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Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Georgi Arbatov en Willem Oltmans Vertaald door: Georg Krähmer bron Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR (vert. Georg Krähmer). Rogner & Bernhard, München 1981 Zie voor verantwoording: http://www.dbnl.org/tekst/arba001sowj01_01/colofon.php © 2016 dbnl / erven Georgi Arbatov / Willem Oltmans Stichting 7 Vorwort In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte meine Familie nach Südafrika aus, während ich an der Yale University in den USA mit dem Studium der Internationalen Beziehungen begann. Wir verließen Europa, weil wir alle fest daran glaubten, daß eine sowjetische Invasion bevorstünde. Mein Professor, Arnold Wolfers, Vorstand des Pierson College, betonte zum Beispiel, daß das wichtigste Ergebnis des Zweiten Weltkriegs nicht die Zerschlagung Nazi-Deutschlands gewesen sei, sondern der Aufstieg der Sowjetunion zur Supermacht. Nachdem ich Anfang der fünfziger Jahre Journalist geworden war, vermied ich es im allgemeinen, Aufgaben in sozialistischen Ländern zu übernehmen, bis ich schließlich 1971 zum ersten Mal in die Sowjetunion reiste. Ich bereitete für das holländische Fernsehen einen Dokumentarfilm vor, der sich mit dem vom Club of Rome publizierten Bericht ‘Grenzen des Wachstums’ befaßte. Für diesen Dokumentarbericht interviewte und filmte ich sowohl Georgij A. Arbatow, Direktor des Instituts zum Studium der USA und Kanadas der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, als auch Dr. Dscherman M. Gwischiani, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft und Technik beim Ministerrat der UdSSR. In den folgenden neun Jahren reiste ich noch dutzende Male als Journalist in die Sowjetunion, und wann immer es sein Terminkalender zuließ, traf ich bei diesen Gelegenheiten mit Professor Arbatow zusammen, um mit ihm über die Ost-West-Beziehungen zu diskutieren. Professor Arbatows Ansichten und Gedanken zu den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen sind bislang nur in gelegentlichen Interviews mit ausgewählten Medien oder in Leitartikeln in der Prawda dargelegt worden. Allmählich gewann ich die Überzeugung, daß der Versuch unternommen werden sollte, diese Überlegungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Schließlich gilt Professor Arbatow neben Anatoli Dobrynin als der wichtigste Berater und Spezialist des Kremls in diesen Fragen. Zur Vorbereitung dieses Buches suchte ich zahlreiche Persönlichkeiten auf wie Dr. Philip Handler, Präsident der National Academy of Sciences in Washington, frühere und gegenwärtige Mitarbeiter des Weißen Hauses, Wissenschaftler in Harvard, Stanford, Yale und anderen Hochschulen, so bekannte Vertreter einer harten politischen Linie gegenüber der UdSSR wie die Rostow-Brüder, Paul Nitze, Admiral Elmo Zumwalt jr., Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 8 Generalmajor George J. Keegan jr., Richard V. Allen (Ronald Reagens derzeitiger außenpolitischer Sprecher) und viele andere. Wir begannen mit der Arbeit an diesem Buch Ende 1979, als es zu den unerwarteten Ereignissen in Afghanistan und im Iran kam und sich zugleich auch die gesamte internationale Lage verschlechterte. Diese Geschehnisse haben selbstverständlich in unsere Diskussionen Eingang gefunden und so dem Dialog eine ganz neue Dimension hinzugefügt. Auch wenn Arbatow einige meiner Eihwände für unannehmbar hielt, sie mitunter sogar als verletzend empfand, so sah er darin jedoch nie einen persönlich gemeinten Angriff, wußte er doch, daß sich viele Menschen im Westen diese und andere Fragen stellen. In einigen Fragen, die wir erörterten, konnten wir uns nicht einigen, was nur natürlich ist. Dennoch herrschte bei unserer Arbeit im allgemeinen eine Atmosphäre, die geprägt war von gutem Willen, von gegenseitigem Verständnis und von dem Wunsch beider Seiten, das Buch möge zu einem besseren Verständnis der Probleme beitragen. Tatsächlich zeigt die Arbeit, die wir jetzt abgeschlossen haben, allein schon durch ihr Zustandekommen, daß die friedliche Koexistenz sehr wohl möglich ist. Ohne Zweifel herrscht in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ein zunehmendes Informationsdefizit über die gegenwärtigen Anschauungen, die in den höchsten Regierungskreisen der anderen Seite