
irrevisible Recht in Übereinstimmung mit Bundesrecht ausgelegt hat. Die Auslegung und Anwendung
irrevisiblen Landesrechts muss mit höherrangigem Bundesrecht in Einklang stehen. Bundesrecht, an dem
die Auslegung und Anwendung irrevisiblen Rechts zu messen ist, kann die Gestalt allgemeiner Rechtsgrundsätze haben. Sie ergänzen dann das Bundesrecht, an dem die Auslegung und Anwendung des irrevisiblen Landesrechts zu messen ist. Ein solcher Grundsatz ist der bundesverfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zu unterscheiden ist also zwischen der Ergänzung irrevisiblen Rechts
durch allgemeine Rechtsgrundsätze einerseits, und der Überprüfung der Auslegung und Anwendung
irrevisiblen Rechts anhand allgemeiner Rechtsgrundsätze des Bundesrechts andererseits. Als solcher
Prüfungsmaßstab kommen alle allgemeinen Rechtsgrundsätze in Betracht, die aus Bundesrecht herleitbar sind. Insoweit geht es allein um die Frage, welche Überprüfungsmaßstäbe das Bundesrecht zur Verfügung stellt.
Der Folgenbeseitigungsanspruch bspw. ist keine Maßstabsnorm. Er dient, nicht anders als der öffentlichrechtliche Erstattungsanspruch, der Ergänzung des jeweiligen Fachrechts. Er gehört dem Bundesrecht
an, wenn die hoheitliche Maßnahme, deren Folgen beseitigt werden sollen, auf Bundesrecht beruht.
Beruht diese Maßnahme auf irrevisiblem Landesrecht, richten sich auch nach diesem die Voraussetzungen, unter denen die Folgen einer rechtswidrigen Maßnahme zu beseitigen sind (ähnlich BVerwG
BayVBl 1992, 443).33
Auch Vorschriften des BGB können allgemeine Rechtsgrundsätze enthalten. Sie können im Verwaltungsrecht herangezogen werden, um dort bestehende Lücken im geschriebenen Recht zu füllen. Die
Vorschriften des BGB sind zwar als solche Bundesrecht. Soweit sie aber nicht unmittelbar Anwendung
finden, sondern auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse nur unter Beachtung der Besonderheiten der
jeweils einschlägigen Rechtsmaterie entsprechend anzuwenden sind, kommt es für ihre Zuordnung zum
Bundesrecht und damit für ihre Revisibilität auf den Ursprung des Rechtsverhältnisses an. Werden sie
auf ein Rechtsverhältnis landesrechtlichen Ursprungs entsprechend angewendet, dienen sie der Ergänzung von Landesrecht und teilen dessen Eigenschaft als irrevisibles Recht.34
32 BVerwG 55, 337, 339; BVerwG NVwZ 1991, 574, 575; BVerwGE 111, 162, 172; BVerwG NVwZ-RR 2003, 874;
Beschl. v. 17.12.2004 – 9 B 47.04.
33 So wohl auch M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 74.
34 BVerwGE 44, 351, 354 (zum Namensrecht der Gemeinde entsprechend § 12 BGB); BVerwGE 50, 255, 262;
BVerwGE 123, 303, 306; Beschl. v. 22.6.2006 Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 41; Beschl. v. 10.8.2007 – 9 B 17.07
(jeweils Verjährung). Sie sollen hingegen revisibel sein, soweit sie nach dem seinerseits revisiblen § 62 S. 2 VwVfG auf
einen nach Landesrecht geschlossenen öffentlich-rechtlichen Vertrag Anwendung finden: BVerwGE 84, 257, 264; hiergegen mit Recht Kopp/Schenke § 137 Rn. 16.
Neumann
2735
63
64
65
66
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
67 Bsp. für derartige Rechtsgrundsätze sind das Gebot von Treu und Glauben35, und als Ausfluss dieses
Gebots die Rechtsgedanken der Verwirkung36, des Rechtsmissbrauchs (BVerwGE 55, 337) sowie der
unzulässigen Rechtsausübung (BVerwGE 111, 162, 172; BVerwG Beschl. v. 17.12.2004 – 9 B 47.04).
Allgemeine Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts sind die bürgerlich-rechtlichen Regeln über die
Geschäftsführung ohne Auftrag (BVerwGE 82, 350, 351; BVerwG NWVBl 1996, 125, 126), über die
Aufrechnung (BVerwG Beschl. v. 15.11.1973 Buchholz 406.11 § 135 BBauG Nr. 5) oder über die Abtretung von Forderungen (BVerwG NJW 1993, 1610).
68 Die allgemeinen Regeln über die Folgen fehlerhaften staatlichen Handelns gehören dem Recht an, das
fehlerhaft angewandt worden ist. Welche Folgen sich für die Wirksamkeit eines Rechtsaktes ergeben,
wenn dieser den gesetzlichen Anforderungen nicht genügt, bestimmt sich nach revisiblem Recht, wenn
der Rechtsakt nach revisiblem Recht ergeht, hingegen nach irrevisiblem Landesrecht, wenn der Rechtsakt den nach Landesrecht zu stellenden Anforderungen nicht genügt.37
69 Die Grundsätze über das Außerkrafttreten von Normen wegen Funktionslosigkeit sind revisibel, wenn
sie auf Normen angewandt werden, deren Erlass und Inkrafttreten sich nach Bundesrecht bestimmen,
hingegen irrevisibel, wenn sie auf Normen angewandt werden, deren Erlass und Inkrafttreten sich nach
Landesrecht bestimmen.38
70 jj) Auslegungsregeln. Für Auslegungsregeln gilt dasselbe wie für die allgemeinen Rechtsgrundsätze des
Verwaltungsrechts. Sie können Bundesrecht oder Landesrecht sein.
71 Allgemeine Grundsätze über die Auslegung von Normen gehören nicht schon als solche dem Bundesrecht
an. Sie sind nur revisibel, wenn sie zur Auslegung revisiblen Rechts herangezogen werden. Werden sie
zur Auslegung irrevisiblen Rechts herangezogen, unterliegt ihre Anwendung keiner revisionsgerichtlichen Prüfung.39 Das gilt bspw. für die gewohnheitsrechtlich anerkannte Kollisionsregel, nach der die
spätere Norm die frühere verdrängt, wenn derselbe Sachverhalt normiert ist. Sie gehört dem revisiblen
Recht an, wenn die in Konflikt stehenden Normen ihrerseits dem revisiblen Recht angehören.40 Nur
dann kann das Revisionsgericht die in Rede stehenden Normen darauf hin auslegen, ob sie denselben
Sachverhalt normieren.
72 Grundsätze zur Auslegung von Willenserklärungen (Anträgen), bspw. die entsprechend anwendbaren
Regeln des § 133 BGB, gehören nur dann dem revisiblen Recht an, wenn die in Rede stehende Willenserklärung einen Sachbereich betrifft, der durch revisibles Recht geregelt ist.41 Dasselbe gilt für die Auslegung von Verwaltungsakten (BVerwG Beschl. v. 25.5.1984 Buchholz 316 § 38 VwVfG Nr. 4;
NVwZ 1987, 598).
73 d) Abgrenzung Bundesrecht/Landesrecht. Ob (revisibles) Bundesrecht oder (irrevisibles) Landesrecht
vorliegt, bedarf in bestimmten Fallgestaltungen näherer Betrachtung.
74 aa) Verweisungen. Eine Norm des Landesrechts kann auf eine Norm des Bundesrechts verweisen oder
sie in Bezug nehmen. Entsprechend der allgemeinen Begriffsbestimmung ist maßgeblich, ob die Anwendung der Norm des Bundesrechts auf den konkret geregelten Sachverhalt auf dem Gesetzesbefehl eines
35 BVerwGE 55, 337; 69, 46, 48; BVerwG NVwZ-RR 1998, 513; Beschl. v. 19.9.2000 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO
Nr. 15; Beschl. v. 1.4.2004 Buchholz § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 21; Beschl. v. 22.6.2006 Buchholz 422.2 Rundfunkrecht
Nr. 41. Jedoch kann für die Beurteilung dessen, was im Einzelfall als treuwidrig angesehen werden kann, die Ausstrahlungswirkung revisibler Normen von Bedeutung sein und das angefochtene Urteil Bundesrecht verletzen, wenn es diese
Ausstrahlungswirkung nicht beachtet hat: BVerwGE 111, 162, 172; noch weiter gehend BVerwG NVwZ 2003, 993.
36 BVerwG Beschl. v. 28.12.1994 Buchholz 406.11 § 127 BauGB Nr. 78; NVwZ-RR 1998, 513; OVG Münster NVwZRR 1993, 397, 398.
37 BVerwGE 55, 339, 341; 66, 140, 143; 70, 143, 147; BVerwG DVBl 1982, 546, 548; NVwZ 1984, 101, 102; NVwZRR 1994, 118.
38 BVerwG Urt. v. 23.9.1998 – 6 C 2.98. Die Grundsätze zum Außerkrafttreten von Bebauungsplänen wegen Funktionslosigkeit gehören dem Bundesrecht an und sind revisibel, weil der Erlass und das Inkrafttreten von Bebauungsplänen
sich nach Bundesrecht (Baugesetzbuch) richten.
39 BVerwG NVwZ 1985, 654; NJW 1986, 1629, 1630; BVerwGE 78, 347, 352; BVerwG Beschl. v. 24.8.2006 – 10 B 1.06.
40 BVerwG NVwZ 1991, 1074. BVerwGE 85, 289, 292 f. wendet diese Kollisionsregel als bundesrechtlichen Rechtssatz
auf das Verhältnis zweier Bebauungspläne an; da sich deren Erlass und Geltung nach Bundesrecht richtet, bestimmt auch
das Bundesrecht, welcher von zwei Bebauungsplänen sich durchsetzt; krit.: C. H. Ule, FS-Wacke, 1972, S. 277, 280
Fn. 18.
41 BVerwGE 84, 257, 264, mit der zweifelhaften Weiterung, dass bei der Auslegung von öffentlich-rechtlichen Verträgen
in einem landesrechtlichen geregelten Sachbereich über § 62 S. 2 VwVfG auch die allgemeinen Auslegungsgrundsätze
des BGB revisibel sind; insoweit offen gelassen von BVerwGE 115, 274, 289.
2736
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
Rechtsetzungsorgans des Bundes beruht (vgl. auch P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 11 ff.). Kommt
die Norm des Bundesrechts hingegen im konkreten Fall aufgrund eines Normsetzungsbefehls des Landesgesetzgebers zur Anwendung, ist sie nicht revisibel42. Insoweit gilt dasselbe wie in den Fällen, in denen
eine bundesrechtliche Norm zur Ausfüllung oder Ergänzung von Landesrecht herangezogen wird.
Verweist eine Norm des Landesrechts auf eine Norm des Bundesrechts, kommt die Norm des Bundesrechts aufgrund eines Normsetzungsbefehls des Bundes zur Anwendung, wenn sich ihr sachlicher Anwendungsbereich durch die Verweisung nicht ändert. Das ist der Fall, wenn der Landesgesetzgeber die
bundesrechtliche Norm lediglich zum Anknüpfungspunkt einer eigenen Regelung nimmt43. Das ist insbes. der Fall, wenn der Landesgesetzgeber im Tatbestand der landesrechtlichen Norm eine bundesrechtliche Regelung als geltend voraussetzt und an sie eine eigene Rechtsfolge anknüpft. Die bundesrechtliche
Norm wird in diesem Fall zwar nur angewendet, weil eine landesrechtliche Norm auf sie verweist. Ihr
sachlicher Geltungsbereich erweitert sich aber dadurch nicht. Ob ihre Voraussetzungen erfüllt sind, ist
bundesrechtliche und deshalb revisible Vorfrage für die Anwendung einer landesrechtlichen Norm.
Ordnet eine Norm des Landesrechts die (entsprechende) Anwendung einer bundesrechtlichen Vorschrift
an, kann dies ferner dahin zu verstehen sein, dass die Vorschriften des Bundesrechts unter Verzicht auf
eine landesrechtliche Regelung und damit Bundesrecht als solches für anwendbar erklärt werden sollte
(BVerwG NJW 1988, 1924, 1925; NVwZ 1993, 359).
Verweist eine Norm des Landesrechts auf eine Norm des Bundesrechts, kommt das in Bezug genommene
Bundesrecht aufgrund des Normsetzungsbefehls des Landes zur Anwendung, wenn diese Verweisung
den sachlichen Anwendungsbereich des Bundesrechts erweitert, wie der Bundesgesetzgeber ihn bestimmen konnte und wollte. Regelt eine landesrechtliche Norm nur den Tatbestand eigenständig, verweist
aber für die Rechtsfolge auf eine (entsprechend anzuwendende) bundesrechtliche Regelung, liegt insgesamt eine Norm des Landesrechts vor. Auf den konkret geregelten Sachverhalt findet die bundesrechtliche Regelung nur aufgrund eines Gesetzgebungsbefehls des Landesgesetzgebers Anwendung. Der Landesgesetzgeber hat den Geltungsbereich der bundesrechtlichen Regelung erweitert, nämlich auf einen
von ihr nicht erfassten Tatbestand erstreckt. Die herangezogenen Vorschriften des Bundesrechts werden
ebenso als Landesrecht angewendet, wie wenn das Landesrecht, statt auf die Norm des Bundesrechts zu
verweisen, deren Wortlaut wiedergegeben hätte (BVerwG NVwZ 2003, 995, 996; Beschl. v. 21.3.2006
Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 25). Die in Bezug genommene Regelung des Bundesrechts gehört
mithin dem Landesrecht an, wenn der Landesgesetzgeber eine eigene, wenn auch inhaltsgleiche Regelung
hat treffen wollen.
Parallel zu behandeln sind die Fälle, in denen umgekehrt eine Norm des Bundesrechts auf eine Norm
des Landesrechts verweist oder diese in Bezug nimmt. Maßgeblich ist, ob das Bundesrecht an die landesrechtliche Norm nur hat anknüpfen wollen oder ob das Bundesrecht eine eigene, wenn auch inhaltsgleiche Regelung hat treffen wollen. Im ersten Fall bleibt die in Bezug genommene Regelung des Landesrechts irrevisibles Landesrecht; in zweiten Fall liegt insgesamt eine revisible Regelung des Bundesrechts vor. Eine bloße Anknüpfung an eine landesrechtliche Regelung liegt vor, wenn die bundesrechtliche Norm einen Begriff verwendet, dessen inhaltliche Bestimmung sie dem Landesrecht überlässt (Bsp.:
BVerwGE 27, 253, 254).
Enthält die im Streitfall anzuwendende Norm des irrevisiblen Landesrechts den gleichen Begriff wie ein
Bundesgesetz, ist diese Norm des Landesrechts nicht allein deshalb revisibel, weil der Landesgesetzgeber
den dort enthaltenen Begriff in demselben Sinne verwendet hat wie das Bundesgesetz (BVerwGE 32,
252, 254; BVerwG NVwZ 1989, 246).
42 BVerwG Urt. v. 25.10.1961 Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 11; BVerwG Urt. v. 8.9.1972 Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 19; Urt. v. 30.1.1974 Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 69; BVerwGE 57, 204, 206 f.; BVerwG Urt.
v. 13.5.1976 Buchholz 237.4 § 35 HmbBG Nr. 1; NVwZ 1984, 101, 102, DVBl 1984, 192, 194; NVwZ 1985, 652;
NVwZ 1986, 739; Beschl. v. 2.7.1990 Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 160; BVerwGE 91, 77, 81;BVerwG Beschl.
v. 28.6.1995 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 4; Beschl. v. 7.3.1996 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 8;
NVwZ 1998, 76; Beschl. v. 3.7.1998 Buchholz 430.4 Versorgungsrecht Nr. 39; DÖV 2001, 605, 606; BVerwGE 118,
201, 203; BVerwG Beschl. v. 10.8.2007 – 9 B 17.07; diff. P. Kirchhof, FS-Menger, 1985, 813, 827 f.: Wird Bundesrecht
in Bezug genommen, bleibt es grds. revisibles Bundesrecht. Zu Landesrecht wird es nur, wenn das Landesgesetz nicht
auf die jeweils geltende Fassung des in Bezug genommenen Bundesrechts verweist und das in Bezug genommene Bundesrecht geändert wird.
43 BVerwGE 51, 268, 271 f.; BVerwG Urt. v. 12.4.1984 Buchholz 436.7 § 27 a BVG Nr. 14.
Neumann
2737
75
76
77
78
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
79 bb) Ausfüllung von Rahmenrecht. Ist eine landesrechtliche Vorschrift in Ausfüllung eines Rahmengesetzes des Bundes ergangen, wird das Landesrecht allein dadurch noch nicht zu Bundesrecht. Vielmehr
ist zu unterscheiden, welche inhaltlichen Vorgaben das Rahmengesetz des Bundes dem Landesgesetzgeber gemacht hat.
80 War der Landesgesetzgeber rahmenrechtlich verpflichtet, eine rahmenrechtliche Vorschrift des Bundes
inhaltsgleich zu übernehmen, und hat er hieran anknüpfend diese Bestimmung wörtlich in das Landesrecht übernommen, ist die Bestimmung revisibel. Derartige Rahmenvorschriften waren auf einheitliche
Auslegung und Anwendung in den Ländern bis ins Detail hinein ausgerichtet. Sie galten unmittelbar
bundesweit. Das im Einzelfall anzuwendende Recht beruht bei bestehender rahmenrechtlicher Pflicht
zur inhaltsgleichen Übernahme auf dem Gesetzesbefehl des Bundes (BVerwG NVwZ 1987, 976;
NVwZ 2000, 198, 199; a.A.: Kopp/Schenke § 137 Rn. 9).
81 Anders verhält es sich bei rahmenrechtlichen Bestimmungen, die der Landesgesetzgeber bei Erlass von
Landesrecht zwar zu beachten hatte, die aber auf eine inhaltliche Ausfüllung durch ihn angelegt waren.
Das im Einzelfall anzuwendende Recht beruht auch dann nicht auf einem Gesetzesbefehl des Bundes,
wenn der Landesgesetzgeber die durch ihn auszufüllende Bestimmung des Bundesrahmenrechts lediglich
im Wortlaut wiederholt und die nähere Konkretisierung den zuständigen Landesbehörden bei der Anwendung im Einzelfall überlassen hat. Bestand keine Pflicht des Landesgesetzgebers, eine mit der bundesrechtlichen Rahmenvorschrift wörtlich übereinstimmende Norm zu erlassen, bleibt die Vorschrift
des Landesrechts also auch dann irrevisibel, wenn sie mit der Vorschrift des bundesrechtlichen Rahmenrechts wörtlich übereinstimmt (BVerwG NVwZ-RR 1999, 239). Das im Einzelfall anzuwendende
Recht beruht in diesem Fall ebenso auf einem Gesetzesbefehl des Landes wie in den Fällen, in denen der
Landesgesetzgeber die ausfüllungsbedürftige Norm des Bundesrahmenrechts durch eine eigenständige
Formulierung konkretisiert hat. Hier wie dort kommt unmittelbar Landesrecht zur Anwendung.44
82 cc) Art. 125 a ff. GG. Hat der Bund aufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz ein Gesetz erlassen und
später aufgrund einer Änderung der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes seine Gesetzgebungszuständigkeit verloren, gilt das Gesetz als Bundesrecht fort, kann aber durch Landesrecht ersetzt werden
(Art. 125 a Abs. 1 und 2 GG). Die Länder können das fortgeltende Bundesrecht auch in der Weise durch
Landesrecht ersetzen, dass sie die bundesrechtlich erlassenen Vorschriften unverändert oder mit Modifikationen in Landesrecht überführen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn der Landesgesetzgeber
in einem Landesgesetz die Anwendbarkeit des Bundesgesetzes mit gewissen Maßgaben anordnet. Ob er
damit das Bundesrecht im Übrigen in Landesrecht überführt hat, ist eine Frage der Auslegung der entsprechenden landesrechtlichen Norm. Deren Auslegung durch die Vorinstanz ist nicht revisibel und vom
BVerwG deshalb hinzunehmen. In dieser Weise in Landesrecht überführtes Bundesrecht wird als Landesrecht, nicht als Bundesrecht angewandet. Seine Auslegung ist nicht revisibel (BVerwG NVwZ 2002,
1505).
83 3. Verwaltungsverfahrensgesetze (Abs. 1 Nr. 2). Nach § 137 Abs. 1 Nr. 2 kann die Revision auch darauf
gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des VwVfG eines
Landes beruht, die ihrem Wortlaut nach mit dem VwVfG des Bundes übereinstimmt. Revisibel ist nur
die Norm des VwVfG selbst. Irrevisibel bleiben aber Rechtssätze oder allgemeine Grundsätze, die dem
sonstigen irrevisiblen Recht entnommen sind, um an sich revisible Normen des VwVfG eines Landes
auszufüllen oder zu ergänzen.45
84 a) Bedeutung der Norm. Sinn der begrenzten Erweiterung des revisiblen Rechts ist es, eine einheitliche
Auslegung derjenigen landesrechtlichen Vorschriften des VwVfG zu gewährleisten, die mit denen des
VwVfG des Bundes identisch sind. Die Vorschrift will nicht schlechthin eine revisionsgerichtliche Überprüfung für die VwVfG der Länder ermöglichen. Es soll nur eine einheitliche Auslegung und Anwendung
44 BVerwGE 85, 348, 354; BVerwG NVwZ-RR 1989, 288; NVwZ 1991, 69; NVwZ-RR 1999, 239; NVwZ 2000, 198,
199.
45 BVerwGE 77, 295, 299, für landesrechtliche Vorschriften, aus denen sich ergibt, wann Beeinträchtigungen unzumutbar
sind und deshalb den in § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG normierten Entschädigungsanspruch auslösen; BVerwG Beschl.
v. 4.7.1990 Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 161, zu einer dem irrevisiblen Recht entnommenen Ermessensregelung,
deren angeblich fehlerhafte Anwendung nicht mit Blick auf § 40 VwVfG als Verletzung revisiblen Rechts gerügt werden
kann; BVerwGE 123, 303, 307 zur Heranziehung der bürgerlich-rechtlichen Verjährungsvorschriften auf den Zinsanspruch nach § 49 a Abs. 4 VwVfG.
2738
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
der VwVfG erreicht werden, die in einer konzertierten Aktion von Bund und Ländern erlassen sind
(W. Roth, NVwZ 1999, 388). Dagegen bleiben landesrechtliche Vorschriften des Verfahrensrechts, die
vom VwVfG des Bundes im Wortlaut abweichen, ebenso irrevisibel, wie landesrechtliche Vorschriften,
für die es in diesem Bundesgesetz überhaupt keine entsprechenden Regelungen gibt (BVerwG NVwZRR 195, 299; Beschl. v. 30.8.2006 – 10 B 38.06).
Ändert der Bund sein VwVfG, entfällt in diesem Umfang die Revisibilität der VwVfG der Länder, solange 85
sie dem geänderten VwVfG des Bundes nicht angepasst sind. Unerheblich ist, ob der Bundesgesetzgeber
nur den schon bisher bestehenden Inhalt der Vorschrift verdeutlichen wollte46. Ob der bisherige Inhalt
der Norm durch die Änderung ihres Wortlauts nur verdeutlicht oder geändert worden ist, ist nur durch
Auslegung zu ermitteln. Von einer Auslegung kann aber die Revisibilität der Norm nicht abhängen. Die
Befugnis des BVerwG zur Auslegung der Norm hängt ihrerseits von der Revisibilität der Norm ab.
b) Voraussetzungen der Revisibilität. Die Vorschriften des VwVfG des Bundes müssen mit denjenigen 86
eines Landes ihrem Wortlaut nach übereinstimmen.
aa) Verwaltungsverfahrensgesetz. Das Landesgesetz muss ein allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 87
im Typus des VwVfG des Bundes sein (BVerwG Beschl. v. 13.11.1995 Buchholz 310 § 137 Abs. 1
VwGO Nr. 5). Keine Verwaltungsverfahrensgesetze i.S.d. § 137 Abs. 1 Nr. 2 sind solche Landesgesetze,
die lediglich einzelne oder mehrere verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften enthalten (BVerwG
NVwZ 1984, 101, 102; DÖV 1984, 112; DVBl 1984, 192, 194), also insbes. Fachgesetze, die Materien
des besonderen Verwaltungsrechts regeln und dabei für diesen Sachbereich verfahrensrechtliche Regelungen treffen.
bb) Wörtliche Übereinstimmung. § 137 Abs. 1 Nr. 2 verlangt ausdrücklich eine wörtliche Übereinstim- 88
mung, lässt also eine nur inhaltliche Übereinstimmung nicht genügen (BVerwG Beschl. v. 30.8.2006 –
10 B 38.06; W. Roth, NVwZ 1999, 388). Allenfalls sprachlich (insbes. nur mundartlich) verschiedene,
inhaltlich aber völlig übereinstimmende Bezeichnungen beseitigen eine sonst wörtliche Übereinstimmung nicht47.
Eine Übereinstimmung des gesamten VwVfG ist nicht erforderlich. Grds. müssen nur die miteinander 89
zu vergleichenden Normen wörtlich übereinstimmen.48 Dabei reicht aus, wenn der zur Entscheidung
herangezogene Teil der Norm übereinstimmt. Insoweit ist die Übereinstimmung aber aufgehoben, wenn
nur eine der zu vergleichenden Vorschriften in ihrem Text Zusätze oder Auslassungen enthält, die den
Sinn oder die Tragweite einschränken, erweitern oder sonst modifizieren (P. Schmidt, in: Eyermann
§ 137 Rn. 15). Auch wenn der Wortlaut der Vorschrift der gleiche ist, kann die erforderliche Übereinstimmung beseitigt sein, wenn das Gesetz an anderer Stelle Regelungen enthält, die sich als Erweiterung,
Einschränkung oder sonstige Modifizierung der zu betrachtenden Norm auswirken (Kopp/Schenke
§ 137 Rn. 15).
4. Sonstiges revisibles Landesrecht. Landesrecht kann aufgrund besonderer Vorschriften außerhalb der 90
VwGO revisibel sein. Sie können sich aus dem Landes- oder dem Bundesrecht ergeben.49
a) § 127 Nr. 2 BRRG. Zu den bundesrechtlichen Vorschriften, welche die Revisibilität von Landesrecht 91
anordnen, gehört § 127 Nr. 2 BRRG (zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift BVerfGE 10, 285,
290 ff.). Nach dieser Vorschrift kann die Revision außer auf die Verletzung von Bundesrecht darauf
gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf einer Verletzung von Landesrecht beruht. Die Vorschrift setzt eine Streitigkeit aus dem Beamtenverhältnis voraus; mit Landesrecht ist deshalb nur das
materielle Landesbeamtenrecht gemeint (BVerwGE 13, 303; vgl. hierzu auch BVerwGE 121, 140, 144).
Eine Streitigkeit aus dem Beamtenverhältnis liegt nicht vor, wenn sich nach dem Landesbeamtengesetz
46 So H. J. v. Oertzen, in:Redeker/von Oertzen § 137 Rn. 2 a, zur Änderung des Merkmals „offenkundig“ in § 44 Abs. 1
VwVfG in „offensichtlich“ durch Art. 1 Nr. 4 des 2. VwVfÄndG vom 6.8.1998, BGBl. I 2022; hiergegen mit Recht:
W. Roth, NVwZ 1999, 388; zweifelnd auch M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 62.
47 Vgl. die Bsp. bei H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 137 Rn. 2 a: Sonnabend anstelle von Samstag; anstelle der
bundesrechtlichen Bezeichnung der Behördenorganisation die entsprechende Bezeichnung des Landesrechts.
48 BVerwG Beschl. v. 13.11.1995 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 5; der Sache nach schon BVerwGE 66, 111, 113;
71, 48, 49.
49 Zur Kompetenz des Bundesgesetzgebers, die Revisibilität von Landesrecht anzuordnen vgl. BVerfGE 10, 285, 290 ff.
Neumann
2739
§ 137
92
93
94
95
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
nur die Entscheidung einer Vorfrage richtet, das streitige Rechtsverhältnis aber selbst nicht im Beamtenrecht wurzelt (BVerwG Beschl. v. 4.10.2006 – 6 B 41.06).
Die Vorschrift gilt nicht für beamtenähnliche öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse50. Deshalb sind
Vorschriften eines Landesbeamtengesetzes nicht revisibel, wenn auf sie in einem Landesgesetz Bezug
genommen wird, das ein beamtenähnliches sonstiges öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis regelt
(BVerwG NVwZ 1985, 652).
Vorschriften der Landespersonalvertretungsgesetze können materiell dem Landesbeamtenrecht zuzuordnen sein; in diesem Fall unterliegt ihre Auslegung und Anwendung nach § 127 Nr. 2 BRRG revisionsgerichtlicher Kontrolle.51 Nicht nach § 127 Nr. 2 BRRG revisibel sind namentlich die Vorschriften,
die dem Organisationsrecht der Personalvertretung zugehören. Sie sind nur revisibel, wenn der Landesgesetzgeber selbst dies angeordnet hat, indem er für sein Personalvertretungsgesetz insgesamt von der
Möglichkeit des Art. 99 GG Gebrauch gemacht hat (BVerwGE 102, 95, 98).
Irrevisibel bleiben ferner andere landesrechtliche Vorschriften, die nicht zum Landesbeamtenrecht gehören, auch wenn sich ihre Anwendung auf ein Beamtenverhältnis auswirkt.52
Auch das kirchliche Beamten- und Amtsrecht ist nach § 127 Nr. 2 BRRG revisibel, wenn die öffentlichrechtlichen Religionsgesellschaften gem. § 135 S. 2 BRRG bestimmt haben, dass auf die Rechtsverhältnisse ihrer Beamten und Seelsorger das BRRG anwendbar ist (BVerwGE 28, 345, 348; 66, 241, 247;
Beschl. v. 10.6.2005 – 2 B 97.04).
96 b) Art. 99 GG. Landesrecht ist dann revisibel, wenn das Land nach Art. 99 GG dem BVerwG für den
letzten Rechtszug die Entscheidung in Sachen zugewiesen hat, bei denen es sich um die Anwendung von
Landesrecht handelt.53 Eine solche Zuweisung kann auch darin liegen, dass der Landesgesetzgeber, ohne
das BVerwG ausdrücklich zu erwähnen, für bestimmte Streitsachen eine dritte Instanz vorsieht.54
97 Von der Möglichkeit des Art. 99 GG hat bspw. das Land Bayern in Art. 97 BayVwVfG Gebrauch gemacht (hierzu BVerwGE 82, 336, 337; BVerwG NVwZ 1992, 1201). Nach dieser Vorschrift kann die
Revision auf eine Verletzung des BayVwVfG gestützt werden, und zwar ohne Rücksicht auf die Beschränkungen des § 137 Abs. 1 Nr. 2, also auch dann, wenn die konkrete Norm nicht mit einer Vorschrift des VwVfG des Bundes übereinstimmt. Eine ähnliche Regelung trifft § 5 AGVwGO Bln sowie
§ 327 LVwG.
98 Von der Möglichkeit des Art. 99 GG können die Länder in untereinander geschlossenen Staatsverträgen
Gebrauch machen. Sie können auf diese Weise erreichen, dass die Staatsverträge, soweit sie in Landesrecht transformiert sind, in allen Ländern gleich ausgelegt und angewandt werden55.
99 5. Bindung des Revisionsgerichts. Soweit die Vorinstanz irrevisibles Recht angewandt hat, ist das
BVerwG an die Auslegung dieses Rechts durch die Vorinstanz gebunden (§ 173, § 560 ZPO).
100 a) Bedeutung der Bindung. Das BVerwG muss irrevisibles Recht ohne eigene Nachprüfung in der Form
und mit dem Inhalt als gegeben hinnehmen, in der die Vorinstanz es angewandt hat.56 Das BVerwG
kann die Anwendung irrevisiblen Rechts auch nicht eingeschränkt darauf nachprüfen, ob die Vorinstanz
bei seiner Auslegung die Denkgesetze und die allgemeinen Grundsätze der Auslegung von Rechtsnormen
beachtet hat. Soweit sie zur Auslegung irrevisiblen Rechts herangezogen werden, sind diese Grundsätze
selbst dem irrevisiblen Recht zuzurechnen (Rn. 71).
101 Das BVerwG ist an die Auslegung irrevisiblen Rechts durch die Vorinstanz auch insoweit gebunden, als
diese Auslegung als Vorfrage für die Anwendung einer Norm des revisiblen Rechts erheblich ist. Das
50 BVerwG Urt. v. 3.6.1977 Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 86; Urt. v. 3.11.1982 Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 202;
Beschl. v. 1.9.1992 Buchholz 230 § 127 BRRG Nr. 53.
51 BVerwGE 66, 291, 292; BVerwG Beschl. v. 10.6.1977 Buchholz 230 § 127 BRRG Nr. 34; PersV 1998, 476.
52 BVerwG NVwZ 1993, 379; SächsVBl 1996, 281 (jeweils für die kommunalverfassungsrechtlichen Vorschriften über
die Wahl und Abwahl von Wahlbeamten der Gemeinde); Beschl. v. 27.5.1992 Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 36; Beschl.
v. 7.7.2005 Buchholz 230 § 127 BRRG Nr. 61; Beschl. v. 4.5.2007 – 2 B 24.07.
53 Bsp. BVerwGE 11, 336, 337; 17, 43, 46; zu Art. 99 GG vgl. BVerfGE 10, 285 ff.
54 Kopp/Schenke § 137 Rn. 11; zur Auslegung landesrechtlicher Vorschriften mit Blick auf eine mögliche Eröffnung revisionsgerichtlicher Überprüfung nach Art. 99 GG vgl. auch BVerwGE 102, 95, 97.
55 Bsp. sind § 48 RStV (hierzu: BVerwG NJW 1998, 2690; NJW 2006, 632, 633); § 19 des Staatsvertrages über Medien;
§ 22 JMStV; anders für den Rundfunkgebührenstaatsvertrag: BVerwG NJW 1998, 1578; NJW 2006, 632, 633; Beschl.
v. 22.6.2006 Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 41.
56 Vgl. etwa BVerwGE 17, 322, 323; 50, 255, 257; 56, 308, 310; BVerwG DVBl 1992, 1170.
2740
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
gilt etwa dann, wenn eine Norm des revisiblen Rechts einen Begriff enthält, der durch irrevisibles Recht
vorgeben ist.57
Im Prozessrecht gilt nichts anderes. Zwar hat auch das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, ob 102
die Sachurteilsvoraussetzungen der Klage gegeben sind. Hängt diese Beurteilung von der Auslegung einer
Norm des irrevisiblen Rechts als Vorfrage ab, ist das BVerwG an die Auslegung dieser Norm durch die
Vorinstanz gebunden, bspw. dann, wenn die Vorinstanz eine Norm des Landesrechts dahin ausgelegt
hat, dass sie ein subjektiv-öffentliches Recht einräumt, aus dem sich eine Klagebefugnis i.S.d. § 42
Abs. 2 herleiten lässt (BVerwGE 78, 347, 351; BVerwG NVwZ 1989, 247, 248), dass ein durch sie
geregeltes Rechtsverhältnis als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren ist und deshalb für Streitigkeiten aus
diesem Rechtsverhältnis der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (BVerwGE 49, 137, 138; 50, 255, 258).
Dasselbe gilt für die Frage, ob sich aus einem landesrechtlich geregelten Rechtsverhältnis die Notwendigkeit einer Beiladung ergibt (BVerwGE 51, 268, 271) oder ob einem durch Landesrecht bestimmtem
Verwaltungshandeln der Charakter einer Regelung mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen zukommt, wie er für den Begriff des Verwaltungsakts in § 42 vorausgesetzt ist58.
b) Grenzen der Bindung. Das BVerwG hat aber nachzuprüfen, ob die Vorinstanz eine irrevisible Norm 103
im Widerspruch zu Bundesrecht ausgelegt hat, insbes. ob das Ergebnis der Auslegung in Widerspruch
zu Normen des Bundesrechts steht59
aa) Auslegung anhand von Bundesrecht. Zu einem solchen Widerspruch kann es kommen, wenn die
Vorinstanz eine Norm des Bundesrechts zur Auslegung einer irrevisiblen Norm herangezogen hat, dabei
jedoch von einem unzutreffenden Verständnis der bundesrechtlichen Norm ausgegangen ist und deshalb
zu fehlerhaften Folgerungen für den Inhalt der irrevisiblen Norm gelangt ist. Allerdings verwandelt sich
eine irrevisible Norm nicht dadurch in Bundesrecht, dass sie anhand von Bundesrecht ausgelegt wird
(BVerwG Beschl. v. 21.3.2006 Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 25). Der Verstoß gegen die irrevisible Norm bleibt vielmehr auch in diesem Fall eine Verletzung irrevisiblen Rechts. Bundesrecht wird
nur dann verletzt, wenn die Vorinstanz die zur Auslegung herangezogene Norm als Bundesrecht angewandt hat:
Hat die Vorinstanz eine Norm des Bundesrechts lediglich als Auslegungshilfe oder zur Bekräftigung
herangezogen, um den maßgeblichen Inhalt der allein einschlägigen irrevisiblen Norm zu gewinnen, hat
sie damit kein Bundesrecht angewandt (BVerwGE 100, 346, 349; BVerwG NJW 1997, 814; NJW 2006,
632, 634). Die Auslegung der irrevisiblen Bestimmung ist nicht darauf nachprüfbar, ob die Vorinstanz
von einem richtigen Verständnis der herangezogenen bundesrechtlichen Vorschrift ausgegangen ist.
Ebenso wie die allgemeinen Auslegungsregeln gehören Vorschriften, Begriffe und Rechtsgrundsätze des
Bundesrechts dem Landesrecht an, wenn sie zur Auslegung landesrechtlicher Bestimmungen ergänzend
und lückenfüllend herangezogen werden (M. Klaer-Cichon, Revisibilität, 1992, 22 f.).
Hingegen hat die Vorinstanz Bundesrecht angewandt, wenn sie die einschlägige Norm des irrevisiblen
Rechts dahin ausgelegt hat, deren Inhalt werde durch eine bundesrechtliche Norm bestimmt.60 Dasselbe
gilt, wenn die Vorinstanz die Auslegung einer irrevisiblen Vorschrift wesentlich vom Verständnis einer
bundesrechtlichen Norm abhängig gemacht hat (BVerwGE 70, 64, 65). In diesen Fällen verletzt die
Auslegung irrevisibler Vorschriften Bundesrecht, wenn die herangezogene bundesrechtliche Vorschrift
fehlerhaft angewendet ist61.
Bundesrecht hat die Vorinstanz ferner angewandt, wenn sie dem Bundesrecht entnommen hat, dieses
gebiete die von ihr gefundene Auslegung des irrevisiblen Rechts. In der sich darin ausdrückenden Ansicht, durch das Bundesrecht zu einer bestimmten Auslegung des Landesrechts verpflichtet zu sein, liegt
die Anwendung von Bundesrecht.62 Unerheblich ist, ob die angenommene Bindung durch Bundesrecht
57 BVerwG Urt. v. 13.5.1976 Buchholz 237.4 § 35 HmbBG Nr. 1; Bsp.: landesverfassungsrechtliche oder landesorganisationsrechtliche Normen bestimmen, wer zuständige Stelle i.S. einer revisiblen Vorschrift ist.
58 BVerwG NJW 1978, 1821; DÖV 1992, 536; Beschl. v. 9.10.1998 Buchholz 402.43 § 9 MRRG Nr. 1.
59 BVerwG Urteil vom 13.5.1976 Buchholz 237.4 § 35 HmbBG Nr. 1; BVerwGE 56, 308, 310; 75, 67, 69; 78, 347, 351;
BVerwG NVwZ-RR 1989, 227, 228; DVBl 2000, 386; NVWVBl 2002, 55, 57.
60 BVerwGE 90, 337, 342; zur Abgrenzung vgl.: BVerwG Beschl. v. 10.6.1994 Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 55.
61 Anders wohl BVerwG NJW 2006, 632, 633: bei fehlerhafter Annahme einer Bindung liege keine Anwendung von Bundesrecht vor.
62 BVerwG DVBl 2000, 386; NWVBl 2002, 55, 57; BVerwGE 117, 313; BVerwG Beschl. v. 11.7.2005 – 4 B 34.05;
NJW 2006, 632, 634.
Neumann
2741
104
105
106
107
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
objektiv besteht. Auch wenn eine solche Bindung tatsächlich nicht besteht, beruht das Urteil auf der
fehlerhaften Anwendung des gleichwohl herangezogenen Bundesrechts, wenn dieses inhaltlich verkannt
ist (BVerwGE 79, 339, 341).
108 bb) Überprüfung des Auslegungsergebnisses anhand von Bundesrecht. Das angefochtene Urteil verletzt
Bundesrecht, wenn es zwar (allein) auf einer irrevisiblen Bestimmung beruht, wenn deren Inhalt aber
nicht mit Bundesrecht in Einklang steht. Dabei ist unerheblich, ob sich dieser Widerspruch schon ohne
Weiteres aus der irrevisiblen Norm ergibt, oder ob erst die Vorinstanz der irrevisiblen Norm durch
Auslegung einen Inhalt erschlossen hat, der die Norm in Widerspruch zu Bundesrecht setzt.
109 Insoweit zieht das BVerwG Bundesrecht als Prüfungsmaßstab dafür heran, ob die angewandte irrevisible
Norm in der Auslegung der Vorinstanz mit Bundesrecht vereinbar ist. Bundesrecht ist danach verletzt,
wenn die angewandte Norm des irrevisiblen Rechts mit allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts
nicht vereinbar ist, soweit diese wegen ihrer ausschließlichen Verwurzelung im Bundesrecht, insbes. im
Bundesverfassungsrecht, zu den stets revisiblen Rechtssätzen gehören (Rn. 61 ff.).
110 Gleichsam umgekehrt ist Bundesrecht verletzt, wenn die Vorinstanz angenommen hat, eine Norm des
irrevisiblen Rechts sei wegen Verstoßes gegen bundesrechtliche Vorgaben nicht anwendbar, die Vorinstanz dabei aber die bundesrechtlichen Vorgaben verkannt, namentliche solche des Bundesverfassungsrechts überspannt hat und deshalb eine irrevisible Norm nicht angewandt hat (BVerwGE 26, 305, 310).
Das Gebot verfassungskonformer Auslegung von Gesetzen wurzelt im Grundgesetz und gehört deshalb
zum revisiblen Bundesrecht. Lässt die Vorinstanz eine Norm des Landesrechts außer Anwendung, weil
sie in ihrer Auslegung angeblich mit höherrangigem Recht unvereinbar ist, so verletzt die auf der Nichtanwendung der Norm beruhende Entscheidung der Vorinstanz den bundesrechtlichen Grundsatz verfassungskonformer Auslegung, wenn die Vorinstanz bei der Feststellung des Inhalts der Norm die Möglichkeiten, sie im Einklang mit höherrangigem Recht auszulegen, nicht beachtet oder nicht ausgeschöpft
hat (BVerwGE 78, 347, 352).
111 cc) Bundesrahmenrecht als Prüfungsmaßstab. Ist eine landesrechtliche Vorschrift in Ausfüllung eines
Rahmengesetzes des Bundes ergangen, ist die Auslegung der landesrechtlichen Norm durch die Vorinstanz revisionsgerichtlich daraufhin nachprüfbar, ob das Auslegungsergebnis mit den rahmenrechtlichen
Vorgaben vereinbar ist (BVerwGE 118, 10; vgl. auch Rn. 79 ff.).
112 Ist der Landesgesetzgeber rahmenrechtlich verpflichtet, eine rahmenrechtliche Vorschrift des Bundes
inhaltsgleich zu übernehmen, und hat er hieran anknüpfend diese Bestimmung wörtlich in das Landesrecht übernommen, kann nur in Übereinstimmung mit der bundesrechtlichen Regelung entschieden
werden, wie die Begriffe in der landesrechtlichen Vorschrift auszulegen sind (BVerwG NVwZ 1987,
976; NVwZ 2000, 198, 199; a.A.: Kopp/Schenke § 137 Rn. 9).
113 Hat der Landesgesetzgeber die rahmenrechtlichen Bestimmungen bei Erlass von Landesrecht zwar zu
beachten, sind sie aber auf eine inhaltliche Ausfüllung durch den Landesgesetzgeber angelegt, steht dem
Landesgesetzgeber bei dieser Ausfüllung ein Spielraum zu. Derselbe Spielraum steht der Vorinstanz in
dem Sinne zu, dass sie allein irrevisibles Recht auslegt und konkretisiert, wenn sie innerhalb des bundesrechtlich vorgegebenen Rahmens die landesrechtliche Norm auslegt und anwendet. Das BVerwG hat
zum einen zu überprüfen, ob der Landesgesetzgeber die für ihn verbindlichen rahmenrechtlichen Vorgaben eingehalten hat. Es hat zum anderen nachzuprüfen, ob die Auslegung dieser landesrechtlichen
Vorschrift durch die Vorinstanz sich in dem Rahmen hält, den das Rahmengesetz dem Landesgesetzgeber
zieht, ob also die Vorinstanz das Landesrecht rahmenrechtskonform ausgelegt hat.63
114 Ähnliches gilt für untergesetzliche Normen des irrevisiblen Rechts, die auf einer bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen. Ist die untergesetzliche Norm nur wirksam, wenn sie die bundesrechtlichen Vorgaben inhaltlich ohne Abweichungen übernimmt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass die
untergesetzliche Norm nach dem Willen des Normgebers mit den bundesrechtlichen Vorgaben übereinstimmen soll. In diesem Fall kann das BVerwG die untergesetzliche Norm ohne Bindung an das Verständnis der Vorinstanz selbst auslegen, denn darin liegt in Wahrheit eine Auslegung der bundesrechtlichen Ermächtigungsnorm, mit der die untergesetzliche Norm nach dem Willen des Normgebers über-
63 BVerwGE 70, 270, 273; 80, 201; 85, 348, 354; BVerwG NVwZ 1991, 69; NVwZ-RR 1999, 239; NVwZ 2000, 198,
199.
2742
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
einstimmt.64 Hat der untergesetzliche Normgeber nach der Auslegung der landesrechtlichen Vorschrift
durch die Vorinstanz einen Begriff der bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage mit dessen Inhalt
übernehmen wollen, ist die Auslegung der landesrechtlichen Norm ebenfalls daraufhin überprüfbar, ob
sie mit dem bundesrechtlichen Begriff übereinstimmt (BVerwGE 54, 54, 56).
c) Eigene Auslegung irrevisiblen Rechts durch das Revisionsgericht. Die Bindung des BVerwG an die
Auslegung irrevisiblen Rechts durch die Vorinstanz unterscheidet sich von der Bindung an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz. Die Bindung an die tatsächlichen Feststellungen entspricht der
Funktion des Revisionsgerichts. Es ist auf die Rechtsanwendung und deren Überprüfung beschränkt,
kann aber nicht selbst den maßgeblichen Sachverhalt feststellen, und zwar auch dann nicht, wenn hierzu
Feststellungen der Vorinstanz überhaupt fehlen oder die getroffenen Feststellungen nicht binden, weil
gegen sie zulässige und begründete Revisionsgründe geltend gemacht sind (§ 137 Abs. 2). Die Bindung
des BVerwG an die Auslegung irrevisiblen Rechts entspricht keiner derartigen funktionalen Beschränkung des Revisionsgerichts (zum verfassungsrechtlichen Hintergrund vgl. Rn. 36 f.). Im Gegenteil ist es
Aufgabe des Revisionsgerichts, das Recht auszulegen und auf den festgestellten Sachverhalt anzuwenden.