vorherrschen. In Abwandlung eines Wortes von James Reston könnte man sagen: Wir sehen uns selbst selten so, wie uns die anderen sehen oder wie wir wirklich sind. Aus diesem Grand hoffe ich, daß diese Darstellung der Ansichten eines überragenden Spezialisten der anderen Seite dazu beitragen wird, uns ein genaueres Bild darüber zu verschaffen, mit welchen Augen man die USA, und vielleicht den Westen ganz allgemein, in der Hauptstadt des größten Landes der Welt sieht. Gewiß ist unsere Erörterung unvollständig, wie wahrscheinlich jedem Vorhaben dieser Art gewisse Grenzen gesetzt sind. Viele Fragen bleiben für mich wie wohl auch für den Leser weiterhin offen. Nichtsdestoweniger waäe zu hoffen, daß dieser unvollkommene Beitrag zum Ost-West-Dialog hilft, das Verständnis zwischen zwei großen Nationen wie auch das Verständnis unter allen Menschen, denen der Frieden ein besonderes Anliegen ist, zu vertiefen und zu erweitern. Ich sollte noch hinzufügen, daß sich während meiner monatelangen Arbeit an diesem Manuskript in Moskau zwischen einer Reihe von Mitarbeitern Professor Arbatows und mir eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre entwickelte. Für die Hilfe und die Ermutigung, die ich dadurch erfuhr, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. New York, 31. Januar 1981 Willem Oltmans Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 9 I) Leidensweg der Entspannung Die siebziger Jahre waren das Jahrzehnt der Entspannung. Werden die achtziger das Jahrzehnt des zweiten Kalten Krieges werden? Wir sollten nicht so fatalistisch sein, gleich das ganze Jahrzehnt verloren zu geben. Aber so, wie es jetzt aussieht, hat sich die gesamte internationale Lage ernsthaft verschlechtert. Es ist noch gar nicht so lange her, da schien die Welt einen Weg aus den Feindseligkeiten und Dummheiten des Kalten Krieges gefunden zu haben, und es sah so aus, als wäre Entspannungspolitik zum Normalzustand geworden. Doch nun hat es den Anschein, daß für einige Leute die Entspannung zu einer vorübergehenden, wenn auch willkommenen Abweichung von dem düsteren Normalzustand des Mißtrauens, der Feindschaft und der Konfrontation wird, die die internationalen Beziehungen in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten. Was wäre denn der ‘ideale’ Normalzustand? Ich würde allzugem ganz eindeutig sagen, daß das Abnehmen der Spannungen zwischen den Völkern, die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit sowie Fortschritte bei der Rüstungskontrolle der Normalzustand ist und wir derzeit eine Abweichung von diesem Normalzustand erleben. Aber ich zögere, das so auszudrücken, zumindest bevor wir nicht genau definiert haben, was der Begriff ‘Normalzustand’ bedeutet. Wenn wir unter ‘normal’ einen natürlichen Zustand verstehen, wie z. B. die ‘normale’ Körpertemperatur, und damit zum Audruck bringen, daß der Körper gesund ist und nichts seine Gesundheit bedroht, dann ist sicherlich die Entspannung der Normalzustand und nicht der Kalte Krieg. Man kann ‘normal’ aber auch als ‘allgemein üblich’ definieren, als einen Zustand, der so natürlich ist, daß es keiner besonderen Mühe bedarf, ihn aufrecht zu erhalten. Es ist z. B. ‘normal’, daß ein Korken an der Wasseroberfläche schwimmt. Will man ihn unter Wasser drücken oder ihn aus dem Wasser Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 10 heben, so bedarf das einer Anstrengung; sobald man diese Anstrengung unterläßt, kehrt der Korken in seine normale Ausgangslage zurück. In diesem Sinn ist die Entspannung leider noch nicht der Normalzustand der internationalen Beziehungen geworden. Es bedarf immer noch besonderer Anstrengungen, sie aufrecht zu erhalten, während man Spannung allein schon dadurch erzeugen kann, daß man überhaupt nichts tut. Mit anderen Worten, geriet die Entspannung in Nöte, weil sich die Anstrengungen, die zu ihrer Aufrechterhaltung unternommen wurden, als unzureichend erwiesen? Nein, dem würde ich nicht zustimmen. Sicherlich haben einige Leute mehr für die Entspannung getan als andere, aber es war nicht nur Trägheit, gegen die die Entspannung ankortimen mußte. Was wirklich den Ausschlag gab, war die starke Mobilisierung jener Gegenkräfte, die in der Entspannung eine gefährliche Irrlehre sahen. Insbesondere wurde die Entspannung durch den Kurswechsel der US-Außenpolitik Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre untergraben. Amerikaner werden über eine solche Feststellung in Zorn geraten, denn sie sind überzeugt, daß die entscheidende Ursache der derzeitigen Verschlechterung Afghanistan war. Ich bin mir darüber sehr wohl im klaren, daß unser Vorgehen in Afghanistan im Westen dazu benutzt wurde, einen Sturm der Emotionen und Denunziationen zu entfesseln. Politische Urteile sollten aber auf Tatsachen beruhen und nicht auf Emotionen. Das offizielle Argument der Amerikaner, demzufolge die Ursache der gegenwärtigen Verschlechterung die Ereignisse in Afghanistan sind, ist nicht stichhaltig, weil die prinzipiellen Entscheidungen, die die Basis der neuen Politik der USA darstellen und die hier in der Sowjetunion als ein gewaltiger Schritt zurück zum Kalten Krieg verstanden werden, lange vor den Ereignissen in Afghanistan getroffen wurden. An welche Entscheidungen denken Sie dabei? An den Beschluß der Nato, während der nächsten 15 Jahre die Rüstungsetats jährlich zu erhöhen (Washington, Mai 1978), an die Entscheidung des US-Präsidenten für einen ‘Fünfjahresplan’, der weitere militärische Programme und Rüstungsaufgaben in nie dagewesener Höhe vorsieht (November 1979), und an den höchst gefährlichen Nachrüstungsbeschluß der Nato, neue amerikanische Mittelstreckenraketen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 11 zu bauen und in Europa zu stationieren (Brüssel, Dezember 1979). Außerdem haben die USA noch vor den Ereignissen in Afghanistan die Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung praktisch zum Stillstand gebracht. Die Ratifizierung des SALT II-Abkommens war bereits im September/Oktober 1979 äußerst ungewiß. Darüber hinaus geschah die überstürzte Annäherung an China auf eindeutig antisowjetischer Basis, und hinzu kam, daß die USA Ende 1979 einen ganzen Schwarm von Kriegsschiffen samt Flugzeugen und Nuklearwaffen in den Persischen Golf entsandten. Wir konnten nicht recht glauben, daß das nur der Befreiung der Geiseln in Teheran dienen sollte und nicht Teil eines generellen Kurswechsels der amerikanischen Außenpolitik und ihrer militärischen Positionen war. Deshalb ging man in Moskau bereits Mitte Dezember 1979 davon aus, daß die Vereinigten Staaten einen scharfen Kurswechsel eingeleitet hatten. Mit anderen Worten - die amerikanische Politik hat sich auf das sowjetische Vorgehen in Afghanistan ausgewirkt? Sie war ein wichtiger Faktor. Falls die Entspannung sich normal weiterentwickelt hätte und die von Ihnen genannten Probleme nicht aufgetreten wären, hätte die Sowjetunion also keine Truppen nach Afghanistan entsandt? Sehr gut möglich. Verstehen Sie mich bitte richtig: Die Entsendung der Truppen war keine ‘Bestrafung’ der USA oder des Westens für schlechtes Betragen. Sie hat mehr mit unserer neuen Einschätzung der durch die USA und die Nato geschaffenen Situation zu tun. Wie der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, im Januar 1980 in einem Interview mit der Prawda sagte, war uns die Entscheidung, ein begrenztes militärisches Kontingent nach Afghanistan zu schicken, nicht leicht gefallen.1 Die afghanische Regierung hatte uns schon lange vor Ende des Jahres 1979 wiederholt um Hilfe gebeten, aber wir haben diese nicht gewährt. Ende 1979 mußte jedoch die Lage in Afghanistan zwangsläufig im Kontext der ständig wachsenden internationalen Spannungen auf der ganzen Welt wie auch speziell in dieser Region bewertet werden. In diesem Rahmen gewann die Bedrohung der aus der Revolution hervorgegangenen afghanischen Regierung wie auch die Bedrohung unserer eigenen Sicherheit sehr viel mehr Bedeutung, als das zu Zeiten der Entspannung der Fall gewesen wäre. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 12 Die Ereignisse in Afghanistan haben die Amerikaner und ihre Verbündeten vor allem deshalb so verwirrt, weil sie sich über die sowjetischen Absichten im unklaren waren. Präsident Carter sagte ausdrücklich, er könne bezüglich der sowjetischen Absichten kein Risiko eingehen.2 Der Grund für einen abrupten Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik liegt möglicherweise darin, daß man eine wachsende sowjetische Bedrohung festzustellen glaubte, und zwar lange vor Aghanistan, und sich dutch diese Eteignisse nur bestätigt sah. Ehrlich gesagt: Wenn ich das Gerede von der ‘sowjetischen Bedrohung’ höre, und zwar nicht aus dem Munde des manipulierten Mannes von der Straße, sondern von verantwortlichen Politikern und Experten, dann drängt sich mir der Eindruck auf, daß diese Leute in Wirklichkeit nicht so sehr die Sowjetunion und deren Macht und Absichten meinen, sondern die Vereinigten Staaten, die amerikanische Politik und die Rolle Amerikas in der Welt. Es ist ganz einfach bequemer, die phantastischsten Ansprüche und Forderungen im Bereich amerikanischer Politik und militärischer Macht zu erheben, indem man die Sowjetunion als Provokateur erscheinen läßt, auf den die Amerikaner reagieren. Aus unserer Sicht hat jedoch niemand Amerika dazu provoziert, eine härtere Außenpolitik zu betreiben. Vielmehr steigerten sich die USA bereits seit geraumer Zeit systematisch in eine Haltung hinein, die zur gegenwärtigen Einschätzung ihrer Beziehungen zur UdSSR und der Welt ganz allgemein führte. Sie können aber nicht bestreiten, daß die Sowjetunion im Laufe der Jahre ihre militärische Stärke ungeheuer ausgebaut hat. Ja, unser Stärke hat zugenommen. Wir hatten gute Gründe, uns um unsere Verteidigung zu kümmern. Und manchem, der sich so lautstark über die sowjetische militärische Bedrohung beklagt, muß gesagt werden, daß die Aufrüstung der Verteidigung dient und nicht der Vorbereitung einer Aggression. Die Nato behauptet aber immer wieder, die sowjetische Aufrüstung überschreite das ‘legitime Verteidigungsbedürfnis’. ‘Warum siehst du nur den Splitter im Auge deines Bruders, nicht aber den Balken im eigenen Auge?’ Ich frage mich oft, wie amerikanische Generäle und Politiker ihr ‘legitimes Verteidigungsbedürfnis’ wohl bemessen würden, wenn nördlich von Michigan ca. eine Million Solda- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 13 ten des Warschauer Paktes und ungefähr 700 Nuklearwaffen stehen würden und gleichzeitig Texas nicht an Mexiko grenzen würde, sondern an ein Land, das von einer Milliarde Menschen bewohnt wird, das mit Nuklearwaffen ausgerüstet und von messianischem Sendungsbewußtsein erfüllt ist, sowie auf einen erheblichen Teil des Südens der USA Anspruch erhebt. Ausdruck der offiziellen amerikanischen Heuchelei über die strategische Position der Sowjetunion ist das jüngst zur politischen Mode gewordene Schlagwort vom sogenannten ‘Arc of Crisis’. Dieser Begriff, von Zbigniew Brzezinski geprägt, bezieht sich auf das südwestliche Asien und den Nahen Osten. Dieses Gebiet wurde zu einer der ‘vitalen Interessensphären Amerikas’ erklärt. Ist wohl irgend jemand, der diesen Gedanken des ‘Bogens’ übernommen hat, dabei auch aufgefallen, daß dieser ‘Bogen’ in fast seiner gesamten Länge direkt an unseren Grenzen wie auch denen unserer südlichen Nachbarn entlang verläuft und es sich mithin um ein Gebiet handelt, das von äußerster Wichtigkeit für die nationale Sicherheit der Sowjetunion ist, also eine Zone wahrhaft vitaler Interessen für die UdSSR? Wenn es keine sowjetische Bedrohung gibt, wie Sie sagen, was waren denn Ihrer Meinung nach die Gründe für die neue harte Linie der Amerikaner? Meiner Meinung nach gibt es da zwei Kategorien von Ursachen: einmal die, die bewirkt haben, daß sich die Stimmung und das Kräftegleichgewicht innerhalb der amerikanischen Machtelite verändert hat, zum anderen jene, die eine politische Atmosphäre im Land geschaffen haben, in der es möglich war, solche Veränderungen in praktische Politik umzusetzen. Was die Elite angeht, so scheinen mir die hauptsächlichen Gründe für einen Umschwung deren Schwierigkeiten zu sein, sich den neuen Gegebenheiten der Weltlage anzupassen. Diese Gegebenheiten haben sicher Probleme für die USA geschaffen, da sie eine sehr grundlegende Neuorientierung der Außenpolitik verlangten. In der Tat erforderte es einen Bruch mit den Richtlinien, Neigungen und Maßstäben politischen Verhaltens, wie sie für eine ganze Epoche charakteristisch waren. Eine außergewöhnliche Epoche, nicht zuletzt wegen der Lage, in der sich die Amerikaner direkt nach dem Zweiten Weltkrieg befanden, aus dem sie als die reichste und mächtigste Nation hervorgingen, die weder Verwüstungen erlitten noch größere Opfer gebracht hatte. Diese Situation ließ damals den Eindruck entstehen, daß die USA na- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 14 hezu alles und jeden kaufen und