Das irrevisible Recht ist hiervon auch nicht aufgrund einer etwa nur beschränkten Kompetenz des
BVerwG als Bundesgericht ausgenommen. Als erst- und letztinstanzliches Gericht nach § 50 ist das
BVerwG ohnedies verpflichtet, Landesrecht selbständig auszulegen (BVerwG NVwZ 1998, 398). Es
bestand lediglich keine Notwendigkeit, die Sorge für die einheitliche Auslegung und Anwendung von
Landesrecht und anderem Partikularrecht dem BVerwG als Revisionsgericht anzuvertrauen, weil die
Erfüllung dieser Aufgabe durch die OVG sichergestellt ist. Zur Entlastung des BVerwG kann deshalb
die Revision nicht auf eine Verletzung von Landesrecht gestützt werden.
Das BVerwG darf sich danach zwar nicht in Widerspruch zu einer Auslegung irrevisiblen Rechts setzen,
welche die Vorinstanz ohne Verstoß gegen Bundesrecht gefunden hat. Im Übrigen darf das BVerwG aber
irrevisibles Recht selbst auslegen, soweit dies für eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits notwendig und möglich ist (ähnlich M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 86 f.).
Hat die Vorinstanz eine irrevisible Norm nicht angewandt (ihre Anwendbarkeit aber auch nicht verneint), weil sie dessen Entscheidungserheblichkeit verkannt hat, ist das BVerwG befugt, diese Norm
selbst auszulegen und anzuwenden, wenn es nach seiner Rechtsauffassung auf sie ankommt65.
Aus denselben Gründen kann das BVerwG irrevisibles Recht selbst auslegen, wenn es sich während des
Revisionsverfahrens geändert hat und diese Änderung nach allgemeinen Grundsätzen im Revisionsverfahren zu berücksichtigen ist66.
Zu einer eigenen Auslegung irrevisiblen Rechts ist das BVerwG ferner berechtigt, wenn die Vorinstanz
das einschlägige irrevisible Recht zwar ausgelegt hat, diese Auslegung das BVerwG aber nicht bindet,
weil die Norm in der Auslegung der Vorinstanz mit Bundesrecht nicht vereinbar ist oder die Vorinstanz
sonst bei der Auslegung der irrevisiblen Norm Bundesrecht verletzt hat (BVerwGE 72, 300, 325; 75, 67,
72; ebenso: BGH NJW 1997, 2115, 2117).
Statt die irrevisible Norm selbst auszulegen, kann das Revisionsgericht in diesen Fällen aber auch von
der Möglichkeit Gebrauch machen, die Sache nach § 173, § 563 Abs. 4 ZPO an die Vorinstanz zurückzuverweisen (BVerwGE 104, 1, 6). Es kann durchaus tunlich sein, von der rechtlich gegebenen Möglichkeit, Landesrecht selbst auszulegen, nur zurückhaltend Gebrauch zu machen (BVerwG NVwZ 1998,
398).
Eine solche Zurückhaltung kann etwa dann angezeigt sein, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, die
Norm auszulegen, ohne dass sie in einer dieser Auslegungen gegen Bundesrecht verstieße (vgl. etwa
BVerwGE 100, 160, 170 ff.; BVerwG NVwZ 2005, 1076, 1078). Generell sollte die eigene Auslegung
durch das Bundesverwaltungsgericht auf die Fälle beschränkt werden, in denen das Ergebnis der Aus-
64 BVerwGE 94, 151, 154, für das Verhältnis von Festsetzungen eines Bebauungsplans, die grds. dem irrevisiblen Ortsrecht
angehören, zu den Ermächtigungsnormen der Baunutzungsverordnung.
65 BVerwGE 39, 329, 332; 48, 305, 313; BVerwG BayVBl 1978, 22; BVerwGE 66, 241, 248; 68, 121, 124; 116, 296, 300
(zu den Festsetzungen eines Bebauungsplans); ebenso BGH NJW 1995, 3151; anders: H.-U. Paeffgen, JZ 1991, 437,
441; krit.: P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 23.
66 BVerwG BayVBl 1978, 22; Urt. v. 22.5.1980 Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 32; NVwZ-RR 1993, 65; BVerwGE 97,
79, 82; BVerwG DVBl 1995, 925, 926; ebenso: BGH NJW-RR 1993, 13, 14.
Neumann
2743
115
116
117
118
119
120
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
legung eindeutig ist67. Das ist der Fall, wenn die Feststellung des geltenden Landesrechts offensichtlich
keine Ermittlungen (rechtlicher Art) erfordert, die – etwa wegen der Unübersichtlichkeit der Rechtsmaterie oder wegen größerer Sachnähe – besser von dem Berufungsgericht anzustellen wären, das grds.
über das Bestehen und den Inhalt des irrevisiblen Landesrechts zu befinden hat (BVerwG BayVBl 1978,
22; BVerwGE 109, 203, 210).
121 Hat das BVerwG Landesrecht selbst ausgelegt, ist das OVG in künftigen Fällen an diese Auslegung nicht
in dem Sinne gebunden, dass es die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 zulassen müsste, wenn es von der
Auslegung des BVerwG abweichen will. Die Revision kann nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 nur wegen einer
Abweichung bei der Auslegung revisibler Rechtssätze zugelassen werden.
III. Bindung an tatsächliche Feststellungen (Abs. 2)
122 § 137 Abs. 2 bindet das Revisionsgericht grds. an die tatsächlichen Feststellungen, welche die Vorinstanz
in dem angefochtenen Urteil getroffen hat. Das entspricht der Aufgabenverteilung zwischen Revisionsgericht und Tatsacheninstanz. Die Revision ist darauf beschränkt, neben der Einhaltung des Verfahrens
die Rechtsanwendung der Vorinstanz zu überprüfen. Das Revisionsgericht prüft den Streitfall nicht im
gleichen Umfang wie das Berufungsgericht; es lässt anders als das Berufungsgericht (§ 128) neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel außer Betracht.
123 1. Tatsachen. a) Lebenssachverhalt. § 137 Abs. 2 bezieht sich auf die rechtserheblichen Tatsachen,
welche die Tatbestandsmerkmale der einschlägigen Rechtsnormen ausfüllen sollen. Gemeint sind in
§ 137 Abs. 2 die Tatsachen, aus deren Vorliegen sich die geltend gemachte Rechtsfolge ergeben soll.
Tatsachen i.S.d. § 137 Abs. 2 ist der Lebenssachverhalt, auf den das materielle Recht anzuwenden ist.
124 aa) Hilfstatsachen. Die entscheidungserheblichen Tatsachen können nicht immer unmittelbar festgestellt werden. Das Tatsachengericht kann deshalb andere Tatsachen (Hilfstatsachen oder Indizien) heranziehen und aus ihnen einen wertenden Schluss auf das Vorliegen der Haupttatsache ziehen. Die Bindungswirkung des § 137 Abs. 2 erstreckt sich auf die Feststellung der Vorinstanz, dass bestimmte
Hilfstatsachen vorliegen. Aber auch der Schluss von den Hilfstatsachen auf die Hauptsache und damit
deren Feststellung gehört zur Tatsachenfeststellung, an die das Revisionsgericht gebunden ist. Dieser
Schluss ist ein Akt der Beweiswürdigung.
125 Gegen den Schluss von den Hilfstatsachen auf die Haupttatsache und damit gegen deren Feststellung
selbst kann der Revisionskläger geltend machen, die Vorinstanz habe die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, etwa die Denkgesetze oder die allgemeinen Erfahrungssätze nicht beachtet.
Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt u.a. vor, wenn der Tatrichter Indiztatsachen, die sich zwanglos mit
der gegensätzlichen Annahme vereinbaren lassen, nur mit einer Annahme für vereinbar hält, also deren
Mehrdeutigkeit nicht erkennt oder ihnen Indizwirkungen beimisst, die sie nicht haben können (BGH
NJW 1993,935, 938).
126 bb) Prognosen. Bestimmte Tatsachen kann das Gericht nur im Wege einer Prognose feststellen. Dazu
gehören künftige Tatsachen, auf deren Feststellung es ankommt, wenn das Gesetz den Eintritt einer
Rechtsfolge von einer Tatsache abhängig macht, die in der Zukunft eintritt oder ausbleibt. Dazu gehören
ferner hypothetische Tatsachen, die festzustellen sind, wenn eine Rechtsnorm, insbes. des Schadensersatzrechts, eine Rechtsfolge davon abhängig macht, welche (tatsächlich nicht eingetretene und auch nicht
mehr eintretende) Tatsache ohne das Dazwischentreten einer anderen Tatsache eingetreten wäre. Zur
Feststellung solcher Tatsachen werden in der Vergangenheit wahrgenommene oder in der Gegenwart
wahrnehmbare Tatsachen mit Hilfe von allgemeinen Erfahrungssätzen, Naturgesetzen oder Denkgesetzen bewertet. Die Prognose ist mithin das Ergebnis einer Beweiswürdigung. Sie ist revisionsgerichtlich
nur in den hierfür bestehenden Grenzen überprüfbar (BSG DVBl 1990, 212, 213; A. May, Revision,
1997, 445 [Rn. 333]). Im Übrigen ist das Revisionsgericht an die Feststellung einer künftigen oder einer
hypothetischen Tatsache durch die Vorinstanz ebenso gebunden wie an die Feststellung jeder anderen
Tatsache.
67 Noch weiter gehend BVerwG NVwZ 1991, 570, 571: Zurückverweisung, wenn das einschlägige Landesrecht von einander abweicht und von einer Auslegung der in Rede stehenden Norm für eine bundesweite Rechtsfortbildung nichts
gewonnen wird; vgl. ferner BVerwGE 109, 203, 210.
2744
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
Ähnlich wie Prognosen zu behandeln sind Feststellungen dazu, welche (gegenwärtigen) Auswirkungen
von bestimmten (festgestellten) Gegebenheiten ausgehen (können). Die wertende Einschätzung dieser
Auswirkungen ist nicht Teil der Rechtsanwendung, sondern Feststellung des ihr vorausliegenden Sachverhalts (BVerwGE 126, 233, 237).
Davon zu unterscheiden sind Prognosen insbes. der Verwaltung, die Gegenstand der gerichtlichen Über- 127
prüfung sind und nach materiellem Recht nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen.
Die Feststellung der Vorinstanz, dass die verwaltungsbehördliche Prognose zu beanstanden oder nicht
zu beanstanden ist, ist für sich keine Tatsachenfeststellung, sondern Rechtsanwendung. Ihr können ihrerseits Tatsachenfeststellungen zugrunde liegen, etwa die Feststellung, dass bestimmte Tatsachen, welche die Behörde ihrer Prognose zugrunde gelegt hat, wahr oder nicht wahr sind.
b) Prozesstatsachen. § 137 Abs. 2 bezieht sich hingegen nicht auf die Prozesstatsachen, die sich aus dem
Ablauf und Fortgang des Rechtsstreits ergeben68. Prozesstatsachen kann das Revisionsgericht selbst
feststellen, ohne dabei an die Feststellungen der Vorinstanz gebunden zu sein. Das gilt allerdings nur für
Prozesstatsachen, die in dem konkreten Verfahren, wenn auch in einer der voraufgegangenen Instanzen
eingetreten sind, nicht hingegen für Prozesstatsachen in einem anderen Verfahren, auch wenn dieses
Verfahren vorgreiflich ist. Prozesstatsachen aus anderen Verfahren können nur wie Tatsachen sonst
berücksichtigt werden, etwa wenn sie sich aus Akten ergeben, die schon die Vorinstanz beigezogen hat,
und wenn sie deshalb festgestellt sind, oder wenn sie offenkundig i.S.v. gerichtskundig sind.
Zu den Prozesstatsachen gehören die Tatsachen, die für das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen
erheblich sind. Ob die Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen, hat das Revisionsgericht stets von Amts
wegen zu prüfen. Es muss selbst die notwendigen Feststellungen treffen, aus denen sich das Vorliegen
oder Fehlen der Sachurteilsvoraussetzungen ergibt. Ggf. muss es hierüber Beweis erheben. Treten nachträglich Tatsachen ein, die sich auf die von Amts wegen zu beachtenden Voraussetzungen der Zulässigkeit der Klage auswirken, sind sie im Revisionsverfahren zu berücksichtigen.69
Zu den Prozesstatsachen gehören ferner die Tatsachen, die der Begründung einer Verfahrensrüge dienen.
Sie hat das Revisionsgericht ebenfalls selbst festzustellen70. Diese Tatsachen muss der Revisionskläger
aber bezeichnen, damit seine Verfahrensrüge zulässig ist (§ 139 Abs. 3 S. 4). Nur in diesem Rahmen stellt
das Revisionsgericht die Tatsachen selbst fest.
Zu den Prozesstatsachen gehört hingegen nicht der (behauptete) Abschluss eines außergerichtlichen
Vergleichs. Er wirkt sich nicht unmittelbar selbst, also nicht ohne prozessbeendende Erklärungen auf
den Prozess aus. Seine materiellrechtlichen Wirkungen betreffen die Begründetheit der Klage. Insoweit
gehört der Abschluss des außergerichtlichen Vergleichs zu den rechtserheblichen Tatsachen, auf welche
die Bindungswirkung des § 137 Abs. 2 sich bezieht. Wird der Abschluss eines außergerichtlichen Vergleichs behauptet, gehört dies deshalb regelmäßig zu den (neuen) Tatsachen, die im Revisionsverfahren
nicht berücksichtigt werden können. Der Abschluss eines außergerichtlichen Vergleichs kann sich ausnahmsweise unmittelbar auf die Zulässigkeit der Klage oder der Revision auswirken und dann insoweit
68 BGH NJW-RR 1987, 1196, 1197 (zum Inhalt eines Grundurteils); ferner NJW 1991, 1683; MDR 2002, 902 (zur
Unterbrechung eines Verfahrens durch den Eintritt der Prozessunfähigkeit eines sich selbst vertretenden Rechtsanwalts).
69 BVerwGE 36, 317, 321 (ordnungsgemäße Vertretung eines prozessunfähigen Beteiligten); BVerwGE 57, 204, 209 f.;
BVerwGE 57, 342, 344 (jeweils Vorverfahren); BVerwGE 71, 73, 74 (fehlende Berufungszulassung); BVerwG
NJW 1977, 542; BayVBl 1983, 476 (jeweils rechtzeitige Einlegung des Widerspruchs); BVerwG NVwZ 1982, 38, 40
(Prozessführungsbefugnis); BVerwG NVwZ 1985, 265; NVwZ 1991, 570, 571 (jeweils Erledigung des gefochtenen
Verwaltungsakts); BVerwGE 81, 32, 37 (Wahrung des Schriftformerfordernisses bei der Klageerhebung); BVerwG
BayVBl 1987, 373, 374 (Wirksamkeit des Urteils erster Instanz); BVerwG NJW 1995, 2053; NVwZ-RR 1999, 472
(jeweils Rechtsschutzinteresse); BVerwG NJW 2002, 1137, 1138 (rechtzeitige Begründung der Berufung); BAG
NJW 1982, 789 (Abschluss eines Prozessvergleichs in einem anderen Verfahren, der die im anhängigen Verfahren streitigen Ansprüche miterfasst); BFHE 146, 27, 31 f.; BFHE 146, 196, 198, mit abl. Anm. von K. J. v. Bornhaupt, BB 1984,
1427 (jeweils Rechtzeitigkeit der Klage); BFH BFH/NV 2001, 1125, 1126 (Beschwer durch den angefochtenen Bescheid);
BGHZ 18, 98, 106 (nachträglicher Wegfall des Feststellungsinteresses); BGHZ 31, 279; 32, 279; BGH NJW-RR 1987,
57, 58 (jeweils: Prozessführungsbefugnis); BGHZ 53, 130; BGH NJW 1984, 1556 (nachträgliche Begründung des Feststellungsinteresse); BGHZ 85, 288, 290; BGH NJW-RR 1986, 157 (Prozessunfähigkeit); BGH NJW 1987, 325;
NJW 1987, 2588; NJW 1992, 512, 513; NJW 2001, 2722, 2723 (jeweils Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels); BGH NJWRR 1987, 139, 141 (Parteiwechsel); BGH NJW 1989, 588 (Wahrung des Schriftformerfordernisses bei der Berufungsschrift); BGH NJW 1992, 627; NJW 2002, 1957 (jeweils Prozessvollmacht); BGH NJW 2002, 2107 (Unterbrechung
des Verfahrens); BGH MDR 2004, 1197 (Parteifähigkeit).
70 BVerwGE 26, 234, 237; BVerwG Beschl. v. 25.5.2001 Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 34 (für die Gehörsrüge);
vgl. hierzu auch H.-O. Sieg, NJW 1983, 2014.
Neumann
2745
128
129
130
131
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
als Prozesstatsache zu behandeln sein. Das ist dann der Fall, wenn sich ein Beteiligter in dem außergerichtlichen Vergleich verpflichtet hat, die Klage oder die Revision zurückzunehmen, denn dann kann
sich die Fortführung des Verfahrens als unzulässige Rechtsausübung darstellen und wegen Verstoßes
gegen Treu und Glauben unzulässig sein. Der Abschluss eines außergerichtlichen Vergleichs kann ferner
ausnahmsweise berücksichtigt werden, wenn er und der Inhalt des abgeschlossenen Vergleichs unstr.
sind, etwa weil alle Beteiligten den Abschluss des Vergleichs und seinen Inhalt dem Gericht übereinstimmend mitgeteilt haben (BAG NJW 1982, 789).
132 c) Generelle Tatsachen. § 137 Abs. 2 bezieht sich nicht auf die generellen Tatsachen. Diese dienen dazu,
eine Norm auszulegen, ihren Inhalt zu bestimmen. Sie haben nichts zu tun mit der Anwendung der Norm
im Einzelfall, gehören also nicht zum Lebenssachverhalt, auf den das materielle Recht anzuwenden ist
(A. May, Revision, 1997, 446 [Rn. 335]). Derartige generelle Tatsachen sind bspw. die allgemeinen
tatsächlichen Verhältnisse, auf deren Hintergrund der Inhalt der Norm durch Auslegung erschlossen
wird, weil der Gesetzgeber sie vorgefunden und mit der einschlägigen Norm auf sie reagiert hat. Zu den
generellen Tatsachen gehören ebenso die allgemeinen Auswirkungen einer bestimmten Auslegung der
Norm, wenn diese zur Überprüfung des Auslegungsergebnisses herangezogen werden.
133 Zu den generellen Tatsachen gehören die Gesetzesmaterialien (BVerwGE 52, 84, 89; 57, 98, 103). Sie
werden nicht zur Subsumtion unter die Rechtsnorm, sondern zu deren Auslegung herangezogen. Die
Auswertung der Gesetzesmaterialien ist Rechtsanwendung.
134 Anders verhält es sich, wenn die Rechtsnorm und eine in sie eingegangene Prognose des Gesetz- oder
Verordnungsgebers an einer höherrangigen Rechtsnorm zu messen sind. Die Subsumtion unter diese
höherrangige Norm setzt die Feststellung der dafür benötigten Tatsachen voraus. Zu ihnen können die
im Normsetzungsverfahren ermittelten Tatsachen und deren Bewertung als wahr oder unwahr gehören.
Hat die Vorinstanz hierzu tatsächliche Feststellungen getroffen, ist das Revisionsgericht nach Maßgabe
des § 137 Abs. 2 an sie gebunden.
135 2. Feststellung von Tatsachen. Gebunden ist das Revisionsgericht an festgestellte Tatsachen. Es ist unerheblich, ob Feststellungen in dem mit "Tatbestand" oder in dem mit "Entscheidungsgründen" überschriebenen Abschnitt des Urteils enthalten sind71. Maßgeblich ist allein die inhaltliche Bedeutung der
Aussage.
136 Die Tatsache muss festgestellt sein. Es genügt nicht, dass das Gericht in seinem Urteil bestimmte Angaben
referierend wiedergibt, sich aber einer Stellungnahme dazu enthält, ob die Angaben zutreffen oder nicht,
weil es nach seiner Rechtsauffassung nicht darauf ankommt (anders wohl BVerwG DVBl 2003, 139,
141).
137 Teil der Feststellung ist eine gem. § 117 Abs. 3 S. 2 ausgesprochene Bezugnahme auf konkrete Teile der
Akten (BVerwG DVBl 1985, 110 für die Bezugnahme auf einen Bebauungsplan). Auch mit einer pauschalen Bezugnahme auf die Akten (Gerichtsakte und beigezogene Akten der beklagten Behörde) sind
sämtliche darin enthaltenen tatsächlichen Umstände festgestellt72. Vom bisherigen Inhalt der Akten abweichender tatsächlicher Vortrag führt neue Tatsachen in das Verfahren ein, die das Revisionsgericht
nicht berücksichtigen kann. Durch die pauschale Bezugnahme auf die Akten festgestellt wird jedoch nur
deren Inhalt als Tatsache, also etwa der Umstand, dass in den beigezogenen Akten der Behörde sich ein
Schreiben bestimmten Inhalts befindet. Die in diesem Schreiben mitgeteilten Umstände werden hingegen
durch die pauschale Bezugnahme auf die Akten nicht als Tatsachen festgestellt; die Würdigung eines
solchen Schreibens ist Sache des Tatsachengerichts.
138 Reicht es nach materiellem Recht oder nach Prozessrecht aus, dass eine Tatsache glaubhaft gemacht ist,
steht ihrer Feststellung gleich, wenn die Vorinstanz die Tatsache als glaubhaft gemacht angesehen
hat.73
139 Festgestellt sind auch solche Tatsachen, von deren Vorliegen das Tatsachengericht aufgrund einer gesetzlichen Vermutung ausgegangen ist. Gebunden ist das Revisionsgericht dabei, vorbehaltlich zulässiger
und begründeter Revisionsrügen, zunächst an die Feststellung der Tatsachen, an welche die gesetzliche
71 BVerwG NVwZ 1985, 337, 338; Beschluss vom 6.2.2001 – 6 BN 6.00; BFH BFH/NV 2002, 153, 155.
72 Hiergegen: F. W. Schwöbbermeyer, NJW 1990, 1451; einschränkend wohl auch M. Eichberger, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner § 137 Rn. 137 ff.
73 Vgl. H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 137 Rn. 15; einschränkend BVerwG Urt. v. 30.10.1990 Buchholz 310
§ 137 VwGO Nr. 165.
2746
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
Vermutung anknüpft. Gebunden ist das Revisionsgericht auch an die daraus gezogene Schlussfolgerung
auf die vermutete Tatsache. Diese Bindung entfällt aber, wenn die Vorinstanz die gesetzliche Vermutungsregel unrichtig angewandt hat, also rechtlich unzutreffende Schlüsse aus der Anknüpfungstatsache
gezogen hat. Dabei geht es um fehlerhafte Rechtsanwendung, die das Revisionsgericht ohne Rüge nachprüft (A. May, Revision, 1997, 454 [Rn. 353 f.]).
Festgestellt sind auch Tatsachen, die das Tatsachengericht im Wege der Schätzung in entsprechender 140
Anwendung des § 287 ZPO gewonnen hat. Die Schätzung ist eine besondere Form der freien Beweiswürdigung. An ihr Ergebnis ist das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 2 gebunden. Die Schätzung kann
mit den gleichen Revisionsgründen angegriffen werden wie andere Tatsachenfeststellungen auch
(BGHZ 83, 61, 66; A. May, Revision, 1997, 458 [Rn. 364]).
Keine tatsächliche Feststellung hat das Tatsachengericht getroffen, wenn es im Wege einer Beweislast- 141
entscheidung entschieden hat. Die richtige Anwendung der Beweislastregeln unterliegt voller revisionsgerichtlicher Überprüfung. Sie gehören dem materiellen Recht an74. Ihre Anwendung ist mithin Rechtsanwendung.
3. Bindung an festgestellte Tatsachen. a) Bedeutung der Bindung. Die Bindung an die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz legt für das BVerwG die tatsächliche Grundlage fest, auf der die Revisionsentscheidung allein getroffen werden darf. Das BVerwG hat seiner rechtlichen Beurteilung den festgestellten Sachverhalt zugrunde zu legen. Es kann nicht nachprüfen, ob die festgestellten Tatsachen
richtig sind. Das BVerwG kann seine Entscheidung nicht auf Tatsachen stützen, die das Tatsachengericht
nicht festgestellt hat. Es ist gehindert, ergänzenden oder abweichenden Tatsachenvortrag der Beteiligten
zu berücksichtigen (BVerwGE 50, 64, 70; 54, 73, 75; 61, 285, 286). In der Revisionsinstanz können
keine neuen Tatsachen eingeführt werden. Neu i.d.S. sind zum einen Tatsachen, die bisher nicht festgestellt worden sind, weil sie der Vorinstanz nicht bekannt waren oder es auf sie nach der Rechtsauffassung
der Vorinstanz nicht ankam. Neu sind zum anderen solche Tatsachen, die nachträglich eingetreten sind
(BVerwG Urt. v. 28.2.1984 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 19). Das BVerwG darf auch solche tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen, die zu treffen die Vorinstanz unterlassen hat, die sich aber
ausgehend von der Rechtsauffassung des BVerwG als erforderlich erweisen.
§ 137 Abs. 2 hindert das BVerwG nicht nur daran, neue Tatsachen unmittelbar zu berücksichtigen. Es
kann auch den Umstand nicht berücksichtigen, dass (möglicherweise) neue Tatsachen vorliegen. Treten
nachträglich Tatsachen ein oder werden nachträglich Tatsachen bekannt, die – ihre Richtigkeit unterstellt – entscheidungserheblich sind, rechtfertigt allein dies eine Zurückverweisung der Sache an das
Tatsachengericht nicht.75
Dass in dem dargelegten Sinne neue Tatsachen vorliegen, jedenfalls behauptet werden, hat das BVerwG
aber dann zu berücksichtigen, wenn das angefochtene Urteil Bundesrecht verletzt und sich die Frage
stellt, ob in der Sache entschieden werden kann (§ 144 Abs. 3 Nr. 1) oder die Sache an das Tatsachengericht zurückverwiesen werden muss (§ 144 Abs. 3 Nr. 2). Das BVerwG kann zwar auf der Grundlage
der bindenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz durchentscheiden. Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht aber in gewisser Weise in seinem Ermessen. Dabei kann es auch berücksichtigen, dass neue Tatsachen vorgebracht sind, die, liegen sie vor, entscheidungserheblich sind.
Keine tatsächliche Feststellung ist die Wahrunterstellung. Das BVerwG ist deshalb nicht gehindert, erstmals im Revisionsverfahren eingeführte Tatsachen als wahr zu unterstellen. Das kommt in Betracht,
wenn die Vorinstanz aus Rechtsgründen eine Vorschrift nicht für anwendbar gehalten und zu ihr deshalb
keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat. Das BVerwG kann den auf diese Vorschrift bezogenen
tatsächlichen Vortrag als wahr unterstellen und das angefochtene Urteil i.E. als richtig bestätigen, wenn
der als wahr unterstellte Vortrag die rechtlichen Voraussetzungen der Vorschrift nicht erfüllt (BVerwG
Beschl. v. 10.5.1994 – 9 C 500.93).
142
143
144
145
b) Ausnahmsweise Berücksichtigung neuer Tatsachen. Ausnahmsweise soll das Revisionsgericht selbst 146
Tatsachen feststellen dürfen, die festzustellen die Vorinstanz unterlassen hat.
74 BFH/NV 2002, 934, 935. Etwas anderes gilt dann, wenn die Regeln über die Verteilung der Beweislast bei Anwendung
einer Norm des Verfahrensrechts herangezogen werden; in diesem Fall stellt die Verkennung dieser Regeln einen Verfahrensmangel dar: BFH BFH/NV 2002, 661.
75 BVerwG Urt. v. 28.2.1984 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 19; BVerwGE 91, 104, 106.
Neumann
2747
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
147 aa) Änderung der Rechtslage. Zu berücksichtigen sind neue Tatsachen, wenn sie erst mit Blick auf eine
Änderung der Rechtslage von Bedeutung sind, die während des Revisionsverfahrens eingetreten ist (vgl.
BVerwGE 61, 285, 286). Ist diese Änderung der Rechtslage im Revisionsverfahren zu beachten, muss
auch neues tatsächliches Vorbringen beachtlich sein, das sich auf die geänderte Rechtslage bezieht. Es
muss sich nicht um neue Tatsachen i.S. nachträglich eingetretener Tatsachen handeln. Beachtlich sind
auch schon bisher vorhandene Tatsachen, die aber weder vorgetragen noch festgestellt waren, weil es
auf sie erst im Lichte der eingetretenen Rechtsänderung ankommen kann. Das BVerwG stellt aber nicht
selbst die Tatsachen fest, die mit Blick auf die Rechtsänderung neu vorgebracht sind76. Dass neue Tatsachen zu berücksichtigen sind, hindert das BVerwG nur, auch mit Blick auf die geänderte Rechtslage
allein auf der bisherigen Tatsachengrundlage durchzuentscheiden. Es verweist die Sache an die Vorinstanz zurück.
148 bb) Berücksichtigung aus Gründen der Prozessökonomie. Darüber hinaus sollen neue Tatsachen im
Revisionsverfahren ausnahmsweise beachtlich sein, wenn ihre Nichtberücksichtigung mit der Prozessökonomie in hohem Maße unvereinbar wäre. Die Berücksichtigung der neuen Tatsachen muss dem
Revisionsgericht eine abschließende Entscheidung in der Sache selbst ermöglichen. Die Tatsachen dürfen
nicht weiter beweisbedürftig sein. Ihre Verwertung muss einer endgültigen Streiterledigung dienen. Ihre
Berücksichtigung darf schützenswerte Interessen der Beteiligten nicht berühren.77 Diese Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn ein nachträglich eingetretener oder nicht festgestellter einzelner Umstand
völlig unstr. ist78, wenn sich bestimmte, nach Erlass der angefochtenen Entscheidung vorgenommene
Prozesshandlungen eines Beteiligten in einem vorgreiflichen Verfahren aus den beigezogenen Akten dieses Verfahrens ergeben, wenn sich aus den von der Vorinstanz in Bezug genommenen Beiakten ohne
Weiteres lediglich ergänzende Feststellungen treffen lassen oder schließlich unter bestimmten Voraussetzungen, wenn der neue Umstand eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 153 i.V.m. § 580 ZPO
begründet hätte79.
149 Diese Ausnahmen sind nicht unbedenklich. Dass eine Tatsache unstr. ist, ersetzt ihre Feststellung nicht.
Dass die Tatsache nicht bestritten wird, ist nur ein (unter Umständen gewichtiger) Gesichtspunkt für die
freie Beweiswürdigung80.
150 cc) Offenkundige Tatsachen. Offenkundige Tatsachen i.S.d. § 291 ZPO sind grds. durch das Tatsachengericht festzustellen; sie bedürfen lediglich keines Beweises. Ihre Eigenart ermöglicht es aber dem
BVerwG zumeist, offenkundige Tatsachen zu berücksichtigen, auch wenn die Vorinstanz sie nicht festgestellt hat81. Zu den offenkundigen Tatsachen gehören die allgemeinkundigen Tatsachen
(BVerwGE 91, 150, 153) sowie die gerichtskundigen Tatsachen (BVerwG NVwZ 1993, 781).
151 Allgemeinkundig sind solche Tatsachen, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig
ohne Weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch Benutzung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können. Hat die Vorinstanz ihrer Entscheidung eine Tatsache mit
der Begründung zugrunde gelegt, sie sei allgemeinkundig, kann das BVerwG nachprüfen, ob das, was
76 Anders für die Tatsachen, aus denen sich das wirksame Inkrafttreten des Rechtssatzes ergibt: BGH NJW-RR 1993, 13,
14.
77 Vgl. BVerwGE 58, 146, 152; BVerwG Urt. v. 29.7.1985 Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 71; NVwZ 1993, 781; BGH,
NJW 1985, 1338; FamRZ 2002, 318, 319.
78 BVerwG Urt. v. 17.3.2004 Buchholz 402.240 § 88 AuslG Nr. 3; BVerwGE 126, 378, 382; anders: BVerwG Urt.
v. 31.8.2004 Buchholz 402.240 § 47 AuslG Nr. 27.
79 BVerwGE 10, 357, 358; 29, 127, 130; BVerwG Urt. v. 16.2.1972 Buchholz 427.3 § 273 LAG Nr. 20; Urt. v. 30.5.1978
Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 14; Urt. v. 27.3.1980 Buchholz 427.6 § 4 BFG Nr. 31; BVerwGE 91, 104, 107; BVerwG
InfAuslR 1993, 235; DVBl 1993, 1357, 1363; zu Tatsachen, die einen Wiederaufnahmegrund ergeben, ebenso: BGH
NJW 1990, 925, 927.
80 BVerwGE 116, 188, 195 berücksichtigt neuen tatsächlichen Vortrag, wenn die Gegenseite ihn nicht substantiiert bestritten hat. Die Gegenseite braucht sich im Revisionsverfahren aber nicht zu neuem tatsächlichen Vorbringen zu erklären. Stellt sie den neuen Vortrag nicht ausdrücklich unstr., kann er keinesfalls berücksichtigt werden. Vgl. insoweit auch
die Kritik von M. Grünberg, SächsVBl 2002, 267.
81 BVerwGE 29, 127, 130; 58, 146, 152 (rechtskräftiger Abschluss eines vorgreiflichen Verfahrens); BVerwG Urt.
v. 29.7.1985 Buchholz 402.24 § 2 AuslR Nr. 71; NVwZ 1993, 781, 782 (Ergebnis eines inzwischen abgeschlossenen
vorgreiflichen Prozesses); BVerwGE 91, 104 (Berücksichtigung einer offenkundigen Veränderung der Verhältnisse im
Herkunftsland eines Asylbewerbers); 102, 331, 349 (zur Begründung des im Verfahren angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses); BGH DVBl 1985, 109 (Rechtskraft des Urteils in einem anderen vorgreiflichen Verfahren);
NJW 1985, 1338; hiergegen: A. May, Revision, 1997, 450 (Rn. 342).
2748
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
als allgemeinkundig angesehen wurde, auch wirklich allgemeinkundig ist. Das BVerwG ist selbst Teil
der „Allgemeinheit“ und hat deshalb teil an dem allgemeinen Wissen (BVerwGE 17, 141, 144; OLG Düsseldorf NJW 1993, 2452, 2453). Aus eben diesem Grund ist das BVerwG auch in der Lage, allgemeinkundige Tatsachen selbst festzustellen (BVerwG Urt. v. 25.8.2004 Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG
Nr. 12).
Zu den allgemeinkundigen Tatsachen gehören die geschichtlichen Tatsachen. Hat die Vorinstanz inso- 152
weit keine Feststellungen getroffen, hat sich das BVerwG nicht gehindert gesehen, seiner Entscheidung
geschichtliche Tatsachen zugrunde zu legen, die in der Öffentlichkeit als feststehend erachtet werden
oder sich aus allgemein zugänglichen Quellen ergeben.82
Gerichtskundige Tatsachen sind solche Umstände, die dem Gericht von Amts wegen bekannt sind83. 153
Solche Umstände kann das Revisionsgericht verwerten. Als aktenkundig können solche Tatsachen vom
Revisionsgericht verwertet werden, die urkundlich in den Akten festgehalten sind (BVerwG DVBl 1989,
874, 875, für eine in den Akten enthaltene Antragsrücknahme). Von den gerichtskundigen Tatsachen
ist das private Wissen der Richter zu unterscheiden. Dieses bezieht sich nicht auf amtlich bekannt gewordene Tatsachen und kann deshalb nur verwertet werden, wenn sein Gegenstand allgemeinkundig
ist.
Dem BVerwG sind aber Grenzen gesetzt, soweit es nachträglich eingetretene allgemeinkundige oder 154
gerichtskundige Tatsachen berücksichtigen will. Bei komplexen Sachverhalten kann klärungsbedürftig
bleiben, wie sich einzelne nachträglich eingetretene allgemeinkundige Tatsachen auf den komplexen
Sachverhalt als solchen tatsächlich auswirken. Sie machen eine neue Gesamtwürdigung durch die Tatsacheninstanz erforderlich und ermöglichen damit noch keine abschließende Entscheidung im Revisionsverfahren (BVerwG DVBl 1984, 780, 781; BVerwGE 87, 52, 62).
dd) Zeitablauf. Berücksichtigt werden kann nach der Rspr. des BVerwG eine tatsächliche Entwicklung, 155
deren Beginn das Tatsachengericht festgestellt hat und die seit dessen Entscheidung durch bloßen Zeitablauf zwangsläufig eingetreten ist84.
ee) Heilung von Ermessensfehlern. Die Bindung an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz hindert 156
das BVerwG, im Revisionsverfahren die Heilung eines Ermessensfehlers mit der Begründung anzunehmen, die Ermessensausübung der Behörde erweise sich aufgrund von Erwägungen als rechtmäßig, welche
die Behörde im Revisionsverfahren nachgeschoben hat. Solche nachgeschobenen Erwägungen können
auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie sich noch als eine "Ergänzung" der Ermessenserwägungen i.S.d. § 114 S. 2 darstellen. Mit ihnen stellt die Behörde auf Tatsachen ab, die weder von der
Vorinstanz festgestellt noch bisher Gegenstand des Rechtsstreits waren. Weder dem Wortlaut noch dem
Zweck des § 114 S. 2 ist zu entnehmen, dass als Ausnahme zu der allgemeinen Regelung des § 137
Abs. 2 im Revisionsverfahren solche Ermessenserwägungen eingeführt werden können, die sich auf Umstände stützen, welche die Tatsacheninstanz nicht festgestellt hat.85
c) Wegfall der Bindung. aa) Rügen. Das BVerwG ist an die tatsächlichen Feststellungen nicht gebunden, 157
wenn gegen sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Revisionsgrund i.d.S. ist
die Rüge einer Verletzung von Verfahrensvorschriften, namentlich solchen, welche die Feststellung des
entscheidungserheblichen Sachverhalts betreffen. Es sind dies insbes. Verstöße gegen das Gebot, den
Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 86 Abs. 1), gegen das Gebot rechtlichen Gehörs oder Verstöße gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1).
82 Der Sache nach schon ohne nähere Begründung BVerwGE 8, 222, 224 f.; ferner: 13, 128, 130 ff.; 54, 101, 107; 91, 104,
107; BVerwG DVBl 2001, 1153, 1154.
83 Zweifelhaft aber BVerwG Beschl. v. 8.9.1986 Buchholz 238.3A § 46 BPersVG Nr. 20: Tatsächliche Feststellungen in
anderen gerichtlichen Entscheidungen können berücksichtigt werden, wenn diese Entscheidungen gerichtsbekannt sind.
Gerichtsbekannt können nur Tatsachen sein, die das Gericht selbst in früheren Verfahren festgestellt hat. Liegen dem
Revisionsgericht Entscheidungen anderer Gerichte vor, ist dem Revisionsgericht allenfalls gerichtsbekannt, dass dieses
andere Gericht in dem Urteil bestimmte Feststellungen getroffen hat. Dass diese Feststellungen zutreffen, ist damit aber
für das Revisionsgericht nicht gerichtsbekannt.
84 Vgl. BVerwGE 37, 151, 154; 66, 192, 198 (im konkreten Fall verneint); BVerwG Urt. v. 29.7.1985 Buchholz 424.24
§ 2 AuslR Nr. 71.
85 BVerwG Beschl. v. 9.12.1999 Buchholz 239.2 § 28 SVG Nr. 3; a.A.: H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 137
Rn. 17.
Neumann
2749
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
158 Soweit eine tatsächliche Feststellung auf einem Verstoß gegen Verfahrensvorschriften beruht, entfällt
die Bindung nur, wenn der Verfahrensfehler in zulässiger und begründeter Weise gerügt wird. Fehlt eine
solche Rüge oder ist die erhobene Rüge unzulässig oder unbegründet, hat das BVerwG eine festgestellte
Tatsache auch dann hinzunehmen, wenn ihre Feststellung aufgrund anderer nicht gerügter Verfahrensmängel fehlerhaft ist.
159 bb) Gegenrügen. Bindend und deshalb im Revisionsverfahren verwertbar sind auch solche tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz, auf die es nach deren Rechtsauffassung nicht ankam. Hat ein Beteiligter
in der Vorinstanz aus Rechtsgründen obsiegt, ist er durch das zu seinen Gunsten ergangene Urteil nicht
beschwert. Er kann ihm ungünstige tatsächliche Feststellungen nicht mit der Revision angreifen. Im
Revisionsverfahren können diese tatsächlichen Feststellungen dem bisher aus Rechtsgründen erfolgreichen Beteiligten nachteilig werden. Teilt das BVerwG die Rechtsauffassung der Vorinstanz nicht, kann
es auf der Grundlage ihrer tatsächlichen Feststellungen zulasten des bisher erfolgreichen Beteiligten
durchentscheiden (§ 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 1). Dem in der Vorinstanz erfolgreichen Beteiligten ist deshalb
die Befugnis eingeräumt, die Fehlerhaftigkeit ihm möglicherweise nachteiliger tatsächlicher Feststellungen mittels Gegenrüge (zu ihr R. Rudisile, DVBl 1988, 1135 ff.) im Revisionsverfahren zu beanstanden86. Gegenrügen sind ebenso möglich, wenn tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz aufgrund ihrer
Rechtsauffassung zwar entscheidungserheblich waren, sich diese Rechtsauffassung aber im Revisionsverfahren als bundesrechtswidrig herausstellt. Können die tatsächlichen Feststellungen in einem anderen
rechtlichen Zusammenhang im Revisionsverfahren zulasten des in der Vorinstanz erfolgreichen Beteiligten Bedeutung erlangen, muss diesem ebenfalls die Gegenrüge erlaubt sein.
160 Gegenrügen kann der Rechtsmittelgegner unbefristet bis zum Schluss der Revisionsinstanz erheben
(BVerwG DÖV 2007, 207, 208). Die Möglichkeit hierzu muss ihm in Wahrung rechtlichen Gehörs
eingeräumt werden (BVerwGE 68, 290, 296; BVerwG NVwZ 1999, 991). Die Gegenrüge muss inhaltlich den Anforderungen entsprechen, die auch sonst an die Rüge eines Verfahrensfehlers zu stellen sind
(BVerwGE 117, 25, 38). Der Möglichkeit, Gegenrügen zu erheben, entspricht eine Rügelast des Rechtsmittelgegners. Unterlässt er solche Rügen, sind die Feststellungen im Revisionsverfahren verwertbar.
161 cc) Aktenwidrige Feststellungen. Das BVerwG ist nicht an tatsächliche Feststellungen gebunden, die im
Widerspruch zu anderen tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil stehen. Einander widersprechende tatsächliche Feststellungen schließen sich gegenseitig aus und binden nicht. Das BVerwG
ist deshalb nicht an solche tatsächlichen Feststellungen gebunden, die in einem offensichtlichen Widerspruch zum Inhalt der Akten stehen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht waren und von diesem ausgewertet worden sind (aktenwidrige Tatsachenfeststellungen).87 Erforderlich ist ein Widerspruch zwischen einer im Urteil festgestellten und einer durch Bezugnahme auf
die Akten ebenfalls festgestellten Tatsache. Der Widerspruch muss offensichtlich sein, sodass es einer
weiteren Beweiserhebung zur Klärung des Sachverhalts nicht bedarf; der Widerspruch muss also frei von
verbleibenden Zweifeln offen zu Tage liegen (BVerwG NVwZ 2002, 87, 88). Unter diesen Voraussetzungen ist ein offensichtlicher Widerspruch zwischen den tatsächlichen Feststellungen im Urteil und der
Aktenlage ohne Verfahrensrüge von Amts wegen zu berücksichtigen.88
162 4. Abgrenzung Tatsachenfeststellung/Rechtsanwendung. a) Juristische Tatsachen. Unter juristischen
Tatsachen werden zumeist Rechtsverhältnisse verstanden, wie das Eigentum an einer Sache, bei denen
aus Gründen der Prozessökonomie nicht zwischen den Tatsachen, aus denen sich das Rechtsverhältnis
ergibt, und dessen Vorliegen selbst unterschieden wird. Stellt das Tatsachengericht in seinem Urteil nur
das Vorliegen dieses Rechtsverhältnisses fest, erwähnt es also nur, eine bestimmte Person sei Eigentümer
einer Sache, ohne die Tatsachen im Einzelnen festzustellen, aus denen sich das Eigentum dieser Person
ergibt, stellt sich die Frage, ob damit für das Revisionsgericht bindend das Eigentum dieser Person als
Tatsache festgestellt ist. Das ist nicht der Fall. Die schlichte Feststellung, jemand sei Eigentümer, ist
Rechtsanwendung. Das Revisionsgericht kann die Eigentumsverhältnisse abweichend von der Vorinstanz beurteilen, wenn die Akten für eine eigene rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts eine aus86 BVerwGE 126, 378, 382; J. Bader, in: Bader § 137 Rn. 16; P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 22; offen gelassen von
BVerwGE 32, 228, 235; a.A.: G. Rothe, in: Heusinger-Ehrengabe, 1968, 257, 264 f.
87 BVerwG BayVBl 1984, 155; Urt. v. 14.12.1995 Buchholz 428 § 17 VermG Nr. 1.
88 BVerwGE 71, 93, 97; 79, 291, 297 f.; BVerwG DÖV 2001, 605, 607; zu den Anforderungen an eine Rüge aktenwidriger
Feststellungen vgl. BVerwG NVwZ 2002, 87, 88.
2750
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
reichende tatsächliche Grundlage bieten. Fehlt es hieran, verbietet sich die Annahme, die Vorinstanz
habe stillschweigend die Tatsachen festgestellt, aus denen sich das Eigentum ergeben soll. Die Rechtsanwendung der Vorinstanz kann mangels Bezeichnung ihrer tatsächlichen Grundlage nicht auf ihre
Richtigkeit nachgeprüft werden. Das ist unproblematisch, wenn die Beteiligten ebenso selbstverständlich
wie die Vorinstanz von dem Bestehen des Rechtsverhältnisses (im Bsp. dem Eigentum) ausgehen. Fehlt
die notwendige Feststellung der Tatsachen, aus denen sich als Rechtsfolge das Eigentum ergibt, kann im
Revisionsverfahren gerügt werden, die Vorinstanz habe verfahrensfehlerhaft das Eigentum angenommen, nämlich entweder ihre Aufklärungspflicht verletzt oder unter Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 S. 2 nicht die Gründe mitgeteilt, die für ihre Überzeugung leitend gewesen
sind.
b) Rechtsanwendung als Gegenstand der Tatsachenfeststellung. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer 163
Rechtsanwendung kann ausnahmsweise selbst Gegenstand einer Tatsachenfeststellung sein, nämlich
dann, wenn es nicht um eine Rechtsanwendung durch das Gericht geht. Ist Gegenstand des angefochtenen Urteils eine Prüfungsentscheidung, sind die Feststellung und Bewertung der Prüfungsleistung tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz, selbst dann, wenn die Prüfungsleistung und damit die bei ihrer
Bewertung gewonnenen Erkenntnisse einen rechtlichen Bezug aufweisen.89
c) Auslegung von Willenserklärungen.90 Um die Feststellung von Tatsachen handelt es sich, wenn der 164
Inhalt einer materiellrechtlich erheblichen Willenserklärung (BVerwG NVwZ-RR 2003, 874), einer
Verfahrenshandlung (BVerwGE 115, 302, 307), etwa eines Antrags, oder eines Vertrages durch Auslegung zu ermitteln ist. Dasselbe gilt, wenn der Inhalt behördlicher Erklärungen91 auszulegen ist, etwa zu
ermitteln ist, ob eine verbindliche Zusage gewollt war (BVerwG Urt. v. 25.5.1984 Buchholz 316 § 38
VwVfG Nr. 4) oder ein Verwaltungsakt erlassen92 und welche konkrete Regelung durch ihn gesetzt
werden sollte93.