diejenigen, die nicht käuflich waren, dank der überlegenen Macht unterdrücken oder gar vernichten konnten. Diese historische Situation war einzigartig und nicht von Dauer. Viele Amerikaner sahen darin bald die natürliche und ewige Ordnung der Dinge. Aber glauben Sie nicht auch, daß viele Amerikaner diese Illusionen begraben haben? Ja, aber das hat unsägliche Mühen gekostet. Das zeigte sich wieder einmal beim Wahlkampf 1980 mit seinem nostalgischen Motto des ‘American Dream’. Es fällt der Elite auch schwer zu glauben, daß ein Abnehmen der internationalen Spannungen den politischen Willen der USA nicht schwächt. Ich möchte dazu eine Episode aus dem Jahr 1972 in Erinnerung rufen, als das erste Gipfeltreffen gerade zu Ende gegangen war und der Präsident der USA nach Washington zurückkehrte. Was war der vorherrschende Gedanke in den Köpfen der amerikanischen Politiker? Wie Kissingers Memoiren besagen, war es nicht Freude und Genugtuung, sondern die Angst und die Sorge, es werde fortan viel schwerer fallen, die öffentliche Unterstützung für Rüstungsprogramme zu gewinnen und die alte Politik weiterzuverfolgen.3 So hat man bereits 1972 reagiert. Die Ereignisse in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre machten alles noch wesentlich schwerer. Dadurch wurde das amerikanische Establishment anscheinend so verschreckt, daß sich der Anpassungsprozeß verlangsamte und schließlich zum Erliegen kam. Die Mißerfolge Amerikas in Indochina, im Iran und anderswo wurden von vielen Amerikanern für die Folge einer vermeintlichen Scheu der USA vor Gewaltanwendung gehalten. Hierher rührten dann die neubelebten Forderungen nach Aufrüstung und einer Überprüfung der militärischen Doktrin. Die wahren Motive für eine wachsende Unzufriedenheit innerhalb der amerikanischen Machtelite mit den Entwicklungen in der Welt liegen jedoch tiefer, glaube ich. Woran denken Sie? Nun, ein Faktum, mit dem die USA sich besonders schwer abfinden können, ist der Verlust der strategischen Überlegenheit und die Herstellung des Kräftegleichgewichts zwischen der UdSSR und den USA. Ein weiterer Aspekt ist die zunehmende Abhängigkeit der amerikani- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 15 schen Wirtschaft von anderen Ländern. Das sind die Amerikaner nicht gewöhnt. Jahrelang war viel von ‘Interdependenz’ die Rede, doch als sich herausstellte, daß das auch in einem gewissen Grad die Abhängigkeit Amerikas von anderen bedeutete, beklagte man lautstark die ‘Verwundbarkeit’. Meinen Sie die amerikanische Abhängigkeit von Ölimporten? Öl ist ohne Zweifel ein ganz wichtiger Faktor. Sind doch die USA heute abhängiger vom Öl aus dem Nahen Osten als je zuvor. Diese Abhängigkeit wurde aber nicht von den Ölproduzenten geschaffen. Hinzu kommt, daß die Abhängigkeit von anderen einem keinerlei besondere Rechte auf deren Eigentum gibt. Andernfalls hätten wir es mit dem Gesetz des Dschungels zu tun. Welche weiteren Faktoren haben nach Ihrer Auffassung zu der Kursänderung der amerikanischen Politik beigetragen? Der Faktor China hatte großes Gewicht. Um genauer zu sein: die illusorischen Hoffnungen auf eine rasche Verschiebung des globalen Kräftegleichgewichts zugunsten der USA durch das Zusammengehen mit China. Zuvor hatten die USA ihre Wiederannäherung an China viel behutsamer betrieben, um die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, denen man für die amerikanischen Interessen sehr große Bedeutung beimaß, nicht zu gefährden. Washington schien auch sorgfältig darauf zu achten, daß nicht ein Punkt erreicht wurde, an dem man unliebsame Verpflichtungen auf sich nehmen mußte, die weniger China vor den amerikanischen Karren spannen würden als vielmehr die USA vor den chinesischen. Heute hat es den Anschein, als sei dieser Punkt bereits erreicht. Ich würde noch auf einen wichtigen innenpolitischen Faktor in Amerika hinweisen. Auf den Wahlkampf? Über den Wahlkampf 1980 können wir auch sprechen, aber der Faktor, an den ich denke, hat längerfristige Auswirkungen. Ich meine die sich mehrenden Klagen des amerikanischen Establishments darüber, daß Amerika ‘unregierbar’ werde: der Mangel an Konsens, die Zersplitterung politischer Intistutionen, das ‘Übermaß’ an sozialen Forderungen, die an das System gestellt werden, ein ‘Zuviel’ an Demokratie, usw. Aber es ist nicht vergessen, daß