Das BVerwG ist deshalb gem. § 137 Abs. 2 grds. an die Auslegung gebunden, die das Tatsachengericht 165
einer materiell-rechtlich erheblichen Willenserklärung (BVerwG NVwZ-RR 2003, 874), einer Verfahrenshandlung, einem Vertrag94, einer behördlichen Erklärung (BVerwG Urt. v. 27.5.1981 Buchholz
406.11 § 135 BBauG Nr. 17) oder einem Verwaltungsakt gegeben hat95. Jedoch ist die Auslegung einer
Willenserklärung oder eines Verwaltungsakts nicht ausschließlich ein Akt der Tatsachenfeststellung. Das
Ziel der Auslegung ist zwar die Feststellung einer Tatsache, etwa des Willens des Erklärenden. Auf
tatsächlichem Gebiet liegt aber nur die Erfassung des Wortlauts einer Erklärung, ferner die Sichtung und
Aufklärung der tatsächlichen Umstände, die für die gewollte Bedeutung der Erklärung erheblich sind.
Daneben ist die Auslegung von Willenserklärungen, Verträgen und Verwaltungsakten inhaltlich von
Elementen der Rechtsanwendung durchsetzt. Sie wird zum einen durch rechtliche Vorgaben in Form
von Auslegungsgrundsätzen gesteuert. Die Bedeutung einer Erklärung erschließt sich zum anderen zumeist nur vor dem materiell-rechtlichen Hintergrund, vor dem sie abgegeben wird. Erst aus dem materiellen Recht ergibt sich, ob eine Regelung und ggf. welchen Inhalts mit der Erklärung angestrebt sein
mag. Dieses Ineinander von tatsächlichen Feststellungen und Rechtsanwendung ist kein untrennbarer
Vorgang. Er muss vielmehr in seine Elemente zerlegt werden, um zu bestimmen, inwieweit das BVerwG
an das Ergebnis einer Auslegung der Vorinstanz gebunden ist.96
Für das BVerwG voll überprüfbar ist die Auslegung, soweit die auf sie einwirkenden Elemente der 166
Rechtsanwendung betroffen sind. Das BVerwG hat – auch ohne Rüge eines Beteiligten – nachzuprüfen,
ob das Tatsachengericht gegen das materielle Recht verstoßen hat, das bei der Auslegung von Willenserklärungen, Verträgen und Verwaltungsakten zu beachten ist. Die Auslegung durch die Vorinstanz ist
89 BVerwG NVwZ 1993, 686, 687; Beschl. v. 25.3.1994 Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 331.
90 Vgl. hierzu die eingehende Darstellung von T. Mayen, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, 641.
91 BVerwG Urt. v. 27.5.1981 Buchholz 406.11 § 135 BBauG Nr. 17; NVwZ 1994, 575, 576 für ein von der Behörde
verwendetes Antragsformulars.
92 BVerwGE 65, 61, 69; BVerwG Urt. v. 17.10.1967 Buchholz 237.5 § 94 HessBG 54 Nr. 1.
93 BVerwG Urt. v. 7.4.1989 Buchholz 448.11 § 24 ZDG Nr. 6; Beschl. v. 25.9.1989 Buchholz 401.8 Verwaltungsgebühren
Nr. 23; NVwZ 1999, 72.
94 BVerwG NVwZ 1991, 574, 575; VIZ 2003, 579, 580; BGH NJW 1984, 41; BAG NJW 2002, 1260, 1261.
95 BVerwGE 84, 157, 162; BVerwG NVwZ 1985, 488, 489; NVwZ 1987, 601, 602; BVerwGE 115, 274, 280; Beschl.
v. 31.3.2005 – 3 B 92.04 (für eine Nebenbestimmung zu einem Verwaltungsakt).
96 Zutreff.: T. Mayen, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, 641, 648 ff.
Neumann
2751
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
danach revisionsgerichtlich uneingeschränkt daraufhin nachzuprüfen, ob anerkannte Auslegungsgrundsätze97, gesetzliche Auslegungsregeln, die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt sind
oder der Vorinstanz sonstige Rechtsirrtümer unterlaufen sind98. Einen sonstigen Rechtsirrtum lässt die
Auslegung erkennen, wenn das Tatsachengericht das materielle Recht nicht richtig erfasst hat, vor dessen
Hintergrund sich der Bedeutungsgehalt einer abgegebenen Erklärung erst erschließt. Hiervon abweichend nimmt das BVerwG z.T. an, es könne auch die Einhaltung der anerkannten Auslegungsgrundsätze,
der gesetzlichen Auslegungsregeln, der Denkgesetze, der allgemeinen Erfahrungssätze nur dann nachprüfen, wenn der Revisionskläger deren Verletzung gerügt habe (BVerwGE 115, 274, 280).
167 Gebunden ist das BVerwG hingegen, soweit die tatsächlichen Grundlagen der Auslegung betroffen sind
(M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 153). Ob die für sie erheblichen Tatsachen ordnungsgemäß festgestellt sind, kann das BVerwG nur aufgrund einer zulässigen Verfahrensrüge nachprüfen (BVerwGE 115, 274, 280). Ein Verfahrensfehler liegt auch vor, wenn das Tatsachengericht die auszulegende Erklärung sprachlich falsch verstanden hat (BGH NJW 1993, 538, 539). Wird
eine Verfahrensrüge nicht erhoben, hat das BVerwG die von der Vorinstanz festgestellten tatsächlichen
Umstände seiner Prüfung zugrunde zu legen, ob die Vorinstanz unter Zugrundelegung der anerkannten
Auslegungsgrundsätze, gesetzlichen Auslegungsregeln, der Denkgesetze und der allgemeinen Erfahrungssätze zu einem "richtigen" Auslegungsergebnis gelangt ist. Es kann der Auslegung keine weiteren
nicht festgestellten Umstände zugrunde legen.
168 Das BVerwG hat z.T. für sich die Befugnis in Anspruch genommen, Verwaltungsakte selbständig ohne
jede Bindung an die Auslegung der Vorinstanz auszulegen99, jedenfalls den Verwaltungsakt, der den
Gegenstand des Rechtsstreits bildet. Z.T. hat das BVerwG auch Anträge selbst ausgelegt, die der Beteiligte im Verwaltungsverfahren bei der Behörde gestellt hat (BVerwG Urt. v. 24.1.1985 Buchholz 237.6
§ 38 LBG Niedersachsen Nr. 1). Im Übrigen nimmt das BVerwG an, es sei an die Auslegung von Willenserklärungen, Verträgen oder Verwaltungsakten durch das Tatsachengericht nicht gebunden, wenn
diese auf einer Verletzung allgemeiner Auslegungsgrundsätze oder auf einem Verstoß gegen allgemeine
Erfahrungssätze oder die Denkgesetze oder sonst auf einem Rechtsirrtum beruht oder wenn die Vorinstanz sein Auslegungsergebnis nicht näher begründet hat. Nur unter diesen Voraussetzungen könne es
die Auslegung selbst vornehmen100. Dasselbe gilt, wenn die Vorinstanz den Inhalt einer Willenserklärung, eines Vertrags, einer behördlichen Erklärung, eines Verwaltungsakts nicht ermittelt hat. In diesen
Fällen ist das BVerwG befugt, selbst auszulegen, wenn die Vorinstanz den Inhalt (Wortlaut) der Erklärung, sei es auch nur durch Bezugnahme auf die Akten, festgestellt hat und keine ergänzenden Feststellungen zu weiteren für die Auslegung bedeutsamen Umständen erforderlich sind (BVerwGE 84, 157,
161).
169 Eine Grenze ist jedoch stets zu beachten. Kommt es für die Auslegung über den Wortlaut hinaus auf
weitere tatsächliche Umstände an, ist das BVerwG auch bei einer eigenen Auslegung an die tatsächlichen
Umstände gebunden, die das Tatsachengericht festgestellt hat. Hier liegt das eigentliche Problem einer
eigenen Auslegung durch das BVerwG. Es kann nicht wie das Tatsachengericht die Umstände umfassend
ermitteln, die für die Auslegung Bedeutung gewinnen können. Das BVerwG kann sich für seine Auslegung nur in dem Rahmen dessen bewegen, was das Tatsachengericht bereits festgestellt hat.101 Ist der
Vorinstanz bei der Auslegung einer Willenserklärung ein Rechtsanwendungsfehler unterlaufen, kann
das BVerwG diese Willenserklärung nur dann abschließend selbst auslegen, wenn hierfür weitere tat-
97 Hierzu gehört auch die irrtümliche Annahme eines in Wahrheit nicht bestehenden Auslegungsgrundsatzes: BVerwG
Urt. v. 27.5.1981 Buchholz 406.11 § 135 BBauG Nr. 17.
98 BVerwGE 65, 61, 69; BVerwG NVwZ 1982, 196; BVerwGE 67, 305,307 f.; BVerwG DVBl 1984, 441, 443;
BVerwG 84, 157, 162; BVerwG NVwZ 1991, 574, 575; BVerwGE 115, 302, 307; BVerwG VIZ 2003, 579; BGH
NJW 2002, 1260, 1261.
99 BVerwG Urt. v. 17.10.1967 Buchholz 237.5 § 94 HessBG 54 Nr. 1; BVerwGE 67, 222, 234; BVerwG DVBl 1999,
983, 984; BVerwGE 125, 9, 13; der Sache nach ebenso: BSGE 48, 56, 58; BSG NVwZ 1989, 902, 903; unklar
BVerwGE 60, 223, 228 f.; einschränkend: BVerwGE 115, 274, 280; offen gelassen von BVerwG DVBl 1983, 810, 811;
NVwZ 1985, 181; NVwZ 1986, 374.
100 BVerwG NJW 2002, 1137, 1139; NVwZ-RR 2003, 874; Beschl. v. 6.4.2004 Buchholz 310 § 137 Abs. 2 Nr. 12;
BVerwGE 126, 254, 265.
101 BVerwG Urt. v. 26.5.1971 Buchholz 232 § 26 BBG Nr. 13; BVerwG Urt. v. 7.5.1981 Buchholz 232 § 8 BBG Nr. 19.
2752
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
sächliche Feststellungen nicht erforderlich sind.102 Hingegen ist die Sache an das Tatsachengericht zurückzuverweisen, wenn die Begleitumstände, die für die Auslegung bedeutsam sind, erst noch ermittelt
werden müssen103. Das ist bspw. der Fall, wenn die Vorinstanz zu Unrecht am Wortlaut einer Erklärung
haften geblieben ist und deshalb nicht alle in Betracht kommenden weiteren Umstände ermittelt hat.
Das BVerwG hält sich darüber hinaus für befugt, einen Verwaltungsakt nach § 47 VwVfG im Revisi- 169a
onsverfahren umzudeuten, wenn die bindenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hierfür ausreichen, den Beteiligten zur Umdeutung rechtliches Gehör gewährt worden ist und sie durch die Umdeutung nicht in ihrer Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden (BVerwGE 110, 111, 114 f.; 126, 254,
276).
d) Verwaltungsvorschriften. Revisionsrechtlich zu den Tatsachen gehört der Inhalt von Verwaltungs- 170
vorschriften. Sie sind Ausdruck einer geübten oder beabsichtigten tatsächlichen Verwaltungspraxis. Die
Feststellung ihres Inhalts ist Tatsachenfeststellung, nicht Rechtsanwendung (BVerwG InfAuslR 1984,
69, 70; DVBl 1986, 110, 111 f.; ferner Rn. 29). Das BVerwG ist mithin an die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift durch die Vorinstanz gem. § 137 Abs. 2 gebunden.
e) Fremdes Recht. Die Ermittlung fremden, insbes. ausländischen Rechts ist revisionsgerichtlich als 171
Tatsachenfeststellung zu behandeln (§ 173, § 293 ZPO). Seine Ermittlung obliegt deshalb dem Tatrichter104. Fremdes Recht i.d.S. ist auch das Recht der DDR, soweit es nicht nach dem Einigungsvertrag als
Bundes- oder Landesrecht fortgilt (vgl. BVerwG VIZ 2001, 323).
Das BVerwG kann deshalb ausländisches Recht nicht heranziehen, wenn die Vorinstanz eine mögli- 172
cherweise anwendbare Norm des ausländischen Rechts übersehen hat (anders wohl BGH MDR 2002,
1024; NJW 2002, 3335), es sei denn, der Inhalt des ausländischen Rechts ist offenkundig und kann
deshalb ausnahmsweise berücksichtigt werden (Rn. 150 ff).
Feststellungen der Vorinstanz zum Inhalt ausländischen (fremden) Rechts können Gegenstand von Ver- 173
fahrensrügen sein (hierzu ausf. L. Fastrich, ZZP 97 [1984], 423 ff.). Im Revisionsverfahren kann gerügt
werden, die Vorinstanz habe ihrer Pflicht nicht genügt, das ausländische Recht zu ermitteln (§ 173,
§ 293 S. 2 ZPO)105, oder habe das Ergebnis unter Verletzung sonstiger Verfahrensvorschriften gewonnen, bspw. gegen das Gebot rechtlichen Gehörs verstoßen.106 Wie er sich die erforderliche Kenntnis über
das ausländische Recht verschafft, liegt grds. im Ermessen des Tatrichters. Der Tatrichter übt sein Ermessen insbes. dann verfahrensfehlerhaft aus, wenn er von weiteren Ermittlungen absieht, obwohl sich
ihm deren Notwendigkeit aufdrängen musste, etwa weil die ihm bisher zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen unklar, widersprüchlich oder unvollständig sind oder Zweifel an der Sachkunde ihrer
Urheber erkennen lassen (BVerwG NJW 1989, 3107). Die Pflicht des Tatrichters, das maßgebliche ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln, umfasst auch die ausländische Rechtspraxis, wie sie in
der Rspr. der Gerichte des betreffenden Landes zum Ausdruck kommt (BGH MDR 2002, 899, 900).
5. Beweiswürdigung. Indem § 137 Abs. 2 das Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen der 174
Vorinstanz bindet, entzieht die Vorschrift insbes. die Beweiswürdigung des Tatrichters einer umfassenden revisionsgerichtlichen Nachprüfung. Dem Tatsachengericht ist die Aufgabe übertragen, sich im
Wege der freien Beweiswürdigung unter Abwägung verschiedener Möglichkeiten seine Überzeugung
über den zu entscheidenden Sachverhalt zu bilden. Dieser Vorgang ist revisionsgerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbar (BVerwG NVwZ-RR 1996, 359, 360).
a) Mängel der Beweiswürdigung als Verfahrensfehler. Streitig ist, ob die Würdigung des Sachverhalts 175
und der erhobenen Beweise (Tatsachenwürdigung) dem materiellen Recht oder dem Verfahrensrecht
angehört. Davon hängt ab, ob Mängel der Sachverhalts- und Beweiswürdigung Verstöße gegen das
materielle Recht107 darstellen oder Verfahrensfehler sind.
102 BVerwG NVwZ 1987, 598; Urt. v. 5.10.2000 Buchholz 428 § 30 VermG Nr. 21; VIZ 2002, 20, 22; NJW 2002, 1137,
1138; NVwZ-RR 2003, 874; ähnlich BGH NJW 1984, 1346, 1347; NJW 1991, 1180, 1181: eigene Auslegung des
Revisionsgerichts, wenn (im Falle der Zurückverweisung) weitere tatsächliche Feststellungen nicht zu erwarten sind.
103 BSG SozR 2. Folge 2200 § 182 RVO Nr. 103; BSG NVwZ 1989, 902, 903.
104 BVerwG DVBl 1985, 966, 967; DVBl 1987, 1221, 1222; NJW 1989, 3107; InfAuslR 1995, 405.
105 BGHZ 118, 151,162; vgl. auch OLG Saarbrücken NJW 2002, 1209.
106 BVerwGE 45, 357, 365; BVerwG NVwZ 1985, 411; NJW 1989, 3107; Beschl. v. 20.3.1989 Buchholz 130 § 3 RuStG
Nr. 2; InfAuslR 1995, 405; BGH NJW 1975, 2142, 2143; NJW 1976, 474.
107 BVerwG NJW 1983, 62, 63; NVwZ-RR 1996, 359; NJW 1997, 3328; s. ferner § 124 Rn. 189ff.
Neumann
2753
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
176 Diese Unterscheidung ist zwar in erster Linie für die Zulassung der Revision von Bedeutung. Materiellrechtliche Mängel können nur unter der Voraussetzung einer grundsätzlichen Bedeutung oder einer
Abweichung die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 rechtfertigen. Verstöße
gegen das Verfahrensrecht führen hingegen schon als solche, nämlich als Verfahrensmängel nach § 132
Abs. 2 Nr. 3 zur Zulassung der Revision. Ist die Revision zugelassen, bleibt die Unterscheidung zwischen
Verfahrensmängeln und materiellrechtlichen Fehlern aber von Bedeutung. Verfahrensmängel müssen in
der Revisionsbegründung und damit innerhalb der für sie geltenden Frist dargelegt werden (§ 139
Abs. 3 S. 4). Sind Mängel der Beweis- und Tatsachenwürdigung Verfahrensfehler, entfällt die Bindung
des BVerwG an die auf ihrer Grundlage getroffenen tatsächlichen Feststellungen nur, wenn die Mängel
gerügt werden (§ 137 Abs. 2). Als materiellrechtliche Mängel hätte das BVerwG sie auch ohne Rüge zu
berücksichtigen.
177 Überwiegend ordnet das BVerwG die Grundsätze der Beweis- und Sachverhaltswürdigung revisionsrechtlich dem materiellen Recht zu.108 Dahinter steht die Vorstellung, Verfahrensmängel seien Verstöße
gegen Vorschriften, die den Verfahrensablauf regeln. Verfahrensmängel betreffen danach den Weg zu
dem Urteil und die Art und Weise des Urteilserlasses. Kein Verfahrensfehler, sondern ein Verstoß gegen
materielles Recht liege vor, wenn eine Vorschrift verletzt sei, die den Inhalt des Urteils bestimme. Materielle Mängel seien danach Mängel der sachlichen Entscheidung (BVerwG NVwZ-RR 1996, 359; ferner § 124 Rn. 187). Die Abgrenzung zwischen Verfahrensmängeln und materiellrechtlichen Fehlern verlaufe nicht entlang der Linie Tatsachenfeststellung einerseits, Rechtsanwendung andererseits. Die
Rechtsfindung beschränke sich nicht auf das Auffinden und Auslegen von Rechtsnormen. Zu ihr gehöre
vielmehr auch die Würdigung des Tatsachenmaterials, das dem Gericht vorliege. Ein Fehler, der sich
nicht im Verfahrensablauf, sondern ohne Auswirkung auf den Verfahrensgang lediglich im Kopf des
Richters ereigne, sei kein Verfahrensfehler, sondern ein Fehler, der die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung betreffe (BVerwG NVwZ-RR 1996, 359). Die Grundsätze der Beweis- und Sachverhaltswürdigung betreffen aus dieser Sicht die Erkenntnis (die Rechtsfindung), nicht das Verfahren.
178 Nach zutreffender Auffassung liegt ein Verfahrensmangel vor, wenn eine Norm des Verfahrensrechts
(Verwaltungsprozessrechts) verletzt ist.109 Die Fehler bei der Tatsachenfeststellung sind regelmäßig Verstöße gegen Verfahrensrecht. Zu ihm gehört namentlich § 108 Abs. 1, der den Grundsatz der freien
Überzeugungsbildung normiert. Werden dessen Grenzen überschritten, liegt ein Verfahrensmangel vor.
Unabhängig davon liegt § 137 keine Trennung zwischen dem Gang des Verfahrens und dem Inhalt der
Entscheidung zugrunde. § 137 Abs. 2 trennt vielmehr ersichtlich zwischen Fehlern bei der Anwendung
des materiellen Rechts auf den festgestellten Sachverhalt und Fehlern bei der Feststellung des Sachverhalts. Revisionsrechtlich sind Fehler bei der Tatsachenfeststellung Verfahrensfehler, denn § 137 Abs. 2
geht davon aus, dass Fehler bei der Tatsachenfeststellung nur auf Rüge zu berücksichtigen sind, rügebedürftig aber nur Verfahrensfehler sind (§§ 137 Abs. 3, 139 Abs. 3 S. 4). Auch das BVerwG nimmt z.T.
jedenfalls der Sache nach diese Unterscheidung vor. Sie liegt der Rspr. zugrunde, nach der ein Verstoß
gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 und damit einhergehend eine Verletzung der allgemein verbindlichen Grundsätze der Beweiswürdigung einen Verfahrensfehler darstellen kann.110
179 b) Revisionsgerichtliche Überprüfung der freien Beweiswürdigung. Die Anforderungen an die Beweiswürdigung sind vor allem in § 108 Abs. 1 S. 1 geregelt. Er normiert das Gebot der freien Beweiswürdigung. Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen
Überzeugung (Überzeugungsgrundsatz).
180 aa) Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes. Das Gericht hat seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde zu legen. Es darf nicht einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse aus seiner Würdigung ausblenden. Das Gericht muss den Inhalt der ihm vorliegenden
108 BVerwG Beschl. v. 9.6.1970 Buchholz 310 § 132 Nr. 62; Beschl. v. 10.2.1978 Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 8;
NVwZ-RR 1995, 310, 311; ferner § 124 Rn. 190.
109 R. Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 132 Rn. 87 f.; krit. hierzu M.-J. Seibert, in diesem Komm. § 124
Rn. 232.
110 BVerwG Beschl. v. 18.2.1972 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 62; offen gelassen in: Urt. v. 4.7.1973 Buchholz 310
§ 108 VwGO Nr. 72; BVerwGE 65, 57, 59; BVerwG DVBl 1984, 1005, 1006; Beschl. v. 14.3.1988 Buchholz 310
§ 108 VwGO Nr. 199; BVerwGE 96, 200, 209; zu dieser Rspr. ferner BVerfGE 83, 216, 228.
2754
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
Akten vollständig und einwandfrei berücksichtigen. Eine unzureichende Verwertung des vorliegenden
Tatsachenmaterials ist ein Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung111.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist hingegen nicht schon dann verletzt, wenn auch eine in- 181
haltlich andere Überzeugung möglich gewesen wäre. Die Beweiswürdigung kann nicht daraufhin nachgeprüft werden, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden
Gewicht in die abschließende Würdigung des Sachverhalts eingegangen sind, ob solche Einzelumstände
ausreichen, die Würdigung zu tragen (BVerwG NJW 1985, 393, 395).
bb) Verletzung allgemeiner Beweiswürdigungsgrundsätze. Die Tatsachenwürdigung ist ferner darauf- 182
hin überprüfbar, ob die allgemein verbindlichen Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt sind
(BVerwGE 89, 110, 117). Zu ihnen gehören die allgemeinen Auslegungsgrundsätze, die gesetzlichen
Beweisregeln112, die Denkgesetze und die allgemeinen Erfahrungssätze113. Dabei sind weder die Denkgesetze noch die allgemeinen Erfahrungssätze Rechtssätze.114 Sie gehören nicht dem materiellen Recht
an. Sie existieren mit gleichem Inhalt auch außerhalb rechtlicher Zusammenhänge. Sie sind Hilfsmittel
für die Würdigung von Tatsachen. Ihre Anwendung ist nicht Rechtsanwendung, sondern Teil der Sachverhaltsfeststellung. Sie sind wie die anderen allgemein verbindlichen Beweiswürdigungsgrundsätze immanente Schranken der freien Beweiswürdigung. Hat das Tatsachengericht gegen sie verstoßen, ist das
Gebot der freien Beweiswürdigung verletzt (H. Grave/H.-J. Mühle, MDR 1975, 274, 276). Die Grenzen
der freien Beweiswürdigung sind ferner überschritten, wenn die tatsächlichen Feststellungen willkürlich115, also offensichtlich unhaltbar oder handgreiflich falsch sind (BSG NJW 1981, 2718).
cc) Verstoß gegen die Denkgesetze. Ein Verstoß gegen die Denkgesetze ist nicht schon dann gegeben, 183
wenn der Tatrichter eine Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse vorgenommen hat, die womöglich
nicht zwingend ist und nach den Vorstellungen eines Beteiligten auch anders hätte ausfallen können oder
müssen, wenn das Gericht bei der Würdigung des Beweisergebnisses andere Schlüsse gezogen hat, als
sie nach Auffassung eines der Beteiligten hätten gezogen werden müssen. Von einer Verletzung der
Denkgesetze durch unrichtige Schlussfolgerungen kann vielmehr nur dann gesprochen werden, wenn
nur eine einzige Folgerung möglich, jede andere aber aus denkgesetzlichen Gründen schlechterdings
unmöglich ist, und wenn das Gericht die i.d.S. allein denkbare Folgerung nicht gezogen hat. Das Gericht
muss Voraussetzungen und Folgerung in einer Weise verknüpft haben, dass die Folgerung unter keinen
Umständen richtig sein kann.116
dd) Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze. Unter allgemeinen Erfahrungssätzen sind die aus der 184
Beobachtung von Einzelfällen gewonnenen Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung zu verstehen. Mit
ihrer Hilfe schließt der Richter aus vorhandenen Indizien auf unmittelbar erhebliche Tatsachen
(BVerwGE 88, 312, 320; ferner H. Grave/H.-J. Mühle, MDR 1975, 274, 275). Als allgemeine Erfahrungssätze bezeichnet das BVerwG die jedermann zugänglichen Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft gelten und durch keine Ausnahme durchbrochen sind117. Daneben gibt es spezielle
Erfahrungssätze, die örtlich und sachlich begrenzt sind oder deren Feststellung besondere Sachkenntnis
voraussetzt.
Ob allgemeine Erfahrungssätze als Grenzen der freien Beweiswürdigung bestehen, hat das BVerwG 185
selbst festzustellen. Es hat als Teil der Allgemeinheit an deren Erfahrungswissen teil, aus dem die Erfahrungssätze abgeleitet sind. Hat die Vorinstanz für ihre Würdigung des Sachverhalts einen allgemeinen
Erfahrungssatz herangezogen, unterliegt es revisionsgerichtlicher Überprüfung, ob dieser Erfahrungssatz
111 Vgl. bspw. BVerwGE 68, 338, 339; BVerwG DVBl 1983, 1105, 1106; Urt. v. 31.10.1994 Buchholz 310 § 86 Abs. 1
VwGO Nr. 261; BVerwGE 96, 200, 208 f.; BFH HFR 2001, 885, 886; ähnlich: BGH NJW 1993, 935, 937.
112 Der Grenzen der freien Beweiswürdigung sind insoweit auch dann überschritten, wenn das Tatsachengericht sich
rechtsirrig an eine nicht bestehende Beweisregel gebunden gesehen hat: BVerwG Beschl. v. 11.2.1976 Buchholz 310
§ 108 VwGO Nr. 84; Beschl. v. 6.2.1978 Buchholz 310 § 139 VwGO Nr. 46.
113 BVerwG Beschl. v. 14.3.1988 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 199; BVerwGE 81, 74, 76; BVerwG Beschl. v. 8.12.1993
Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 325; NVwZ-RR 1996, 359, 360.
114 A. May, Revision, 1997, 452 (Rn. 347 f.); anders BGH NJW 1982, 2455, 2456; NJW-RR 1993, 653; NJW 2001, 2464,
2465.
115 BVerfGE 57, 39, 42; BVerfG NJW 1991, 2622, 2623; offen gelassen von BVerwG Beschl. v. 19.10.1999 Buchholz 310
§ 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11.
116 BVerwG Urt. v. 20.10.1987 Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 37; NVwZ-RR 1995, 310; Beschl. v. 24.5.1996
Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 270; Beschl. v. 19.10.1999 Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 11.
117 BVerwGE 89, 110, 117; BVerwG NVwZ 1996, 175; ähnlich: BGH NJW 1982, 2455, 2456.
Neumann
2755
§ 137
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
besteht und ob er zu Recht herangezogen wurde (BVerwGE 88, 312, 320). Der Grundsatz der freien
Beweiswürdigung ist verletzt, wenn das Tatsachengericht seiner Entscheidung einen allgemeinen Erfahrungssatz zugrunde gelegt hat, der nicht besteht118, oder den Sachverhalt unter Missachtung eines allgemeinen Erfahrungssatzes gewürdigt hat.
186 Den allgemeinen Erfahrungssätzen stehen die Sätze der geschichtlichen Erfahrung gleich. Das BVerwG
kann nachprüfen, ob die Vorinstanz bei der Würdigung geschichtlicher Tatsachen die aus den allgemeinen Quellen zu entnehmenden Sätze der geschichtlichen Erfahrung beachtet hat, etwa eine geschichtliche
Erfahrungstatsache zu Unrecht nicht berücksichtigt oder zu Unrecht eine in Wahrheit nicht bestehende
geschichtliche Erfahrungstatsache angenommen hat119.
187 ee) Erfahrungstatsachen. Von den allgemeinen Erfahrungssätzen sind die Erfahrungstatsachen zu unterscheiden. Unter Erfahrungstatsachen sind tatsächliche Vermutungen zu verstehen, die sich aus bestimmten Erfahrungstatsachen (aus einer allgemein anerkannten Erfahrung) rechtfertigen (vgl.
BVerwGE 96, 337, 342; 100, 310, 314). Derartige tatsächliche Vermutungen stellen ebenfalls keine
Rechtssätze dar, sondern sind außerrechtliche Maßstäbe für die Bewertung von Tatsachen, die i.R. der
Beweis- und Sachverhaltswürdigung ergänzend heranzuziehen sind (BGH NJW 1982, 2455, 2456). Die
tatsächliche Vermutung wird auch als Anscheinsbeweis bezeichnet. Zwischen beidem besteht kein sachlicher Unterschied.
188 Die tatsächliche Vermutung setzt einen Sachverhalt voraus, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig
auf einen bestimmten Verlauf hinweist und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falles
in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen. Ihr liegen Ereignisse zugrunde, die serienmäßig typisch gleich
verlaufen. Ob und welche Tatsachen abstrakt den Schluss auf einen regelmäßigen Verlauf zulassen,
unterliegt revisionsgerichtlicher Überprüfung (BVerwGE 17, 141, 143). Soweit es sich um offenkundige,
insbes. durch die Lebenserfahrung vermittelte Tatsachen handelt, kann das Revisionsgericht selbst feststellen, ob eine tatsächliche Vermutung besteht (BVerwGE 107, 304, 310; BVerwG VIZ 2000, 213,
214). Ob hingegen im konkreten Fall ein solcher typischer Geschehensablauf als Grundlage einer tatsächlichen Vermutung vorliegt, hat das Tatsachengericht festzustellen. Das BVerwG ist an eine derartige
Feststellung nach § 137 Abs. 2 gebunden (BVerwG VIZ 2000, 87, 88).
189 Eine tatsächliche Vermutung ist erschüttert, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass ein
anderer Ablauf als der erfahrungsgemäß sich ereignende ernsthaft in Betracht kommt (BVerwG
NVwZ 1987, 217, 218; BVerwGE 85, 12, 16 f.). Die Feststellung solcher Tatsachen ist Aufgabe des
Tatsachengerichts. Die Wertung, ob die festgestellten Tatsachen zur Erschütterung der Vermutung geeignet sind, ist vom Revisionsgericht selbständig zu prüfen (BVerwG VIZ 2000, 399, 402).
190 ff) Beweismaß. Die Beweiswürdigung des Tatsachengerichts kann ferner daraufhin nachgeprüft werden,
ob die Regeln über das rechte Beweismaß beachtet sind. Nach § 108 Abs. 1 hat der Tatrichter ohne
Bindung an Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er an
sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen
kann. Jedoch setzt das Gesetz eine von allen Zweifeln freie Überzeugung nicht voraus. Das Gericht darf
keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit bei der Prüfung
verlangen, ob eine Behauptung wahr und erwiesen ist. Vielmehr darf und muss sich der Richter in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit
begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Revisionsgerichtlich
kann beanstandet werden, wenn das Tatsachengericht die Anforderungen an das Maß der Gewissheit
überspannt (BGH NJW 1993, 935, 937). Das Revisionsgericht ist dann nicht an die Feststellung gebunden, die Tatsache sei nicht erwiesen und deshalb nicht festgestellt.
IV. Bindung an die erhobenen Rügen (Abs. 3)
191 1. Allgemeine Bedeutung der Vorschrift. Wie § 137 insgesamt regelt auch Abs. 3 nicht die Zulässigkeit
von Revisionsrügen, sondern den Umfang, in dem das angefochtene Urteil für den Fall einer zulässigen
118 BVerwGE 95, 341, 351 f.; BVerwG NVwZ 1996, 175; BVerwGE 99, 242, 244; BVerwG VIZ 2001, 94; BGH
NJW 1982, 2455, 2456; NJW 1993, 653.
119 BVerwGE 19, 354, 356 ff.; 30, 225, 228; 38, 122, 123; 41, 132, 134; BVerwG Beschl. v. 25.3.1971 Buchholz 310
§ 137 VwGO Nr. 45; Beschl. v. 10.11.1995 Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 82.
2756
Neumann
§ 137
Revisionsgründe
Revision revisionsgerichtlicher Überprüfung unterliegt. § 137 Abs. 3 bestimmt dabei, inwieweit das
BVerwG an die Revisionsgründe gebunden ist, die der Revisionskläger geltend hat. Soweit eine solche
Bindung nicht besteht, kann das BVerwG auch ohne Rüge nachprüfen, ob das angefochtene Urteil revisibles Recht verletzt. Für diese Bindung unterscheidet die Vorschrift zwischen der Verletzung materiellen Rechts und Verfahrensmängeln. Die Vorschrift geht von dem Grundsatz aus, dass das BVerwG das
angefochtene Urteil umfassend darauf nachprüfen kann, ob materielles revisibles Recht verletzt ist. Umgekehrt liegt ihr zugrunde, dass das BVerwG das angefochtene Urteil auf Verfahrensfehler nur dann und
nur insoweit nachprüfen kann, als Mängel des Verfahrens gerügt sind (M. Eichberger, in: Schoch/
Schmidt-Aßmann/Pietzner § 137 Rn. 229 ff.). Letzteres ergibt sich im Übrigen bereits aus § 139 Abs. 3
S. 4, der für eine zulässige Verfahrensrüge die fristgerechte Darlegung des Verfahrensmangels verlangt.
Recht besehen regelt Abs. 3 in seinen beiden Sätzen nur die Frage, inwieweit das BVerwG das ange- 192
fochtene Urteil auf die Verletzung materiellen Rechts nachprüfen darf. Eine solche Nachprüfung ist ihm
verwehrt, wenn ausschließlich Verfahrensmängel gerügt sind, es sei denn, es liegt einer der Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 vor (S. 1). Werden nicht ausschließlich Verfahrensmängel gerügt (oder liegt einer der Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 vor), prüft das BVerwG
das angefochtene Urteil in materiellrechtlicher Hinsicht in vollem Umfang nach, ohne an die erhobenen
(materiellrechtlichen) Rügen gebunden zu sein (S. 2). Die Vorschrift geht aber als selbstverständlich davon aus, dass Verfahrensmängel immer gerügt werden müssen.
2. Satz 1. S. 1 schränkt den Grundsatz ein, dass das BVerwG das angefochtene Urteil auf die Verletzung
materiellen Rechts umfassend, also ohne Bindung an erhobene Rügen, nachprüfen kann. Zugleich normiert die Vorschrift Ausnahmen zu dieser Einschränkung. Die Zusammenhänge werden dadurch etwas
verdeckt, dass sich die Regel aus S. 2, die Ausnahme und die ihr zugeordnete Gegenausnahme hingegen
aus S. 1 ergibt.
§ 137 Abs. 3 S. 1 betrifft eine Revision, die ausschließlich auf Verfahrensmängel gestützt ist. In diesem
Fall ist es dem BVerwG grds. verwehrt, das angefochtene Urteil auch darauf nachzuprüfen, ob es materielles Recht verletzt. Das BVerwG ist vielmehr an die erhobenen Verfahrensrügen gebunden. Diese
Bindung besteht in zwei Richtungen. Zum einen sind nur die "geltend gemachten" Verfahrensmängel
zu prüfen; die Prüfung nicht geltend gemachter Verfahrensmängel ist ausgeschlossen. Zum anderen sind
"nur" (die geltend gemachten) Verfahrensmängel zu prüfen; die Prüfung materiellrechtlicher Mängel
des angefochtenen Urteils ist damit ausgeschlossen.
Auch wenn die Revision ausschließlich auf Verfahrensmängel gestützt ist, kann das BVerwG ausnahmsweise dennoch nachprüfen, ob das angefochtene Urteil materielles Recht verletzt. Hierfür muss eine der
Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 vorliegen. Die Rechtssache muss eine grds. bedeutsame Frage des materiellen Rechts aufwerfen oder die Vorinstanz muss in Beantwortung einer solchen
Frage von einer Entscheidung des BVerwG oder eines der anderen in § 132 Abs. 2 Nr. 2 genannten
Gerichte abgewichen sein. Auch wenn nur Verfahrensfehler geltend gemacht sind, erweitert § 137
Abs. 3 S. 1 im Interesse der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des materiellen
Rechts die Prüfungsbefugnis des BVerwG.
§ 137 Abs. 3 S. 1 setzt nicht voraus, dass die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
oder wegen Abweichung zugelassen ist. Es reicht vielmehr aus, dass die Voraussetzungen einer Zulassung
nach einem dieser Zulassungsgründe in der Sache vorliegen (Kopp/Schenke § 137 Rn. 35).
Liegt diese Voraussetzung vor, kann das BVerwG das Urteil in vollem Umfang auf die Einhaltung materiellen Rechts nachprüfen. Es ist nicht auf die Beantwortung der Frage beschränkt, die grundsätzliche
Bedeutung hat oder die unter Abweichung von einer divergenzfähigen Entscheidung beantwortet worden
ist. Das ergibt sich letztlich aus Abs. 3 S. 2. Er ermöglicht eine umfassende Überprüfung des angefochtenen Urteils auf die Einhaltung materiellen Rechts in allen Fällen, in denen das BVerwG nicht nach
S. 1 auf die Prüfung nur der geltend gemachten Verfahrensfehler beschränkt ist.
Liegen die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 ausschließlich deshalb vor, weil der geltend gemachte
Verfahrensmangel auf eine grds. bedeutsame Frage des Verfahrensrechts führt, rechtfertigt allein die
Rechtsgrundsätzlichkeit dieser Verfahrensfrage nicht eine unbeschränkte Entscheidungsbefugnis des
BVerwG. Wird die Revision in einem solchen Fall allein auf den Verfahrensmangel gestützt, bleibt die
Prüfung vielmehr auf den geltend gemachten Verfahrensfehler beschränkt (BVerwGE 19, 231, 232 f.;
Neumann
2757
193
194
195
196
197
198
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
BVerwG DVBl 1984, 1016). § 137 Abs. 3 S. 1 erweitert die Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts nur
im Interesse der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des materiellen Rechts.
199 Das BVerwG soll aber über den geltend gemachten Verfahrensmangel hinaus die Prüfung auf weitere
Verfahrensfragen erstrecken dürfen, wenn diese grundsätzliche Bedeutung haben (BVerwG DVBl 1974,
910), oder wenn ein nicht gerügter Verfahrensmangel mit dem gerügten Verfahrensmangel in einem
unlösbaren Zusammenhang steht (BFH BB 1994, 1773, 1774).
200 Beruht das angefochtene Urteil auf dem allein geltend gemachten Verfahrensfehler, ist das BVerwG
durch § 137 Abs. 3 S. 1 nicht gehindert, das Urteil aus anderen materiellrechtlichen Gründen als in der
Sache richtig zu bestätigen und die Revision zurückzuweisen (§ 144 Abs. 4). Anders verhält es sich nur
dann, wenn der gerügte Verfahrensfehler zugleich einen absoluten Revisionsgrund darstellt
(BVerwGE 102, 7, 11).
201 3. Satz 2. Hat der Revisionskläger die Revision nicht ausschließlich auf Verfahrensmängel gestützt, ist
das BVerwG nach § 137 Abs. 3 S. 2 an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden. Die
Vorschrift betrifft damit die Revisionen, die entweder ausschließlich oder neben Verfahrensrügen zumindest auch auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt sind. Die Vorschrift ermöglicht eine umfassende Überprüfung des angefochtenen Urteils auf die Einhaltung materiellen Rechts in allen Fällen,
in denen das BVerwG nicht nach S. 1 auf die Prüfung nur der geltend gemachten Verfahrensfehler beschränkt ist.
202 Ist das BVerwG an die erhobenen Rügen nicht gebunden, kann der Revisionskläger die Prüfung nicht
auf bestimmte materielle Mängel beschränken und erreichen, dass das BVerwG nur eine bestimmte, ihn
interessierende Rechtsfrage entscheidet.
203 § 137 Abs. 3 S. 2 stellt das BVerwG nicht in jeder Hinsicht von der Bindung an die geltend gemachten
Revisionsgründe frei. Soweit der Revisionskläger Verfahrensfehler geltend gemacht hat, prüft das
BVerwG nur diese geltend gemachten Verfahrensmängel nach, nicht aber auch andere Verfahrensfehler.
Hat der Revisionskläger keine Verfahrensfehler geltend gemacht, prüft das BVerwG ausschließlich die
Verletzung materiellen Rechts nach. Dass der Revisionskläger die Revision auch auf die Verletzung
materiellen Rechts gestützt hat, hebt die Bindung des BVerwG an die erhobenen Verfahrensrügen nicht
auf. Verfahrensfehler können stets nur dann berücksichtigt werden, wenn sie frist- und formgerecht
geltend gemacht sind (§ 173, § 557 Abs. 3 S. 2 ZPO).120
204 4. Von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmängel. Ohne Bindung an die erhobenen Rügen hat das
Revisionsgericht stets nachzuprüfen, ob die Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind121. Auch bestimmte andere Verfahrensmängel sind stets von Amts wegen zu beachten122. Ohne Rüge zu berücksichtigen
sind solche Verfahrensmängel, die auf das Verfahren in der Revisionsinstanz derart fortwirken, dass ein
auf die Sache eingehendes Revisionsurteil nicht möglich ist. Dazu gehören Mängel, welche die Wirksamkeit123 und Zulässigkeit der angefochtenen Entscheidung betreffen124.
§ 138 [Absolute Revisionsgründe]
Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn
120 BVerwGE 85, 54, 55; BVerwG NVwZ 1998, 628; anders: BVerwG NVwZ-RR 2000, 317; P. Schmidt, in: Eyermann
§ 137 Rn. 32.
121 BVerwGE 3, 208, 211 (Prozessführungsbefugnis); BGH NJW 1982, 578 (Rechtskraft einer anderweitigen Entscheidung über den Streitgegengegenstand); NJW-RR 1986, 157 (Prozessfähigkeit); MDR 2004, 1197 (Parteifähigkeit);
BSGE 42, 212, 215 (Zulässigkeit der Klage); BSG DVBl 1987, 244 (Prozessvollmacht für die Klageerhebung);.
122 BGH NJW 1982, 1757, 1759 (Zulässigkeit eines in der Vorinstanz ergangenen Grundurteils); NJW-RR 1991, 1346
(Missachtung der Bindung an die Anträge der Beteiligten); NJW 1992, 2831, 2833 (Einhaltung der Bindungswirkung
zurückverweisender Urteile); NJW 1993, 3067 (Behandlung eines Nichtbeteiligten als Partei).
123 BVerwG NJW 1997, 2897: von Amts wegen zu berücksichtigen ist, dass die Berufung bereits vor Ergehen der Berufungsentscheidung wirksam zurückgenommen war und die gleichwohl in der Sache ergangene Berufungsentscheidung
deshalb unwirksam war.
124 BVerwGE 71, 73, 74 (mangelnde Zulassung der Berufung); BVerwG NJW 2002, 1137, 1138 (rechtzeitige Begründung
der Berufung als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berufung).
2758
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
1. das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
2. bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war,
3. einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war,
4. ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der
Prozeßführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat,
5. das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind, oder
6. die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.
Schrifttum
1. Monographien und Beiträge in Sammelwerken: Artur May, Die Revision in den zivil- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren
(ZPO, ArbGG, VwGO, SGG, FGO), 2. Aufl., 1997.
2. Beiträge in Zeitschriften: H. Günther, Rechtsbehelfe gegen Einzelrichterübertragung, NVwZ 1998, 37; G. Britz, Das Grundrecht
auf den gesetzlichen Richter in der Rechtsprechung des BVerfG, JA 2001, 573; B. Werner, Ordnungsgemäße Besetzung eines Spruchkörpers bei Vakanz der Vorsitzendenstelle, NJW 2007, 2671.
A. Bedeutung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Zweck der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Rechtsfolge der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Gegenstand der Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Tragweite der Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Weitere Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Anwendungsbereich der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Die absoluten Revisionsgründe im Einzelnen . . . . . .
I. Nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts
(Nr. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Inhalt der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Nicht vorschriftsmäßig besetzt . . . . . . . . .
aa) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Kritik an der Rechtsprechung . . . .
b) Erkennendes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Einzelheiten zur vorschriftsmäßigen Besetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Anforderungen an die berufenen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Berufung der ehrenamtlichen Richter . .
c) Mitwirkung nicht berufener Personen
d) Zusammensetzung des Spruchkörpers
aa) Besetzung des Gerichts . . . . . . . . . . . .
bb) Vorsitzender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Einzelrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dd) Vorübergehend abwesender Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Zuständigkeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . .
f) Geschäftsverteilungspläne . . . . . . . . . . . . . .
aa) Erfordernis eines Geschäftsverteilungsplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Inhaltliche Anforderungen an
Geschäftsverteilungspläne . . . . . . . .
cc) Heranziehung der ehrenamtlichen
Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dd) Abweichung von Geschäftsverteilungsplänen im Einzelfall . . . . . . . . .
ee) Verhinderungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . .
g) Befangenheit eines Richters . . . . . . . . . . . .
h) Verletzung von Vorlagepflichten . . . . . . .
3. Anforderungen an die Darlegung . . . . . . . . . .
II. Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder mit
Erfolg abgelehnten Richters (Nr. 2) . . . . . . . . . . . . .
1. Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Vorliegen eines gesetzlichen Ausschließungsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1
2
4
6
10
14
17
17
18
18
19
21
26
30
30
33
36
37
37
40
43
53
55
56
58
60
69
71
73
80
81
86
88
89
90
93
c) Fehlerhafte Annahme eines gesetzlichen
Ausschließungsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Mitwirkung eines erfolgreich abgelehnten
Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Erfolgreiches Ablehnungsgesuch . . . . . . .
b) Nachträgliche positive Bescheidung des
Ablehnungsgesuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Nachträgliches Ablehnungsgesuch . . . . .
d) Erfolgloses Ablehnungsgesuch . . . . . . . . .
III. Verletzung rechtlichen Gehörs (Nr. 3) . . . . . . . . . .
1. Inhalt der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Einfachrechtliche Ausprägungen des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Bestätigung des Urteils aus anderen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Äußerungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Äußerungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Einführung von Entscheidungsgrundlagen in den Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Hinweispflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Ladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Aufruf der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Eröffnung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
dd) Vertagung der mündlichen Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ee) Erörterung in der Verhandlung . . .
ff) Verhandlung in Abwesenheit eines
Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
gg) Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung durch Beschluss
nach § 130 a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
hh) Verwerfung der Berufung ohne
mündliche Verhandlung nach
§ 125 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ii) Entscheidung im Normenkontrollverfahren ohne mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
jj) Urteil ohne mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
f) Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
g) Prozesspfleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
h) Terminsverlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
i) Verspätete Entscheidungsfindung . . . . . .
j) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Neumann
94
96
97
98
100
101
103
104
113
115
130
132
132
136
140
146
150
151
154
155
158
161
162
164
168
169
170
172
173
174
176
180
2759
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
IV. Mangelnde Vertretung nach Vorschrift des
Gesetzes (Nr. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
1. Schutzbereich der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
2. Anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
a) Mangelnde oder eingeschränkte Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
b) Handeln eines nicht berechtigten Vertretungsorgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
c) Mangelnde Beteiligungsfähigkeit . . . . . . . 189
d) Verlust der Prozessführungsbefugnis . . . 190
e) Parteiwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
f) Vollmachtlose Vertretung . . . . . . . . . . . . . . 192
g) Mangelnde Postulationsfähigkeit . . . . . . 193
h) Beigeordneter Rechtsanwalt . . . . . . . . . . . .193a
i) Öffentliche Zustellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
3. Abgrenzung zur Verletzung rechtlichen
Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
4. Heilung des Mangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
V. Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (Nr. 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
2.
Verstöße gegen die Öffentlichkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Tatsächlicher Ausschluss der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Anordnung des Ausschlusses der
Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Darlegungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Fehlen der Entscheidungsgründe (Nr. 6) . . . . . . . .
1. Formelle Mängel der Begründung . . . . . . . . .
a) Abgrenzung gegen inhaltlich unzureichende Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Textbausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Verspätete Absetzung der Entscheidung . . .
a) Beurkundungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verspätete Absetzung verkündeter
Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Verspätete Absetzung an Verkündungs
statt zugestellter Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Verspätete Absetzung von Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung . . . . . .
202
203
210
215
217
219
222
226
230
232
233
235
244
249
A. Bedeutung der Vorschrift
I. Zweck der Norm
1 Der Gesetzgeber hat in § 138 Verstöße gegen zentrale Verfahrensgarantien aufgegriffen und sanktioniert, um sie gegen Verletzungen besonders zu schützen. Eine Verletzung dieser Verfahrensgarantien soll
wegen ihrer zentralen Bedeutung stets zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen, auch wenn
sich im Einzelfall ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf das Ergebnis nicht (eindeutig) erweisen lässt. Ein
solcher Nachweis wäre bei Verstößen etwa gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens
regelmäßig nur schwer zu führen. Weil die Verletzung dieser Verfahrensgarantien stets die Aufhebung
des angefochtenen Urteils nach sich zieht, werden die in § 138 aufgeführten Verfahrensmängel als absolute Revisionsgründe bezeichnet.
II. Rechtsfolge der Norm
2 Liegt einer der Verfahrensmängel vor, die in § 138 aufgezählt sind, ist das Urteil stets als auf einer
Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen. Die Vorschrift normiert damit eine Vermutung
(“ist...anzusehen”), die nicht widerlegt werden kann (“stets”).
3 Die absoluten Revisionsgründe sind in § 138 abschließend aufgezählt. Für alle anderen Rechtsverletzungen ist im Einzelfall zu prüfen, ob das angefochtene Urteil auf ihnen beruht (BVerwGE 110, 40, 48).
4 1. Gegenstand der Vermutung. Gegenstand der Vermutung ist zweierlei: Zum einen wird die Kausalität
zwischen dem Verfahrensfehler und der getroffenen Entscheidung vermutet (“beruht”). Es entfällt die
nach § 137 Abs. 1 sonst erforderliche Prüfung, ob das angefochtene Urteil auf der festgestellten Gesetzesverletzung beruht. Vermutet wird aber nur die Ursächlichkeit der Rechtsverletzung für das angefochtene Urteil. Soweit der Verfahrensverstoß seinerseits, um überhaupt vorzuliegen, die Feststellung
kausaler Zusammenhänge erfordert, wird diese Feststellung durch § 138 nicht erleichtert. Die Vorschrift
setzt das Vorliegen eines der dort genannten Verfahrensmängel voraus, erleichtert aber nicht deren Feststellung (P. Schmidt, in: Eyermann § 138 Rn. 4). Zum anderen wird vermutet, dass die bezeichneten
Verfahrensverstöße Bundesrecht verletzen. Ein absoluter Revisionsgrund ist mithin auch dann gegeben,
wenn sich der Verfahrensverstoß unmittelbar aus Vorschriften ergibt, die nicht dem revisiblen Recht
angehören. Das ist von Bedeutung etwa bei einem Verstoß gegen Vorschriften, welche die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts bestimmen, etwa bei Verstößen gegen das AGVwGO des Landes oder
gegen den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts.1
5 Mit Urteil ist in § 138 das mit der Revision angefochtene Urteil gemeint. Der Verfahrensverstoß muss
der Instanz unterlaufen sein, die das angefochtene Urteil erlassen hat.2 Richtet sich die Revision gegen
1 Kopp/Schenke § 138 Rn. 1; H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 138 Rn. 1; P. Schmidt, in: Eyermann § 138 Rn. 3.
2 BVerwG Beschl. v. 15.10.1980 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 29; P. Schmidt, in: Eyermann § 138 Rn. 5.
2760
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
ein Berufungsurteil des OVG können Verstöße ausnahmsweise erheblich sein, die dem VG im erstinstanzlichen Verfahren unterlaufen sind, nämlich dann, wenn das OVG ohne eigene sachliche Nachprüfung ein Ergebnis übernommen hat, das mit dem Fehler behaftet ist3.
2. Tragweite der Vermutung. § 138 erfasst Verfahrensverstöße, die nach der maßgeblichen Wertung
des Gesetzgebers so schwer wiegen, dass ein auf ihnen beruhendes Urteil insgesamt keine tragfähige
Grundlage für eine Entscheidung in der Sache bietet. Sie erfassen regelmäßig die Urteilsgrundlage insgesamt (BVerwG NVwZ-RR 2000, 317).
Das angefochtene Urteil beruht zwar nicht auf einer Rechtsverletzung, wenn es auf mehrere Gründe
gestützt ist, die das Urteil jeweils selbständig tragen, und von diesen zumindest einer nicht von der
festgestellten Rechtsverletzung berührt wird. Die Vermutung des § 138 erstreckt sich aber regelmäßig
auf alle einem Urteil beigegebenen Gründe. Ausnahmen sind denkbar. Die Vorinstanz kann etwa nur
einen der mehreren selbständig tragenden Gründe unter Verletzung des rechtlichen Gehörs gewonnen
haben. Das Urteil beruht nicht auf dieser Verletzung, wenn ein anderer ebenfalls selbständig tragender
Grund von diesem Fehler nicht erfasst wird4. Dasselbe gilt, wenn die Vorinstanz ihr Urteil auf mehrere
selbständig tragende Gründe gestützt hat, von denen nur einer nicht den formalen Anforderungen an
Entscheidungsgründe i.S.d. § 138 Nr. 6 genügt (BVerwG Beschl. v. 25.2.2000 Buchholz 402.240 § 53
AuslG Nr. 31).
Die Revision ist nach § 144 Abs. 4 zurückzuweisen, wenn das angefochtene Urteil revisibles Recht verletzt, sich aber aus anderen Gründen als richtig darstellt. Diese Möglichkeit besteht regelmäßig nicht,
wenn ein Verfahrensmangel nach § 138 vorliegt (BVerwGE 102, 7, 12). Das folgt zwar nicht aus der
Ausgestaltung dieser Verfahrensmängel als absolute Revisionsgründe. Denn dies bedeutet nur, dass bei
ihnen unwiderleglich vermutet wird, das angefochtene Urteil beruhe auf der Rechtsverletzung. Ein solches Beruhen ist aber in § 144 Abs. 4 für jede Rechtsverletzung vorausgesetzt und vermag die Anwendbarkeit der Vorschrift nicht auszuschließen. Eine Zurückweisung der Revision aus den anderen Gründen
scheidet aber bei absoluten Revisionsgründen regelmäßig deshalb aus, weil eine solche Zurückweisung
nur auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen in Betracht kommt, die in dem angefochtenen
Urteil getroffen sind. Von sämtlichen dort getroffenen Feststellungen ist aber zu vermuten, dass sie auf
einem Verfahrensfehler beruhen.
Daraus ergibt sich zugleich, dass bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes die Revision ausnahmsweise nach § 144 Abs. 4 zurückgewiesen werden kann, wenn der Verfahrensfehler nicht die Urteilsgrundlage insgesamt erfasst, sondern nur einzelne Feststellungen5. Die fehlerhafte Feststellung muss
hinweggedacht werden können, ohne dass die Richtigkeit der Entscheidung i.E. in Frage gestellt wird;
die fehlerhafte Feststellung darf sich auch nicht mittelbar auf die übrigen Feststellungen der Vorinstanz
ausgewirkt haben. Das ist wohl nur bei der Versagung des rechtlichen Gehörs denkbar, wenn der Beteiligte nur zu einzelnen Punkten nicht gehört worden ist. Das angefochtene Urteil kann i.E. aus Gründen
richtig sein, zu denen der gerügte Verfahrensmangel keinen Bezug hat und auf die er sich nicht ausgewirkt
haben kann6.
6
7
8
9
3. Weitere Folgerungen. Auf einen absoluten Revisionsgrund kann sich nur der Beteiligte berufen, dem 10
gegenüber fehlerhaft verfahren worden ist (BVerwG NJW 1983, 2155; BVerwGE 116, 296, 306). Die
Absolutheit des Revisionsgrundes erweitert nicht den Schutzbereich der jeweiligen Verfahrensvorschrift.
Absolute Revisionsgründe müssen geltend gemacht werden. Sie sind wie Verfahrensfehler auch sonst 11
nicht von Amts wegen, sondern nur auf Rüge zu berücksichtigen.7
Auch wenn ein Verfahrensmangel einen absoluten Revisionsgrund darstellt, kann er nicht geltend ge- 12
macht werden, wenn der Revisionskläger in der Vorinstanz auf die Einhaltung der verletzten Vorschrift
verzichtet oder sich in Kenntnis des Verfahrensverstoßes rügelos in eine Verhandlung eingelassen hat
3 Kopp/Schenke § 138 Rn. 3; vgl. auch BVerwG Beschl. v. 22.11.2007 – 9 B 52.07.
4 BVerwG GewArch 1995, 114; einschränkend aber bei unterschiedlicher Rechtskraftwirkung der verschiedenen Gründe:
BVerwG NJW 2003, 2255.
5 I.E. ähnlich M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 10 ff.
6 BVerwGE 62, 6, 10; BVerwG NVwZ 1994, 1095; BVerwGE 109, 283, 285.
7 M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 30; Kopp/Schenke § 138 Rn. 2; P. Schmidt, in: Eyermann
§ 138 Rn. 6; einschränkend, aber mit wenig einleuchtender Begründung BGH NJW 2003, 1254, 1255 für bestimmte
Besetzungsrügen.
Neumann
2761
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
(§ 173, § 295 Abs. 1 ZPO)8. Jedoch werden absoluten Revisionsgründen häufig Verstöße gegen solche
Vorschriften zugrunde liegen, auf deren Einhaltung der Beteiligte nicht verzichten kann (§ 173, § 295
Abs. 2 ZPO). Verzichtbar ist stets der Anspruch auf rechtliches Gehör.
13 Wie auch sonst bei Verfahrensfehlern kann bei absoluten Revisionsgründen der Mangel im Revisionsverfahren geheilt werden, wenn der Zweck der verletzten Verfahrensvorschrift noch dadurch erreicht
werden kann, dass die unterbliebene Verfahrenshandlung vor dem Revisionsgericht nachgeholt wird.
Dies kommt etwa dann in Betracht, wenn dem Beteiligten in der Vorinstanz die Stellungnahme zu
Rechtsfragen verwehrt war (BVerwG NVwZ 2003, 224, 225) oder wenn der nicht nach Vorschrift des
Gesetzes vertretene Beteiligte die Prozessführung im Revisionsverfahren genehmigt.
III. Anwendungsbereich der Norm
14 § 138 gilt zwar unmittelbar für das Revisionsverfahren, also für die zugelassene Revision, wirkt aber
schon auf die Zulassung der Revision vor. Die absoluten Revisionsgründe sind zugleich Verfahrensmängel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3. Ein Verfahrensmangel rechtfertigt die Zulassung der Revision nur,
wenn die angefochtene Entscheidung auf ihm beruhen kann. Diese Voraussetzung ist nicht mehr eigens
zu prüfen, wenn absolute Revisionsgründe als Verfahrensfehler geltend gemacht werden9.
15 § 138 ist bei der Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 entsprechend anzuwenden (vgl. § 124
Rn. 221). Auch hierfür ist vorausgesetzt, dass die Entscheidung des VG auf dem geltend gemachten
Verfahrensfehler beruhen kann. Bei absoluten Revisionsgründen ist der Einfluss des Verfahrensfehlers
auf die Entscheidung unwiderlegbar zu vermuten.
16 In Streitigkeiten nach dem AsylVfG kommt eine Zulassung der Berufung abweichend von § 124 Abs. 2
Nr. 5 nicht wegen jeden Verfahrensmangels in Betracht, sondern nur wegen eines Verfahrensfehlers i.S.d.
§ 138 (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG). Z.T. wird die Auffassung vertreten, § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG beschränke nur gegenständlich die möglichen Verfahrensfehler, die zur Zulassung der Berufung führen
könnten, auf die in § 138 genannten Verfahrensmängel. Die Kausalitätsvermutung des § 138 soll hingegen nicht gelten10. Diese Auffassung trifft nicht zu. Im Wortlaut des § 78 Abs. 3 AsylVfG fehlt die bei
der Zulassung der Berufung oder der Revision normierte Voraussetzung, dass das angefochtene Urteil
auf dem Verfahrensmangel beruhen kann oder beruht (§§ 124 Abs. 2 Nr. 5, 132 Abs. 2 Nr. 3). Diese
Voraussetzung aufzuführen war entbehrlich, weil der Gesetzgeber § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG als Tatbestands- und Rechtsfolgenverweisung verstanden hat, die Kausalität der dort aufgeführten Verfahrensfehler für die getroffene Sachentscheidung also unwiderleglich vermutet wird.
B. Die absoluten Revisionsgründe im Einzelnen
I. Nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts (Nr. 1)
17 Ein absoluter Revisionsgrund liegt vor, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt
war. Die Regelung sichert die Vorschriften ab, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen. Sie
sichert einer Revision gegen jede Form und Art einer möglichen Manipulierung der Richterbank den
Erfolg. Damit verhindert sie zugleich vorbeugend solche Manipulationen (Kopp/Schenke § 138 Rn. 4).
18 1. Inhalt der Norm. a) Nicht vorschriftsmäßig besetzt. § 138 Nr. 1 stellt darauf ab, dass das erkennende
Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Von diesem Wortlaut ausgehend liegt ein absoluter Revisionsgrund stets vor, wenn eine Vorschrift verletzt ist, die im konkreten Fall die Besetzung der Richterbank
bestimmt. Die Vorschrift verlangt nach ihrem Wortlaut hingegen nicht, dass der Revisionskläger seinem
gesetzlichen Richter entzogen wurde. Käme es hierauf an, wäre ihr Anwendungsbereich enger. Nicht
jeder Verstoß gegen eine Vorschrift, welche die Besetzung des Gerichts bestimmt, verletzt zugleich die
Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Deren Schutzbereich ist enger. Die Garantie des gesetzlichen Richters soll nicht vor beliebigen Verletzungen von Verfahrensbestimmungen schützen. Sie
will nur die missbräuchliche Manipulation der Zuständigkeit verhindern. Eine nur irrtümliche Über8 BVerwG Beschl. v. 30.11.2004 – 10 B 64.04: Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit der mündlichen
Verhandlung (§ 138 Nr. 5).
9 Anders die st. Rspr. für die Rechtslage vor dem 4.VwGOÄndG: BVerwG NVwZ 1991, 671. Sie ist durch das 4. VwGOÄndG überholt: BVerwG NVwZ-RR 1996, 299, 300.
10 Zum Streitstand vgl. R. Marx, in: AsylVfG, § 78 Rn. 263 ff. und Rn. 392 ff.
2762
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
schreitung der Kompetenzen und eine schlicht fehlerhafte Anwendung des Prozessrechts verstößt nicht
zugleich gegen das Verfassungsgebot des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.
aa) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Das BVerwG legt § 138 Nr. 1 einschränkend aus. 19
Die Vorschrift sichert danach einfachrechtlich den verfassungsrechtlich garantierten Richter ab. Sind
Vorschriften verletzt, aus denen sich im konkreten Fall die richtige Besetzung des Gerichts ergibt, soll
dies den absoluten Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 nur dann erfüllen, wenn zugleich der Anspruch auf
den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt ist.11 Diese Einschränkung hat das
BVerwG insbes. auf Verstöße gegen die Regelungen in Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte angewandt12. In weiteren Entscheidungen hat es die Einschränkung auf alle Vorgänge erstreckt, die für die
konkrete Besetzung der Richterbank maßgebend waren13.
Das BVerwG nimmt eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter dabei erst dann an, 20
wenn das Gericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen hat, also aufgrund einer Auslegung oder
Anwendung der einschlägigen Normen, die durch sachliche Erwägungen nicht mehr gerechtfertigt
ist14. Für die Fehlerhaftigkeit des Vorgangs, der als Verfahrensmangel gerügt wird, müssen willkürliche
oder manipulative Erwägungen bestimmend gewesen sein15.
bb) Kritik an der Rechtsprechung. § 138 Nr. 1 lässt sich nicht entnehmen, dass ein absoluter Revisionsgrund nur in den Fällen vorliegen soll, in denen ein Verfahrenverstoß zugleich die Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. Das BVerwG greift auf Rspr. des
BVerfG zurück16, die auf ein anderes Problem reagiert, das sich im Revisionsverfahren nicht stellt. Wird
mit einer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gerügt,
steht das BVerfG regelmäßig vor dem Problem, dass die richtige Richterbank und damit der gesetzliche
Richter sich erst aus der Anwendung einfachrechtlicher Vorschriften ergeben. Deren Auslegung und
Anwendung obliegt zuvörderst den Fachgerichten. Das BVerfG nimmt sie hin, solange sie nicht eine
grundsätzliche Verkennung von Bedeutung und Tragweite der jeweils in Rede stehenden Verfassungsbestimmung verrät (BVerfGE 82, 286, 299; BVerfG NVwZ-RR 2008, 289, 290). Dem BVerwG obliegt
als Revisionsgericht aber gerade die (umfassende) Prüfung, ob die Vorinstanz (auch) das einfache (revisible) Recht zutreffend angewandt hat. Die für den Verfassungsprozess notwendigen Einschränkungen
können deshalb nicht auf die Anwendung des § 138 Nr. 1 übertragen werden (BGH JZ 1993, 733, 736).
Dennoch ist es gerechtfertigt, den Anwendungsbereich des § 138 Nr. 1 zu begrenzen. Das Urteil der
Vorinstanz soll nicht wegen jeden Fehlers bei der Anwendung prozessualer Bestimmungen aufgehoben
werden müssen, die im Einzelfall die Richterbank bestimmen.
Sinnvoll ist eine solche Einschränkung, wenn eine Vorschrift verletzt ist, die nicht unmittelbar die Besetzung des Gerichts regelt, deren Anwendung sich aber mittelbar auf die Besetzung des Gerichts auswirkt. Dazu gehören insbes. Vorschriften, deren eigentlicher Schutzbereich nicht die Wahrung des gesetzlichen Richters ist, bspw. Vorschriften, welche die Vorlage der Sache an ein anderes Gericht zur
Klärung einer bestimmten Rechtsfrage vorsehen. Schutzbereich dieser Vorschriften ist die Einheitlichkeit
der Rechtsordnung.
Soweit Normen unmittelbar die Besetzung des Gerichts regeln, hat das BVerwG ihre Einhaltung uneingeschränkt nachzuprüfen. Aus ihnen ergibt sich ohne Weiteres die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts. Ihre Verletzung erfüllt deshalb ohne zusätzliche Erfordernisse den absoluten Revisionsgrund des
§ 138 Nr. 1.
11 BVerwG Beschl. v. 8.11.1982 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 38; NVwZ 1988, 724, 725; Beschl. v. 14.3.1989 Buchholz
310 § 133 VwGO Nr. 88; Beschl. v. 13.6.1991 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 28; Beschl. v. 31.10.1994 Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 51; DVBl 1997, 1235, 1236; BVerwGE 104, 170, 172; BVerwG NVwZ 2000, 260; NVwZRR 2002, 150, 151; Beschl. v. 6.7.2007 – 8 PKH 2.07.
12 BVerwG NJW 1991, 1370; Beschl. v. 21.12.1994 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 32.
13 BVerwG Beschl. v. 13.6.1991 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 28; Beschl. v. 31.10.1994 Buchholz 310 § 54
VwGO Nr. 51.
14 BVerwG Urt. v. 18.10.1990 Buchholz 300 § 21 e GVG Nr. 19; Beschl. v. 21.12.1994 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO
Nr. 32.
15 BVerwG Beschl. v. 14.1.1986 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 62; Beschl. v. 14.3.1989 Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 88; Beschl. v. 13.6.1991 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 28; NVwZ-RR 2002, 150, 151.
16 So ausdrückl. BVerwG Beschl. v. 13.6.1991 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 28; DVBl 1997, 1235, 1236.
Neumann
2763
21
22
23
24
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
25 In welcher Besetzung das Gericht zu entscheiden hat, kann allerdings von prozessualen Zwischenentscheidungen abhängen. Bsp. hierfür sind die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gem.
§ 6 oder die Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch. Sind derartige Zwischenentscheidungen inhaltlich unrichtig ergangen, ist das Gericht an sich nicht vorschriftsmäßig besetzt. Jedoch unterliegen
unanfechtbare Zwischenentscheidungen nach § 173, § 557 Abs. 2 ZPO nicht der Beurteilung des Revisionsgerichts. Dazu gehören etwa die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter (§ 6 Abs. 4)
und die Beschlüsse zu Ablehnungsgesuchen (§ 146 Abs. 2). Demgemäß kann die unzutreffende Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter (BVerwG NVwZ-RR 2000, 257, 258; NVwZ-RR 2002,
150, 151), die unrichtige Bescheidung eines Ablehnungsgesuchs nicht mehr als Verfahrensfehler gerügt
werden (BVerwGE 104, 170, 172; BVerwG NVwZ-RR 2000, 260). Jedoch ist § 557 Abs. 2 ZPO dahin
einzuschränken, dass trotz Unanfechtbarkeit der Zwischenentscheidung das Revisionsgericht überprüfen kann, ob wegen deren Fehlerhaftigkeit die anfechtbare Endentscheidung gegen eine verfassungsrechtliche Verfahrensgarantie verstößt, etwa den Anspruch auf den gesetzlichen Richter17. Ist eine unanfechtbare und deshalb revisionsgerichtlicher Prüfung an sich entzogene Zwischenentscheidung für die
Besetzung des Gerichts maßgeblich, ist der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 dann, aber auch
nur dann erfüllt, wenn durch diese Zwischenentscheidung die Verfassungsgarantie des gesetzlichen
Richters verletzt wird (ähnlich BGH NJW 2003, 1254, 1256).
26 b) Erkennendes Gericht. Ein absoluter Revisionsgrund liegt nur vor, wenn das erkennende Gericht nicht
vorschriftsmäßig besetzt war. Erkennendes Gericht ist die Richterbank, die aufgrund der mündlichen
Verhandlung das angefochtene Urteil gefällt hat18. Erkennendes Gericht ist hingegen nicht die Richterbank, die das Urteil verkündet19.
27 Maßgeblich ist die mündliche Verhandlung, auf die das Urteil ergeht. Erkennendes Gericht ist nicht die
Richterbank, die in einem Abschnitt des Verfahrens tätig geworden ist, welcher der mündlichen Verhandlung vorausgegangen ist. Fehler bei der Besetzung der Richterbank in einem Erörterungstermin
(BVerwG Beschl. v. 29.4.1982 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 21) oder in einem bloßen Beweistermin (BVerwGE 41, 174, 176; BVerwG NVwZ 1998, 1066) begründen deshalb nicht den absoluten Revisionsgrund des § 138 Nr. 1. Dasselbe gilt für Besetzungsfehler bei vorausgegangenen Zwischenentscheidungen. Aus demselben Grund sind unerheblich Fehler bei der Besetzung der Richterbank
in einer früheren mündlichen Verhandlung, wenn das Urteil aufgrund einer weiteren, nicht lediglich
fortgesetzten mündlichen Verhandlung ergeht (BVerwG BayVBl 1972, 109). War das Gericht in einem
vorausgegangenen Erörterungstermin, in einem Beweistermin oder bei früheren mündlichen Verhandlungen fehlerhaft besetzt, stellt dies nur einen Verstoß gegen prozessrechtliche Vorschriften dar, auf
deren Befolgung die Beteiligten verzichten können (BVerwGE 41, 174, 176; BVerwG NJW 2001, 1878).
Der Beteiligte muss den vermeintlichen Mangel deshalb rechtzeitig in der darauf folgenden mündlichen
Verhandlung rügen. Unterlässt er dies, ist ein etwaiger Verfahrensmangel gem. § 173, § 295 Abs. 1 ZPO
geheilt20.
28 Entscheidet das Gericht ohne mündliche Verhandlung, sei es aufgrund eines Verzichts der Beteiligten
durch Urteil, sei es nach § 130 a durch Beschluss oder nach § 84 durch Gerichtsbescheid, ist erkennendes
Gericht die Richterbank, welche die Endentscheidung fällt.
29 Hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden und haben die Beteiligten auf eine weitere mündliche
Verhandlung verzichtet, ergeht das Urteil nicht aufgrund der mündlichen Verhandlung, sondern als
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Bei dieser Entscheidung ist das Gericht nicht deshalb vorschriftswidrig besetzt, wenn an ihr nicht dieselben Richter mitgewirkt haben wie an der vorausgegangenen mündlichen Verhandlung (BVerwG NVwZ 1985, 562; NVwZ 1990, 58; BFH BFH/NV 2007,
478). Für die vorschriftsmäßige Besetzung ist unerheblich, ob in der Entscheidung Umstände verwertet
werden, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, ohne sich in den Akten, insbes. in der
17 BVerwG Beschl. v. 21.12.2004 Buchholz § 54 VwGO Nr. 65; NVwZ 2006, 936; Beschl. v. 26.2.2008 – 4 BN 51.07;
vgl. im Einzelnen § 137 Rn. 9 ff.
18 BVerwGE 41, 174, 176; BVerwG Beschl. v. 15.2.1980 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26; Urt. v. 29.4.1982 Buchholz
310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 21; Beschl. v. 12.3.1990 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 93.
19 Dasselbe gilt für die Richterbank bei einem Beschluss, durch den ein Verkündungstermin aufgehoben wird: BVerwG
Beschl. v. 15.2.1980 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26.
20 BVerwGE 41, 174, 176 f.; BVerwG NJW 2001, 1878.
2764
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Niederschrift über die mündliche Verhandlung, niederzuschlagen.21 In der Verwertung solcher Umstände kann unter Umständen ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 S. 1 oder gegen § 86 Abs. 1 liegen. Ebenso
wenig liegt eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts vor, wenn bei mehreren auf einander
folgenden mündlichen Verhandlungen das Gericht unterschiedlich besetzt war (BVerwG NJW 1986,
3154, 3155).
2. Einzelheiten zur vorschriftsmäßigen Besetzung. a) Anforderungen an die berufenen Richter. Den 30
Vorschriften gem. besetzt ist das Gericht nur, wenn an der Entscheidung ausschließlich Personen mitgewirkt haben, die wirksam zu Richtern berufen sind22. Nicht den Vorschriften gem. besetzt ist das
Gericht deshalb, wenn ein Richter mitgewirkt hat, der nach den Vorschriften des Deutschen Richtergesetzes nicht zum Richteramt befähigt ist oder nicht wirksam zum Richter berufen ist.23 Für die wirksame
Berufung reicht bei einem Berufsrichter aus, dass er durch die Aushändigung einer entsprechenden Urkunde ernannt ist. Grds. unerheblich sind Mängel des Auswahlverfahrens, etwa eine fehlerhafte Besetzung des Richterwahlausschusses, der an der Berufung des Richters mitgewirkt hat. Derartige Mängel
führen nur dann zu einem Entzug des gesetzlichen Richters, wenn sie die Zusammensetzung der Richterbank im Einzelfall als manipuliert erscheinen lassen können oder wenn wegen der fehlerhaften Besetzung des Richterwahlausschusses von einer Wahl im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden kann
(BGH NJW 2005, 2317).
Anforderungen an die berufenen Richter und damit an die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts 31
stellen ferner Art. 92, 97 GG. Nach Art. 97 Abs. 2, 92 GG müssen Berufsrichter grds. hauptamtlich und
endgültig angestellt sein. Richter, denen diese Garantien ihrer persönlichen Unabhängigkeit fehlen, dürfen nur aus zwingenden Gründen herangezogen werden. Ihre Zahl ist auf das unumgänglich erforderliche Maß zu beschränken. Haben bei einer Entscheidung ohne sachliche Notwendigkeit nicht hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellte Richter mitgewirkt, verletzt die Entscheidung das Recht
der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter. Ob dieses Gebot im Einzelfall fehlerhaft gehandhabt worden
ist, prüft das Revisionsgericht voll nach; es beschränkt sich nicht auf die Prüfung, ob Willkür oder die
Absicht einer Manipulation vorliegt (BVerwGE 102, 7; BGHZ 130, 304).
Die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts verlangt, dass der Richter die zur Ausübung des Richter- 32
amtes erforderliche Verhandlungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit besitzt, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen. Blindheit oder Taubheit eines Richters
führen aber nur ausnahmsweise dazu, dass das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist. Ohne die
Fähigkeit zu sehen oder zu hören darf eine sachgerechte Beurteilung der Streitsache nicht möglich sein
(BVerwGE 65, 240). Das BVerfG ordnet demgegenüber Mängel in der physischen oder psychischen
Konstitution des Richters, wie Blindheit, Taubheit, Schwerhörigkeit, Krankheit oder Übermüdung, nicht
dem Schutzbereich des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter zu. Derartige Mängel könnten im Einzelfall zu Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör oder auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren
führen (BVerfG NJW 1992, 2075).
b) Berufung der ehrenamtlichen Richter. Das erkennende Gericht war nicht den Vorschriften gem. be- 33
setzt, wenn an der Entscheidung ehrenamtliche Richter mitgewirkt haben, die nach den §§ 21, 22 vom
Amt des ehrenamtlichen Richters ausgeschlossen sind oder in dieses Amt nicht berufen werden können.
Fehler bei der Wahl eines ehrenamtlichen Richters führen hingegen nicht zwingend dazu, dass das Ge- 34
richt nicht vorschriftsmäßig besetzt ist (ausf. § 29 Rn. 10). Sie berühren den Schutzbereich des Anspruchs
auf den gesetzlichen Richter zum einen dann, wenn sie so schwer wiegen, dass wegen des Fehlers von
einer Wahl im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden kann24. Wird die Wahl bei weniger schwerwiegenden Mängeln auf die Anfechtung eines Berechtigten hin aufgehoben, ist damit das Gericht nicht
nachträglich in allen Fällen als nicht vorschriftsmäßig besetzt anzusehen, in denen die betroffenen ehrenamtlichen Richter an der Entscheidung mitgewirkt haben (BVerwG Beschl. v. 21.8.1986 Buchholz
310 § 28 VwGO Nr. 2). Fehler bei der Wahl ehrenamtlicher Richter berühren den Schutzbereich des
21 So BVerwG NVwZ 1990, 58, gegen abweichende ältere Rspr., bspw. BVerwG NVwZ 1985, 562.
22 Zur fehlenden Vereidigung vgl. BVerwG NVwZ 2005, 231; BGH NJW 2003, 2545; zu Verfahrensmängeln bei der
Richterwahl (vorschriftswidrige Besetzung eines Richterwahlausschusses) vgl. BGH NJW 2004, 3784.
23 Vgl. Kopp/Schenke § 138 Rn. 6; H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 138 Rn. 2.
24 BVerwG Beschl. v. 21.8.1986 Buchholz 310 § 28 VwGO Nr. 2; NJW 1988, 219; NVwZ 1988, 724, 725; BFHE 168,
508; HFR 2001, 473, 474.
Neumann
2765
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
Anspruchs auf den gesetzlichen Richter zum anderen dann, wenn sie eine Manipulation der Entscheidungszuständigkeit im Einzelfall befürchten lassen25.
35 Lehnt ein gewählter ehrenamtlicher Richter seine Berufung in das Amt ab (§ 23), ist er solange zu einer
Mitwirkung verpflichtet, als über seinen Antrag nicht entschieden ist. Wird an seiner Stelle ein anderer
ehrenamtlicher Richter herangezogen, ist das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt
(BVerwG NJW 1963, 1219).
36 c) Mitwirkung nicht berufener Personen. Das erkennende Gericht war nicht vorschriftsmäßig besetzt,
wenn an der Entscheidung hierzu nicht berufene Personen mitgewirkt haben. Das ist der Fall, wenn über
die zur Entscheidung berufenen Richter hinaus bei der Beratung Personen anwesend waren, die hierzu
nicht nach § 193 GVG befugt sind26.
37 d) Zusammensetzung des Spruchkörpers. aa) Besetzung des Gerichts. Das Gericht muss in der Besetzung entscheiden, die sich aus den gerichtsverfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt (für das VG: §§ 5, 6;
für das OVG: § 9 i.V.m. dem AGVwGO des Landes; für das BVerwG: § 10). Dabei kann sich je nach
Verfahrensart und Entscheidungsform die Besetzung des Gerichts ändern.
38 Entscheidet das OVG nach § 130 a über die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss,
wirkt sich dies auf die Besetzung des Gerichts in den Ländern aus, die gem. § 9 Abs. 3 bei Entscheidungen
aufgrund mündlicher Verhandlung eine andere Besetzung, insbes. die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter, vorsehen als bei Entscheidungen außerhalb einer mündlichen Verhandlung (vgl. etwa § 10 Abs. 1
AGVwGO NRW). Wendet das OVG das Beschlussverfahren nach § 130 a verfahrensfehlerhaft an, kann
dann darin zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter liegen (offen gelassen
von BVerwGE 111, 69, 73).
39 Wird das OVG aufgrund bindender Verweisung als erstinstanzliches Gericht mit einer Streitsache befasst, hat es in der Besetzung zu entscheiden, die für erstinstanzliche Entscheidungen des OVG nach
§ 9 Abs. 3 S. 2 i.V.m. dem jeweiligen Ausführungsgesetz des Landes vorgesehen ist. Das gilt auch dann,
wenn das OVG die Verweisung für unrichtig hält (BVerwGE 85, 54, 55).
40 bb) Vorsitzender. Der jeweilige Spruchkörper muss einen ständigen Vorsitzenden haben (§ 4, § 21 f
Abs. 1 GVG). Von Vertretungsfällen abgesehen kann Vorsitzender eines Spruchkörpers nur ein Vorsitzender Richter im statusrechtlichen Sinne sein. Bestimmt der Geschäftsverteilungsplan zum Vorsitzenden
einen Richter, der nicht Vorsitzender Richter im statusrechtlichen Sinne ist, ist der Spruchkörper nicht
vorschriftsmäßig besetzt (BVerwGE 106, 345, 346).
41 Der Vorsitzende muss bei jeder Entscheidung des Spruchkörpers den Vorsitz führen. Eine Vertretung
greift nur bei seiner Verhinderung ein. Verhinderung ist lediglich die vorübergehende tatsächliche oder
rechtliche Unmöglichkeit des Vorsitzenden, seine Aufgaben selbst wahrzunehmen. Eine ständige Verhinderung schüfe einen "vorsitzlosen" und deshalb gesetzwidrigen Dauerzustand. Ein Verhinderungsfall
ist vor allem gegeben, wenn der Vorsitzende durch Urlaub, Krankheit27, eine anderweitige dienstliche
Tätigkeit oder durch einen übermäßigen Geschäftsanfall zeitweilig an der Wahrnehmung der Geschäfte
als Vorsitzender gehindert ist (BVerwG NJW 2001, 3493).
42 Als Verhinderung wird auch eine Vakanz im Vorsitz angesehen, die durch Eintritt oder Versetzung in
den Ruhestand, durch Abordnung, durch Versetzung oder durch Tod entsteht. In diesem Fall soll der
zukünftige Vorsitzende verhindert sein. In Wirklichkeit handelt es sich bei einer Vakanz aber um eine
dauerhafte Verhinderung des Vorsitzenden. Dieser Zustand ist an sich gesetzwidrig. Wenn überhaupt,
kann er allenfalls bis zu einer Wiederbesetzung der Stelle nur für eine kurze Übergangszeit28 hingenommen werden29. Kann anlässlich des Ausscheidens eines Vorsitzenden seine Stelle nicht gleichzeitig oder
doch in angemessener Frist wieder mit einem ständigen Vorsitzenden besetzt werden, muss das Präsidium
25 BVerwG Beschl. v. 21.8.1986 Buchholz 310 § 28 VwGO Nr. 2; NJW 1988, 219; NVwZ 1988, 724, 725; BFHE 168,
508; HFR 2001, 473, 474.
26 BVerwGE 5, 85 (zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 54 Abs. 2 a BVerwGG); Kopp/Schenke § 138 Rn. 6; H.-J. v.
Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 138 Rn. 2.
27 Anders kann es sich bei einer längeren Erkrankung verhalten, bei der eine Widerherstellung der Gesundheit nicht absehbar ist: BGHZ 164, 87.
28 Zu großzügig aber BSG NJW 2007, 2717: sechs Monate.
29 Vgl. hierzu BVerwG Beschl. v. 26.3.2003 Buchholz 300 § 21 f GVG Nr. 7; Beschl. v. 4.8.2006 – 5 B 52.06; BSG
NJW 2007, 2717, mit Besprechung von B. Werner, NJW 2007, 2671.
2766
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
für diesen Fall Vorsorge treffen (§ 4, § 21 e Abs. 3 S 1 GVG), etwa den Vorsitz dem Vorsitzenden Richter
eines anderen Spruchkörpers übertragen.30 Das gilt erst recht, wenn die Justizverwaltung überhaupt
davon absieht, die frei gewordene Stelle wieder zu besetzen, der davon betroffene Spruchkörper aber
auch nicht (sofort) aufgelöst werden soll (BVerwG NJW 2001, 3493).
cc) Einzelrichter. Das Gericht kann auch dann nicht vorschriftsmäßig besetzt sein, wenn anstelle des
Spruchkörpers zu Unrecht der Einzelrichter entschieden hat (§§ 6, 87 a Abs. 2, § 125 Abs. 1 i.V.m.
§ 87 a Abs. 2). Dasselbe gilt, wenn der Spruchkörper die Sache dem Einzelrichter übertragen hat, dann
aber anstelle des Einzelrichters ohne Rückübertragung der Sache durch diesen entscheidet (BFH BFH/
NV 2007, 466).
Allerdings kann das BVerwG grds. nicht den Beschluss nachprüfen, durch den die Kammer den Rechtsstreit gem. § 6 auf den Einzelrichter übertragen hat (§ 173, § 557 Abs. 2 ZPO und hierzu Rn. 25). Nach
der Rspr. des BVerwG schließt § 173, § 557 Abs. 2 ZPO zwar die Rüge solcher Verfahrensfehler nicht
aus, die als Folge der beanstandeten Vorentscheidung weiterwirkend der angefochtenen Sachentscheidung anhaften (BVerwG NVwZ-RR 1999, 587). Diese Einschränkung trifft an sich auf die fehlerhafte
Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter zu. Denn sie haftet notwendig dem nachfolgenden
von ihm erlassenen Urteil an. Jedoch entnimmt das BVerwG zumindest in einzelnen Entscheidungen der
Regelung des § 6 Abs. 4 S. 1, dass Verstöße gegen § 6 Abs. 1 S. 1 allein nicht zum Erfolg eines Rechtsmittels führen sollen.31
Trotz § 173, § 557 Abs. 2 ZPO kann das BVerwG nachprüfen, ob wegen einer fehlerhaften Übertragung
die Endentscheidung gegen eine verfassungsrechtliche Verfahrensgarantie verstößt, etwa gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter oder gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. Rn. 25). Der
absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 liegt mithin vor, wenn der Verstoß gegen § 6 dazu geführt hat,
dass nicht mehr der gesetzliche Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entschieden hat32 oder andere
prozessuale Gewährleistungen der Verfassung verletzt sind (BVerwG NVwZ-RR 2002, 150).
Die Entscheidung des Einzelrichters verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen
Richters, wenn es an einer wirksamen Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter fehlt (OVG
Frankfurt/Oder NVwZ-RR 2001, 202), sei es, weil ein Übertragungsbeschluss überhaupt nicht vorliegt
(BVerwG NVwZ-RR 2002, 150; BFH BFH/NV 2007, 466), sei es, weil der Übertragungsbeschluss nicht
wirksam ist. Unerheblich ist, ob der Richter sich über das Fehlen einer wirksamen Übertragung hinweggesetzt hat oder irrig vom Vorliegen eines wirksamen Übertragungsbeschlusses ausging (OVG
Frankfurt/Oder NVwZ-RR 2001, 202).
Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ist insbes. unwirksam, solange der Beschluss den
Beteiligten nicht bekannt gegeben ist. Eine solche Bekanntgabe ist formlos möglich. Sie liegt aber nicht
konkludent darin, dass eine anberaumte mündliche Verhandlung vor dem Einzelrichter stattfindet33. Sie
kann hingegen in einem Hinweis in der Ladung enthalten sein, dass der Rechtsstreit auf den Einzelrichter
übertragen ist (OVG Lüneburg NVwZ 1998 [Beilage Nr. 2], 12). Das BVerwG wirft auch insoweit die
Frage auf (und verneint sie), ob die Entscheidung des Einzelrichters ohne vorherige Bekanntgabe des
Übertragungsbeschlusses als objektiv willkürliche Überschreitung seiner Kompetenz erscheint oder von
einer Manipulationsabsicht getragen ist (BVerwG NVwZ-RR 2002, 150).
An einer wirksamen Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter fehlt es auch dann, wenn ein
von ihm angenommenes Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter
tatsächlich fehlt, § 87 a Abs. 2 und 3 (BGH NJW 2001, 2479).
Besteht im Berufungsverfahren ein Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung des Einzelrichters (§§ 125 Abs. 1, 87 a Abs. 2), ist der Einzelrichter nicht befugt, gem. § 130 a über die Berufung ohne
mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden. § 130 a sieht als Voraussetzung eines solchen
Beschlusses die Einstimmigkeit in der Sache und damit eine Entscheidung durch den Spruchkörper vor.
30 BVerwG NJW 1986, 1366, 1367; NJW 2001, 3493, 3494; VGH Kassel ESVGH 48, 241 (auch zu den Grenzen derartiger
Abhilfemöglichkeiten).
31 BVerwGE 110, 40, 43; offen gelassen von BVerwG Beschl. v. 4.12.1998 Buchholz 310 § 6 VwGO Nr. 1.
32 BVerwGE 110, 40, 44; BGH NJW 2003, 1254, 1256; offen gelassen von BVerwG Beschl. v. 4.12.1998 Buchholz 310
§ 6 VwGO Nr. 1; NVwZ-RR 2000, 257, 258; zu einem Beispielsfall vgl. VGH Kassel NVwZ-RR 2000, 547.
33 A.A.: OVG Lüneburg NVwZ 1998, 85; offen gelassen von BVerwG NVwZ-RR 2002, 150, 151.
Neumann
2767
43
44
45
46
47
48
49
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
Bei einem Beschluss nach § 130 a ist deshalb das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn diesen
Beschluss der Einzelrichter erlässt (BVerwGE 111, 69, 73).
50 Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter verstößt hingegen nicht gegen eine verfassungsrechtliche Verfahrensgarantie, wenn die Kammer die Übertragung nicht begründet hat. Eine gesetzliche
Pflicht zur Begründung besteht nicht, auch nicht bei Widerspruch eines Beteiligten gegen die beabsichtigte Übertragung (BVerwG NVwZ-RR 2002, 150, 151; BFH NVwZ 2002, 160).
51 Der Revisionskläger kann sein Recht verloren haben, die nicht vorschriftsmäßige Besetzung zu rügen,
wenn er sich auf eine Verhandlung vor dem nicht wirksam berufenen Einzelrichter eingelassen hat
(§ 173, § 556 ZPO, § 295 Abs. 1 ZPO). Grds. kann der Beteiligte zwar nicht auf die Einhaltung der
Vorschriften verzichten, von denen die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts abhängt34. Für die
Vorschriften über die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter kann aber die Möglichkeit
eines Verzichtes auf ihre Einhaltung angenommen werden. Das Gesetz selbst kennt den konsentierten
Einzelrichter (§ 87 a Abs. 2).35 Eine rechtzeitige Rüge schon in der Vorinstanz ist jedenfalls dann erforderlich (BGH NJW 2001, 2479), wenn das Gericht nicht von einer Übertragung des Rechtsstreits auf
den Einzelrichter durch die Kammer, sondern für die Beteiligten ersichtlich von deren Einverständnis
mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter ausgeht.
52 Entscheidet der Einzelrichter in einer Sache, der er rechtsgrundsätzliche Bedeutung beimisst, und lässt
er deswegen die Revision zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1), ist zwar die Zulassung der Revision wirksam und
bindet das BVerwG (§ 132 Abs. 3). Das Urteil des Einzelrichters beruht aber auf einer Verletzung der
Vorschriften über den gesetzlichen Richter und ist auf die Revision hin aufzuheben. Der Rechtsstreit
darf einem Einzelrichter nicht zur Entscheidung übertragen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 6 Abs. 1 S. 2). Der Einzelrichter hat den Rechtsstreit auf die Kammer zurückzuübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung hat (§ 6 Abs. 3 S. 1). Ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, ist
danach Vorfrage sowohl für die Zulassung der Revision als auch für die Zurückübertragung des Rechtsstreits auf die Kammer. Verneint und bejaht der Einzelrichter diese gleiche Vorfrage in ein- und derselben
Entscheidung, so ist diese offenbare Unvereinbarkeit stets als objektiv willkürlich anzusehen (BGH
NJW 2003, 1254, 1255).
53 dd) Vorübergehend abwesender Richter. Ein Gericht war nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn ein an
der Entscheidung beteiligter Richter während wesentlicher Vorgänge der mündlichen Verhandlung vorübergehend abwesend war, also den Gerichtssaal verlassen hatte (BVerwG Beschl. v. 10.10.1985 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 60), ohne dass der Vorsitzende, sei es auch nur konkludent (BFH NVwZRR 2002, 542), eine kurzzeitige Unterbrechung der mündlichen Verhandlung angeordnet hatte. Nicht
zu einem Besetzungsmangel führt die Abwesenheit eines Richters während der Zeit, in der ein Beteiligter
ein Ablehnungsgesuch gegen ihn mündlich begründet. Dieser Vorgang betrifft nicht die Endentscheidung, die dem erkennenden Gericht obliegt, sondern eine Zwischenentscheidung, an welcher der abgelehnte Richter nicht mitwirkt (BVerwG Beschl. v. 10.10.1985 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 60).
54 Ein Gericht ist auch dann nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn in der mündlichen Verhandlung einer
der mitwirkenden Richter eingeschlafen ist36. Der schlafende Richter ist wie der (körperlich) abwesende
Richter zu behandeln. Ein Beteiligter verletzt die gebotene Verfahrensfairness, wenn er, um sich einen
absoluten Revisionsgrund für den Fall des Unterliegens zu sichern, nicht sogleich den Vorsitzenden auf
einen schlafenden Beisitzer hinweist und um Abhilfe bittet, obwohl er seiner Sache sicher ist (BVerwG
NJW 2001, 2898, 2899).
55 e) Zuständigkeitsregelungen. Zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts können Verstöße gegen solche Vorschriften führen, welche die Zuständigkeit des Gerichts bestimmen (Rechtsweg,
sachliche und örtliche Zuständigkeit)37. Richtet sich die Revision gegen ein Berufungsurteil, liegt der
34 BVerwG Urt. v. 16.12.1980 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 20; BVerwGE 102, 7,10.
35 BVerwG Beschl. v. 11.4.2001 – 8 B 277.00; offen gelassen von VGH Kassel NVwZ-RR 2000, 547; a.A.: H. Günther,
NVwZ 1998, 37, 39; Kopp/Schenke § 138 Rn. 5; für den Zivilprozess vgl. BGH MDR 2001, 585.
36 Hierzu und zu den Anforderungen an die Besetzungsrüge: BVerwG Urt. v. 16.12.1980 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO
Nr. 20; NJW 1981, 413; Beschl. v. 19.2.1985 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 26; NJW 1986, 2721; NJW 2001,
2898; Beschl. v. 15.11.2004 – 7 B 56.04; NJW 2006, 2648; Beschl. v. 19.7.2007 – 5 B 84.06.
37 Anders BVerwG Beschl. v. 14.7.1981 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 32: Bedenken gegen die örtliche Zuständigkeit
des Gerichts rechtfertigen nicht die Besetzungsrüge. Vgl. auch BayVerfGH BayVBl 2008, 106.
2768
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 nicht vor, wenn der Verwaltungsrechtsweg nicht gegeben ist
oder das VG sachlich oder örtlich unzuständig war. Eine unter diesem Gesichtspunkt nicht vorschriftsmäßige Besetzung des VG schlägt nicht auf das OVG durch. Dieses muss über die Berufung entscheiden,
gleichgültig, ob der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist oder das VG zuständig war (BVerwG NJW 1992,
1579).
f) Geschäftsverteilungspläne. Die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts wird namentlich durch den 56
Geschäftsverteilungsplan des Gerichts (§ 4, § 21 e GVG) sowie den Geschäftsverteilungs- oder Mitwirkungsplan des Spruchkörpers (§ 4, § 21 f GVG) bestimmt.
Wird die Geschäftsverteilung innerhalb eines Spruchkörpers statt von diesem selbst vom Präsidium des 57
Gerichts geregelt, ohne dass ein Fall des § 21 g Abs. 1 S. 2 GVG vorliegt, führt dies zu einer vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts.38 Die Richterbank ist nur dann nach den gesetzlichen Vorschriften
besetzt, wenn die hierfür maßgeblichen Entscheidungen von der im Gesetz bestimmten Stelle getroffen
sind. Der Übergriff in eine fremde Zuständigkeit birgt die Gefahr der Manipulierung der Richterbank
in sich.
aa) Erfordernis eines Geschäftsverteilungsplans. Mit der Garantie des gesetzlichen Richters soll ver- 58
mieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen
Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann. Aus diesem Grund verbietet Art. 101
Abs. 1 S. 2 GG nicht nur, von Regelungen abzuweichen, die der Bestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters dienen. Diese Verfassungsgarantie setzt vielmehr auch einen Bestand von Rechtssätzen
voraus, die für jeden Streitfall den Richter bezeichnen, der für die Entscheidung zuständig ist. Art. 101
Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet, Regelungen zu treffen, aus denen sich der gesetzliche Richter ergibt. Der
rechtsstaatliche Grundsatz des gesetzlichen Richters untersagt die Auswahl des zur Mitwirkung berufenen Richters von Fall zu Fall im Gegensatz zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung (BVerfGE 95, 322, 327 ff.).
Das erkennende Gericht ist deshalb nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn es an einem Geschäftsvertei- 59
lungsplan, sei es des Gerichts, sei es des einzelnen Spruchkörpers, überhaupt fehlt.
bb) Inhaltliche Anforderungen an Geschäftsverteilungspläne. Die Garantie des gesetzlichen Richters 60
stellt inhaltliche Anforderungen an die Bestimmungen, aus denen sich die Entscheidungsbefugnis eines
bestimmten Richters für einen konkreten Fall herleitet. Enthält der Geschäftsverteilungsplan einzelne
Regelungen, die nach diesen Maßstäben beanstandet werden könnten, führt dies nicht zu einer vorschriftswidrigen Besetzung bei der Entscheidung der konkreten Streitsache, wenn deren Zuweisung an
einen Spruchkörper von den zu beanstandenden Regelungen nicht betroffen ist (BVerwG Beschl.
v. 29.8.1974 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 16).
Der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts muss im Voraus abstrakt-generell die Zuständigkeit der 61
Spruchkörper so hinreichend klar regeln, dass sich die im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter
sowie die im Verhinderungsfall zur Vertretung berufenen Richter möglichst eindeutig ablesen lassen
(BVerfGE 31, 145, 163). Er darf keinen vermeidbaren Spielraum bei der Heranziehung der einzelnen
Richter zur Entscheidung einer Sache und damit keine unnötige Unbestimmtheit hinsichtlich des gesetzlichen Richters lassen. Ein solcher Mangel kann nicht dadurch geheilt werden, dass im Einzelfall
sachgerechte Erwägungen für die Heranziehung des einen und den Ausschluss des anderen Richters
maßgebend waren.
Werden zur Bestimmung des gesetzlichen Richters auslegungsbedürftige Begriffe verwendet, verstößt 62
dies nicht gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Auslegungszweifel eröffnen nicht den Weg zu einer Besetzung
der Richterbank von Fall zu Fall, sondern zu einem rechtlich geregelten Verfahren, das der Klärung der
Zweifel dient: Jeder Spruchkörper hat bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung zu prüfen und darüber zu entscheiden (BVerfGE 95, 322). Mit dem Gebot der normativen Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters ist die Verwendung unbestimmter Begriffe vereinbar, wenn die
einzelne Regelung so beschaffen ist, dass sachfremden Einflüssen generell vorgebeugt wird. Zulässig sind
Regelungen, die den zuständigen Spruchkörper nach dem Schwerpunkt des Falles (BVerwG DVBl 2002,
38 A.A.: BVerwG BayVBl 1989, 59, 60, noch zur früheren Fassung des § 21 GVG, nach der der Vorsitzende die Geschäfte
innerhalb des Spruchkörpers verteilte.
Neumann
2769
§ 138
63
64
65
66
67
68
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
60) bestimmen oder rechtlich oder tatsächlich zusammenhängende Sachen einem von mehreren an sich
in Betracht kommenden Spruchkörpern zuweisen.
Im Interesse zahlenmäßig gleicher Belastung aller Spruchkörper können neu eingehende Streitsachen in
der Reihenfolge ihres Eingangs oder in der Reihenfolge ihrer Registrierung rundum auf die Spruchkörper
des Gerichts verteilt werden, sofern dabei hinreichende Vorkehrungen gegen sachfremde Einflüsse auf
die Bestimmung des gesetzlichen Richters getroffen werden. Solche Vorkehrungen sind insbes. erforderlich für die Fälle gleichzeitigen Eingangs mehrerer Streitsachen.39
Die abstrakt-generelle Bestimmung des zuständigen Richters im Vorhinein wird nicht beeinträchtigt,
wenn der Geschäftsverteilungsplan ein Sachgebiet umfassend einem anderen als dem bisher zuständigen
Spruchkörper zuweist und dabei keine Übergangsregelung für schon anhängige Verfahren trifft, sodass
eine bereits anhängige Sache auf einen anderen Spruchkörper übergeht (BVerwG NJW 1991, 1370).
Nach § 4, § 21 e Abs. 3 GVG darf die Geschäftsverteilung unter bestimmten Voraussetzungen während
des Geschäftsjahrs geändert werden (Überlastung, ungenügende Auslastung, Richterwechsel, dauernde
Verhinderung eines Richters). Die Änderung darf auch bereits anhängige Verfahren einbeziehen40. Welche Anordnungen zur Behebung dieser Gründe zu treffen sind, steht im pflichtgemäßen Ermessen des
Präsidiums. Seine Entscheidung kann revisionsgerichtlich nur auf Willkür nachgeprüft werden. Die Anordnungen brauchen nicht zwingend geboten zu sein (BVerwG NJW 1982, 2274). Ist eine Änderung
der Geschäftsverteilung notwendig, dürfen Umbesetzungen aus anderen Erwägungen einbezogen werden, die für sich nicht zum Anlass einer Änderung der Geschäftsverteilung während des laufenden Geschäftsjahrs genommen werden dürften. Sie müssen aber mit der notwendig veranlassten Änderung der
Geschäftsverteilung in einem vertretbaren personellen und sachlichen Zusammenhang stehen (BVerwG
Urt. v. 22.1.1985 Buchholz 300 § 21 e GVG Nr. 13).
Wird die Geschäftsverteilung geändert und werden dabei nur einzelne anhängige Sachen aus einem bestimmten Sachgebiet von einem anderen Spruchkörper übernommen, müssen die Sachen nach allgemeinen und jederzeit überprüfbaren Merkmalen bestimmt sein. Diese müssen eine Einflussnahme der Mitglieder des Präsidiums und der bisher zuständigen Richter auf den Übergang eines bestimmten Verfahrens ausschließen.41
Welcher Spruchkörper zur Entscheidung berufen ist, beurteilt sich allein nach dem Geschäftsverteilungsplan im Zeitpunkt der Entscheidung, nicht nach dem Geschäftsverteilungsplan bei Eingang der
Sache. Geschäftsverteilungspläne treten mit Ablauf des Geschäftsjahres ohne Weiteres außer Kraft; die
gesamte Geschäftslast ist neu zu verteilen (§ 21 e Abs. 1 S. 2 GVG). Übernimmt die neue Geschäftsverteilung Regelungen der alten, gilt insoweit nicht etwa der alte Geschäftsverteilungsplan weiter. Damit
werden Mängel rechtlich bedeutungslos, die der alten Geschäftsverteilung angehaftet haben mögen
(BVerwG Urt. v. 30.10.1984 Buchholz 300 § 21 e GVG Nr. 12). Verbleiben bereits anhängige Verfahren
bei dem bisher zuständig gewesenen Spruchkörper, kommt es nicht darauf an, ob die Verfahren nach
Maßgabe eines insoweit beanstandungsfreien Geschäftsverteilungsplans in den Spruchkörper gelangt
waren (OVG Münster NWVBl 1999, 268).
Der Geschäftsverteilungs- oder Mitwirkungsplan des Spruchkörpers muss denselben Anforderungen
genügen wie der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts (hierzu: BVerfGE 95, 322). Ist der Spruchkörper
eines Gerichts mit Berufsrichtern überbesetzt, muss grds. durch einen Mitwirkungsplan im Voraus nach
abstrakten Merkmalen bestimmt werden, welche Richter an den jeweiligen Verfahren mitzuwirken haben. Aus dieser Vorausbestimmung muss für den Regelfall die Besetzung bei den einzelnen Verfahren
ableitbar sein. Entsprechendes gilt, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits vom Kollegialgericht auf
den Einzelrichter übertragen werden kann und Einzelrichter der jeweilige Berichterstatter sein soll. Im
Mitwirkungsplan muss geregelt werden, welche Richter für die anhängig werdenden Sachen jeweils
Berichterstatter sein werden. Soweit die Zusammensetzung der Sitzgruppe nicht von der Bestimmung
des Berichterstatters abhängt, ist diese Bestimmung aber keine Frage des gesetzlichen Richters. Als ab39 BVerwG NJW 1983, 2154 (bspw. durch Bestimmung des Anfangsbuchstabens der Namen der Kläger als Hilfskriterium);
OVG Berlin NJW 1999, 594, 595 (wohl weniger streng); vgl. auch BVerwG Beschl. v. 29.8.1974 Buchholz 310 § 138
Ziff. 1 VwGO Nr. 16; Urt. v. 30.10.1984 Buchholz 300 § 21 e GVG Nr. 12.
40 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen: BVerfG NJW 2005, 2689.
41 BVerwG NJW 1984, 2961, mit Hinweisen auf zulässige und unzulässige Merkmale; BFH BFH/NV 2006, 1873; zum
Übergang anhängiger Sachen bei der Geschäftsverteilung für das neue Geschäftsjahr vgl. BVerwG Urt. v. 30.10.1984
Buchholz 300 § 21 e GVG Nr. 12.
2770
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
strakte Merkmale, nach denen die mitwirkenden Richter bestimmt werden können, kommen bspw. in
Betracht: Aktenzeichen, Eingangsdatum42, Rechtsgebiet oder Herkunftsgerichtsbezirk der anhängigen
Sache. Zulässig sind Regelungen, die den für die Entscheidung einer Sache zuständigen Richter nach
dem Schwerpunkt des Falles bestimmen oder rechtlich oder tatsächlich zusammenhängende Sachen einer
von mehreren an sich zuständigen Sitzgruppen zuweisen. Hingegen fehlt es an der erforderlichen abstrakten Bestimmung der Richter im Vorhinein, wenn der Mitwirkungsplan zunächst nur regelt, welche
Richter an welchen Sitzungstagen mitzuwirken haben, und erst die Terminierung der einzelnen Sache
zu deren Zuordnung zur konkreten Sitzgruppe führt.
cc) Heranziehung der ehrenamtlichen Richter. Für die Heranziehung ehrenamtlicher Richter sind nicht 69
uneingeschränkt die Grundsätze anwendbar, die für die Mitwirkungspläne in überbesetzten Spruchkörpern gelten. Anders als bei der Heranziehung von Berufsrichtern kann die Heranziehung der ehrenamtlichen Richter an die Ladung der konkreten Sache anknüpfen. Zulässig sind damit Regelungen, nach
denen die ehrenamtlichen Richter in der vor Beginn des Geschäftsjahres festgelegten Reihenfolge der
Haupt- und Hilfsliste in der Weise herangezogen werden, dass nach Eingang der Ladungsverfügung zu
dem Termin die zuoberst stehenden ehrenamtlichen Richter geladen werden, die noch an keiner Sitzung
teilgenommen haben (BVerwG NVwZ-RR 2000, 474, 475; NVwZ-RR 2000, 646).
Wird bei der Heranziehung der ehrenamtlichen Richter aufgrund eines bloßen Irrtums die nach der Liste 70
zu wahrende Reihenfolge nicht eingehalten, ist das Gericht nicht vorschriftswidrig besetzt, weil die fehlerhafte Besetzung nicht auf willkürlichen manipulativen Erwägungen beruht (BVerwG Beschl.
v. 14.1.1986 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 62).
dd) Abweichung von Geschäftsverteilungsplänen im Einzelfall. Das erkennende Gericht ist nicht vor- 71
schriftsmäßig besetzt, wenn der beanstandungsfreie Geschäftsverteilungsplan des Gerichts oder des
Spruchkörpers nicht richtig angewandt worden ist. Das BVerwG verlangt, die unrichtige Anwendung
des Geschäftsverteilungsplans müsse zugleich den Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzen, was
wiederum eine willkürliche Missachtung des Geschäftsverteilungsplans voraussetze; hingegen reiche es
nicht aus, wenn der Richter seine Zuständigkeit irrtümlich unter Verstoß gegen die Regelungen des
Geschäftsverteilungsplans angenommen habe.43
Richtigerweise führt jede fehlerhafte Anwendung des Geschäftsverteilungsplans dazu, dass das Gericht 72
i.S.d. § 138 Nr. 1 nicht vorschriftsmäßig besetzt ist (vgl. allgemein Rn. 21 ff.). Die Einhaltung der einfachrechtlichen Regelungen des Geschäftsverteilungsplans hat das BVerwG in vollem Umfang nachzuprüfen. Bei der Auslegung der Geschäftsverteilungspläne ist aber namentlich das Verständnis zu berücksichtigen, welches das Präsidium als Normgeber seinen Regelungen beigemessen hat. Insbes. kann
eine ständig geübte Praxis für das Verständnis der getroffenen Regelungen von maßgeblicher Bedeutung
sein. Muss das BVerwG für das Verständnis von Regelungen in Geschäftsverteilungsplänen maßgeblich
auf den Regelungswillen des Präsidiums abstellen, läuft dies in der Sache auf eine Überprüfung hinaus,
ob die konkrete Handhabung im Streitfall sich so weit von den geschriebenen Regelungen des Geschäftsverteilungsplans entfernt, dass die Auslegung und Anwendung des Geschäftsverteilungsplans
nicht mehr nachvollziehbar ist und deshalb willkürlich erscheint.
ee) Verhinderungsfälle. Das Gericht kann auch dann vorschriftswidrig besetzt sein, wenn ein zur Ent- 73
scheidung berufener Richter wegen einer angeblichen Verhinderung nicht mitgewirkt hat, obwohl kein
Verhinderungsgrund vorlag. Für den Fall einer möglichen Kollision verschiedener Dienstgeschäfte kann
der Geschäftsverteilungsplan regeln, welche Dienstgeschäfte den Vorrang vor anderen Dienstgeschäften
haben. In diesen Fällen liegt ein Verhinderungsgrund vor, wenn ein vorrangiges Dienstgeschäft der Mitwirkung an der Entscheidung entgegensteht.
Es verstößt nicht gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters, wenn ein Richter sich für verhindert 74
erklärt, einen Termin zur mündlichen Verhandlung wahrzunehmen, weil ihm aufgrund Abwesenheit
(etwa Urlaub oder Krankheit) oder vorrangiger Dienstgeschäfte nicht genügend Zeit verbleibt, sich auf
den Termin vorzubereiten.
42 Auch bei Umverteilung bereits anhängiger Sachen: BVerwG Beschl. v. 7.1.2004 – 1 B 141.03.
43 BVerwG Urt. v. 26.4.1974 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 11; DÖV 1981, 969; Beschl. v. 21.12.1994 Buchholz 310
§ 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 32; DVBl 2002, 60, 61; Beschl. v. 1.6.2007 – 8 B 85.06. Hiergegen mit Recht BGH NJW 1993,
1596, 1598.
Neumann
2771
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
75 Überträgt die Kammer den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter, bezieht sich der Beschluss auf das Mitglied der Kammer, das nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Verfahren zuständig ist, im Falle seiner Verhinderung somit auf den Richter, der im Geschäftsverteilungsplan als sein
Vertreter bestimmt ist. Ist ein Fall der Verhinderung nicht offensichtlich, ist der Vorsitzende berechtigt,
die Verhinderung des Richters festzustellen, der vorrangig zur Entscheidung in der Sache berufen wäre
(OVG Münster Beschl. v. 19.11.1998 –23 A 2616/98.A).
76 Erklärt sich ein ehrenamtlicher Richter für verhindert, braucht das Gericht einen von ihm angegebenen
Hinderungsgrund nicht näher nachzuprüfen, sondern darf sich darauf verlassen, dass ein ehrenamtlicher
Richter sich seiner richterlichen Pflicht nicht ohne triftigen Grund entzieht44. Teilt hingegen ein ehrenamtlicher Richter wiederholt mit, er sei an der Wahrnehmung des Richteramtes gehindert, ohne einen
konkreten Hinderungsgrund zu benennen, kann der Vorsitzende verpflichtet sein, entweder auf Teilnahme des ehrenamtlichen Richters an der Sitzung oder auf die Glaubhaftmachung eines hinreichenden
Verhinderungsgrundes zu drängen (BFH NVwZ 2002, 382, 383).
77 Nimmt ein ehrenamtlicher Richter ohne zureichenden Hinderungsgrund einen Sitzungstermin nicht
wahr, führt dies nicht nur in der konkreten Sitzung zu einer abweichenden Besetzung der Richterbank.
Vielmehr verschiebt sich bei einer Heranziehung der ehrenamtlichen Richter nach einer Liste die Heranziehung der ehrenamtlichen Richter insgesamt. Diese Verschiebung führt aber nicht dazu, dass das
Gericht auch in den nachfolgenden Verfahren nicht vorschriftsmäßig besetzt wäre (BFH NVwZ 2002,
382, 383).
78 Der Geschäftsverteilungsplan darf für den Fall der Verhinderung eines ehrenamtlichen Richters vorsehen, dass der nach der Liste nächste ehrenamtliche Richter heranzuziehen ist, der noch nicht zu einer
Sitzung geladen ist (BVerwG BayVBl 1986, 376).
79 Die Hilfsliste aus ehrenamtlichen Richtern, die am Gerichtssitz oder in dessen Nähe wohnen (§ 30
Abs. 2), dient nicht der allgemeinen Vertretung, sondern nur der Vertretung in Fällen unvorhergesehener
Verhinderung (§ 30 Rn. 13 ff.). Wann eine Verhinderung als unvorhergesehen zu betrachten ist, ist der
näheren Bestimmung im Geschäftsverteilungsplan und ergänzend der Übung des Gerichts überlassen.
Bei danach unvorhergesehener Verhinderung eines ehrenamtlichen Richters darf sich die Geschäftsstelle
auch ohne konkreten Auftrag oder generelle Ermächtigung um die Heranziehung eines Vertreters nach
der Hilfsliste bemühen (BVerwG Beschl. v. 31.1.1986 Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 35). Das Gericht
kann in der Reihenfolge der Hilfsliste denjenigen ehrenamtlichen Richter heranziehen, dem eine Teilnahme an der Sitzung möglich ist und der als erster telephonisch erreichbar war (BFH HFR 2001, 1168).
80 g) Befangenheit eines Richters. Das Gericht muss in einer Besetzung entscheiden, die von den Vorgaben
des Geschäftsverteilungsplans abweicht, wenn einer der berufenen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt ist und der Ablehnungsgrund vorliegt. Die unrichtige Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch rechtfertigt die Rüge einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts, wenn sie Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters grundlegend verkennt oder
auf einem vergleichbar schweren Mangel des Verfahrens beruht.45 Nach Verfahren oder Inhalt muss die
Ablehnungsentscheidung Ausdruck einer (objektiven) Manipulation der Richterbank sein.
81 h) Verletzung von Vorlagepflichten. Ein Entzug des gesetzlichen Richters und damit eine Entscheidung
in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung liegt vor, wenn ein Gericht es entgegen einer gesetzlichen Verpflichtung unterlässt, die Sache einem anderen Gericht vorzulegen, das über eine bestimmte Rechtsfrage
zu entscheiden hat.46
82 Das gilt für eine unterbliebene Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 GG. Sie führt indes regelmäßig
nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil der Verfahrensverstoß im Revisionsverfahren behoben werden kann.
83 Gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist auch der EuGH. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des
44 BVerwGE 44, 215; BVerwG BayVBl 1986, 376, 377; Beschl. v. 31.1.1986 Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 35; BFH BFH/
NV 1989, 532; BFH/NV 1996, 840; NVwZ 2002, 382.
45 BVerwG Beschl. v. 21.3.2000 - 7 B 36/00; BFH BFH/NV 2006, 1301 (für die unterbliebene Bekanntgabe des Beschlusses,
mit dem ein Befangenheitsgesuch abgelehnt worden ist).
46 BVerfGE 82, 159, 194; 87, 282; BVerfG NJW 2001, 1267, 1268; NVwZ 2004, 1224, 1227.
2772
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Vorabentscheidungsverfahrens nicht nachkommt47. Eine Verletzung dieser Pflicht ist jedoch für § 138
Nr. 1 regelmäßig ohne Bedeutung. Nur letztinstanzliche Gerichte sind zur Anrufung des EuGH verpflichtet (Art. 234 EG). Bei anderen Gerichten steht es in deren Ermessen, ob sie eine Vorabentscheidung
einholen wollen. Nur deren Entscheidung sind Gegenstand der Revision. Hat dieses Gericht eine Vorlage
an den EuGH ermessensfehlerhaft unterlassen, liegt darin regelmäßig ein Entzug des gesetzlichen Richters nur dann, wenn für das Unterlassen der Vorlage willkürliche oder manipulative Erwägungen maßgebend waren (BVerwG LKV 1998, 150). I.d.S. unhaltbar wird die Vorlagepflicht aber regelmäßig nur
gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht grundlegend verkennt (BVerfG
NJW 2001, 1267, 1268).
Unter denselben Voraussetzungen stellt es einen absoluter Revisionsgrund i.S.d. § 138 Nr. 1 dar, wenn 84
ein OVG, soweit es über eine Frage des Landesrechts endgültig entscheidet, die nach § 12 erforderliche
Vorlage an den Großen Senat unterlässt, bevor es von der Entscheidung eines anderen Senats des OVG
abweicht.48
Hingegen ist der Anspruch auf den gesetzlichen Richter nicht verletzt, wenn das erkennende Gericht bei 85
der Prüfung der Begründetheit einer Klage die Bindungswirkung anderer gerichtlicher Entscheidungen
unter Verstoß gegen materielles Recht verkannt hat (BVerwG VIZ 2002, 172, 174).
3. Anforderungen an die Darlegung. An die Schlüssigkeit und die Substantiierung einer Besetzungsrüge 86
sind strenge Anforderungen zu stellen49. Welche Tatsachen nach seiner Meinung den Mangel begründen,
muss der Revisionskläger in einer Weise vortragen, die dem Revisionsgericht eine (abschließende) Beurteilung ermöglicht. Für eine schlüssige Rüge reicht deshalb nicht die allgemeine Behauptung aus, bestimmte Richter hätten am Verfahren nicht mitwirken dürfen (BVerwG Beschl. v. 25.9.1981 Buchholz
310 § 133 VwGO Nr. 33). Kennt der Revisionskläger die tatsächlichen Grundlagen des Verfahrens
nicht, vermutet er aber einen Verfahrensfehler, muss er sich Aufklärung zu verschaffen suchen. Er kann
nur dann von der Fehlerhaftigkeit einer Verfahrenshandlung ausgehen, wenn ihm die Aufklärung ganz
oder teilweise verweigert worden ist oder ihm eine erteilte Auskunft unzutreffend erscheint oder wenn
der angegebene Grund das gerichtliche Verfahren nicht rechtfertigt50.
Ist das Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen, wird allein durch die Sitzungsnieder- 87
schrift bewiesen, welche Richter an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, § 105, § 160
Abs. 1 Nr. 2 ZPO, § 165 ZPO (BVerwG Urt. v. 5.7.1978 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 19). Unerheblich sind abweichende Angaben in einer im Gerichtsgebäude ausgehängten Tagesordnung. Das
BVerwG lässt aber für eine hinreichend substantiierte Rüge den Hinweis ausreichen, an der Entscheidung
hätten andere Richter mitgewirkt, als in der ausgehängten Tagesordnung aufgeführt.51
II. Mitwirkung eines ausgeschlossenen oder mit Erfolg abgelehnten Richters (Nr. 2)
Nach § 138 Nr. 2 liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, wenn bei der Entscheidung ein Richter mitge- 88
wirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis
der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war. Die Vorschrift sichert wie § 138 Nr. 1 die vorschriftsmäßige
Besetzung der Richterbank. Ist ein Richter in der konkreten Streitsache kraft Gesetzes ausgeschlossen
oder ist er mit Erfolg abgelehnt, ist er für diese Streitsache nicht mehr der gesetzliche Richter. § 138
erfasst die (gesetzwidrige) Mitwirkung eines solchen Richters nicht über den Tatbestand der Nr. 1, sondern hat für diesen Fall mit der Nr. 2 einen eigenen absoluten Revisionsgrund geschaffen. Dieser sichert
zugleich den Grundsatz eines fairen Verfahrens. Kein Beteiligter soll sein Recht vor einem Richter suchen
müssen, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt (BVerfGE 89, 28, 36; BVerfG NJW 2007, 3771,
3772; NVwZ-RR 2008, 289, 290).
47 BVerfGE 82, 159, 194 ff.; BVerfG NJW 2001, 1267, 1268; NVwZ 2004, 1224, 1227.
48 Vgl. BVerwG NVwZ 2006, 1404; offen gelassen von BVerwG NVwZ 1998, 952, 953.
49 BVerwG Beschl. v. 12.7.1982 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 37; Beschl. v. 17.12.1982 Buchholz § 138 Ziff. 1 VwGO
Nr. 24; NJW 1986, 3154; Beschl. v. 21.12.1994 Buchholz § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 32; Beschl. v. 27.6.1995 Buchholz
310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 9; DVBl 1999, 1599; ebenso zu § 119 Nr. 1 FGO: BFH NVwZ 2002. 382.
50 BVerwG Beschl. v. 11.4.1986 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 64; Beschl. v. 30.11.2004 Buchholz 310 § 138 Ziff. 1
VwGO Nr. 43; BGH MDR 2005, 1243.
51 BVerwG Urt. v. 21.4.1977 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 17; anders aber BVerwG Urt. v. 15.12.1978 Buchholz 310
§ 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 18.
Neumann
2773
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
89 1. Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richters. Ein absoluter Revisionsgrund liegt vor,
wenn an der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen war. Die gesetzlichen Ausschließungsgründe sind in § 41 ZPO geregelt, der über
§ 54 Abs. 1 im Verwaltungsprozess anwendbar ist. Daneben enthält § 54 Abs. 2 einen gesetzlichen Ausschließungsgrund, der speziell auf den Verwaltungsprozess zugeschnitten ist (zu den Ausschließungsgründen im Einzelnen: § 54 Rn. 18 f.).
90 a) Vorliegen eines gesetzlichen Ausschließungsgrundes. Lag ein gesetzlicher Ausschließungsgrund vor,
hat der davon betroffene Richter aber gleichwohl bei der Entscheidung mitgewirkt, ist regelmäßig der
absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 2 erfüllt. Weder muss der Revisionskläger den Ausschließungsgrund mit einem Ablehnungsgesuch nach § 54 Abs. 1, § 42 Abs. 1 ZPO erfolgreich geltend gemacht noch
das Gericht den Richter durch Beschluss von einer weiteren Mitwirkung ausgeschlossen haben. Insoweit
unterscheidet § 138 Nr. 2 zwischen den gesetzlichen Ausschließungsgründen und den Befangenheitsgründen.
91 Liegen gesetzliche Ausschließungsgründe vor, tritt der Ausschluss des Richters von der weiteren Mitwirkung kraft Gesetzes ein. Ausschließungsgründe muss das Gericht von Amts wegen beachten. Sie
können zwar nach § 54 Abs. 1, § 42 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand eines Ablehnungsgesuchs gemacht
werden. Der Ausschluss von der weiteren Mitwirkung hängt aber nicht von einem erfolgreich gestellten
Ablehnungsgesuch ab. Liegt ein gesetzlicher Ausschließungsgrund vor, kann das Gericht zwar den davon
betroffenen Richter durch Beschluss von der Mitwirkung ausschließen. Er stellt aber nur deklaratorisch
fest, dass der Richter ausgeschlossen ist, bewirkt jedoch nicht konstitutiv dessen Ausschluss.
92 Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 2 ist dennoch ausnahmsweise nicht erfüllt, wenn ein Beteiligter gestützt auf einen gesetzlichen Ausschließungsgrund ein Befangenheitsgesuch angebracht hat, das
Gericht dieses Befangenheitsgesuch jedoch unter Verkennung der Rechtslage abgelehnt hat (a.A.: Czybulka, in diesem Komm. § 54 Rn. 128). Dies folgt aus § 547 Nr. 2 ZPO, der über § 173 ergänzend
heranzuziehen ist. Danach liegt ein absoluter Revisionsgrund nicht vor, wenn bei der Entscheidung ein
Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war,
sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist. Die
ergänzende Heranziehung dieser Vorschrift ist auch deshalb geboten, weil das Revisionsgericht ohnehin
an die unanfechtbaren Zwischenentscheidungen der Vorinstanz gebunden ist (§ 173, § 557 Abs. 2 ZPO;
hierzu § 137 Rn. 9 ff.). Insoweit kommt aber der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 in Betracht.
Trotz § 173, § 557 Abs. 2 ZPO kann das Revisionsgericht überprüfen, ob wegen der Fehlerhaftigkeit
der Zwischenentscheidung die anfechtbare Endentscheidung gegen eine verfassungsrechtliche Verfahrensgarantie verstößt, etwa den Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Der absolute Revisionsgrund
des § 138 Nr. 1 ist danach gegeben, wenn die Vorinstanz bei Auslegung und Anwendung des gesetzlichen
Ausschließungsgrundes Bedeutung und Tragweite der Garantie des gesetzlichen Richters verkannt hat.
93 b) Mitwirkung. Der kraft Gesetzes ausgeschlossene Richter muss bei der Entscheidung mitgewirkt haben. Wie bei § 138 Nr. 1 kommt es allein auf die Mitwirkung bei der Entscheidung an, die das Verfahren
abschließt (Rn. 26 ff.).
94 c) Fehlerhafte Annahme eines gesetzlichen Ausschließungsgrundes. Die fehlerhafte Annahme eines gesetzlichen Ausschließungsgrundes fällt nicht unter § 138 Nr. 2. Das Gericht ist aber nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn es einen an sich zur Mitwirkung berufenen Richter von dieser Mitwirkung ausschließt, weil in seiner Person angeblich ein gesetzlicher Ausschließungsgrund vorliegt, ein solcher Grund
aber tatsächlich nicht gegeben ist. Zwar ist der Beschluss unanfechtbar, mit dem das Gericht den Richter
etwa aufgrund einer Selbstanzeige ausgeschlossen hat. Er unterliegt deshalb nicht der Nachprüfung
durch das Revisionsgericht (§ 173, 557 Abs. 2 ZPO)52. Dies hindert das BVerwG jedoch nicht an der
eingeschränkten Nachprüfung, ob die Auslegung und Anwendung der Ausschließungstatbestände zugleich den Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt hat. Ist dies der Fall, liegt der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 vor (BVerwG DVBl 1999, 1599).
52 So ausdrückl. mit der Folge, dass der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 nicht vorliegt: BVerwG Beschl.
v. 31.1.1986 Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 35, ohne auf die weitere in diesem Zusammenhang vom Bundesverwaltungsgericht sonst erörterte Frage einzugehen, ob der fehlerhafte Beschluss über die Ausschließung des Richters weiterwirkend zu einem Mangel des daraufhin ergangenen Urteils geführt hat.
2774
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 liegt ferner vor, wenn ein an sich zur Mitwirkung berufener 95
Richter sich einer Mitwirkung ohne eine Entscheidung des Gerichts von sich aus enthält, weil er irrig in
seiner Person einen Ausschließungsgrund annimmt (Kopp/Schenke § 138 Rn. 5; vgl. auch BVerfGE 89,
28, 37). Es fehlt an einer unanfechtbaren und deshalb nur eingeschränkt nachprüfbaren Zwischenentscheidung des Gerichts. Deshalb führt jeder Irrtum des Richters zur fehlerhaften Besetzung des Gerichts,
nicht nur ein solcher, durch den zugleich Bedeutung und Tragweite des gesetzlichen Richters grundlegend verkannt werden.
2. Mitwirkung eines erfolgreich abgelehnten Richters. Ein absoluter Revisionsgrund liegt vor, wenn an 96
der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt
war.
a) Erfolgreiches Ablehnungsgesuch. § 138 Nr. 2 setzt ein erfolgreiches Ablehnungsgesuch voraus. Die 97
Vorschrift sanktioniert nicht die Mitwirkung eines befangenen Richters, sondern in beiden Alternativen
die gesetzwidrige Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters. Anders als gesetzliche Ausschließungsgründe führt der Ablehnungsgrund der Befangenheit nicht von selbst zum Ausschluss des Richters von
einer weiteren Mitwirkung. Wird der Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, führt erst
die Entscheidung des Gerichts zu seinem Ausschluss von der weiteren Mitwirkung. Sie wirkt in diesem
Falle konstitutiv. Anders als bei den gesetzlichen Ausschließungsgründen reicht es für den absoluten
Revisionsgrund mithin nicht aus, dass Gründe vorlagen, aus denen sich eine Besorgnis der Befangenheit
tatsächlich ergab. Diese Gründe müssen vielmehr geltend gemacht worden sein, und zwar mit Erfolg.
b) Nachträgliche positive Bescheidung des Ablehnungsgesuchs. Die positive Entscheidung über das Ab- 98
lehnungsgesuch muss bereits zu dem Zeitpunkt vorgelegen haben, zu dem die angefochtene Entscheidung
erging. Hat das Gericht die Ablehnung erst für begründet erklärt, nachdem die angefochtene Entscheidung bereits ergangen war, liegt der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 2 hingegen nicht vor
(BFHE 134, 525, 531). Die positive Entscheidung über das Befangenheitsgesuch wirkt nicht auf den
Zeitpunkt seiner Anbringung zurück.
Allerdings muss sich der Richter bereits aufgrund des Befangenheitsantrags jeder weiteren Mitwirkung 99
am Verfahren enthalten. Er darf insbes. nicht an der Sachentscheidung mitwirken, wenn das Befangenheitsgesuch vor Ergehen der Sachentscheidung bereits angebracht, aber noch nicht beschieden ist (§ 54
Abs. 1, § 47 ZPO). Ein Verstoß gegen diese Pflicht stellt indes keinen absoluten Revisionsgrund, sondern
nur einen einfachen Verfahrensfehler dar. Der Verstoß gegen § 54 Abs. 1, § 47 ZPO führt mithin nur
dann zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, wenn dieses auf dem Verstoß beruhen kann
(P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 15). Ist in diesen Fällen die Sachentscheidung aufgrund einer
mündlichen Verhandlung ergangen und hat der Beteiligte sich rügelos auf diese eingelassen, wird zudem
regelmäßig das Recht verwirkt sein, sich auf den Verfahrensmangel zu berufen.
c) Nachträgliches Ablehnungsgesuch. Erst recht liegt der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 2 nicht 100
vor, wenn ein Beteiligter einen Richter erst nach Ergehen der Sachentscheidung wegen einer erst nachträglich zu Tage getretenen Besorgnis der Befangenheit ablehnt. Das gilt auch dann, wenn nach mündlicher Verhandlung und nach Fällung, Absetzung und Unterzeichnung des Urteils, aber vor dessen Verkündung oder Zustellung ein Grund entsteht, der die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt, und ein
darauf gestütztes Ablehnungsgesuch für begründet erklärt wird (BGH NJW 2001, 1502, 1503).
d) Erfolgloses Ablehnungsgesuch. Hat das Gericht ein Ablehnungsgesuch zurückgewiesen, liegt der ab- 101
solute Revisionsgrund des § 138 Nr. 2 auch dann nicht vor, wenn die Befangenheit des abgelehnten
Richters tatsächlich zu besorgen war, das Ablehnungsgesuch also hätte Erfolg haben müssen. Die unrichtige Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch rechtfertigt aber die Rüge einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 138 Nr. 1), wenn sie Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie
des gesetzlichen Richters grundlegend verkennt oder auf einem vergleichbar schweren Mangel des Verfahrens beruht53.
Einen schweren Mangel des Verfahrens stellt es nicht stets dar, wenn das Gericht sogleich in der Sache 102
entscheidet, ohne zuvor über ein vorliegendes Ablehnungsgesuch zu befinden. Ein solches Vorgehen ist
53 BVerwG Beschl. v. 21.3.2000 – 7 B 36.00; Beschl. v. 21.12.2004 Buchholz 310 § 54 VwGO Nr. 65; Beschl. v. 7.4.2006
– 4 B 69.05; NVwZ 2006, 936, 937.
Neumann
2775
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
zulässig, wenn das Ablehnungsgesuch rechtsmissbräuchlich und deshalb unzulässig ist (BVerfG
NJW 2007, 3771; NVwZ-RR 2008, 289). Ist der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen, gilt dies
allerdings nicht. Der Einzelrichter kann nicht unter Hintanstellung des aus seiner Sicht rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs sogleich in der Sache entscheiden. Anders als im Spruchkörper fehlt
es an einer gewissen Kontrolle der Einschätzung des Ablehnungsgesuchs als rechtsmissbräuchlich durch
nicht betroffene Richter (anders wohl BVerwG Beschl. v. 21.3.2000 – 7 B 36.00). Die Annahme eines
rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs verkennt dann Bedeutung und Tragweite der Garantie des
gesetzlichen Richters, wenn die Prüfung eine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und sich deshalb als Entscheidung in eigener Sache darstellt (BVerfG NJW 2007, 3771).
102a Hingegen soll es nach Auffassung des BVerfG unzulässig sein und den Anspruch auf den gesetzlichen
Richter verletzen, wenn das Gericht ohne Entscheidung über das Befangenheitsgesuch zu einem Zeitpunkt in der Sache entscheidet, zu dem der abgelehnte Richter aus anderen Gründen etwa wegen Urlaubs
ohnehin an einer Mitwirkung gehindert ist (BVerfG NVwZ 2007, 691). Diese Auffassung ist unzutreffend, weil das erkennende Gericht wegen der Verhinderung des abgelehnten Richters vorschriftsmäßig
besetzt ist.
III. Verletzung rechtlichen Gehörs (Nr. 3)
103 Ein absoluter Revisionsgrund ist gegeben, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Der
Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt
des Verfahrens sein. Er soll vor der Entscheidung zu Wort kommen, damit er Einfluss auf das Verfahren
und sein Ergebnis nehmen kann. Dies kann zum einen durch tatsächliches Vorbringen, zum anderen
durch Rechtsausführungen (BVerfG NJW-RR 2002, 69) geschehen. Die Erfüllung des Anspruch auf
rechtliches Gehör stellt sicher, dass die Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts
ergehen kann (BVerfGE 81, 123, 129; 86, 133, 144; 89, 381, 392).
104 1. Inhalt der Gewährleistung. Im Kern gewährleistet der Anspruch auf rechtliches Gehör zweierlei:
105 Zum einen muss der Beteiligte Gelegenheit haben, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was aus seiner Sicht zu seiner Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig ist. Der
Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch Maßnahmen und Unterlassungen verletzt, die den Beteiligten
daran hindern, sich zu äußern.
106 Der Beteiligte hat nur dann die Möglichkeit, sich sachgerecht zu äußern, wenn er weiß, auf welchen
tatsächlichen und rechtlichen Vortrag es für die Entscheidung des Gerichts ankommt. Er muss über den
gesamten Prozessstoff und den Stand des Verfahrens unterrichtet sein. Das Gericht ist deshalb verpflichtet, den Beteiligten Kenntnis von allen Vorgängen im Verfahren zu geben. Es muss ihnen bspw. die
Schriftsätze der anderen Beteiligten zuleiten54, darauf hinweisen, welche Akten es beigezogen hat, Einsicht in die Gerichtsakten und die beigezogenen Akten gewähren und prozessleitende Verfügungen oder
eigene Zwischenentscheidungen allen Beteiligten bekannt geben.
107 Auf welchen tatsächlichen und rechtlichen Vortrag es für die Entscheidung ankommt, kann der Beteiligte
auch dann nicht erkennen, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung einen bisher nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem
Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch ein gewissenhafter Beteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu
rechnen brauchte (Überraschungsentscheidung). Unterbleibt ein rechtzeitiger Hinweis des Gerichts auf
einen solchen Gesichtspunkt, verhindert es dadurch ebenfalls eine Äußerung des Beteiligten zur Grundlage des Verfahrens.55
108 Zum anderen muss das Gericht den Vortrag des Beteiligten zur Kenntnis nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung ziehen. Das Gericht hat in den Entscheidungsgründen in angemessener Weise
zum Ausdruck zu bringen, aus welchen Gründen es von einer Auseinandersetzung mit dem rechtlichen
54 Vgl. BVerfGE 19, 32, 36 f., einschließlich der Anlagen zu solchen Schriftsätzen: BVerfGE 50, 280, 284.
55 BVerfG NJW-RR 2002, 69, 70; BVerwG Urt. v. 21.4.1977 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 28; Urt. v. 25.3.1980
Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 13; NJW 1988, 275; Urt. v. 14.3.1991 Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 43; Urt.
v. 24.9.1992 Buchholz 451.512 MGVO Nr. 61; Beschl. v. 25.5.2001 Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 34;
NVwZ 2002, 87, 89; NVwZ 2003, 224, 225; NVwZ 2003, 1132, 1133; Beschl. v. 20.6.2006 – 3 B 91.05; Beschl.
v. 12.12.2007 – 8 B 57.07.
2776
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
und tatsächlichen Vorbringen eines Beteiligten abgesehen hat. Das Gericht ist aber andererseits nicht
verpflichtet, sich in den Entscheidungsgründen mit jedem rechtlichen und tatsächlichen Argument ausdrücklich zu befassen. Es darf ein Vorbringen außer Betracht lassen, das nach seinem Rechtsstandpunkt
unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Grds. ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von
ihm entgegengenommene Vorbringen auch in seine Erwägung einbezogen hat. Nur bei Vorliegen deutlich gegenteiliger Anhaltspunkte kann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör angenommen werden.56
Kenntnisnahme und Berücksichtigung wird von allen Richtern gefordert, die an der Entscheidung mitwirken. Hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung einem Beteiligten eine Frist zur Äußerung
eingeräumt, genügt es nicht, wenn allein die Berufsrichter, nicht aber auch die ehrenamtlichen Richter
von Schriftsätzen Kenntnis nehmen, die der Beteiligte innerhalb der ihm eingeräumten Äußerungsfrist
nachgereicht hat (BVerwG Urt. v. 5.3.1992 Buchholz 427.6 § 15 BFG Nr. 31).