während des Kalten Krieges die USA Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 16 eine besser organisierte, diszipliniertere Gesellschaft gewesen sind, was die Aufgabe des Regierens vereinfachte. Viele derer, die angesichts der ‘Unregierbarkeit’ verzweifeln, habe ich im Verdacht, daß sie erwarten, daß die Amerikaner bei einer verschärften internationalen Lage gefügiger werden. Alle diese Faktoren zusammen bewirkten meiner Meinung nach bei wesentlichen Teilen der amerikanischen Machtelite eine Art Übereinstimmung. Demnach galt der Ausbau der militärischen Stärke Amerikas und die Bereitschaft sowie der Wille, sie anzuwenden, als ein Weg, sowohl die Macht und den Einfluß Amerikas in der Welt zu fördern, als auch die Instabilität im eigenen Land zu verringern. Zusätzlich sollte die wirtschaftliche Stärke Amerikas direkter und skrupelloser angewendet werden, um einige unter Druck zu setzen und andere wiederum einzuschüchtern. Natürlich ist das eine sehr grobe Skizzierung der Lage. Die Wirklichkeit ist komplexer. Das hört sich wie eine Einschränkung an. Nun, ich möchte die Situation nicht zu sehr vereinfachen und Ordnung und Systematik dort unterstellen, wo das eine wie das andere fehlt. So könnte ich zwei hauptsächliche Einschränkungen anführen. Zum einen ist die Art, wie die Machtelite der USA zum Konsens gelangt und Entscheidungen trifft, so beschaffen, daß der Präsident nicht unbedingt auf ein großes Maß an Übereinstimmung angewiesen ist. Tatsächlich mag es sogar einfacher sein, eine stärker aufgesplitterte Elite ohne einheitliche Orientierung zu führen, als eine, die eng miteinander verbunden und selbstsicher ist. Zum zweiten: Obwohl an der Spitze des politischen Systems in Amerika Konsens aufzukommen scheint, bleiben, glaube ich, ernste Zweifel an dieser neuen Außenpolitik der USA. Sie wird in Frage gestellt, weil viele ihr Scheitern befürchten und glauben, sie sei für die USA selbst sehr gefährlich. Was hat die politische Atmosphäre im Land verändert? Dazu bedurfte es enormer Anstrengungen der traditionellen Gegner der Entspannung. Die öffentliche Meinung in Amerika unterstützte die Entspannung sehr nachdrücklich. Aber es gab auch extreme Frustrationen aufgrund einiger außenpolitischer Entwicklungen während der letzten 10 Jahre. Die Falken waren mit ihrer Propaganda von der ‘sowjetischen Bedrohung’ und mit Parolen wie ‘Amerika läßt sich nicht herumsto- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 17 ßen’ sehr erfolgreich darin, diese Frustrationen in die gewünschte Richtung zu lenken. War ein plötzlicher Ausbruch von Patriotismus vielleicht das Ergebnis des Teheraner Geiseldramas? Man darf diesen Ausbruch nicht mit dem rechtfertigen, was der amerikanischen Borschaft in Teheran und deren Diplomaten widerfahren ist, sondern die amerikanische Reaktion auf diese Ereignisse scheint mir eher Chauvinismus und Hurrapatriotismus zu sein. Lieben denn nicht auch die Russen ihr Vaterland? Natürlich, aber wir erweisen auch dem Patriotismus anderer Nationen unsere Achtung und Wertschätzung. Wir sehen darin eine starke moralische Kraft, die in Zeiten nationaler Krisen eine entscheidende Rolle spielen kann. Wahrer Patriotismus aber setzt auch eine rationale Haltung gegenüber dem eigenen Land voraus, und sogar eine kritische, wenn es Fehler begeht. So übrigens hat Lenin Patriotismus verstanden. Man muß Patriotismus und nationalistischen Eifer, der die Völker schon so oft irreleitete, auseinanderhalten. Diese Art von Patriotismus hatte Samuel Johnson, der englische Lexikograph des 19. Jahrhunderts, vor Augen, als er ihn ‘die letzte Zuflucht der Schurken’ nannte. Sehen Sie noch andere Ursachen für den Kurswechsel der US-Politik? Ja, die allgemeine politische Haltung der Carter-Administration. Im Februar 1980 zitierte Time einen hohen Beamten des Außenministeriums, der sagte, Brzezinski habe ‘endlich seinen Kalten Krieg bekommen’. ‘Es kam einigen außenpolitischen Experten wie Ironie vor’, fährt Time fort, ‘daß Brzezinskis ständiges Eintreten für eine harte Linie anscheinend durch eine Kriste gerechtfertigt wurde, die möglicherweise durch seine Argumente, seine Politik der Nadelstiche gegenüber Moskau und seine Wendung nach Peking mitverursacht wurde.’4 Natürlich ist Brzezinski nicht der einzige. Der Präsident und die gesamte Administration steuerten einen Zickzackkurs und betrieben bei sehr wichtigen Fragen eine wankelmütige Politik. Dadurch wurde das Fundament der Entspannung in den USA beträchtlich geschmälert und die Position ihrer Gegner gestärkt. Unter den Falken in Washington ist es derzeit Mode, die Entspannung zu verhöhnen und in ihr die Ursache dafür zu sehen, daß Amerikas Willenskraft und Entschlossenheit der Welt gegenüber geschwächt sind. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 18 Sollte es wirklich an Willenskraft und Entschlossenheit auf irgendeinem Gebiet gemangelt haben, dann war das Washingtons Haltung gegenüber der Rüstungskontrolle, der Förderung gegenseitigen Vertrauens und dem Abbau der Spannungen. Und schließlich die Präsidentschaftswahlen 1980. Sogar prominente Analytiker des Westens, wie Oberst Jonathan Alford, stellvertretender Direktor des International Institute for Strategie Studies in London, halten es für ‘in der Tat sehr, sehr bedauerlich‘, daß die ganze Welt verharrt und darauf warten muß, bis der Zirkus der Präsidentschaftswahl in Amerika vorüber ist. Alford sagte zu mir: ‘Das ist nicht nur ungeheuer bedauerlich, sondern möglicherweise auch ziemlich gefährlich.’ Die Zeit des Wahlkampfs in Amerika ist tatsächlich eine schlechte Zeit für gute Politik und eine gute Zeit für schlechte Politik. Das ist in gewisser Weise verständlich. Bevor man ein ausgezeichneter oder ein miserabler Präsident wird, muß man überhaupt erst einmal Präsident werden. Aber manchmal wundert man sich, warum es jedesmal aufs neue den Anschein hat, als hätten sich die Kandidaten verschworen, dem Militarismus Vorschub zu leisten und das Wettrüsten und antisowjetische Gefühle zu fördern. Der bekannte amerikanische Wissenschaftler Jerome Wiesner erinnerte in einem Artikel in der New York Times am Ende des letzten Wahlkampfes daran: ‘Während eines jeden Präsidentschafts-wahlkampfes werden wir mit von hysterischer Angstmacherei geprägten Schätzungen der drohenden strategischen Überlegenheit der Sowjets bombardiert, begleitet von dem Ruf nach einer wesentlichen Verstärkung unserer Nuklearstreitkräfte.’5 Nach Wiesner läßt sich die Geschichte dieser gefährlichen Tradition bis 1948 zurückverfolgen. Es gab seitdem in der Tat eine ganze Reihe von Wahlkämpfen, die in dieser Hinsicht wirklich schlimm waren. Doch der Wahlkampf 1980 war wahrhaftig ein Unglück von internationalem Ausmaß. Es wurden keine Debatten über die tatsächlichen Probleme, denen Amerika gegenübersteht, geführt. Auch wurde kein Versuch unternommen, die nationalen Interessen neu zu bewerten und vernünftige Wege zu finden, die diesen Interessen dienlich sind. Was haben wir stattdessen erlebt? Ohrenbetäubendes Säbelrasseln, ein heftiges gegenseitiges Überbieten in den Forderungen nach gesteigerten Militärausgaben, ein feuerwerkartiges Kommandounternehmen im Iran und die Ankündigung einer neuen, ziemlich gefährlichen Nukleardoktrin. Das Land befand sich im Zustand einer künstlichen Krise, weil nach Auffassung mancher Amerikaner der Präsident die einzige Rettung vor einer Wahlniederlage in einer Krisensituation sah. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 19 Was hätte die Alternative sein können? Im Idealfall - obgleich ich selbst nicht recht daran glauben kann - könnte ein Wahlkampf als Mittel der politischen Bildung dienen und als ein Instrument, das Anstöße für Korrekturen der Politik der Regierung gibt. Doch die Mechanismen des politischen Prozesses waren solchen demokratischen Zwecken nicht förderlich. Ich meine, Senator Edward Kennedy hatte recht, als er sagte, 1980 seien die politischen Prozesse in Amerika einer Geiselnahme zum Opfer gefallen. In einem Artikel der Prawda vom März 1980 haben Sie den Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik als einen Versuch charakterisiert, einen weiteren Kalten Krieg zu beginnen. Ja, denn es gibt eine ganze Reihe von Parallelen. Wir beobachten, daß man erneut zu militärischer Stärke das bevorzugtem Instrument der Außenpolitik zurückkehrt. Das ist genau das, was den ersten Kalten Krieg charakterisierte, als militärische Stärke das Haupt-Fundament, wenn nicht gar der Ersatz für Außenpolitik war. Die gegenwärtige Wende hin zum Kalten Krieg bedeutet erneut das Streben nach militärischer Überlegenheit der USA sowie eine ganz erhebliche Steigerung