Eine Verletzung rechtlichen Gehörs setzt kein Verschulden des Gerichts voraus. Der Anspruch auf
rechtliches Gehör ist auch dann verletzt, wenn für den Verstoß nicht der zur Entscheidung berufene
Richter, sondern die Geschäftsstelle oder die Poststelle des Gerichts verantwortlich ist57. Der Anspruch
auf rechtliches Gehör kann aber nur vom Gericht, nicht hingegen von außenstehenden Dritten verletzt
werden, bspw. durch die Post, die für das rechtliche Gehör wesentliche Schriftstücke nicht ordnungsgemäß befördert hat. Ist ein Beteiligter durch außenstehende Dritte an einer Äußerung gehindert worden,
kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Deren prozessordnungswidrige Versagung
kann wiederum eine Verletzung rechtlichen Gehörs begründen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nur verletzt, wenn der Beteiligte überhaupt die Absicht hatte,
sich noch zu äußern. Der Beteiligte muss alle verfahrensrechtlich eröffneten Möglichkeiten ausgenutzt
haben, sich schon in der Vorinstanz rechtliches Gehör zu verschaffen, soweit ihm diese Möglichkeiten
im Einzelfall zumutbar waren58. Hat ein Beteiligter eine solche ihm zumutbare Möglichkeit nicht genutzt,
ist er nicht in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Zu diesen Möglichkeiten kann auch ein
Antrag auf Wiedereröffnung einer bereits geschlossenen mündlichen Verhandlung gehören59.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gehört zu den Verfahrensrechten, auf dessen Einhaltung der Beteiligte verzichten kann. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann deshalb nicht mehr als Revisionsgrund geltend gemacht werden, wenn der Beteiligte sich in der Vorinstanz rügelos in eine Verhandlung
zur Sache eingelassen hatte (§ 173, § 295 Abs. 1 ZPO).
109
110
111
112
2. Einfachrechtliche Ausprägungen des rechtlichen Gehörs. Die VwGO enthält zahlreiche Vorschriften, 113
die den verfassungsrechtlichen Grundsatz rechtlichen Gehörs einfachrechtlich ausprägen. Eingereichte
Schriftsätze hat das Gericht den anderen Beteiligten zu übersenden (§ 86 Abs. 4 S. 3). In die Gerichtsakten
und die ihm vorgelegten Akten hat das Gericht Einsicht zu gewähren (§ 100 Abs. 1). Es hat die Beteiligten
bei der Erforschung des Sachverhalts heranzuziehen (§ 86 Abs. 1). Von Beweisterminen sind sie zu benachrichtigen (§ 97 S. 1). In der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisanträge können nur durch
einen begründeten Gerichtsbeschluss abgelehnt werden, § 86 Abs. 2 (BVerwG NVwZ 2008, 330). Das
56 BVerfGE 58, 353, 356; 70, 288; BVerfG NJW-RR 2002, 68, 69; BVerwG Beschl. v. 9.6.1981 Buchholz 312 EntlG
Nr. 19; Beschl. v. 9.3.1988 Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 81;Urt. v. 6.9.1988 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 206; Urt.
v. 18.5.1995 Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 25; NVwZ 1996, 378; NJW 1998, 553; NJW 1999, 1493; Beschl.
v. 25.11.1999 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 64; NJW 2003, 2255.
57 BVerfG NVwZ 1998 (Beilage Nr. 1), 1; zur fehlerhaften Anhörung infolge Kanzleiversehen vgl. BVerwG NVwZRR 1994, 362; NVwZ 1999, 1107; BFH BFH/NV 2002, 365.
58 BVerfGE 74, 220, 225; BVerwG Beschl. v. 9.11.1972 Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 96; Urt. v. 17.7.1973 Buchholz
310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 19; Beschl. v. 4.6.1984 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 150; Urt. v. 22.8.1985 Buchholz
310 § 108 VwGO Nr. 175; Beschl. v. 31.8.1988 Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 8; Urt. v. 16.5.1991 Buchholz 427.6
§ 13 BFG Nr. 8 (zur Obliegenheit eines Beteiligten zu einem Hinweis an das Gericht, wenn er der Verhandlung aus
gesundheitlichen Gründen vorübergehend nicht mehr folgen kann); NJW 1992, 3185; Beschl. v. 26.8.1992 Buchholz
310 § 108 VwGO Nr. 250 (zur Obliegenheit eines in Strafhaft befindlichen Beteiligten, die durch das Strafvollzugsgesetz
eröffneten Möglichkeiten einer Teilnahme am Termin wahrzunehmen); Beschl. v. 17.7.2003 Buchholz 310 § 135 VwGO
Nr. 4 (Antrag auf mündliche Verhandlung bei Erlass eines Gerichtsbescheids); Beschl. v. 8.8.2007 – 4 BN 35.07 . Zweifelhaft hingegen BVerwGE 24, 264; BVerwG NJW 1980, 1972 (Obliegenheit, einen Befangenheitsantrag zu stellen,
wenn der Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung das Wort abschneidet); VGH Kassel NVwZ 2000, 1432 (Hinweis
auf einen noch nicht beschiedenen Beweisantrag, wenn das Gericht ihn nicht übersehen hat, sondern ihn erkennbar nicht
bescheiden will).
59 BVerwG NJW 1992, 3185; ein Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung kann aber von einem anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten nicht erwartet werden: VGH Mannheim VBlBW 2001, 453, 454.
Neumann
2777
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
Gericht hat grds. aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Von ihr darf es nur bei Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 1 und 2) oder unter weiteren Voraussetzungen nach besonderer
Anhörung der Beteiligten (§§ 84 Abs. 1 S. 1 und 2; 125 Abs. 2 S. 1 bis 3; 130 a) absehen. Zu der mündliche Verhandlung sind die Beteiligten unter Einhaltung einer Frist zu laden (§ 102 Abs. 1). In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Streitsache mit den Beteiligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern (§ 104 Abs. 1). Das Gericht darf sein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu
denen die Beteiligten sich äußern konnten (§ 108 Abs. 2).
114 Diese beispielhaft genannten Normen enthalten einfachrechtliche Pflichten (des Gerichts) und Rechte
(der Beteiligten), die gegenüber dem verfassungsunmittelbaren Anspruch auf rechtliches Gehör eigenständig sind. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör wirkt auf die Auslegung und
Anwendung dieser Vorschriften ein. Er schließt ferner unmittelbar Lücken, soweit bei Anwendung der
einfachrechtlichen Vorschriften noch keine ausreichende Möglichkeit der Äußerung besteht, die der
Verfassungsverbürgung gerecht wird. Sind die einzelnen dem rechtlichen Gehör zugeordneten prozessualen Vorschriften eingehalten, ist zwar regelmäßig, nicht aber stets auch der Anspruch auf rechtliches
Gehör gewahrt. Umgekehrt ist nicht stets das rechtliche Gehör verletzt, wenn die es ausprägenden einfachrechtlichen Vorschriften nicht eingehalten sind. Absoluter Revisionsgrund ist nur die Verletzung
rechtlichen Gehörs. Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 liegt deshalb nicht schon dann vor,
wenn eine verfahrensrechtliche Vorschrift verletzt ist, die sich als Ausprägung des rechtlichen Gehörs
darstellt. Es bedarf immer der weiteren Feststellung, dass zugleich der Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt ist.
115 3. Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrundes. Der Anspruch auf rechtliches Gehör dient keinem
Selbstzweck. Er soll vielmehr die Möglichkeit gewährleisten, sich zu den entscheidungserheblichen
(rechtlichen und tatsächlichen) Gesichtspunkten zu äußern. Das Gericht muss zwar sämtlichen Vortrag
der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen. Nur dann kann es entscheiden, ob der
Vortrag entscheidungserheblich ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber erst dann verletzt, wenn
Vortrag nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen ist, der aus der maßgeblichen
Sicht des Gerichts entscheidungserheblich war oder gewesen wäre. Das Gericht muss den Beteiligten
zwar Gelegenheit geben, sich zu dem gesamten Prozessstoff und zu allen prozessualen Vorgängen zu
äußern. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber nur dann verletzt, wenn das Gericht eine Äußerung
zu entscheidungserheblichen Gesichtspunkten verhindert hat. Damit bezieht sich schon der Tatbestand
des absoluten Revisionsgrundes auf entscheidungserheblichen Vortrag (vgl. hierzu auch M. Eichberger,
in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 75 ff.).
116 Das rechtliche Gehör schützt den Beteiligten nur dagegen, dass sein entscheidungserheblicher Vortrag
übergangen wird. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt dagegen keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz
oder teilweise außer Betracht lassen (BVerwG Urt. v. 2.7.1981 Buchholz 424.01 § 2 FlurbG Nr. 1;
NJW 1996, 1553). Deshalb liegt ein Verfahrensfehler i.S.d. § 138 Nr. 3 nur dann vor, wenn (erstens)
das Gericht Vortrag des Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat und (zweitens)
dieser übergangene Vortrag nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich war. Für diese Entscheidungserheblichkeit reicht aus, dass der übergegangene Vortrag eine entscheidungserhebliche Frage in einer Weise betraf, die eine Auseinandersetzung mit ihm erforderlich
machte. Das Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler, wenn das Gericht bei Berücksichtigung des
übergangenen Vortrags zu einem anderen, dem Revisionskläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Gegenstand der Vermutung des § 138 Nr. 3 ist allein die Annahme, dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vortrags eine andere Entscheidung ergangen wäre.
117 Wenn der Beteiligte eine Verletzung rechtlichen Gehörs erfolgreich rügen will, muss er deshalb darlegen,
dass das Gericht Vortrag nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat, der nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich war. Es genügt mithin bspw. nicht der
Vortrag des Revisionsklägers, ein von ihm eingereichter Schriftsatz sei im Geschäftsgang verloren gegangen und deshalb nicht zur Kenntnis der entscheidenden Richter gelangt. Damit steht nur fest, dass
die Richter Vorbringen des Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen und demgemäß nicht in Erwägung
gezogen haben. Der Beteiligte muss darüber hinaus darlegen, welchen Inhalt der Schriftsatz hatte und
wieso dieser Vortrag eine entscheidungserhebliche Frage betraf. Nur dann hätte das Gericht sich mit
2778
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
ihm auseinander zu setzen brauchen. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob das Gericht anders, nämlich
i.S.d. Revisionsklägers entschieden hätte, wenn es sich mit dessen übergangenen Vortrag auseinandergesetzt hätte. Dieser Zusammenhang zwischen der Verletzung rechtlichen Gehörs und der angefochtenen
Entscheidung wird nach § 138 Nr. 3 vermutet (BVerwG NVwZ 1996, 378; NJW 1998, 553).
Das Gericht kann zum anderen dem Beteiligten die Möglichkeit einer Äußerung ganz oder teilweise
genommen haben.
Das Gericht muss überhaupt (weiteren) Vortrag des Revisionsklägers verhindert haben. Der Revisionskläger muss durch den Verstoß gegen eine prozessuale Vorschrift gehindert worden sein, sich zu äußern.
Diese Ursächlichkeit zwischen einem Verfahrensverstoß und der Verletzung rechtlichen Gehörs wird
nach § 138 Nr. 3 nicht vermutet.
Hat das Gericht bspw. unter Verstoß gegen § 86 Abs. 4 S. 3 den Schriftsatz eines anderen Beteiligten
dem Revisionskläger nicht zugeleitet, ist diese Verfahrensvorschrift verletzt. Eine Verletzung rechtlichen
Gehörs liegt darin aber nur, wenn die mangelnde Kenntnis von dem vorenthaltenen Schriftsatz den
Revisionskläger von weiterem eigenen Vortrag abgehalten hat. Das ist nicht der Fall, wenn der Schriftsatz etwa nur bekannten Vortrag wiederholt hat, zu dem zu äußern der Revisionskläger ohnedies Anlass
und Gelegenheit hatte (BVerwG NJW 1980, 1810). Hat das Gericht dem Revisionskläger die Einsichtnahme in die Gerichtsakten verwehrt, liegt darin ein Verstoß gegen § 100 Abs. 1. Enthielt die Gerichtsakte nur Schriftsätze der Beteiligten und prozessleitende Verfügungen des Gerichts, die dem Revisionskläger ohnehin sämtlich in Abschrift vorlagen, stellt die verweigerte Akteneinsicht nicht zugleich eine
Verletzung rechtlichen Gehörs dar. Die zu Unrecht verweigerte Akteneinsicht hat dem Revisionskläger
nicht die Kenntnis von Prozessstoff und prozessualen Vorgängen vorenthalten. Sie kann ihn deshalb
nicht von weiterem Vortrag abgehalten haben.60
Demnach genügt es nicht, wenn der Revisionskläger nur darlegt, die Vorinstanz habe eine prozessuale
Vorschrift mit Bezug zum rechtlichen Gehör missachtet (anders möglicherweise BVerwGE 22, 271, 271;
44, 307). Er muss vielmehr auch darlegen, dass dieser Verstoß ihm eine Gelegenheit zur Äußerung genommen hat.61
Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll dem Beteiligten nicht die Möglichkeit geben, sich zu allem
Möglichen zu äußern, sondern die Möglichkeit gewährleisten, sich zu den entscheidungserheblichen
Gesichtspunkten zu äußern. Das Gericht muss deshalb durch sein prozessordnungswidriges Verhalten
nicht nur Vortrag überhaupt, sondern Vortrag zu entscheidungserheblichen Gesichtspunkten verhindert
haben.
Hat das Gericht bspw. unter Verstoß gegen § 86 Abs. 4 S. 3 den Schriftsatz eines anderen Beteiligten
dem Revisionskläger nicht zugeleitet, liegt nur ein Verstoß gegen § 86 Abs. 4 S. 3, aber nicht zugleich
eine Verletzung rechtlichen Gehörs vor, wenn der vorenthaltene Schriftsatz Vortrag enthielt, der nicht
entscheidungserheblich war und den das Gericht in seinem Urteil nicht verwertet hat. Der Revisionskläger ist dann zwar an weiterem eigenen Vortrag gehindert worden, aber nicht an Vortrag zu einem
Punkt, der für die Entscheidung erheblich war. Ähnlich verhält es sich, wenn das Gericht unter Verstoß
gegen § 101 Abs. 1 Einsicht in die Gerichtsakte oder in beigezogene Akten verhindert, die Akten auch
Umstände enthalten, die dem Einsicht begehrenden Revisionskläger unbekannt sind, diese Umstände
aber für das Gericht nicht entscheidungserheblich waren und von ihm nicht verwertet worden sind. Auch
in diesem Fall hat das prozessordnungswidrige Verhalten des Gerichts zwar weiteren Vortrag verhindert,
aber nicht zu einem Punkt, der für die Entscheidung erheblich ist.
Der Revisionskläger muss deshalb auch darlegen, dass ihm die Vorinstanz nicht nur prozessordnungswidrig Gelegenheit zur Äußerung vorenthalten hat, sondern auch, dass davon die Äußerung zu einer
entscheidungserheblichen Frage betroffen war.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ferner nur dann verletzt, wenn der Beteiligte überhaupt die
Absicht hatte, sich noch zu äußern. Diese Ursächlichkeit des Prozessrechtsverstoßes für eine Verletzung
60 VGH Kassel NVwZ-RR 2002, 784; vgl. auch BVerwG BayVBl 1988, 251 zu einer zu Unrecht verweigerten Erteilung
von Ablichtungen aus der Akte.
61 Anders VGH Kassel DVBl 1999, 1668. Hiervon zu unterscheiden ist ein anderes Problem. Hat der Revisionskläger sich
auch nach Ergehen der angefochtenen Entscheidung und bis zum Ablauf der Frist für die Revisionsbegründung vergeblich
um Einsicht in die Akten bemüht, ist ihm eine weiter gehende Darlegung nicht möglich. In diesen Fällen muss aus diesem
Grund ausreichen, dass er zur Darlegung eines Verfahrensmangels nach § 138 Nr. 3 nur die begehrte Akteneinsicht und
deren rechtswidrige Versagung dartut; i.d.S. wohl auch VGH Mannheim NVwZ-RR 1998, 687, 688.
Neumann
2779
118
119
120
121
122
123
124
125
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
des rechtlichen Gehörs wird nach § 138 Nr. 3 ebenfalls nicht vermutet. Sie ist deshalb vom Revisionskläger darzulegen. Er muss vortragen, dass er noch weiter vorgetragen hätte, wenn ihm nicht prozessordnungswidrig die Gelegenheit dazu genommen worden wäre.
126 Problematisch ist die weitere Frage, ob der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 unabhängig davon
vorliegt, was der Revisionskläger inhaltlich vorgetragen hätte, wenn ihm nicht die Gelegenheit dazu
prozessordnungswidrig abgeschnitten worden wäre. Ihr entspricht spiegelbildlich die Frage, ob der Revisionskläger darlegen muss, was er Entscheidungserhebliches noch vorgetragen hätte, wenn das Gericht
sich prozessordnungsgemäß verhalten hätte.
127 Der Anspruch auf rechtliches Gehör will nur solchen Vortrag ermöglichen und schützt nur vor einer
Nichtberücksichtigung solchen Vortrags, der in einem Zusammenhang mit dem Streitgegenstand steht.
Dass i.d.S. entscheidungserhebliches Vorbringen verhindert worden ist, gehört bereits zum Tatbestand
einer Verletzung rechtlichen Gehörs. Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 ist nur erfüllt, wenn
das prozessordnungswidrige Verhalten des Gerichts für die Verhinderung entscheidungserheblichen
Vortrags ursächlich war. Davon ausgehend muss der Revisionskläger nicht nur darlegen, dass er sich
geäußert hätte, sondern auch darlegen, was er geäußert hätte, wenn das Gericht ihm nicht die Gelegenheit dazu genommen hätte.62 Dieser Vortrag muss einen entscheidungserheblichen Punkt betreffen
(BVerwG Beschl. v. 7.10.2003 – 7 B 68.03). Das Gericht hätte ihn nicht ohne Auseinandersetzung mit
ihm übergehen dürfen, wenn der Revisionskläger Gelegenheit zur Äußerung gehabt hätte. Sein Anspruch
auf rechtliches Gehör ist nicht verletzt, wenn er inhaltlich ohnedies nichts Entscheidungserhebliches
mehr weiter vorgetragen hätte. Dass er dazu im Stande gewesen wäre, wenn das Gericht ihm nicht das
Wort abgeschnitten hätte, muss der Revisionskläger darlegen.63 Hierfür kann ausreichen, wenn der Revisionskläger einen sachlichen Zusammenhang hergestellt zwischen dem Streitgegenstand einerseits und
seinen in verfahrenswidriger Weise verhinderten weiteren Ausführungen andererseits (BVerwG Urt.
v. 29.1.1982 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 125). Hingegen kommt es nicht darauf an, ob die Vorinstanz anders entschieden hätte, wenn sie diesen Vortrag nicht verhindert hätte. Dieser Zusammenhang
(aber auch nur er) ist vielmehr Gegenstand der Vermutung des § 138 Nr. 3.64
128 Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber in jedem Fall verletzt, wenn der Beteiligte sich zu dem
Prozessstoff insgesamt, zu dem Gesamtergebnis des Verfahrens i.S.d. § 108 Abs. 1 S. 1 nicht äußern
konnte. Nach der VwGO wird das Gesamtergebnis des Verfahrens in der mündlichen Verhandlung
gewonnen. Das Urteil ergeht grds. aufgrund einer mündlichen Verhandlung (§ 101 Abs. 1). In ihr hat
das Gericht die Streitsache mit den Beteiligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern (§ 104 Abs. 1). Es
hat den Beteiligten das Wort zu erteilen, damit sie ihre Anträge nicht nur stellen, sondern auch begründen
können (§ 103 Abs. 3). Das Gericht darf im Urteil nur das verwerten, was Gegenstand der mündlichen
Verhandlung war. Hat das Gericht ohne mündliche Verhandlung entschieden, ohne dass die Voraussetzungen vorlagen, unter denen das Gericht ausnahmsweise von einer mündlichen Verhandlung absehen darf, ist schon damit das rechtliche Gehör stets verletzt (BVerwG DVBl 2003, 747, 748;
NVwZ 2004, 1377, 1380). Der Revisionskläger hat sich zum gesamten Prozessstoff nicht in der prozessrechtlich vorgeschriebenen Weise äußern können. Dasselbe gilt, wenn zwar eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, das Gericht aber die Teilnahme eines Beteiligten an ihr oder seine Äußerung
in ihr gänzlich verhindert hat. Der Revisionskläger braucht nicht vorzutragen, was er in der mündlichen
Verhandlung vorgetragen hätte und inwiefern dies für ihn zu einem günstigeren Ergebnis geführt hätte65. Die mündliche Verhandlung betrifft das Gesamtergebnis des Verfahrens und damit stets alle entscheidungserheblichen Fragen.
62 BVerwG Urt. v. 17.7.1973 Buchholz 310 § 138 Nr. 3 VwGO Nr. 19; Beschl. v. 29.9.1976 Buchholz 310 § 138 Nr. 3
VwGO Nr. 23; Urt. v. 16.8.1983 Buchholz 310 § 52 VwGO Nr. 26; FEVS 34, 1;
63 BVerwG Beschl. v. 29.9.1976 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 23 (Entzieht der Vorsitzende in der mündlichen
Verhandlung einem Beteiligten das Wort, weil dessen Ausführungen nicht zur Sache gehörten, muss der Beteiligte darlegen, was er Entscheidungserhebliches noch vorgetragen hätte, wenn ihm nicht das Wort abgeschnitten worden wäre.);
anders offenbar BVerwG Urt. v. 25.5.1988 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 201; NVwZ 1990, 69, jeweils für die Verwertung eines Schriftsatzes mit entscheidungserheblichem Vorbringen, welcher der Gegenseite nicht zur Kenntnis gelangt
war.
64 BVerwG Urt. v. 24.9.1992 Buchholz 451.512 MGVO Nr. 61; vgl. auch BVerwG NJW 1998, 55.
65 BVerwG NVwZ-RR 1998, 525; BVerwG Beschl. v. 18.6.2001 – 8 B 38.01; VGH Mannheim VBlBW 2001, 453, 454;
BFH HFR 2002, 39; NVwZ-RR 2002, 615, 616; Kopp/Schenke § 138 Rn. 20; unklar BVerwG NJW 1992, 2042; anders
BVerwG Beschl. v. 26.8.1992 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 250.
2780
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Nur wenn sich die behauptete Verletzung rechtlichen Gehörs auf einzelne Feststellungen bezieht, setzt 129
die schlüssige Rüge dieses Verfahrensfehlers voraus, dass der Beteiligte substantiiert darlegt, wozu er
sich nicht hat äußern können und was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte (BVerwG NVwZ 1996, 378; Beschl. v. 26.5.1998 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO
Nr. 46).
4. Bestätigung des Urteils aus anderen Gründen. War dem Revisionskläger die Möglichkeit verschlos- 130
sen, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt – dem Gesamtergebnis des Verfahrens i.S.d.
§ 108 Abs. 1 S. 1 – zu äußern, kann das BVerwG das angefochtene Urteil nicht auf seine sachliche Richtigkeit überprüfen. Das Gesamtergebnis des Verfahrens ist in einer verfahrensrechtlich fehlerhaften
Weise zur Grundlage der Entscheidung geworden. Damit fehlt jede Grundlage, auf der die anderweitige
Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung beurteilt werden könnte. Dies schließt die Anwendung des
§ 144 Abs. 4 aus.
Anders verhält es sich, wenn die Verletzung rechtlichen Gehörs sich auf einzelne Feststellungen bezieht, 131
auf die es für die Entscheidung bei richtiger rechtlicher Würdigung unter keinem Gesichtspunkt ankommen kann.66 Zwar liegt der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 auch dann vor, wenn der
Anspruch auf rechtliches Gehör nur bezogen auf eine einzelne Feststellung verletzt ist, die dem Urteil
zugrunde liegt. Das angefochtene Urteil beruht deshalb auf der Verletzung rechtlichen Gehörs. Die Unterbindung weiteren entscheidungserheblichen Vortrags als notwendige Voraussetzung einer Verletzung
rechtlichen Gehörs bezieht sich aber, was die Entscheidungserheblichkeit angeht, auf die Rechtsauffassung der Vorinstanz. Für die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung nach § 144 Abs. 4 kommt es
jedoch auf die Rechtsauffassung des BVerwG an. Das BVerwG ist nicht gehindert, unter Verwertung
der übrigen, von dem Verfahrensfehler nicht beeinflussten Feststellungen das angefochtene Urteil i.E.
aus anderen Gründen zu bestätigen, wenn es nach seiner Rechtsauffassung auf die von dem Fehler beeinflusste Feststellung nicht ankommt.
5. Einzelfälle. a) Äußerungsmöglichkeit. Eine sachgerechte, dem Rechtsschutz dienliche Äußerung
kann eine angemessene Vorbereitung voraussetzen. Räumt das Gericht dem Beteiligten die Möglichkeit
einer Vorbereitung nicht ein, kann darin die Verletzung rechtlichen Gehörs liegen.
Der Beteiligte muss Gelegenheit erhalten, sich zu dem Ergebnis einer Beweisaufnahme zu äußern
(BVerwG NVwZ 2003, 1132, 1133). Wird erst in der mündlichen Verhandlung ein Gutachten ausgehändigt, ist es dem Beteiligten regelmäßig nicht zumutbar, sich sogleich abschließend zu dem Gutachten
zu äußern. Vielmehr muss das Gericht ihm durch Vertagung oder durch Einräumung einer angemessenen
Äußerungsfrist Gelegenheit zur Stellungnahme geben (BVerwG Urt. v. 5.11.1987 Buchholz 310 § 108
VwGO Nr. 198). Der Beteiligte muss darlegen, was er Entscheidungserhebliches noch vorgebracht hätte,
wenn ihm eine solche Gelegenheit eingeräumt worden wäre. Dafür genügt, wenn er etwa Vorhalte aufzeigt, die er dem Gutachter gemacht hätte. Ob die Vorhalte tatsächlich geeignet gewesen wären, die
Überzeugung des Gerichts von der Richtigkeit des Gutachtens zu erschüttern, gehört zu der Frage, ob
das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Dieser Zusammenhang ist mithin nach
§ 138 Nr. 3 zu vermuten, deshalb weder ausdrücklich festzustellen noch darzulegen.
Dasselbe gilt, wenn das Gericht in der mündlichen Verhandlung auf einen bisher nicht erörterten Gesichtspunkt hinweist, zu dem der Beteiligte sich nicht sofort erklären kann (BFHE 195, 9, 12 f.). Wird
ihm in der mündlichen Verhandlung keine Äußerungsfrist gewährt, kann der Beteiligte in einem solchen
Fall sich rechtliches Gehör auch dadurch zu verschaffen suchen, dass er einen nicht nachgelassenen
Schriftsatz einreicht und die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt. Wird ein solcher
Antrag abgelehnt, kann darin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen (BFHE 195, 9, 12 f.).
Das Gericht genügt seiner Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs aber, wenn es eine ausführliche
schriftliche Stellungnahme eines Beteiligten, die neues Vorbringen enthält, der Gegenseite kurz vor der
mündlichen Verhandlung zur Kenntnisnahme übersendet67. Selbst Verlesen in der mündlichen Verhandlung reicht aus (BVerwG NVwZ 1989, 1154; Beschl. v. 23.2.1989 Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 216). Kann der andere Beteiligte sich zu dem neuen Vorbringen nicht sofort erklären, kann er Ver66 BVerwG Urt. v. 16.10.1984 Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 164; NVwZ 1994, 1095; NVwZ 1996, 378;
NVwZ 2003, 224, 225; OVG Lüneburg NVwZ-RR 2008, 142.
67 BVerwG NVwZ 1989, 263 (4 Tage); Beschl. v. 23.2.1989 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 216 (Tag vor der mündlichen
Verhandlung).
Neumann
2781
132
133
134
135
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
tagung der Verhandlung beantragen und sich dadurch rechtliches Gehör verschaffen. Lehnt das Gericht
in diesem Fall einen begründeten Vertagungsantrag ab, kann darin eine Verletzung rechtlichen Gehörs
liegen.
136 b) Äußerungsfrist. Räumt das Gericht einem Beteiligten eine Frist zur Äußerung ein, kann es dessen
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen, wenn das Gericht die selbst gesetzte Äußerungsfrist nicht
abwartet und vor deren Ablauf entscheidet68. Hat ein Beteiligter eine schriftsätzliche Äußerung angekündigt, für deren Hereingabe das Gericht ihm keine Frist gesetzt hatte, ist das Gericht verpflichtet, mit
der Entscheidung eine angemessene Zeit zuzuwarten. Das Gericht ist hingegen nicht verpflichtet, dem
Beteiligten nunmehr eine Frist zu setzen, auch wenn dies aus Gründen der Klarheit zweckmäßig ist69.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird auch verletzt, wenn das Gericht eine Frist zur Äußerung gesetzt
hat, die objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen (BVerfG NVwZ 2003, 859; BVerwG
Beschl. v. 18.1.2006 – 2 B 53.05). Dasselbe gilt, wenn das Gericht einen begründeten Antrag auf Einräumung einer bestimmten Äußerungsfrist oder deren Verlängerung nicht bescheidet, sondern in der
Sache entscheidet (BVerwG Beschl. v. 10.12.2004 Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 67; Beschl.
v. 15.12.2004 Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 68).
137 Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist jedoch nur verletzt, wenn der Beteiligte sich überhaupt noch
geäußert hätte und dabei Entscheidungserhebliches vorgebracht hätte. Entscheidet das Gericht vor Ablauf der Äußerungsfrist, liegt darin gleichwohl keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn die Entscheidung erst nach Ablauf der Äußerungsfrist zugestellt wurde, bis dahin keine Äußerung eingegangen
ist und der Revisionskläger auch nicht vorgetragen hat, das Gericht habe ihn von einer Äußerung abgehalten (BVerwG Beschl. v. 14.2.1996 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 43).
138 Anders verhält es sich, wenn das Berufungsgericht die Frist nicht abwartet, innerhalb der sich der Beteiligte zu der Absicht äußern durfte, über die Berufung gem. § 130 a S. 1 ohne mündliche Verhandlung
durch Beschluss zu entscheiden. Erlässt das Berufungsgericht den Beschluss vor Ablauf der Äußerungsfrist, fehlt es an der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung. Damit lagen die Voraussetzungen nicht vor,
unter denen das Berufungsgericht ausnahmsweise von einer mündlichen Verhandlung absehen durfte.
In dem deshalb gesetzwidrigen Unterbleiben der mündlichen Verhandlung liegt ein Verstoß gegen den
Anspruch auf rechtliches Gehör, der stets den absoluten Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 ergibt.
139 Dasselbe gilt, wenn das Gericht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2) und eine Frist nicht abwartet, die es den Beteiligten für deren abschließenden
Vortrag zur Sache eingeräumt hat. Denn in diesem Fall wird das Gesamtergebnis des Verfahrens durch
den schriftlichen Vortrag der Beteiligten erarbeitet (BFH BFH/NV 2002, 945, 946).
140 c) Einführung von Entscheidungsgrundlagen in den Prozess. Das Gericht kann seine Entscheidung nur
auf solche Tatsachen stützen, zu denen die Beteiligten sich zuvor äußern konnten (§ 108 Abs. 2). Dafür
müssen die Tatsachen ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt werden.
141 Das Gericht darf sein Urteil nicht auf Tatsachen stützen, die es erst nach Schluss der letzten mündlichen
Verhandlung ohne Beweisbeschluss selbständig ermittelt hat (BVerwG BayVBl 1972, 136). Nachträglich
ermittelte Tatsachen kann das Gericht nur dadurch zur Grundlage der Entscheidung machen, dass es
die mündliche Verhandlung wiedereröffnet und den Beteiligten dort Gelegenheit zur Äußerung gibt.
142 Das Gericht darf nicht zum Beleg für eine entscheidungserhebliche Annahme lediglich auf eine gerichtliche Entscheidung verweisen, ohne diese zuvor in das Verfahren eingeführt zu haben (BVerwG Beschl.
v. 23.4.2001 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 248). Das Gericht darf nicht im Urteil unveröffentlichte
Erlasse oder Urkunden als Beweismittel würdigen und verwerten, ohne die ihnen zu entnehmenden Erkenntnisse den Beteiligten zumindest inhaltlich in der gebotenen Weise zugänglich gemacht zu haben70. Dasselbe gilt für Akten, die das Gericht im Urteil verwertet71. Werden erst im Termin zur münd68 BVerwG Urt. v. 12.2.1991 Buchholz 11 Art. 9 Nr. 27; NJW 1992, 327; Urt. v. 10.3.2000 Buchholz 310 § 139 Abs. 3
VwGO Nr. 7; BFH BFH/NV 2002, 945, 946.
69 Vgl, BayObLG MDR 2003, 170: Frist von etwa zwei bis drei Wochen ist bei einer angekündigten Rechtsmittelerwiderung angemessen.
70 Vgl. BVerwG Urt. v. 15.4.1969 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 38; Urt. v. 20.3.1985 Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 163.
71 BVerwG Urt. v. 4.11.1977 Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 142; Urt. v. 20.3.1985 310 § 108 VwGO Nr. 163; Beschl.
v. 7.10.2003 – 7 B 68.03; Beschl. v. 6.6.2006 – 3 B 98.06.
2782
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
lichen Verhandlung dem Gericht umfangreiche Akten überreicht und will das Gericht daraus später Teile
als Beweismittel verwerten, mit deren Vorhandensein die Beteiligten nicht zu rechnen brauchten, muss
es die Existenz dieser Unterlagen und ihre mögliche Erheblichkeit für den Ausgang des Prozesses zuvor
mit den Beteiligten erörtern (BVerwG Urt. v. 4.11.1977 Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 142).
Auf allgemeinkundige Tatsachen darf das Gericht seine Entscheidung nur stützen, wenn die Beteiligten 143
zuvor Gelegenheit zur Äußerung hatten72. Das Gericht darf seine tatsächlichen Feststellungen nicht auf
allgemeine Erfahrungssätze stützen, die es den Beteiligten nicht mitgeteilt hat, es sei denn, sie seien aus
allgemeinkundigen Tatsachen abgeleitet, die allen Beteiligten gegenwärtig und als entscheidungserheblich bewusst sind (BVerwGE 67, 83). Gerichtskundige Tatsachen oder "gerichtsbekannte Unterlagen"
muss das Gericht entweder zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung machen oder es muss sie den
Beteiligten sonst zugänglich machen, wenn es seine Entscheidung hierauf stützen will73. Ebenso hat das
Gericht vorzugehen, wenn es auf besonderer Sachkunde beruhende Tatsachen zur Grundlage seiner
Entscheidung machen will (BVerwG Urt. v. 26.11.1979 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 111).
Macht das Gericht durch den Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten einen Umstand zum Gegen- 144
stand der mündlichen Verhandlung, der den Beteiligten bis dahin unbekannt war, ist das Gericht zur
Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verpflichtet, einem Beteiligten von diesem Umstand Kenntnis zu
geben, wenn er nicht rechtzeitig zum Termin erschienen ist und bei dem Vortrag des wesentlichen Inhalts
der Akten noch nicht anwesend war. Das gilt auch dann, wenn der Beteiligte nach seinem Eintreffen auf
eine Wiederholung des Vortrags des wesentlichen Akteninhalts verzichtet hat (BVerwG Urt.
v. 29.1.1982 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 125).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist in diesen Fällen verletzt, wenn das prozessordnungswidrige Ver- 145
halten des Gerichts den Beteiligten gehindert hat, zu den verwerteten Tatsachen, Unterlagen oder Akten
Entscheidungserhebliches vorzutragen. Der Revisionskläger muss darlegen, was er Entscheidungserhebliches vorgetragen hätte, wenn das Gericht die von ihm verwerteten Umstände ordnungsgemäß zur
Grundlage seiner Entscheidung gemacht hätte (BVerwG Urt. v. 21.5.1980 Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 116; Beschl. v. 14.4.2005 Buchholz 310 § 133 (n.F.) VwGO Nr. 81).
d) Hinweispflicht. Eine Entscheidung stellt sich als "Überraschungsurteil" dar, wenn das Gericht einen 146
bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen
Verlauf des Verfahrens selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht
zu rechnen brauchten (Rn. 107). Gibt das Gericht einen rechtlichen Hinweis, hat es die Beteiligten auf
eine Änderung der rechtlichen Beurteilung hinzuweisen, wenn es an der zunächst geäußerten Rechtsauffassung nicht mehr festhalten will (BFH BFH/NV 2003, 1440, 1441). Der unterbliebene Hinweis
führt zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs, wenn der Beteiligte aufgrund des gebotenen Hinweises
weiter zur Sache Entscheidungserhebliches vorgetragen hätte, mit dem das Gericht sich in den Entscheidungsgründen hätte auseinandersetzen müssen. Der Revisionskläger muss deshalb darlegen, dass er sich
geäußert hätte und was er dabei vorgetragen hätte.74
Ein Beteiligter kann aber nicht generell erwarten, das Gericht werde zumindest "Andeutungen" zur 147
Rechtslage und zur Einschätzung des Sachverhalts machen. Ist ein Beteiligter anwaltlich vertreten, darf
das Gericht davon ausgehen, dass sich der Prozessbevollmächtigte mit der maßgeblichen Sach- und
Rechtslage hinreichend vertraut gemacht hat (BVerwG NVwZ-RR 2001, 798, 800). Eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das Gericht einen Rechtsstandpunkt eingenommen hat, der
aufgrund der vorhandenen Rspr. bekannt sein konnte75. Will das Gericht von seiner bisherigen Rspr.
abweichen, kann in Ausnahmefällen ein Hinweis an die Beteiligten erforderlich sein (BVerwG NVwZRR 2001, 798, 800; Beschl. v. 22.12.2004 Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 59). Stützt das Gericht
72 BVerfGE 48, 206, 209; BVerwG Beschl. v. 15.10.1999 Buchholz 310 § 138 Ziff 3 VwGO Nr. 63; anders BVerwG Urt.
v. 21.5.1980 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 116.
73 BVerwG Urt. v. 26.11.1979 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 111; BVerwGE 62, 123; BVerwG Beschl. v. 24.7.2001
Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 35; Beschl. v. 3.5.2002 – 4 B 1.02.
74 BVerwG Urt. v. 24.9.1992 Buchholz 451.512 MGVO Nr. 61; Beschl. v. 26.5.1998 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO
Nr. 46.
75 BVerwG NVwZ-RR 2001, 798, 800; Beschl. v. 7.10.2004 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 293; hingegen kann ein
Verstoß gegen rechtliches Gehör vorliegen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf eine
vereinzelte Literaturmeinung stützt: HessStGH NJW-RR 2002, 424.
Neumann
2783
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
seine Entscheidung ohne vorherigen Hinweis auf eine Rechtsgrundlage, welche die Beteiligten bis dahin
nicht erörtert und in Betracht gezogen haben, ist das rechtliche Gehör jedenfalls dann nicht verletzt,
wenn diese Rechtsgrundlage geringere Anforderungen stellt als diejenige, zu der die Beteiligten sich äußern konnten (BVerwG Beschl. v. 23.8.1989 Buchholz 442.053 PostgiroO Nr. 3).
148 Ein Beteiligter darf auch nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite
als möglich vorausgesehen werden konnte BFH BFH/NV 2002, 36,37). Ein Gericht ist aber i.d.R. nicht
verpflichtet, seine Schlussfolgerung aus den ihm vorliegenden Tatsachen mit den Beteiligten zu erörtern,
zumal diese Würdigung letztlich erst in der abschließenden Beratung vorgenommen werden kann.76
149 Hat das Gericht eine Beweisaufnahme beschlossen, muss es die Beteiligten rechtzeitig vor einer Sachentscheidung unterrichten, wenn es den Beweisbeschluss nicht oder nicht vollständig ausführen will77.
Hebt das Gericht einen Beweisbeschluss auf, muss es den Beteiligten vor der Sachentscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme geben.
150 e) Mündliche Verhandlung. Findet eine mündliche Verhandlung statt, begründet der Anspruch auf
rechtliches Gehör das Recht der Beteiligten auf Äußerung in dieser Verhandlung. Zum rechtlichen Gehör
gehört auch der Anspruch eines Beteiligten, sich in der Verhandlung durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen78. Dem Gebot rechtlichen Gehörs genügt das Gericht regelmäßig dadurch, dass es eine mündliche Verhandlung anberaumt, die Beteiligten ordnungsgemäß lädt und
die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet sowie in ihr Gelegenheit zur Äußerung gibt.
151 aa) Ladung. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht allein deshalb verletzt, weil das Gericht bei
der Ladung eines Beteiligten die Ladungsfrist nicht eingehalten oder diese verkürzt hat, obwohl ein
dringender Fall i.S.d. § 102 Abs. 1 S. 2 nicht vorlag. Das rechtliche Gehör kann aber verletzt sein, wenn
der Beteiligte sich in der ihm verbleibenden Zeit auf die mündliche Verhandlung nicht ausreichend vorbereiten konnte oder ihm eine Teilnahme an dem Termin wegen zu kurzfristiger Ladung nicht möglich
war (BVerwGE 44, 307; BVerwG Beschl. v. 8.3.2006 Buchholz 310 § 102 VwGO Nr. 24; BFH NVwZRR 2002, 615). Um sich rechtliches Gehör zu verschaffen, muss er aber derartige Gründe mit einem
Antrag auf Aufhebung oder Verlegung des Termins geltend machen. Er kann nicht der mündlichen
Verhandlung im Vertrauen darauf fernbleiben, das Gericht werde die zu kurze Ladungsfrist erkennen
und nicht ohne ihn verhandeln (BVerwG NJW 1987, 2694).
152 Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Gericht in Abwesenheit eines Beteiligten
mündlich verhandelt hat, obwohl er zu der Verhandlung nicht ordnungsgemäß geladen war, eine ordnungsgemäße Ladung sich jedenfalls nicht nachweisen lässt.79
153 Weiß das Gericht aus dem Rücklauf der Postzustellungsurkunde, dass die Ladung nur durch Niederlegung zugestellt ist, ist das Gericht nicht stets gehalten, sich vor der mündlichen Verhandlung zu vergewissern, ob die Ladung abgeholt worden ist. Es ist grds. Sache des Beteiligten die Ladung abzuholen.
Unterlässt er dies, hat er nicht alles Erforderliche zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs getan. Das gilt
auch dann, wenn der Beteiligte nicht anwesend ist, aber auf andere Weise von der Niederlegung einer
Sendung erfährt. Er muss dann sogleich versuchen, sich Kenntnis von dem Inhalt der niedergelegten
Sendung zu verschaffen, ggf. durch einen Anruf bei Gericht, ob für ihn eine Sendung zugestellt worden
ist (BVerwG Beschl. v. 10.1.2003 – 7 B 72.02).
154 bb) Aufruf der Sache. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergeben sich Anforderungen an einen
ordnungsgemäßen Aufruf der Sache, § 103 Abs. 2 (ausf.: BVerfGE 42, 364, 369 ff.; BVerwGE 72, 28 ff.).
76 Vgl. BVerwG Beschl. v. 31.8.1979 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 109; GewArch 1995, 114.
77 BVerwGE 17, 172, 173; BVerwG Urt. v. 16.8.1973 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 20; enger wohl BFH BFH/
NV 2006, 1308.
78 BVerwG Urt. v. 9.12.1983 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 141; NVwZ 1989, 857; VGH Mannheim VBlBW 2001,
453, 454; anders wohl BVerwG Urt. v. 9.7.1980 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 31.
79 BVerwG Urt. v. 17.11.1983 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 37; Beschl. v. 25.1.2005 – 7 B 93.04; zu einer Ladung
durch Telefax vgl. BFH BFH/NV 2003, 1426.
2784
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
cc) Eröffnung der mündlichen Verhandlung. Ist zur festgesetzten Terminsstunde ein ordnungsgemäß 155
geladener Beteiligter nicht anwesend, liegt es grds. im Ermessen des Vorsitzenden, ob er dennoch die
mündliche Verhandlung sogleich eröffnet (§ 103 Abs. 1) oder noch eine gewisse Zeit abwartet.80
Tritt bei der Anreise zum Termin ein Umstand ein, der dem Beteiligten oder seinem Prozessbevollmäch- 156
tigten ein rechtzeitiges Erscheinen zur Verhandlung unmöglich macht, muss er dem Gericht mitteilen,
ob und ggf. wann er noch zur mündlichen Verhandlung erscheinen kann. Ist dies unterblieben, ist es
nicht zu beanstanden, wenn das Gericht die mündliche Verhandlung zur angesetzten Terminsstunde
eröffnet und ohne den abwesenden Beteiligten oder seinen Prozessbevollmächtigten verhandelt (BVerwG
Beschl. v. 25.11.1987 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 196; NVwZ 1989, 857). Ist zwar der Beteiligte,
nicht aber sein Prozessbevollmächtigter zur angesetzten Terminsstunde erschienen, kann das Gericht
ebenfalls die mündliche Verhandlung eröffnen und in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten verhandeln, wenn der erschienene Beteiligte damit einverstanden ist (BVerwG NVwZ 1989, 857;
OVG Münster NVwZ-RR 2002, 785).
Erfährt das Gericht vor Beginn der mündlichen Verhandlung, dass der Prozessbevollmächtigte eines 157
Beteiligten den Termin zwar wahrnehmen will, aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen aber nicht
pünktlich erscheinen kann, so hat es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs mit der Eröffnung der mündlichen Verhandlung zu warten, sofern und solange das mit dem Interesse an der Einhaltung der Tagesordnung zu vereinbaren ist81. Hat ein Beteiligter sein Erscheinen oder die Möglichkeit einer geringen
Verspätung ausdrücklich angekündigt, kann er im Allgemeinen damit rechnen, dass das Gericht eine
gewisse Zeit wartet und die Verhandlung nicht bereits wenige Minuten nach der Terminszeit abgeschlossen ist82. Ist ein (weiteres) Zuwarten nicht (mehr) vertretbar, muss der Termin zur Gewährung
rechtlichen Gehörs gem. § 173, § 227 ZPO von Amts wegen aufgehoben oder verlegt werden. Voraussetzung hierfür ist, dass der Prozessbevollmächtigte alles Erforderliche und ihm Mögliche getan hat, um
den Verhandlungstermin rechtzeitig wahrzunehmen (zu den erforderlichen Anstrengungen etwa
BVerwG NJW 1988, 577), hieran jedoch ohne sein Verschulden gehindert worden ist83. Trifft der Prozessbevollmächtigte erst zu einem Zeitpunkt ein, zu dem die mündliche Verhandlung zwar bereits geschlossen, eine Entscheidung aber noch nicht verkündet ist, muss er die Wiedereröffnung der mündlichen
Verhandlung beantragen84. Haben sich die anderen Beteiligten bereits entfernt, muss das Gericht aufgrund des dargelegten Verspätungsgrundes die Entscheidung verkünden, dass ein neuer Termin zur
mündlichen Verhandlung anberaumt werde (BVerwG NVwZ 1989, 857; NJW 1992, 3185).
dd) Vertagung der mündlichen Verhandlung. Ein Beteiligter kann in der mündlichen Verhandlung einen 158
Antrag auf Vertagung der Verhandlung stellen, dem das Gericht zu entsprechen hat, wenn erhebliche
Gründe die Vertagung verlangen, § 173, § 227 Abs. 1 S. 1 ZPO (BVerwGE 44, 307). Erhebliche Gründe
für eine Vertagung können etwa vorliegen, wenn das Gericht in der mündlichen Verhandlung auf einen
bis dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt hinweist, zu dem der Prozessbevollmächtigte eines
Beteiligten sich nicht ohne Rücksprache mit seinem abwesenden Mandanten und nicht ohne weitere
tatsächliche Informationen durch diesen äußern kann.85
In diesen Fällen hat aber eine mündliche Verhandlung stattgefunden, an welcher der Revisionskläger 159
teilnehmen und in der er sich äußern konnte. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass das
Gericht ihm durch die rechtswidrige Ablehnung der Vertagung die Möglichkeit zu weiterem entscheidungserheblichen Vortrag abgeschnitten hat. Der Revisionskläger muss darlegen, was er noch Entscheidungserhebliches hätte vortragen können, wenn die Verhandlung vertagt worden wäre (BVerwG Beschl.
v. 13.8.1981 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 33).
80 BVerwG NJW 1986, 206, 207; NVwZ 1989, 857; OVG Münster NVwZ-RR 2002, 785; vgl. auch VerfGH Berlin
JR 2002, 11: Wartezeit von 15 Minuten sei üblich.
81 BVerwG NJW 1979, 1619; Urt. v. 10.12.1985 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 178; Urt. v. 11.4.1989 Buchholz 310
§ 104 VwGO Nr. 23; NJW 1992, 3185.
82 BVerwG NJW 1986, 206, 207: zehn Minuten zu kurz; vgl. auch VerfGH Berlin JR 2002, 11.
83 BVerwG Urt. v. 10.12.1985 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 178; Urt. v. 26.11.1987 Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 10;
Urt. v. 11.4.1989 Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 23; Urt. v. 27.11.1989 Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 14; Beschl.
v. 25.11.1987 Buchholz § 108 VwGO Nr. 196; NJW 1992, 3185.
84 BVerwG NJW 1992, 3185; vgl. auch BVerwG Beschl. v. 6.12.1988 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 210.
85 BVerwG DVBl 1982, 635; ähnlich BVerwG Urt. v. 11.3.1981 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 119.
Neumann
2785
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
160 Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegt ferner regelmäßig vor, wenn das Gericht
ein Endurteil verkündet, ohne zuvor durch einen gesondert verkündeten Beschluss über den Antrag auf
Vertagung zu entscheiden und die mündlichen Verhandlung mit der Gelegenheit fortzusetzen, der Prozesslage entsprechende Sachanträge zu stellen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn
das Gericht dem Beteiligten die Möglichkeit zu weiterem entscheidungserheblichen Vortrag genommen
hat. Das hat der Revisionskläger darzulegen (vgl. aber auch BVerwG Urt. v. 10.5.1984 Buchholz 310
§ 108 VwGO Nr. 149).
161 ee) Erörterung in der Verhandlung. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Gericht
die mündliche Verhandlung auf einen von mehreren Streitpunkten beschränkt, dann aber über den gesamten Sachverhalt entscheidet, ohne den Beteiligten Gelegenheit zu geben, zu weiteren Streitpunkten
Stellung zu nehmen.86
162 ff) Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten. Bleibt ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter der
mündlichen Verhandlung fern, kann grds. auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden (§ 102
Abs. 2).
163 Ist ein Beteiligter trotz ordnungsgemäßer Ladung zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen, muss
er damit rechnen, dass die anderen Beteiligten ihr bisheriges Vorbringen in der mündlichen Verhandlung
in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht ergänzen. Das Gericht kann dieses Vorbringen bei seiner Entscheidung berücksichtigen, ohne dem fern gebliebenen Beteiligten besonders Gelegenheit zur Äußerung
zu geben87. Das Gericht darf aber schriftliches Vorbringen eines Beteiligten nur zugrunde legen, wenn
es den anderen Beteiligten rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gegeben worden
ist (BVerwGE 78, 30; BVerwG Urt. v. 25.5.1988 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 201). Ein Beteiligter
muss aber nicht damit rechnen, dass im Wege der Klageänderung ein neuer Streitgegenstand in das
Verfahren eingeführt und aufgrund der mündlichen Verhandlung sofort über diesen Streitgegenstand
entschieden wird. Das Gericht muss dem fern gebliebenen Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung zu der
geänderten Klage geben (BVerwG Beschl. v. 20.12.2000 Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 31).
Unterlässt es dies, verletzt es den Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Beteiligte hat damit zugleich keine
Gelegenheit gehabt, sich zu dem Gesamtergebnis der mündlichen Verhandlung zu äußern.
164 gg) Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130 a. Das Berufungsgericht
kann nach § 130 a über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die
Beteiligten sind vorher hierzu anzuhören (§§ 130 a S. 2, 125 Abs. 2 S. 3). Fehlte es an einer Anhörung
überhaupt88 oder war die Anhörung nicht ordnungsgemäß89, durfte das Berufungsgericht von einer
mündlichen Verhandlung nicht absehen. Weil in diesem Fall die vorgeschriebene mündliche Verhandlung unterblieben ist, ist allein deshalb das rechtliche Gehör der Beteiligten verletzt und der absolute
Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 gegeben90. Es kommt nicht darauf an, ob das Gericht auch bei ordnungsgemäßer Anhörung von einer mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen. Unerheblich ist, ob
die unzureichende Anhörung den Revisionskläger konkret benachteiligt hat (BVerwG NVwZ 1994,
362). Der Revisionskläger braucht nur darzulegen, dass und aus welchem Grund die Anhörung den
gesetzlichen Anforderungen nicht genügt hat und die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch
Beschluss nicht vorlagen (BVerwG Beschl. v. 24.3.2006 – 10 B 55.05). Die Verletzung rechtlichen Gehörs, die den absoluten Revisionsgrund ausmacht, liegt in dem gesetzwidrigen Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung.
86 BVerwG Urt. v. 13.8.1965 Buchholz § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 17; NVwZ 2002, 87, 89.
87 Vgl. dazu BVerwG Urt. v. 7.8.1967 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 30; BVerwGE 61, 145; BVerwG Urt. v. 25.5.1988
Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 201; a.A.: BFH BFH/NV 2004, 51, 52.
88 Dem steht gleich, dass der Zugang eines Anhörungsschreibens nicht festgestellt werden kann: BVerwG Beschl.
v. 25.4.2005 Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 72.
89 Zu den Anforderungen hieran: BVerwG DÖV 2008, 79; Beschl. v. 27.11.2007 – 5 B 83.06; Beschl. v. 24.3.2006 –
10 B 55.05; ferner § 130 a Rn. 17 ff.
90 BVerwG Urt. v. 6.3.1990 Buchholz 312 EntlG Nr. 60; NVwZ-RR 1994, 120; NVwZ-RR 1994, 362; NVwZ-RR 1998.
783; NVwZ 1999, 1107; Beschl. v. 24.3.2006 – 10 B 55.05; DÖV 2008, 79. Anders BVerwG Beschl. v. 28.4.1997
Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 380: Danach soll es darauf ankommen, ob der Revisionskläger durch die nicht
ordnungsgemäße Anhörung von weiterem entscheidungserheblichem Vortrag abgehalten worden ist. Die Entscheidung
übersieht, dass die Verletzung rechtlichen Gehörs in dem Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung liegt.
2786
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Dasselbe gilt, wenn das OVG ermessensfehlerhaft von der Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130 a Gebrauch gemacht hat. Das ist der Fall, wenn der Verzicht auf eine mündliche
Verhandlung auf sachfremden Erwägungen oder auf grober Fehleinschätzung beruht, etwa weil die
Rechtssache außergewöhnlich große Schwierigkeiten in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht aufweist
(BVerwGE 121, 211).
Stellt ein Beteiligter bei seiner Anhörung einen Beweisantrag, der in der mündlichen Verhandlung gem.
§ 86 Abs. 2 vorab beschieden werden müsste, bedarf es in aller Regel eines Hinweises des Berufungsgerichts, dass es an seiner Absicht festhält, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, und dem Beweisantrag nicht nachgehen wird91. Eine erneute Anhörung ist auch dann erforderlich, wenn der Beteiligte auf die erste Anhörung hin seinem bisherigen Vortrag um neues Vorbringen ergänzt (BVerwG Urt.
v. 6.3.1990 Buchholz 312 EntlG Nr. 60). Von der erneuten Anhörung kann das Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei absehen, wenn das Vorbringen unsubstantiiert ist oder früheren Vortrag lediglich wiederholt. Entsprechendes gilt bei Beweisanträgen (BVerwG BayVBl 1997, 253; Beschl. v. 22.6.2007 –
10 B 56.07); insoweit bedarf es einer erneuten Anhörung auch dann nicht, wenn das Gericht die zu
beweisende Tatsache als wahr unterstellt und es daher auf das angebotene Beweismittel mangels Entscheidungserheblichkeit nicht ankommt (BVerwG Beschl. v. 4.4.2003 Buchholz 310 § 130 a VwGO
Nr. 62).
Hat das Berufungsgericht von einer zweiten Anhörung abgesehen, ist die fehlerhafte Anhörung und
damit das gesetzwidrige Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nur dann ordnungsgemäß gerügt,
wenn der Revisionskläger darlegt, dass sein Vortrag nach der ersten Anhörung aus der maßgeblichen
Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblich war und deshalb das Berufungsgericht zu einer Wiederholung der Anhörung hätte veranlassen müssen. Hingegen kommt es nicht darauf an, was der Revisionskläger bei ordnungsgemäßer erneuter Anhörung sonst noch vorgetragen hätte.92 Denn fehlt die
ordnungsgemäße Anhörung, durfte nicht ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Hat das VG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden, kann das OVG der Berufung nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130 a stattgeben (BVerwGE 116,
123). Dadurch würde der Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt, der in erster Instanz
obsiegt hat. Der Beteiligte ist gehalten, sich Gehör zu verschaffen. Hört ihn das OVG zu seiner Absicht
an, über die Berufung nach § 130 a durch Beschluss zu entscheiden, und weist es dabei (ordnungsgemäß)
darauf hin, dass es der Berufung voraussichtlich stattgegeben wird, muss der Beteiligte deutlich machen,
dass er eine mündliche Verhandlung wünscht. Ebenso wenig darf das OVG durch Beschluss nach
§ 130 a entscheiden, wenn das VG verfahrensfehlerhaft gänzlich ohne mündliche Verhandlung oder ohne Beteiligung des nicht ordnungsgemäß geladenen Klägers an der mündlichen Verhandlung entschieden
hat (BVerwG Beschl. v. 8.8.2007 – 10 B 74.07).
164a
165
166
167
hh) Verwerfung der Berufung ohne mündliche Verhandlung nach § 125 Abs. 2. Nach § 125 Abs. 2 kann 168
eine unzulässige Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss verworfen werden. Nach
§ 125 Abs. 2 S. 3 sind die Beteiligten dazu vorher zu hören. Hat das Berufungsgericht ohne eine solche
Anhörung durch Beschluss entschieden, ist der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt.
Der Beschluss beruht nach § 138 Nr. 3 stets auf dieser Verletzung (BVerwG Urt. v. 8.12.1993 –
11 C 41.92). Der Revisionskläger braucht nicht darzulegen, was er bei ordnungsgemäßer Anhörung
etwa zur Zulässigkeit der Berufung oder zu der beabsichtigten Verfahrensweise noch vorgetragen hätte.
Ist die Anhörung gesetzwidrig unterblieben, durfte der Beschluss schon deshalb nicht ergehen.
ii) Entscheidung im Normenkontrollverfahren ohne mündliche Verhandlung. Nach § 47 Abs. 5 S. 1 169
entscheidet das OVG im Normenkontrollverfahren durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Dieses Verfahrensermessen wird nach Auffassung
des BVerwG durch Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK eingeschränkt. Wendet sich der Eigentümer eines im Plangebiet gelegenen Grundstücks gegen eine Festsetzung in einem Bebauungsplan, die unmittelbar sein
Grundstück betrifft, ist über seinen Normenkontrollantrag aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu
entscheiden, es sei denn, der Antrag ist offensichtlich unzulässig. Entscheidet das OVG über einen sol91 BVerwG Urt. v. 28.6.1983 Buchholz 312 EntlG Nr. 32; Urt. v. 6.3.1990 Buchholz 312 EntlG Nr. 60; NVwZ-RR 1994,
120; Urt. v. 16.3.1994 Buchholz 442.151 § 46 StVO Nr. 10; Beschl. v. 24.11.1994 Buchholz 310 § 130 a VwGO
Nr. 12; Beschl. v. 28.4.1997 Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 380.
92 I.d.S. aber BVerwG Beschl. v. 18.3.1992 Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 4; NVwZ-RR 1994, 120; BayVBl 1997, 253.
Neumann
2787
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
chen Normenkontrollantrag ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, liegt der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 vor (BVerwGE 110, 203; BVerwG, NVwZ 2008, 696 ff.). Ist der Antragsteller
nicht Eigentümer eines Grundstücks im Geltungsbereich des streitigen Bebauungsplans, ist unsicher, in
welchen Fällen das OVG ermessensfehlerfrei von einer mündlichen Verhandlung absehen kann. Nach
der Rspr. des BVerwG soll maßgeblich sein, ob die angegriffene planerische Festsetzung auf das Grundeigentum des Antragstellers unmittelbar einwirkt und welche konkreten Beeinträchtigungen bspw. erst
in einem nachfolgenden Baugenehmigungsverfahren zu beurteilen sind (BVerwG NVwZ 2002, 87).
170 jj) Urteil ohne mündliche Verhandlung. Entscheidet das Gericht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung, ist stets der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 gegeben, wenn der Revisionskläger sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht oder nicht wirksam erklärt hat
(§ 101 Abs. 2).93 Ändert sich die Prozesslage nach dem Verzicht wesentlich, ist der Verzicht dadurch
zwar weder verbraucht noch widerruflich (BVerwG Beschl. v. 1.3.2006 – 7 B 90.05). Jedoch steht es im
Ermessen des Gerichts, ob es trotz wirksamen Verzichts ohne mündliche Verhandlung entscheidet. Das
Gericht hat in diesem Zusammenhang dafür einzustehen, dass trotz der unterbleibenden mündlichen
Verhandlung das rechtliche Gehör der Beteiligten nicht verletzt wird (BVerwG NVwZ-RR 2004, 77).
Daraus kann sich auch die Pflicht ergeben, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, wenn ein Beteiligter geltend macht, eine wesentliche Änderung der Prozesslage erfordere unter dem Gesichtspunkt
seines rechtlichen Gehörs deren Durchführung (BVerwG Beschl. v. 1.3.2006 – 7 B 90.05).
171 Geht ein Schriftsatz ein, nachdem das Gericht die Entscheidung durch Unterzeichnung des Urteils gefällt
hat, aber bevor die Entscheidung zur Zustellung der Post übergeben ist, muss das Gericht den Schriftsatz
noch berücksichtigen und kenntlich machen, dass dies geschehen ist. Fehlt es daran, muss das Rechtsmittelgericht davon ausgehen, dass der Schriftsatz bei der Entscheidung nicht berücksichtigt und damit
der Anspruch auf rechtliches Gehör des Beteiligten verletzt worden ist (OLG Zweibrücken
Rpfleger 2002, 439).
172 f) Prozesskostenhilfe. Problematisch ist, ob im Revisionsverfahren geltend gemacht werden kann, die
Vorinstanz habe den Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass sie einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und damit einhergehend die Beiordnung eines Rechtsanwalts zu Unrecht
abgelehnt hat94. Entscheidungen des OVG über die Versagung von Prozesskostenhilfe sind unanfechtbar
(§ 152) und unterliegen deshalb nach § 173, § 557 Abs. 2 ZPO keiner Überprüfung des Revisionsgerichts. Das BVerwG kann aber überprüfen, ob wegen ihrer Fehlerhaftigkeit die anfechtbare Endentscheidung gegen eine verfassungsrechtliche Verfahrensgarantie verstößt, etwa den Anspruch auf rechtliches Gehör. Dabei hat das BVerwG indes zu beachten, dass es Aufgabe des Tatsachengerichts war, bei
der Entscheidung über die Gewährung der Prozesskostenhilfe in summarischer Einschätzung der damaligen Prozesslage die Erfolgsaussicht zu würdigen und sich über die Erforderlichkeit der Beiordnung eines
Rechtsanwalts sein Urteil zu bilden. Diese tatrichterliche Einschätzung unterliegt nur in Grenzen einer
revisionsgerichtlichen Beurteilung. Das BVerwG hat seine Prüfung darauf zu beschränken, ob die Vorinstanz den Sinn der Prozesskostenhilfe und der Beiordnung eines Rechtsanwalts als verfahrensrechtliche
Ausgestaltung des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt hat, ob es sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.
173 g) Prozesspfleger. Hält das Gericht einen Kläger für (partiell) prozessunfähig, kann es der Grundsatz
rechtlichen Gehörs erfordern, dem Kläger einen Pfleger für den Prozess zu bestellen. Nach § 62 Abs. 4,
§ 57 ZPO ist die Bestellung eines Prozesspflegers an sich nur für den Beklagten vorgesehen. Nach der
Rspr. des BVerwG ist aber die Bestellung eines Vertreters auch für den prozessunfähigen Kläger in engen
Grenzen erforderlich. Erforderlich ist sie auf dem Gebiet der Sozialhilfe, wenn die geltend gemachte
Hilfsbedürftigkeit auf demselben Mangel beruht, der auch zur Prozessunfähigkeit führt. Erforderlich ist
sie ferner auf dem Gebiet der Eingriffsverwaltung.95 Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der
93 BVerwG DVBl 2003, 747; zu den Anforderungen an ein wirksames Einverständnis vgl. BVerwGE 14, 17, 18; 22, 271,
272; BVerwG NJW 1969, 252; BVerwGE 62, 6; BVerwG Urt. v. 22.6.1982 Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 13;
NJW 1984, 645; OVG Bautzen SächsVBl 2008, 123.
94 BVerwG Beschl. v. 26.7.1974 Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 11; BVerwGE 51, 111; 51, 277; Kopp/Schenke § 138
Rn. 10.
95 BVerwGE 23, 15; BVerwG Urt. v. 22.5.1974 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 12; Beschl. v. 21.8.1979 Buchholz 310
§ 62 VwGO Nr. 14; Beschl. v. 9.12.1986 Buchholz 303 § 57 ZPO Nr. 2.
2788
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, wenn die Bestellung eines besonderen Vertreters unterblieben ist (BVerwG Beschl. v. 9.12.1986 Buchholz 303 § 57 ZPO Nr. 2).
h) Terminsverlegung. Ein anberaumter Termin zur mündlichen Verhandlung kann nach § 173, § 227 174
ZPO aufgehoben oder verlegt werden. Der Beteiligte kann eine solche Änderung verlangen, wenn er an
dem anberaumten Termin aus „erheblichen Gründen“ verhindert ist96. Lehnt das Gericht den Antrag
auf Aufhebung oder Verlegung des Termins ab, obwohl der Beteiligte aus erheblichen Gründen an einer
Teilnahme gehindert ist, und bleibt der Beteiligte deshalb der mündliche Verhandlung fern, ist sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt97. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs erfasst den gesamten
Prozessstoff. Der Revisionskläger braucht nicht darzulegen, was er in der mündlichen Verhandlung
vorgetragen hätte, wenn das Gericht nicht seine Teilnahme an ihr verhindert hätte.98
Diese Grundsätze gelten zum einen dann, wenn der Beteiligte nicht durch einen Prozessbevollmächtigten 175
vertreten ist und in seiner Person ein erheblicher Grund vorliegt, der seiner Teilnahme an der mündlichen
Verhandlung entgegensteht99. Sie gelten zum anderen dann, wenn der Beteiligte durch einen Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigten vertreten ist und in dessen Person derartige Gründe vorliegen (BVerwG
Beschl. v. 9.8.2007 – 5 B 10.07). In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob der Beteiligte den Termin
persönlich wahrnehmen könnte (anders BVerwG Urt. v. 9.7.1980 Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO
Nr. 31). Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht, sich in der mündlichen Verhandlung durch einen rechtskundigen Vertreter zu äußern, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein
Verfahren handelt, für das nach § 67 Vertretungszwang besteht.100
i) Verspätete Entscheidungsfindung. § 116 Abs. 2 gebietet, dass der Richter sich unmittelbar nach der 176
mündlichen Verhandlung, spätestens aber zwei Wochen danach i.E. festlegt. Die fristgerechte Fällung
der Entscheidung soll den Beteiligten gewährleisten, dass das Gericht ihr schriftliches und mündliches
Vorbringen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern bei der Entscheidungsfindung auch tatsächlich
in Erwägung gezogen hat. § 116 Abs. 2 sichert damit den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung
rechtlichen Gehörs (BVerfG NJW 1990, 651; BVerwGE 106, 366; 110, 40, 47 f.; § 116 Rn. 36).
§ 116 Abs. 2 knüpft nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie an das richterliche Erinnerungsvermögen 177
an. Gegen die Vorschrift ist bereits dann verstoßen, wenn die dort vorgeschriebene Frist von zwei Wochen für die Entscheidungsfindung auch nur um einen Tag überschritten wird. Der Richter handelt zwar
verfahrensfehlerhaft, wenn er sich erst nach Ablauf der Frist von zwei Wochen i.E. festlegt. Wenn er
dabei das gesamte schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nimmt und
bedenkt, liegt aber nicht zugleich auch ein Verstoß gegen die Gewährleistung rechtlichen Gehörs vor
(BVerwGE 110, 40, 47 f.).
Wie bei allen Verstößen gegen Vorschriften, die einfachrechtlich den Grundsatz rechtlichen Gehörs aus- 178
prägen, ist vielmehr auch bei einem Verstoß gegen § 116 Abs. 2 die Feststellung erforderlich, dass die
verspätete Entscheidungsfindung zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs geführt hat. Die Feststellung
dieser Ursächlichkeit wird nicht durch § 138 Nr. 3 erleichtert. Sie ist vom Revisionskläger darzulegen.
Maßgeblich sind die konkreten Umstände des Einzelfalls (BVerwGE 119, 329, 339 f.). Dabei kommt
dem Ausmaß, in dem die Frist überschritten ist, eine wichtige Bedeutung als Indiz zu (vgl. auch BVerfG
NJW 1990, 651; ferner § 116 Rn. 36). Die Darlegung einer Verletzung rechtlichen Gehörs verlangt in
diesen Fällen ferner den Vortrag, dass der Revisionskläger in der mündlichen Verhandlung rechtliche
96 Zu den erheblichen Gründen und ihrer Darlegung vgl. BVerwGE 50, 275, 276; BVerwG NJW 1986, 2897; Urt.
v. 26.11.1987 Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 10; BVerwGE 81, 229, 232; BVerwG NVwZ-RR 1990, 442; Beschl.
v. 3.8.1994 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 257; Beschl. v. 5.12.1994 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 259; Beschl.
v. 23.1.1995 Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 21; Beschl. v. 17.3.1995 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 262; Beschl.
v. 2.11.1998 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 285; NJW 1999, 2608; NJW 2001, 2735; Beschl. v. 4.2.2002 Buchholz
303 § 227 ZPO Nr. 31; Beschl. v. 29.4.2004 – 3 B 118.03; Beschl. v. 29.4.2004 Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 32;
NJW 2006, 2648, 2649; Beschl. v. 14.11.2006 – 10 B 48.06; Beschl. v. 31.5. 2007 Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 34;
Beschl. v. 9.8.2007 – 5 B 10.07.
97 BVerwG NJW 1992, 2042; OVG Bautzen SächsVBl 2004, 11; OVG Schleswig NVwZ-RR 2002, 154.
98 BVerwG Beschl. v. 28.8.1992 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 252; NVwZ 1995, 373, 375; Beschl. v. 2.11.1998
Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 285; Beschl. v. 9.8.2007 – 5 B 10.07.
99 BVerwG NJW 1992, 2042; einschränkend BVerwG NJW 2006, 2648, 2649: der Beteiligte muss sich in diesem Fall
grds. um einen Terminsvertreter bemühen.
100 Vgl. etwa BVerwG Urt. v. 9.12.1983 Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 141; Urt. v. 11.4.1989 Buchholz 310 § 104
VwGO Nr. 23; NJW 1992, 3185; VGH Mannheim VBlBW 2001, 453, 454; OVG Schleswig NVwZ-RR 2002, 154.
Neumann
2789
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
oder tatsächliche Gesichtspunkte vorgetragen hat, die sich nicht bereits in seinen Schriftsätzen fanden
und die das Gericht nicht berücksichtigt hat (BVerwGE 110, 40, 47 f.).
179 § 116 Abs. 2 gilt nur für Urteile, die aufgrund mündlicher Verhandlung erlassen werden. Die Vorschrift
ist nicht anwendbar, wenn die Beteiligten in oder nach einer mündlichen Verhandlung auf weitere
mündliche Verhandlung verzichten. Deshalb ist unerheblich, wann das Gericht nach einer mündlichen
Verhandlung das Urteil im schriftlichen Verfahren erlässt (BVerwG NVwZ-RR 2003, 460, 461).
180 j) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Recht auf Wiedereinsetzung dient dazu, den Anspruch
auf rechtliches Gehör zu verwirklichen. Die gesetzwidrige Versagung der Wiedereinsetzung verletzt deshalb den Anspruch auf rechtliches Gehör. § 60 sieht zwar eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
nur bei der Versäumung gesetzlicher Fristen vor. Die Vorschrift ist aber entsprechend anzuwenden, wenn
die Durchsetzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dies verlangt, etwa weil wenn die schuldlose
Versäumung einer richterlichen Frist zu einem Ausschluss späteren Vorbringens führt (BVerwG
NJW 1994, 673).
IV. Mangelnde Vertretung nach Vorschrift des Gesetzes (Nr. 4)
181 Ein absoluter Revisionsgrund ist gegeben, wenn ein Beteiligter im Verfahren nicht nach den Vorschriften
des Gesetzes vertreten war, es sei denn, er hat der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend
zugestimmt.
182 1. Schutzbereich der Norm. § 138 Nr. 4 will nach seinem Zweck die Beteiligten schützen, die selbst nicht
wirksam handeln, sondern ihre Angelegenheiten nur mit Hilfe eines Dritten regeln können. Die Voraussetzung einer ordnungsgemäßen gesetzlichen Vertretung soll ihr verfassungsrechtlich gewährleistetes
Selbstbestimmungsrecht sicherstellen. Wer in einem Verfahren nicht persönlich als Handelnder auftreten
kann, soll eine für ihn nachteilige Entscheidung nur hinnehmen müssen, wenn ihm das Handeln eines
gesetzlichen Vertreters zugerechnet werden kann. Allgemein will § 138 Nr. 4 einen Beteiligten davor
bewahren, zum bloßen Objekt eines Gerichtsverfahrens zu werden, weil er in dem Verfahren nicht
wirksam handeln kann oder weil er von dem Verfahren nichts weiß.101
183 Die den Vorschriften gemäße Vertretung muss sich nicht im gesamten Verfahren, sondern braucht nur
in der mündlichen Verhandlung gefehlt haben, auf die das angefochtene Urteil ergangen ist.
184 § 138 Nr. 4 dient dem Schutz des Beteiligten, der im Verfahren ohne eine Vertretung nach Vorschrift
des Gesetzes geblieben ist. Deshalb kann nur er, nicht aber ein anderer Beteiligter diesen Mangel rügen102. § 138 Nr. 4 gilt für jeden Beteiligten, also auch für den Beigeladenen103. Allerdings ist eine verfahrensfehlerhaft unterbliebene notwendige Beiladung kein Fall mangelnder Vertretung im Verfahren104.
185 2. Anwendungsfälle. a) Mangelnde oder eingeschränkte Prozessfähigkeit. Eine Vertretung nach Vorschrift des Gesetzes fehlt, wenn ein Beteiligter prozessunfähig ist (§ 62), im Verfahren aber ohne gesetzlichen Vertreter bleibt oder für ihn nicht der richtige gesetzliche Vertreter auftritt105. Ein Verstoß i.S.d.
§ 138 Nr. 4 liegt mithin vor, wenn die Vorinstanz einen in Wahrheit prozessunfähigen Beteiligten für
prozessfähig gehalten hat (BVerwG Beschl. v. 15.10.1980 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 29). Von
Amts wegen braucht ein Gericht aber die Prozessfähigkeit eines Beteiligten nur zu prüfen, wenn sich
vernünftige Zweifel an seiner Prozessfähigkeit ergeben. Beruft sich ein Beteiligter wegen seiner mangelnden Prozessfähigkeit auf den absoluten Revisionsgrund des § 138 Nr. 4, muss er die Tatsachen dar-
101 BVerwG Beschl. v. 24.5.1988 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 79; BAG NJW 1991, 1952.
102 BVerwG NVwZ-RR 1997, 319; Beschl. v. 10.3.1998 Buchholz 310 § 138 Ziff. 4 VwGO Nr. 7; M. Eichberger, in:
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 109; Kopp/Schenke § 138 Rn. 22; P. Schmidt, in: Eyermann § 137
Rn. 25; offen gelassen von BVerwG Beschl. v. 14.3.1989 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 88; ebenso BGHZ 63, 78,
79 für den sachgleichen Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO; anders H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von
Oertzen § 138 Rn. 7.
103 J. Bader, in: Bader § 138 Rn. 50; M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 108; H.-J. v. Oertzen, in: Redeker/von Oertzen § 138 Rn. 7; P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 25; anders Kopp/Schenke § 138 Rn. 21.
104 BVerwGE 74, 19, 22; BVerwG NVwZ-RR 1989, 519, 520; ebenso zum Nichtigkeitsgrund des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO:
BVerwGE 104, 182, 184.
105 BVerwG Beschl. v. 26.8.1982 Buchholz 310 § 133 Ziff. 4 VwGO Nr. 3; P. Schmidt, in: Eyermann § 137 Rn. 24.
2790
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
legen, aus denen sich seine fehlende Prozessfähigkeit und damit der behauptete Verfahrensmangel ergeben soll. Die Mitteilung von Zweifeln und Vermutungen genügt nicht106.
Der dauernden Prozessunfähigkeit ist die vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit in der mündlichen 186
Verhandlung gleichzustellen (BVerwG Urt. v. 23.2.1983 Buchholz 310 § 62 VwGO Nr. 16). Verhandlungsunfähigkeit steht einem Mangel der Vertretung wegen fehlender Prozessfähigkeit gleich, wenn die
freie Willensbestimmung durch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorübergehend – während
der mündlichen Verhandlung – ausgeschlossen ist. Dass dies der Fall war, hat der Revisionskläger substantiiert darzulegen (BVerwG Urt. v. 16.5.1991 Buchholz 427.6 § 13 BFG Nr. 8). Auf eine mögliche
Beeinträchtigung der Verhandlungsfähigkeit des Beteiligten kommt es aber nicht an, wenn er durch einen
– seinerseits prozessfähigen – Rechtsanwalt vertreten war (BVerwG Urt. v. 23.2.1983 Buchholz 310
§ 62 VwGO Nr. 16).
Ist ein Beteiligter mangels Volljährigkeit in seiner Prozessfähigkeit beschränkt und im Prozess noch nicht 187
selbst handlungsfähig, wird er im Prozess durch seine gesetzlichen Vertreter vertreten. Deren Prozessführungsbefugnis endet mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Beteiligten. Der bisherige gesetzliche
Vertreter wird damit nicht automatisch zum Prozessbevollmächtigten des Beteiligten. Führt er gleichwohl den Prozess für ihn weiter, ist dieser nicht (mehr) nach Vorschrift des Gesetzes vertreten. Allerdings
kann sich aus den Umständen ergeben, dass der Beteiligte die weitere Prozessführung durch seinen bisherigen gesetzlichen Vertreter stillschweigend genehmigt hat (BVerwG Beschl. v. 19.10.1981 Buchholz
310 § 133 VwGO Nr. 34).
b) Handeln eines nicht berechtigten Vertretungsorgans. Juristische Personen, beteiligtenfähige Vereini- 188
gungen (§ 61 Nr. 2) sowie Behörden können ebenfalls nicht selbst, sondern nur durch ihre Vertretungsorgane handeln. Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 4 liegt vor, wenn im Prozess für sie ein nicht
vertretungsberechtigtes Organ gehandelt hat (BGH FamRZ 2005, 888; NJW-RR 2007, 98).
c) Mangelnde Beteiligungsfähigkeit. § 138 Nr. 4 findet ferner Anwendung, wenn die Beteiligtenfähig- 189
keit fehlt. Wer nicht beteiligtenfähig ist, ist ebenfalls nicht in der Lage, wirksame Prozesshandlungen
vorzunehmen. Ein Urteil kann weder für noch gegen ihn ergehen. Übersieht das Gericht die fehlende
Beteiligtenfähigkeit, ergeht die Entscheidung gegen jemanden, der im Verfahren nicht nach Vorschrift
des Gesetzes vertreten war.107
d) Verlust der Prozessführungsbefugnis. Der Verlust der Prozessführungsbefugnis kann ebenfalls dazu 190
führen, dass der Beteiligte nicht mehr nach Vorschrift des Gesetzes vertreten ist. Ist das Verfahren durch
Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbrochen (§ 173, § 240 ZPO), ist der Schuldner nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten, wenn gleichwohl mündlich verhandelt und gegen ihn ein Urteil erlassen
wird (BGHZ 172, 250; BGH NJW 2007, 2702).
e) Parteiwechsel. Nach seinem Schutzzweck ist § 138 Nr. 4 auch dann anwendbar, wenn das Verfahren 191
für oder gegen jemanden geführt wird, der von dem Verfahren unverschuldet keine Kenntnis hat. Hierzu
zählen die Fälle, in denen kraft Gesetzes ein Parteiwechsel eingetreten ist, das Gericht diesen Parteiwechsel aber nicht berücksichtigt, sondern das Verfahren für und gegen die bisherige Partei weiterführt.
Ist das Verfahren durch den Tod eines Beteiligten gem. § 173, § 239 ZPO unterbrochen und hat dessen
Rechtsnachfolger das Verfahren noch nicht aufgenommen, ist der Rechtsnachfolger nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten, wenn gleichwohl mündlich verhandelt und gegen die verstorbene Partei
ein Urteil erlassen wird, das deren Rechtsnachfolger bindet (BVerwG Beschl. v. 24.5.1988 Buchholz 310
§ 133 VwGO Nr. 79).
f) Vollmachtlose Vertretung. Das Verfahren wird für oder gegen jemanden geführt, der von dem Ver- 192
fahren unverschuldet keine Kenntnis hat, wenn der Prozess unter seinem Namen von einem anderen
geführt wird oder für ihn ein vollmachtloser Vertreter den Prozess führt (P. Schmidt, in: Eyermann
§ 137 Rn. 24). In diesen Fällen ist der Beteiligte nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten. Übersieht
das Gericht die mangelnde Vollmacht des Vertreters und trifft es eine Sachentscheidung zulasten des
Vertretenen, ist der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 4 erfüllt. Ein vollmachtloser Vertreter tritt
der Sache nach auch dann auf, wenn ein Beteiligter einem Dritten eine Vollmacht für die Wahrnehmung
106 BVerwG Beschl. v. 26.8.1982 Buchholz 310 § 133 Ziff. 4 VwGO Nr. 3; BGHZ 159, 94, 99.
107 M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 114; Kopp/Schenke § 138 Rn. 21.
Neumann
2791
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
lediglich eines Termins erteilt (Terminsvollmacht), das Gericht aber diese Terminsvollmacht irrtümlich
als allgemeine Prozessvollmacht behandelt und deshalb allein noch dem Dritten Kenntnis von allen weiteren Vorgängen gibt, mit der Folge, dass der Prozess an dem Beteiligten "vorbeiläuft". Insoweit ist der
bloße Terminsvertreter vollmachtloser Vertreter; der Beteiligte ist nicht ordnungsgemäß vertreten
(BVerwG Beschl. v. 10.8.1994 Buchholz 310 § 138 Ziff. 4 VwGO Nr. 6).
193 g) Mangelnde Postulationsfähigkeit. Hat der Beteiligte einen Prozessbevollmächtigten bestellt, dem die
erforderliche Postulationsfähigkeit fehlt, ist hingegen der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 4 nicht
erfüllt (BVerwG NJW 2005, 3018) Das Erfordernis einer besonderen Postulationsfähigkeit dient dem
öffentlichen Interesse an einem geordneten Gang des Verfahrens und dem Interesse des Beteiligten an
ordnungsgemäßer Beratung. Es liegt in dessen Verantwortung, eine vertretungsberechtigte Person auszuwählen, die für ihn vor Gericht wirksam handeln kann (BVerwG NJW 2006, 2648, 2649; BAG
NJW 1991, 1252). Aus demselben Grund liegt der absolute Revisionsgrund einer mangelnden Vertretung nach Vorschrift des Gesetzes nicht vor, wenn der Revisionskläger in der Vorinstanz durch einen
Bevollmächtigten vertreten war, der die Vertretung unter Verstoß gegen das RDG übernommen hatte
(OVG Münster Beschl. v. 16.1.1997 – 1 A 3909/96.A).
193a h) Beigeordneter Rechtsanwalt. Ist dem Beteiligten Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt
beigeordnet worden, ist der Beteiligte weiterhin durch diesen Rechtsanwalt nach Vorschrift des Gesetzes
vertreten, auch wenn dieser das Mandat niederlegt (BVerwG Beschl. v. 10.4.2006 – 5 B 87.05). Die
Beiordnung gem. § 166, § 121 Abs. 1 ZPO verpflichtet den Rechtsanwalt, die Vertretung einer Partei zu
übernehmen (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 BRAO). Dies steht einer Niederlegung des Mandats durch einseitige
Erklärung entgegen; der beigeordnete Rechtsanwalt ist darauf verwiesen, gem. § 48 Abs. 2 die Aufhebung der Beiordnung zu beantragen.
194 i) Öffentliche Zustellung. Ein Beteiligter hat zwar auch dann keine Kenntnis von einem gegen ihn geführten Verfahren, wenn ihm die Klage öffentlich zugestellt worden ist. § 138 Nr. 4 ist aber nicht anwendbar. Das gilt sowohl dann, wenn das Gericht die prozessualen Vorschriften über die öffentliche
Zustellung eingehalten hat108, als auch dann, wenn die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung
für das Gericht erkennbar nicht vorgelegen haben (BGH MDR 2007, 419).
195 3. Abgrenzung zur Verletzung rechtlichen Gehörs. Die Rspr. hat dem § 138 Nr. 4 auch die Fälle zugeordnet, in denen das Gericht bei der Vorbereitung und Durchführung der mündlichen Verhandlung den
Vorschriften des Gesetzes nicht genügt und dem Beteiligten dadurch die Teilnahme daran objektiv unmöglich gemacht hat. § 138 Abs. 4 wird dabei als Extremfall der Versagung rechtlichen Gehörs verstanden109. Danach ist ein Beteiligter nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen, wenn er oder
sein Prozessbevollmächtigter zur mündlichen Verhandlung nicht oder nicht ordnungsgemäß geladen war
und an ihr daher weder selbst noch durch einen Bevollmächtigten teilnehmen konnte110. Dasselbe gilt,
wenn der Beteiligte zwar ordnungsgemäß geladen war, das Gericht aber zu einem anderen als dem in
der Ladung bestimmten Zeitpunkt die Verhandlung in Abwesenheit des Beteiligten durchgeführt hat
(BVerwGE 66, 311). Hingegen ist der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 4 nicht erfüllt, wenn der
Beteiligte oder dessen Prozessbevollmächtigter aus einem in seiner Person liegenden Grund an der
mündlichen Verhandlung nicht teilnimmt, selbst wenn dieser Grund unverschuldet eingetreten ist.111
196 Entscheidet das Gericht ohne mündliche Verhandlung, obwohl die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung nicht oder nicht wirksam verzichtet haben, ist hingegen auch nach der Rspr. § 138 Nr. 4 nicht
108 Vgl. zu der vergleichbaren Vorschrift des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO: BGHZ 153, 189.
109 J. Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 547 ZPO Rn. 11; vgl. auch BFH HFR 2002, 39, 40.
110 BVerwG NJW 1983, 2155; NJW 1991, 583; NJW 2006, 2648, 2649; BFH NVwZ-RR 2003. 608 (Ladung nur des
nicht mehr vertretungsberechtigten ehemaligen Prozessbevollmächtigten); BFH NVwZ-RR 2005, 72 (fehlende Ladung
des ordnungsgemäß bestellten Prozessbevollmächtigten); das soll aber nur für solche Mängel der Ladung gelten, die
den Beteiligten von der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung abhalten konnten, also bspw. nicht für den Fall,
dass die Ladungsfrist nicht gewahrt ist: BVerwG NJW 1987, 2694. Vgl. ferner BVerwG Beschl. v. 27.11.2000 Buchholz
310 § 130 a VwGO Nr. 53: offen gelassen, ob § 138 Nr. 4 dann erfüllt ist, wenn das Gericht unter Verstoß gegen § 67
Abs. 6 S. 5 statt des Prozessbevollmächtigten den Beteiligten selbst geladen hat.
111 BVerwG NJW 2006, 2648, 2649; BFH BFH/NV 2001, 629, für den Fall, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers
an der mündlichen Verhandlung nicht teilnimmt, weil über ein Prozesskostenhilfegesuch noch nicht entschieden war;
BFH/NV 2001, 1130, 1131; BFH/NV 2002, 1169, für den Fall, dass ein Beteiligter von der ordnungsgemäßen Ladung
keine Kenntnis erhalten hat.
2792
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
einschlägig (a.A.: BFH NVwZ-RR 1997, 260; BFH/NV 2004, 201; Kopp/Schenke § 138 Rn. 21). Es
fehlt an einem Verfahrensabschnitt, in dem der Beteiligte hätte vertreten sein müssen, aber nicht vertreten
war.
4. Heilung des Mangels. Hat der Beteiligte der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend zu- 197
gestimmt, ist der Mangel der Vertretung geheilt und ein Verfahrensfehler nicht gegeben. Zustimmung
meint sowohl die vorherige Einwilligung als auch die (praktisch allein bedeutsame) nachträgliche Genehmigung. Die Zustimmung muss sich auf die Prozessführung insgesamt beziehen; sie darf sich nicht
auf einzelne Prozesshandlungen beschränken. Zu welchem Zeitpunkt die Zustimmung erklärt wird, ist
unerheblich. Sie kann noch im Revisionsverfahren erklärt werden, mit der Folge, dass der Revisionsgrund des § 138 Nr. 4 entfällt (BVerwG Urt. v. 7.6.1972 Buchholz § 138 Ziff. 4 VwGO Nr. 1).
V. Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (Nr. 5)
Ein absoluter Revisionsgrund liegt vor, wenn das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, 198
bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind. Die Öffentlichkeit
des Verfahrens ist in den §§ 169, 171 b ff. GVG geregelt, die über § 55 im Verwaltungsprozess entsprechend anzuwenden sind.
1. Anwendungsbereich. Nach § 138 Nr. 5 stellt die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit 199
des Verfahrens nur dann einen absoluten Revisionsgrund dar, wenn sie bei der mündlichen Verhandlung
verletzt sind. Maßgeblich ist dabei allein die mündliche Verhandlung, auf die das angefochtene Urteil
ergangen ist (BVerwG DÖV 1981, 969, 970; NJW 1990, 1249). Hingegen begründet es keinen absoluten
Revisionsgrund, wenn die Vorinstanz die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (erst) bei
der Verkündung des Urteils verletzt hat, die nach § 55, § 169 S. 1 GVG ebenfalls öffentlich ist (BVerwG
NVwZ 2003, 1132, 1133).
Öffentlich ist nach § 55, § 169 GVG nur die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht 200
(BVerwG Beschl. v. 8.9.1988 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 82). Ein Erörterungstermin gem. § 87
Abs. 1 S. 2 Nr. 1 sowie eine Beweisaufnahme vor dem beauftragten oder ersuchten Richter (§ 96
Abs. 2) oder im vorbereitenden Verfahren (§ 87 Abs. 3) sind lediglich parteiöffentlich.112 Ein Verstoß
gegen die Parteiöffentlichkeit ist kein absoluter Revisionsgrund i.S.d § 138 Nr. 5. Er stellt als solcher
einen Verfahrensfehler dar, kann auch den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen und dann unter
§ 138 Nr. 3 fallen113.
Hat das erkennende Gericht unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften ohne eine an sich vorgeschrie- 201
bene mündliche Verhandlung entschieden, ist der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 5 nicht gegeben114.
2. Verstöße gegen die Öffentlichkeit des Verfahrens. Der Grundsatz der Öffentlichkeit bezweckt in ers- 202
ter Linie die Kontrolle des Verfahrensganges durch die Öffentlichkeit. Er verlangt, dass jedermann ohne
Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen der Bevölkerung und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen der Gerichte als Zuhörer
teilzunehmen. Die Vorschriften über die Öffentlichkeit sind dann nicht mehr gewahrt, wenn nur Verfahrensbeteiligten Zugang gewährt wird.
a) Tatsächlicher Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit ist gesetzwidrig ausgeschlossen, wenn 203
der freie und ungehinderte Zugang der Öffentlichkeit zur mündlichen Verhandlung aufgehoben ist, sei
es durch organisatorische Maßnahmen, sei es auch nur versehentlich. Der Grundsatz ungehinderten
Zugangs der Öffentlichkeit findet seine Grenze jedoch dort, wo es aus tatsächlichen Gründen unmöglich
ist, ihm zu entsprechen, oder wo Umstände, die außerhalb des Einflussbereichs oder der Einwirkungs-
112 BVerwG NVwZ-RR 1989, 167, 168; Beschl. v. 27.7.1993 Buchholz 310 § 87 VwGO Nr. 8
113 Vgl. BFH BFH/NV2004, 50, 51; zur Rügeobliegenheit des Beteiligten vgl. BVerwG Urt. v. 8.6.1979 Buchholz 310
§ 86 Abs. 1 VwGO Nr. 120; Beschl. v. 4.11.1997 Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 1. Unternimmt ein gerichtlich bestellter
Sachverständiger zur Vorbereitung seines Gutachtens eine Ortsbesichtigung, ist auch diese regelmäßig parteiöffentlich.
Ein Verstoß gegen die Parteiöffentlichkeit macht das Gutachten unverwertbar: BVerwG NJW 2006, 2058.
114 BVerwG Beschl. v. 21.11.1983 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 46; BGH NJW 1965, 497; P. Schmidt, in: Eyermann
§ 137 Rn. 26; anders Kopp/Schenke § 138 Rn. 24.
Neumann
2793
§ 138
204
205
206
207
208
209
209a
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
möglichkeit des Gerichts liegen, seine strikte Anwendung beeinträchtigen (BVerwG Urt. v. 26.3.1981
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 31).
Eine Verhandlung ist deshalb i.S.d § 55, § 169 S. 1 GVG schon dann "öffentlich", wenn sie in Räumen
stattfindet, die während der Dauer der Verhandlung grds. jedermann zugänglich sind. Der Öffentlichkeit
der Verhandlung steht nicht entgegen, wenn in dem Verhandlungsraum nur eine begrenzte Zahl von
Zuhörern Platz findet. Die Öffentlichkeit der Verhandlung ist auch dann gewahrt, wenn das Gerichtsgebäude zeitweise verschlossen ist, Zuhörer sich aber (etwa mit Hilfe einer Klingel) Einlass verschaffen
können, mag dies auch mit einer kurzen Wartezeit verbunden sein (BVerwG NJW 1990, 1249;
DVBl 1999, 95). Der freie Zutritt der Öffentlichkeit ist jedoch rechtlich erheblich beschränkt, wenn
Auskunft darüber verlangt wird, in welchem Verfahren der Besucher das Gerichtsgebäude betreten
möchte, was er in diesem Verfahren wolle und welche Rolle er im Prozess spiele und ob er eine Ladung
zum Termin vorweisen könne, weil außer den Bediensteten des Gerichts nur die Prozessbeteiligten das
Gerichtsgebäude betreten dürften und dies überprüft werden müsse (BVerwG NVwZ 2000, 1298).
Die Verhandlung muss nicht notwendig in einem Raum stattfinden, der im Allgemeinen für mündliche
Verhandlungen benutzt wird.115 Die Öffentlichkeit ist auch dann gewahrt, wenn ein Teil der mündlichen
Verhandlung – etwa im Anschluss an eine Ortsbesichtigung – nicht im Gerichtsgebäude, sondern auf
einem privaten Grundstück stattfindet, wenn nur während der Dauer der Verhandlung grds. jedermann
der Zutritt offen steht (BVerwG Beschl. v. 22.4.1988 Buchholz 300 § 169 GVG Nr. 5).
Es reicht aus, wenn die Verhandlung in jedermann zugänglichen Räumen stattfindet. Eine an jedermann
gerichtete Bekanntgabe des Verhandlungstermins, etwa durch Aushang im Gerichtsgebäude oder am
Sitzungssaal, braucht nicht hinzuzutreten.116 Es reicht aus, wenn sich jeder Interessierte ohne Schwierigkeiten Kenntnis davon verschaffen kann, wann und wo eine Gerichtsverhandlung stattfindet (BVerfG
NJW 2002, 814; BVerwG DVBl 1999, 95). Das gilt auch, wenn das Gericht nicht im Gerichtsgebäude,
sondern in anderen Gebäuden117 oder, etwa im Anschluss an eine Augenscheinseinnahme, "auf der
Straße" mündlich verhandelt.
Die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens muss aber stets dem Gericht
zuzurechnen sein. Wird Zuhörern der Zugang zum Sitzungssaal durch tatsächliche Hindernisse verwehrt, stellen diese nur dann einen erheblichen Verstoß gegen die Öffentlichkeit des Verfahrens dar,
wenn das (erkennende) Gericht sie bemerkt hat oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte bemerken können (BVerwG NVwZ 2000, 1298). Das ist bspw. nicht der Fall, wenn die Tür zum Verhandlungsraum abgeschlossen worden ist, ohne dass das Gericht dies bemerkt hat oder hätte bemerken
müssen (BVerwG Urt. v. 26.3.1981 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 31).
Das Gericht hat die notwendigen organisatorischen Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass die
mündliche Verhandlung über das normale Dienstende hinaus andauert und deshalb die Gefahr besteht,
das Gebäude könne dann geschlossen und der freie Zugang ausgeschlossen sein. Das Gericht hat sich
zu vergewissern, ob die Öffentlichkeit weiter ungehinderten Zugang zur mündlichen Verhandlung hat,
wenn diese über den normalen Dienstschluss hinaus andauert und das Gericht nicht ohne Weiteres davon
ausgehen kann, dass der freie Zugang der Öffentlichkeit über diese Zeit hinaus organisatorisch gewährleistet ist. Das ist etwa dann der Fall, wenn die mündliche Verhandlung nicht im Dienstgebäude des
Gerichts, sondern in einem "fremden" Gebäude stattfindet (BVerwGE 104, 170, 173).
War die Öffentlichkeit versehentlich ausgeschlossen, wird dieser Mangel geheilt, wenn der davon betroffene Teil der mündlichen Verhandlung nach Herstellung der Öffentlichkeit seinem wesentlichen Inhalt nach vollständig wiederholt wird (BVerwGE 104, 170, 174 f.).
War einem Beteiligten eine Beschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zur mündlichen Verhandlung
bekannt, soll er verpflichtet sein, einen entsprechenden Hinweis zu geben, um dem Gericht Gelegenheit
zur Abhilfe und zur Wiederholung der Teile der mündlichen Verhandlung zu geben, die unter Ausschluss
der Öffentlichkeit stattgefunden hatten (BVerwG Beschl. v. 30.11.2004 – 10 B 64.04; BFH Beschl.
v. 20.12.2006 – VII B 198.06). Aus dem Unterbleiben eines solchen Hinweises kann aber nicht auf den
Verlust des Rügerechts geschlossen werden, weil auf die Befolgung der Vorschriften über die Öffent115 Vgl. BVerwG Beschl. vom 13.11.1987 Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 74; VGH München BayVBl 2003, 151.
116 BVerwG Beschl. 3.1.1977 Buchholz 310 § 138 Ziff. 5 VwGO Nr. 1; Beschl. v. 22.4.1988 Buchholz 300 § 169 GVG
Nr. 5; VGH München BayVBl 2003, 151.
117 VGH München NVwZ-RR 2002, 799: kein Aushang am Gebäude erforderlich, wenn das Gericht im jedermann zugänglichen Sitzungssaal eines Rathauses verhandelt.
2794
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
lichkeit der mündlichen Verhandlung nicht wirksam verzichtet werden kann (a.A.: BVerwG Beschl.
v. 30.11.2004 – 10 B 64.04).
b) Anordnung des Ausschlusses der Öffentlichkeit. Die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens sind ferner verletzt, wenn das Gericht entgegen den gesetzlichen Vorschriften den Ausschluss
der Öffentlichkeit von der mündlichen Verhandlung angeordnet hatte. Sie sind ebenso verletzt, wenn
die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen war, obwohl sie nach gesetzlichen Vorschriften hätte ausgeschlossen werden müssen118.
Schließt das Gericht die Öffentlichkeit gem. § 172 GVG aus, muss es gem. § 174 Abs. 1 S. 3 GVG bei
der öffentlichen Verkündung des Ausschlusses mit ausreichender Bestimmtheit im Beschluss selbst angeben, aus welchem Grund dies geschehen ist. Es genügt nicht, dass sich der Ausschließungsgrund aus
dem Sachzusammenhang ergeben könnte (BVerwG NJW 1983, 2155; BGH NJW 1977, 1643). Es ist
dann der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 5 anzunehmen, weil für den feststehenden Ausschluss
der Öffentlichkeit ein rechtfertigender Grund nicht festgestellt werden kann.
Hat das Gericht zum Schutz der Privatsphäre eines Prozessbeteiligten oder Zeugen die Öffentlichkeit
ausgeschlossen oder einen solchen Ausschluss abgelehnt, sind seine Entscheidungen unanfechtbar (§ 55,
§ 171 b Abs. 3 GVG). Sie unterliegen damit gem. § 173, § 557 Abs. 2 ZPO nicht der Beurteilung des
Revisionsgerichts. Der Revisionskläger kann eine Verfahrensrüge nicht mit Erfolg darauf stützen, die
Vorinstanz habe zu Unrecht die Öffentlichkeit aus den Gründen des § 171 b Abs. 1 und 2 GVG ausgeschlossen oder einen solchen Ausschluss zu Unrecht abgelehnt (M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 133).
Die Beteiligten des Verfahrens sind nicht Teil der Öffentlichkeit. Deshalb sind die Vorschriften über die
Öffentlichkeit des Verfahrens nicht verletzt, wenn das Gericht an zwei Streitgenossen (Kläger) die Aufforderung richtet, der eine Kläger möge während der Anhörung des anderen Klägers den Sitzungssaal
verlassen (VGH Mannheim NVwZ 1999 [Beilage Nr. 8], 87).
Hat das Gericht mehrere selbständige Verfahren gem. § 93 zu einheitlicher Verhandlung verbunden,
aber nur für einen Teil der Verhandlung ohne Begründung die Öffentlichkeit ausgeschlossen, muss das
Revisionsgericht prüfen, ob ein solcher Verfahrensverstoß gerade das Verfahren des Revisionsklägers
betrifft. Ist das nicht der Fall, so kann die Revision auf den Verfahrensmangel nicht gestützt werden
(BVerwG NJW 1983, 2155).
210
211
212
213
214
3. Darlegungserfordernisse. Dass die Öffentlichkeit für die Dauer der mündlichen Verhandlung ausge- 215
schlossen war, kann mit dem Hinweis ausreichend dargelegt sein, nach Ende der mündliche Verhandlung
sei festgestellt worden, dass die Außentüre des Gerichtsgebäudes verschlossen war, wenn aufgrund der
übrigen Umstände davon auszugehen ist, dass das Gebäude schon zu einem früheren Zeitpunkt verschlossen gewesen war (VGH Kassel Beschl. v. 28.3.1994 – 12 UZ 152/94).
Die Angabe in der Sitzungsniederschrift, die Sitzung sei öffentlich gewesen, beweist nicht, dass die Vor- 216
schriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens eingehalten worden sind (BVerwG Beschl. v. 13.11.1987
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 74). Sie kann allenfalls beweisen, dass die Öffentlichkeit nicht durch
Entscheidung des Gerichts ausgeschlossen war.
VI. Fehlen der Entscheidungsgründe (Nr. 6)
Ein absoluter Revisionsgrund ist gegeben, wenn ein Urteil nicht mit Gründen versehen ist. § 138 Nr. 6 217
knüpft an den notwendigen formellen Inhalt eines Urteils an (§ 117 Abs. 2 Nr. 5). Danach müssen im
Urteil die Gründe schriftlich niedergelegt werden, die für die Überzeugungsbildung des Gerichts maßgeblich waren. Den Entscheidungsgründen kommt eine doppelte Aufgabe zu (hierzu § 117 Rn. 77 ff.).
Sie sollen zum einen die Beteiligten über die maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen
des Gerichts unterrichten und ihnen die Kenntnis darüber vermitteln, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht. Die Entscheidungsgründe sollen zum anderen die Nachprüfung des Urteils im Rechtsmittelverfahren ermöglichen. Einer Entscheidung fehlt nur
dann die Begründung i.S.d. § 138 Nr. 6, wenn die Entscheidungsgründe diese doppelte Aufgabe nicht
118 M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 132; a.A.: BFH BFH/NV 2006, 752; Kopp/Schenke
§ 138 Rn. 24.
Neumann
2795
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
mehr erfüllen können, also den Beteiligten, aber auch dem Rechtsmittelgericht die Möglichkeit entzogen
ist, die getroffene Entscheidung zu überprüfen119.
218 Ist ein Urteil auf mehrere jeweils selbständig tragende Gründe gestützt, von denen nur einer den formellen
Anforderungen an die Begründung nicht genügt, ist das Urteil mit Blick auf die weiteren selbständig
tragenden Gründe mit Gründen versehen. Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 6 ist nicht erfüllt.120
219 1. Formelle Mängel der Begründung. Ein Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn diese vollständig
fehlen, wenn das Gericht also keine Entscheidungsgründe niedergeschrieben hat. Ist gem. §§ 116
Abs. 2, 117 Abs. 4 S. 2 ein Urteil, das an Verkündungs statt den Beteiligten zugestellt werden soll, der
Geschäftsstelle ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung übergeben worden,
und hat die Geschäftsstelle eine Ausfertigung der ihr übergegebenen Entscheidungsformel den Beteiligten
zugestellt, kommt es für die Beurteilung, ob das Urteil mit Gründen versehen ist, nicht auf diese Ausfertigung an, wenn das Gericht später der Geschäftsstelle das um Tatbestand und Entscheidungsgründe
vervollständigte Urteil übergibt und den Beteiligten eine Ausfertigung dieses Urteils zugestellt wird. Wird
vorab gem. § 117 Abs. 4 S. 2 nur die unterschriebene Entscheidungsformel ausgefertigt und den Beteiligten zugestellt, ist erst das später vervollständigte Urteil das Urteil, das i.S.d. § 138 Nr. 6 mit Gründen
versehen sein muss (VGH Kassel NVwZ-RR 2002, 792).
220 Auch wenn das Gericht Entscheidungsgründe niedergeschrieben hat, ist das Urteil nicht mit Gründen
versehen, wenn die niedergeschriebenen Gründe so unbrauchbar sind, dass sie zur Rechtfertigung des
Urteilstenors ungeeignet sind121. I.d.S. schon formell ungeeignet sind die Entscheidungsgründe dann,
wenn das Gericht lediglich inhaltslose, rational nicht nachvollziehbare oder unverständliche Wendungen
niedergeschrieben hat, die nicht erkennen lassen, von welchen Erwägungen das Gericht ausgeht122, oder
wenn die Begründung keinen Bezug zu dem zu entscheidenden Fall aufweist und i.d.S. nicht nachvollziehbar ist (vgl. hierzu auch BVerwG Beschl. v. 3.4.2006 Buchholz 11 Art. 4 GG Nr. 79). Die niedergeschriebenen Entscheidungsgründe können auch dann i.d.S. unbrauchbar sein, wenn ein Tatbestand
vollständig fehlt und auch sonst nicht erkennbar ist, welche tatsächlichen Feststellungen der rechtlichen
Würdigung zugrunde liegen (BGH NJW 2002, 2648).
221 Ein Urteil ist auch dann nicht mit Gründen versehen, wenn diese zu einem wesentlichen Teil fehlen. Das
ist der Fall, wenn das Gericht einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat.123 Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und
Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung
ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH BFH/NV 2002, 363).
222 a) Abgrenzung gegen inhaltlich unzureichende Gründe. Eine bloß unvollständige, oberflächliche oder
unrichtige Entscheidung erfüllt hingegen noch nicht die Voraussetzungen des groben Formmangels, wie
er für § 138 Nr. 6 erforderlich ist.124
223 Ein Urteil ist nicht allein deshalb nicht mit Gründen versehen, weil das Gericht nicht auf jedes Argument
eines Beteiligten eingegangen ist (BVerwG Beschl. v. 24.2.1999 – 2 B 62/98). Es muss nur erkennbar
sein, welcher Grund für die Entscheidung über den Klageanspruch oder ein einzelnes Verteidigungsoder Angriffsmittel maßgebend war. Unerheblich ist, wenn der angegebene Grund tatsächlich nicht
vorliegt, rechtlich fehlerhaft beurteilt ist oder rechtlich nicht tragfähig ist. Entscheidungsgründe fehlen
ferner nicht schon dann, wenn die Begründung inhaltlich unvollständig ist, weil sie sich nicht mit allen
in Betracht kommenden Rechtsvorschriften auseinandersetzt. Auf den Verfahrensmangel fehlender Entscheidungsgründe führt dies allenfalls dann, wenn der Revisionskläger im gerichtlichen Verfahren zu
119 BVerwG NJW 1998, 3290; NVwZ-RR 2000, 257; Beschl. v. 25.2.2000 Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 31; ferner
BVerwG 2007, 216, 218, dort als Problem des rechtlichen Gehörs behandelt.
120 BVerwG DVBl 1994, 210; Beschl. v. 25.2.2000 Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 31.
121 BVerwG NJW 1998, 3290; Beschl. v. 13.7.1999 Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 35; NJW 2000, 257; Beschl.
v. 25.2.2000 Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 31.
122 BVerwGE 117, 228; BVerwG ZOV 2006, 182; Beschl. v. 20.10.2006 – 2 B 64.06; NVwZ 2007, 216, 218; Beschl.
v. 13.12.2006 Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 2.
123 BVerwG NJW 1998, 3290; BFH NVwZ-RR 2002, 158, 159; HFR 2002, 38.
124 BVerwG Beschl. 3.4.1990 Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 31; NJW 1998, 3290; NVwZ-RR 2000, 257; Beschl.
v. 25.2.2000 Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 31.
2796
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
der in Betracht kommenden Rechtsvorschrift erhebliche Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend gemacht hat, welche die Vorinstanz zu einer Auseinandersetzung hiermit gezwungen hätten (BVerwG
NJW 1998, 3290). Ein Urteil ist noch i.S.d. § 138 Nr. 6 mit Gründen versehen, wenn das Vorliegen oder
Nichtvorliegen nur einzelner tatbestandlicher Voraussetzungen ohne ausdrückliche Begründung lediglich festgestellt wird, sofern das Vorbringen der Beteiligten keine eingehendere Auseinandersetzung gebot (VGH Kassel Beschl. v. 28.7.1997 – 12 UZ 2994/94).
Eine lückenhafte und unvollständige Begründung kann dem Fehlen einer Begründung nicht gleichgestellt 224
werden, wenn lediglich einzelne Tatumstände oder Anspruchselemente unerwähnt geblieben sind oder
wenn sich eine hinreichende Begründung aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe erschließen lässt (BVerwG NJW 1998, 3290). Die Lückenhaftigkeit der Entscheidungsgründe kann allerdings dann anders zu beurteilen sein, wenn das Urteil auf einzelne Ansprüche oder einzelne selbständige
Angriffs- und Verteidigungsmittel überhaupt nicht eingeht (BFH BFH/NV 2001, 626, 627).
Hat die Vorinstanz über einen geltend gemachten selbständigen Anspruch hingegen überhaupt nicht 225
entschieden, ist der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 6 nicht gegeben. Er betrifft nur das Fehlen
oder die Mangelhaftigkeit der Entscheidungsgründe, nicht jedoch das Fehlen einer an sich gebotenen
Entscheidung.
b) Bezugnahmen. Mit Gründen versehen ist ein Urteil in den Fällen, in denen das Gericht zulässigerweise 226
(hierzu § 117 Rn. 85) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absieht und stattdessen
auf die Begründung des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids (§ 117 Abs. 5) oder der vorinstanzlichen Entscheidung (§ 130 b) verweist.125 Das Gericht muss in den Entscheidungsgründen aber
ausdrücklich feststellen, dass und in welchem Umfang es der in Bezug genommenen Entscheidung folgt;
die in Bezug genommene Entscheidung muss Ausführungen zu allen entscheidungserheblichen selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln enthalten (BFH NVwZ-RR 2002, 158, 159). Ebenso wenig
fehlen Entscheidungsgründe deshalb, weil das Berufungsgericht in einem Beschluss nach § 130 a S. 1 auf
einen Tatbestand verzichtet hat und die Anträge sowie der Sach- und Streitstand sich erst aus dem Zusammenhang mit der erstinstanzlichen Entscheidung erschließen (BVerwG Beschl. v. 15.5.1996 Buchholz 310 § 122 VwGO Nr. 6).
Hat das Gericht zur Begründung der Entscheidung seine Auffassung dargelegt und verweist es lediglich 227
bestätigend auf andere gerichtliche Entscheidungen oder Schriftstücke, brauchen diese den Beteiligten
nicht bekannt zu sein, insbes. nicht zuvor in das Verfahren eingeführt worden sein (BVerwG Beschl.
v. 18.12.1981 Buchholz 310 § 138 Ziff. 4 VwGO Nr. 17). Es genügt, wenn sie ihnen ohne Schwierigkeiten zugänglich sind.
Anders verhält es sich, wenn das Gericht zur Begründung selbst auf andere Entscheidungen und Schrift- 228
stücke Bezug nimmt und durch diese Bezugnahme sonst erforderliche eigene Darlegungen im Urteil
ersetzt. Solche Entscheidungen und Schriftstücke müssen den Beteiligten bekannt sein oder ihnen doch
spätestens mit der Zustellung des Urteils bekannt werden.126 Das Gericht kann eigene Ausführungen
namentlich durch die Bezugnahme auf solche Entscheidungen ersetzen, die es in einem früheren Abschnitt des Verfahrens getroffen hat, die also zwischen denselben Beteiligten ergangen und ihnen aus
diesem Grund bekannt sind (BVerwG NWVBl 2002, 55). Das gilt etwa für Entscheidungen, mit denen
das Gericht einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe oder auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes abgelehnt hat. Werden in Bezug genommene andere gerichtliche Entscheidungen oder
Schriftstücke den Beteiligten erst nach der Zustellung des Urteils bekannt, soll nach Auffassung des
BVerwG der Begründungsmangel durch erneute Zustellung des Urteils behoben werden können
(BVerwG Beschl. v. 30.11.1995 Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 30). Das BVerwG behandelt die
erste Zustellung wie die Zustellung einer versehentlich unvollständigen Urteilsausfertigung durch die
Geschäftsstelle. Diese Parallele trägt nicht. In dem einen Fall ist schon das Urteil unvollständig, in dem
anderen existiert hingegen ein vollständiges Urteil, nur ist den Beteiligten eine unvollständige Ausfertigung zugestellt worden.
125 BVerwG Beschl. v. 15.5.1996 Buchholz 310 § 122 VwGO Nr. 6; zu den Grenzen einer Bezugnahme vgl. BFH BFH/
NV 2001, 909.
126 BVerwG Beschl. v. 30.11.1995 Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 30 zur Bezugnahme auf ein Urteil in einem
Parallelverfahren, das gleichzeitig gefällt, aber erst später zugestellt wurde.
Neumann
2797
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
229 Die Bezugnahme auf die Gründe einer anderen Entscheidung oder auf ein anderes Schriftstück ist ferner
nur zulässig, wenn sich für die Beteiligten und für das Rechtsmittelgericht aus einer Zusammenschau
der Ausführungen in dem angefochtenen Urteil einerseits, den dort in Bezug genommenen fremden Ausführungen andererseits mit hinreichender Klarheit die Gründe ergeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (BVerwG Beschl. v. 21.9.2006 – 8 B 35.06). Die Ausführungen in der in Bezug
genommenen Entscheidung müssen sich dem Klagebegehren zuordnen lassen und zu ihm etwas Entscheidungserhebliches beitragen können. Begnügt sich das Gericht im Wesentlichen mit einer Bezugnahme auf eine andere Entscheidung sowie dem Hinweis, im zu entscheidenden Fall gelte nichts anderes,
ist das Urteil nicht mit Gründen versehen, wenn die Entscheidung des Gerichts völlig unverständlich ist,
weil die Sachverhalte in beiden Fällen nicht gleich gelagert sind und auch sonst keine Verbindung erkennbar ist, die eine gleiche Sachbehandlung rechtfertigt (vgl. BVerwG Beschl. 3.4.2006 Buchholz 11
Art. 4 GG Nr. 79).
230 c) Textbausteine. Unterschreiben die Richter eine Urschrift des Urteils, die Hinweise an die Kanzlei zur
Verwendung von Textbausteinen oder zur Übernahme gekennzeichneter Abschnitte aus anderen Schriftstücken enthält, sind die so bezeichneten Textbausteine oder Abschnitte aus anderen Schriftstücken nicht
Teil der Entscheidungsgründe. Das Urteil ist nur dann mit Gründen versehen, wenn die übrigen Teile
der Entscheidungsgründe eine ausreichende und aus sich heraus verständliche Begründung der getroffenen Entscheidung liefern. Das Urteil erhält nicht dadurch vollständige Entscheidungsgründe, dass die
Kanzlei eine Ausfertigung herstellt, die entsprechend den Anweisungen in der Urschrift vervollständigt
ist. Maßgeblich ist allein die Urschrift des Urteils, nicht aber eine hiervon abweichende Ausfertigung.
Eine solche Abweichung von der Urschrift liegt auch vor, wenn in der Urschrift allein enthaltene Kanzleianweisungen ausgeführt werden (großzügiger wohl BGH NJW 2001, 1653, 1654).
231 Sind Ausführungen, die ersichtlich nicht das Verfahren betreffen, versehentlich als Textbausteine in die
Entscheidungsgründe gelangt, liegt ein Verfahrensfehler nach § 138 Nr. 6 nicht vor, wenn diese Ausführungen bei objektiver Betrachtung des gesamten Urteils den "Kern" der Entscheidung nicht berühren,
weil sie sich wegen ihrer offenbaren Unrichtigkeit ohne Weiteres davon trennen lassen (OVG Hamburg
Beschl. v. 3.3.1999 – 4 Bf 264/98.A).
232 2. Verspätete Absetzung der Entscheidung. Ein Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn ihm zwar
gem. § 117 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 Nr. 5 Entscheidungsgründe beigefügt sind, diese aber nicht die Beurkundungsfunktion wahren, die ihnen zukommt. Wird ein Urteil erst erhebliche Zeit nach seiner Fällung
abgesetzt, bieten die ihm beigefügten Gründe keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht,
um das Vorliegen von Revisionsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen (BVerfG NJWRR 2002, 424).
233 a) Beurkundungsfunktion. Die Entscheidungsgründe beurkunden die Gründe, aus denen das Gericht
aufgrund der mündlichen Verhandlung seine Überzeugung gewonnen hat (§ 108 Abs. 1 S. 2), die also
der Fällung des Urteils zugrunde gelegen haben. Die Beurkundungsfunktion setzt mithin voraus, dass
die niedergelegten Gründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und gleichermaßen die Erwägungen wiedergeben, die für die richterliche Überzeugungsbildung ausschlaggebend waren. Die Beurkundungsfunktion ist nur gewahrt, wenn einerseits das Urteil alsbald nach der mündlichen Verhandlung
gefällt und andererseits die dafür maßgeblichen Gründe alsbald nach der Fällung des Urteils schriftlich
niedergelegt werden. Das Urteil ist nicht mehr mit Gründen versehen, wenn das Gericht die ihm beigefügten Gründe so spät niederlegt, dass keine Gewähr mehr dafür besteht, diese Gründe könnten noch
mit jenen überstimmen, die das Gericht aufgrund der mündlichen Verhandlung gewonnen und der gefällten Entscheidung zugrunde gelegt hat.
234 Die VwGO sichert durch zeitliche Vorgaben den notwendigen Zusammenhang zwischen der mündlichen
Verhandlung und der Fällung des Urteils einerseits sowie zwischen der Fällung des Urteils und dem
Absetzen der schriftlichen Urteilsgründe andererseits. Dieser zweite Zusammenhang ist für die Wahrung
der Beurkundungsfunktion von Bedeutung. Die verspätete Fällung des Urteils kann hingegen zu einer
Verletzung rechtlichen Gehörs führen (vgl. im Einzelnen Rn. 176 ff.).
235 b) Verspätete Absetzung verkündeter Urteile. Regelmäßig ist das Urteil in dem Termin zu verkünden,
in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird. Ausnahmsweise kann das Urteil auch in einem
besonders angesetzten Termin verkündet werden. Dieser Verkündungstermin soll nicht später als zwei
2798
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Wochen nach der mündlichen Verhandlung stattfinden (§ 116 Abs. 1). Mit der Verkündung des Urteils
hat das Gericht die Überzeugungsbildung abgeschlossen, die der mündlichen Verhandlung nachfolgt. Es
hat das Ergebnis festgelegt, das bei einer Entscheidung durch den Spruchkörper zudem auf einer vorausgegangenen Beratung beruht.
War ein Urteil bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefasst127, ist es gem. § 117 Abs. 4 S. 1 vor
Ablauf von zwei Wochen, vom Tage der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle zu übergeben. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, ist innerhalb dieser zwei Wochen die
von den Richtern unterschriebene Urteilsformel der Geschäftsstelle zu übergeben; Tatbestand und Entscheidungsgründe sind dann alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern gesondert zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben (§ 117 Abs. 4 S. 2). Das Gesetz schreibt eine alsbaldige
Niederlegung der Entscheidungsgründe vor, weil nur so der notwendige Zusammenhang zwischen ihnen
und dem bereits abschließend beratenen und gefällten Urteil gewahrt bleibt.
Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zwischen der mündlichen Verhandlung, der Beratung und der
Fällung des Urteils einerseits sowie der Abfassung der Urteilsgründe andererseits nimmt die Gefahr zu,
dass die Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe wegen des abnehmenden richterlichen Erinnerungsvermögens nicht mehr gewahrt ist. Der GmSOGB hat unter Rückgriff auf den damaligen § 552
ZPO (jetzt § 548 ZPO) entschieden, eine Frist von fünf Monaten sei die äußerste Grenze, bis zu der
Tatbestand und Entscheidungsgründe nachträglich abgefasst, unterzeichnet und der Geschäftsstelle
übergeben werden könnten, damit der Zusammenhang der schriftlichen Gründe mit der mündlichen
Verhandlung und der Beratung des Urteils noch gewahrt ist. Ein bei Verkündung noch nicht vollständig
abgefasstes Urteil128 ist danach i.S.d. § 138 Nr. 6 nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und
Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den
Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.129
Aus Gründen der Rechtssicherheit markiert die Frist von fünf Monaten seit der Urteilsverkündung eine
starre äußerste Grenze. Ist sie überschritten, kommt es nicht zusätzlich darauf an, ob die konkreten
Umstände des einzelnen Verfahrens den Schluss zulassen, dass die schriftlichen Urteilsgründe nicht mehr
das Ergebnis der Beratung widerspiegeln (BVerwG NVwZ-RR 1996, 299; BAG NJW 2000, 2835).
Die Frist von fünf Monaten soll sicherstellen, dass die schriftlich verlautbarten Gründe den Gründen
entsprechen, die auf der Grundlage der mündlichen Verhandlung beraten sind. Sie beginnt deshalb mit
dem Abschluss der Beratung und der Fixierung ihres Ergebnisses. Die Frist rechnet daher in den Fällen
des § 117 Abs. 4 von dem Zeitpunkt der Verkündung des noch nicht vollständig abgefassten Urteils an.
Das gilt auch dann, wenn das Gericht das Urteil nicht in dem Termin verkündet hat, in dem es die
mündliche Verhandlung geschlossen hat, sondern einen besonderen Verkündungstermin angesetzt
hat.130
Die Frist ist gewahrt, wenn das Urteil vor ihrem Ablauf in vollständiger Form der Geschäftsstelle übergeben wird. Auf die Zustellung an die Beteiligten kommt es nicht an. Die Frist stellt auf das nachlassende
Erinnerungsvermögen der Richter ab. Auf das Erinnerungsvermögen kommt es nach Übergabe des vollständigen Urteils an die Geschäftsstelle nicht mehr an.131
Auf die Frist sind die Regeln des § 222 ZPO nicht anwendbar. Fällt der letzte Tag der Frist auf einen
Sonnabend, einen Sonntag oder einen allgemeinen Feiertag, endet die Frist mit diesem Tag, nicht aber
erst mit dem Ablauf des nächsten Werktags.132 Dem Gericht soll nicht für die Absetzung des Urteils eine
bestimmte Frist ungeschmälert bis zum letzten Tag – und wenn dieser ein Sonnabend, Sonntag oder
Feiertag ist – bis zum nächsten Werktag zur Verfügung zu stehen. Dadurch würde die Frist zu einer Art
Bearbeitungsfrist. Damit wäre ihr Sinn verkannt. Das richterliche Erinnerungsvermögen nimmt nicht
nur an Werktagen ab. Der Zeitabstand seit der Urteilsverkündung wächst von Tag zu Tag in gleichem
127 Das ist die Regel, weil das Urteil i.d.R. in dem Termin verkündet wird, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen
worden ist (§ 116 Abs. 1 S. 1), in diesem Termin aber ein vollständiges Urteil regelmäßig noch nicht vorliegen kann.
128 Zur Frage, wann ein Urteil vollständig abgefasst ist, vgl. BVerwG NVwZ-RR 1996, 299.
129 GmSOGB BVerwGE 92, 367; ihm folgend etwa: BVerwG NVwZ-RR 1996, 299; NVwZ-RR 2000, 317.
130 BAG BB 1998, 2216; M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 160.
131 BVerwG Beschl. v. 21.7.1997 Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 31; OVG Weimar ThürVBl 2000, 43; anders,
aber etwas unklar: BVerwG NVwZ 1999, 1334, jedoch aufgegeben mit BVerwG NVwZ 2001, 1150, 1151.
132 BAG NJW 2000, 2835; M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 161; anders: OVG Bautzen
SächsVBl 2000, 39 (offen gelassen in SächsVBl 2004, 260, 263).
Neumann
2799
236
237
238
239
240
241
§ 138
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
Maße und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Werktag, einen Sonnabend, einen Sonntag oder
einen Feiertag handelt.
241a Wird der Geschäftsstelle vor Ablauf der Frist ein vollständig abgefasstes Urteil übergeben, dieses jedoch
vor seiner Ausfertigung und Zustellung an die Beteiligten von den Richtern wieder zurückgeholt und
erst nach Ablauf der Frist in überarbeiteter Fassung der Geschäftsstelle erneut übergeben, ist die Frist
nicht gewahrt. Denn hierfür kommt es auf die (endgültige) Fassung des Urteils an, die nach dem Willen
des Gerichts die entscheidungstragenden Gründe enthalten soll (OVG Bautzen SächsVBl 2004, 260,
263).
242 Auch wenn ein bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil vor Ablauf von fünf Monaten um Tatbestand und Entscheidungsgründe vervollständigt und unterschrieben der Geschäftsstelle
übergeben wird, kann es gleichwohl im Einzelfall nicht mit Gründen versehen sein. Über den bloßen
Zeitablauf seit der Verkündung des Urteils hinaus müssen aber besondere Umstände hinzukommen, die
wegen des Zeitablaufs schon bestehende Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Ergebnis der ihr folgenden Beratung einerseits sowie den schriftlich niedergelegten Urteilsgründen andererseits nicht mehr gewahrt
ist.133 Solche Umstände sind von dem Beteiligten darzulegen, der sich auf den Verfahrensmangel beruft
(BVerwG Beschl. v. 7.5.1999 – 7 B 77.99; OVG Weimar ThürVBl 2000, 43). Hierfür genügt noch nicht
der Hinweis, die Frist von fünf Monaten sei nur knapp gewahrt (BFH NVwZ-RR 2002, 542, 543;
OVG Weimar ThürVBl 2000, 43). Ebenso wenig reicht es aus, dass es mangels entsprechender Gründe
nicht als Ausnahmefall i.S.d. § 117 Abs. 4 S. 2 gerechtfertigt war, die äußerste Grenze von fünf Monaten
für das Absetzen des vollständigen Urteils auszuschöpfen (BVerwG Beschl. v. 4.8.2000 Buchholz 428
§ 18 VermG Nr. 10). Ebenso genügt noch nicht, dass anstelle des Spruchkörpers der Einzelrichter entschieden hat, mag sich auch der Einzelrichter zur Festigung und Auffrischung seines Erinnerungsvermögens nicht an weitere mitwirkende Richter wenden können (OVG Weimar ThürVBl 2000, 43). Hingegen kann berücksichtigt werden, dass für die Entscheidungsfindung ein unmittelbarer, also persönlicher Eindruck der an der Entscheidung beteiligten Richter bedeutsam ist (BVerwG NVwZ-RR 2001,
798, 799). Soweit Beweisaufnahmen zu bewerten waren, kann von Bedeutung sein, ob die Beweiswürdigung in sich stimmig erscheint und die Erinnerung durch ergiebige Protokolle oder bei Einnahme des
richterlichen Augenscheins durch Photographien und Kartenmaterial gestützt wurde (vgl. auch BVerwG
Beschl. v. 3.5.2004 – 7 B 60.04).
243 Der GmsOBG sieht die Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe nicht als gewahrt an, wenn sie
das Beratungsergebnis nicht mehr zuverlässig wiedergeben. Er hat dabei den Regelfall einer Entscheidung
durch den Spruchkörper vor Augen. Die Anforderungen an die alsbaldige Absetzung eines Urteils nach
seiner Verkündung gelten aber auch für den Einzelrichter, der naturgemäß mit seinen Entscheidungsgründen kein Beratungsergebnis wiedergibt (M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138
Rn. 155). Es geht bei der Beurkundungsfunktion um die Wiedergabe der Gründe, die für die Überzeugungsbildung des Gerichts und damit für die bereits gefällte Entscheidung maßgeblich waren. Legt der
Einzelrichter die maßgeblichen Gründe für ein bereits verkündetes Urteil nicht alsbald schriftlich nieder,
besteht ebenfalls die Gefahr, die schließlich niedergelegten Gründe seien nicht mehr jene, die der Einzelrichter aufgrund der mündlichen Verhandlung gewonnen und seinem bereits gefällten Urteil zugrunde
gelegt hat (VGH Kassel MDR 1992, 905).
244 c) Verspätete Absetzung an Verkündungs statt zugestellter Urteile. Ersetzt das Gericht gem. § 116
Abs. 2 die Verkündung des Urteils durch dessen Zustellung, ist das (vollständige) Urteil binnen zwei
Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übergeben. Kann dies ausnahmsweise
nicht geschehen, ist in entsprechender Anwendung von § 117 Abs. 4 S. 2 innerhalb dieser zwei Wochen
die von den Richtern unterschriebene Urteilsformel der Geschäftsstelle zu übergeben. Tatbestand und
Entscheidungsgründe sind dann alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern gesondert zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben. Wird entgegen §§ 116 Abs. 2, 117 Abs. 4 S. 2 nicht
zumindest die unterschriebene Urteilsformel binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung
der Geschäftsstelle übergeben, das Urteil also nicht fristgerecht beschlossen, liegt hierin eine Verletzung
von § 116 Abs. 2, auf der das Urteil beruht (BVerwG Beschl. v. 6.5.1998 Buchholz 310 § 116 VwGO
133 BVerwG Beschl. v. 3.5.2004 – 7 B 60.04; Beschl. v. 3.2.2005 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 300; OVG Weimar
ThürVBl 2000, 43.
2800
Neumann
§ 138
Absolute Revisionsgründe
Nr. 22; BVerwGE 110, 40, 47 f.). Neben einer Verletzung des § 116 Abs. 2 kann zugleich der Anspruch
der Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt sein (BVerfG NVwZ 1990, 651; BVerwGE 110, 40, 47;
§ 116 Rn. 36). Die verspätete Fällung des Urteils erfüllt aber nicht die Voraussetzungen des absoluten
Revisionsgrundes des § 138 Nr. 6.
Nicht mit Gründen versehen ist das (rechtzeitig gefällte) Urteil aber dann, wenn das Gericht in entsprechender Anwendung des § 117 Abs. 4 S. 2 zunächst nur die unterschriebene Entscheidungsformel der
Geschäftsstelle übergeben hat, jedoch nicht alsbald danach auch die Entscheidungsgründe schriftlich
niedergelegt, gesondert unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben hat. Auch in diesem Fall beträgt die äußerste Grenze hierfür fünf Monate (BVerwG NJW 1994, 273; NVwZ 2001, 1150).
Die Frist beginnt mit dem Tag der abschließenden Beratung des Urteils134. Dokumentiert wird der Abschluss der Beratung durch die Niederlegung der unterschriebenen Urteilsformel entsprechend § 117
Abs. 4 S. 2.135 Der Beginn der Frist knüpft mithin regelmäßig an den Tag an, an dem die unterschriebene
Urteilsformel der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Das gilt auch dann, wenn das Gericht unter
Verstoß gegen den entsprechend anwendbaren § 117 Abs. 4 S. 2 die unterschriebene Urteilsformel der
Geschäftsstelle erst nach Ablauf von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung übergibt. § 138
Nr. 6 sichert die Beurkundungsfunktion des Urteils und damit den Zusammenhang zwischen den beschlossenen und den schriftlich niedergelegten Gründen. Der Fristbeginn setzt mithin die Fällung des
Urteils voraus.136 Hat das Gericht unter Verstoß gegen § 117 Abs. 4 S. 2 sogar gänzlich davon abgesehen,
das Beratungsergebnis in den dort vorgeschriebenen Formen und Fristen festzuhalten, sondern stattdessen ein (vollständiges) Urteil erst mehr als fünf Monate nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben, kann indes nicht stets davon ausgegangen werden, erst damit sei das Urteil
überhaupt gefällt worden. Haben an der Entscheidung ehrenamtliche Richter mitgewirkt, muss vielmehr
davon ausgegangen werden, dass das Urteil im Anschluss an die mündliche Verhandlung beraten und
beschlossen worden ist, auch wenn das Ergebnis nicht in den Formen und Fristen des §§ 116 Abs. 2,
117 Abs. 4 S. 2 eigens festgehalten worden ist. Wird dann nur ein vollständiges Urteil der Geschäftsstelle
übergeben, dieses aber erst mehr als fünf Monate nach der mündlichen Verhandlung, ist es nicht mit
Gründen versehen. Insofern beginnt bei dieser Fallgestaltung die Frist mit der mündlichen Verhandlung137.
Der Bundesgerichtshof (BGH NJW-RR 2001, 1642, 1643; ebenso Kopp/Schenke § 138 Rn. 27) knüpft
hingegen stets an den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an, wenn die Entscheidung nicht verkündet, sondern an Verkündungs statt zugestellt werden soll. Er weist darauf hin, in diesen Fällen sei, und
zwar auch bei zwischenzeitlicher Niederlegung der Entscheidungsformel, nicht mehr sicher gewährleistet, dass das in der mündlichen Verhandlung Erörterte bei der so viel späteren Abfassung der Entscheidung Berücksichtigung findet, die Entscheidung also noch aufgrund der mündlichen Verhandlung ergeht. Der Zusammenhang zwischen der mündlichen Verhandlung und der Niederlegung des Ergebnisses
der Beratung wird indes durch andere Verfahrenvorschriften gesichert (vgl. Rn. 176 ff.). Sind diese eingehalten, knüpft an die damit erreichte Sicherung des Ergebnisses die Frist für die Sicherung der Begründung dieses Ergebnisses an.
Die Frist ist auch in den Fällen des § 116 Abs. 2 gewahrt, wenn das Urteil vor ihrem Ablauf in vollständiger Form der Geschäftsstelle übergeben wird. Auch in dieser Fallgestaltung kommt es nicht auf die
Zustellung an die Beteiligten an.138
245
246
247
248
d) Verspätete Absetzung von Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung. Entscheidet das Gericht 249
nach § 101 Abs. 2 im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, wird die Verkündung
134 BVerwG NVwZ 2001, 1150; M. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner § 138 Rn. 162.
135 BVerwG Beschl. v. 3.8.1998 – 7 B 236.98; NVwZ 2000, 1290, 1292; anders: OVG Weimar ThürVBl 2000, 43: Frist
beginnt mit dem Schluss der mündlichen Verhandlung; nach dem Leitsatz stellt auch BVerwG NJW 1994, 373 auf den
Tag der mündlichen Verhandlung ab; in dem entschiedenen Fall kam es auf die Frage nicht an, weil die Urteilsformel
noch am Tag der mündlichen Verhandlung schriftlich niedergelegt worden war.
136 Anders BVerwG NVwZ 2000, 1290, 1292: danach soll die Frist in diesen Fällen entweder mit dem Tag der mündlichen
Verhandlung oder mit dem (fruchtlosen) Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 117 Abs. 4 S. 2 analog beginnen.
137 A.A.: BFH BFH/NV 2004, 1114, 1115: die Frist beginnt mit dem fruchtlosen Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 117
Abs. 4 S. 2 analog.
138 BVerwG Beschl. v. 21.7.1997 Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 31; OVG Weimar ThürVBl 2000, 43; anders,
aber etwas unklar: BVerwG NVwZ 1999, 1334; klarstellend nunmehr BVerwG Beschl. v. 11.6.2001 Buchholz 310
§ 116 VwGO Nr. 26; Beschl. v. 10.10.2003 – 7 B 88.03.
Neumann
2801
§ 139
Teil III – 13. Abschnitt | Revision
des Urteils ebenfalls durch dessen Zustellung an die Beteiligten ersetzt (§ 116 Abs. 3). In diesen Fällen
fehlt es naturgemäß an zeitlichen Vorgaben für die Fällung des Urteils (vgl. hierzu BVerwG SächsVBl 2003, 215). Wie bei einem Urteil, das aufgrund mündlicher Verhandlung ergeht, muss aber sichergestellt sein, dass die niedergelegten Gründe diejenigen sind, aus denen das Urteil beschlossen worden
ist. Bei Urteilen des Einzelrichters oder eines nur mit Berufsrichtern besetzten Spruchkörpers wird das
Urteil regelmäßig erst beschlossen (gefällt), wenn die Richter das (vollständige) Urteil unterschreiben.
Der erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen Beratung und Fällung des Urteils einerseits, der
Absetzung des Urteils andererseits wird regelmäßig gewahrt sein. Anders verhält es sich, wenn das Urteil
zwar ohne vorherige mündliche Verhandlung, aber in einer bestimmten Sitzung und damit in bestimmter
Besetzung beraten und beschlossen wird.139 In diesen Fällen ist die Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe nicht mehr gewährleistet, wenn das vollständige Urteil erst mehr als fünf Monate nach der
Beratung und Beschlussfassung der Geschäftsstelle übergeben wird.
§ 139 [Einlegung und Begründung der Revision]
(1) 1Die Revision ist bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, innerhalb eines Monats nach
Zustellung des vollständigen Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision nach § 134
Abs. 3 Satz 2 schriftlich einzulegen. 2Die Revisionsfrist ist auch gewahrt, wenn die Revision innerhalb
der Frist bei dem Bundesverwaltungsgericht eingelegt wird. 3Die Revision muß das angefochtene Urteil
bezeichnen.
(2) 1Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision abgeholfen oder läßt das Bundesverwaltungsgericht die Revision zu, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt,
wenn nicht das Bundesverwaltungsgericht das angefochtene Urteil nach § 133 Abs. 6 aufhebt; der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht. 2Darauf ist in dem Beschluß hinzuweisen.
(3) 1Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils oder des
Beschlusses über die Zulassung der Revision nach § 134 Abs. 3 Satz 2 zu begründen; im Falle des Absatzes 2 beträgt die Begründungsfrist einen Monat nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung
der Revision. 2Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht einzureichen. 3Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. 4Die
Begründung muß einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen angeben, die den Mangel ergeben.
Schrifttum
C. Dästner, Neue Formvorschriften im Prozessrecht, NJW 2001, 3469; M. Schultz, Rechtsmittelbegründungsfrist und Prozesskostenhilfe, NJW 2004, 2329; H. Büttner, Begründung der Revision vor ihrer Zulassung durch das Revisionsgericht?, NJW 2004, 3524.
I. Entwicklung des Normbestands . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Einlegung der Revision (Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Notwendigkeit der Einlegung . . . . . . . . . . . . . .
2. Zur Einlegung berechtigte Beteiligte . . . . . . .
3. Eingeschränkte Einlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Ort der Einlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Revisionsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Revisionsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Inhalt der Revisionsschrift . . . . . . . . . . . . . .
8. Einlegung vor Zulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Fortführung des Beschwerdeverfahrens als Revisionsverfahren (Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Begründung der Revision (Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . .
1. Ort der Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Begründungsfrist (Abs. 3 S. 1) . . . . . . . . . . . . . .
a) Regelmäßiger Fristlauf . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
2
2
4
11
13
14
15
22
22
24
28
29
36
38
41
43
3.
4.
5.
b) Besonderheiten zum Fristlauf . . . . . . . . . . . 48
aa) Fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
bb) Fristablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53a
cc) Wiedereinsetzungsfragen . . . . . . . . . 54
c) Verlängerung der Frist (Abs. 3 S. 3) . . . . 61
aa) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
bb) Entscheidung über die Verlängerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
cc) Gründe für eine Fristverlängerung 77
Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Inhalt der Revisionsbegründung
(Abs. 3 S. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
a) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
b) Angabe der verletzten Rechtsnorm . . . . . 94
c) Verfahrensrügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
139 So verhält es sich notwendig in den Fällen, in denen ehrenamtliche Richter an der Entscheidung mitzuwirken haben.
2802
Neumann