des Wettrüstens und der Militärausgaben und ein Einfrieren der Gespräche zur Rüstungsbegrenzung. Weiter zeigt sich eine Rückkehr zu einer aktiven Interventionspolitik. Mit der Entsendung von Truppen zu drohen, ist in der amerikanischen Diplomatie wieder gang und gäbe geworden. Sogenannte mobile Eingreifreserven werden als Spezialtruppen aufgebaut, um binnen kürzester Zeit an beliebiger Stelle militärisch eingreifen zu können. Übrigens habe ich gelesen, daß solche Einheiten zum ersten Mal Ende der fünfziger Jahre von Henry Kissinger in einer Studie der Rockefeller-Stiftung vorgeschlagen wurden. Später, in den sechziger Jahren, wollte Lyndon B. Johnson sie, konnte aber den Kongreß nicht dafür gewinnen. Gegen diese Idee sprach sich ausgerechnet der Vorreiter der Falken unter den Senatoren, Richard Russell aus Georgia, mit Nachruck aus, weil nach seiner Ansicht das bloße Vorhandensein solcher Truppen die USA in ein zweites Vietnam verwickeln würde. Eine weitere Parallele liegt in einer Wendung hin zur Konfrontation in den Beziehungen mit der Sowjetunion. Ein recht hysterischer Kurswechsel, nebenbei gesagt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 20 Gehen wir möglicherweise einem neuen Kalten Krieg entgegen? Das Entscheidende dabei ist, daß die zweite Auflage des Kalten Krieges sehr viel gefährlicher wäre. Da die Vernichtungswaffen inzwischen ein ganz neues Niveau erreicht haben, wäre bei einer Rückkehr zu offener Feindseligkeit und Konfrontation ein militärischer Konflikt wahrscheinlicher und zugleich verheerender in seinen Auswirkungen. Darüber hinaus würden in den achtziger Jahren weit mehr Länder in den Sog des Kalten Krieges geraten als seinerzeit. Je größer aber die Zahl der Beteiligten an einem internationalen Konflikt ist, desto größer sind auch die Risiken, besonders natürlich, wenn einige der Beteiligten dazu neigen, auf der Weltbühne unbesonnen und unverantwortlich zu agieren. Meinen Sie damit China? Ja, hauptsächlich, aber nicht nur China. Bei einer Rückkehr zum Kalten Krieg wäre die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen nicht zu vermeiden. Es gibt noch eine andere wichtige Seite. In den kommenden Jahrzehnten werden weltweite Probleme wie die Erschöpfung von Rohstoffen, die Umweltverschmutzung oder der Hunger noch dringlicher werden. Entspannung, Rüstungskontrolle und internationale Zusammenarbeit würden die Chancen, diese Probleme zu lösen, erhöhen, während sie sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges sehr schwer lösen lassen würden. Patrick Caddell, ein Berater Präsident Carters, sagte in einem Interview mit dem Playboy: ‘Ein kleiner Krieg ist sehr hilfreich, was die Wählerstimmen anbelangt. Daraus, daß es keinen Krieg gibt, läßt sich dagegen kein politisches Kapital schlagen. Jeder Präsident kann das Land mit überzeugenden kriegerischen Aktionen dazu bringen, sich um ihn zu scharen. Eisenhower hatte Korea und den Libanon, Kennedy hatte Kuba und Vietnam, und Johnson, Nixon und Ford hatten ebenfalls Vietnam.’ Eine bezeichnende Illustration für die ‘Moral’ des Weißen Hauses: Krieg wird als ein akzeptables Mittel diskutiert, wenn es daraum geht, einen ganz normalen Machtwechsel zu verhindern. Deutet Caddells Außerung nicht auf einen ernsthaften Defekt in einem politischen System hin, in dem der Krieg zum politischen Erfolg beiträgt und deshalb willkommen ist? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 21 Caddell hört sich vielleicht zynisch an, aber solches Verhalten wurde in der Vergangenheit oftmals an den Tag gelegt. Ja, es ist seit langem ein Grundzug amerikanischer Politik, daß es die Politiker in schwierigen Zeiten einträglicher und sicherer finden, nach rechts zu driften, den starken Mann zu spielen. Aus irgendeinem Grund wird eine solche Haltung immer noch für besonders patriotisch gehalten, obwohl gerade sie im Atomzeitalter die schlimmsten Folgen für ein Land haben kann. Aus ebenso unerfindlichen Gründen wird eine solche Haltung auch als besonders realistisch angesehen, wenngleich es heutzutage die größte Illusion ist, Sicherheit durch Wettrüsten und Gewaltanwendung erlangen zu wollen. Der Cowboy, der aus der Hüfte schießt, ist nach wie vor eine populäre Symbolfigur in Amerika, doch es muß für diese Einstellungen noch gewichtigere psychologische Gründe geben. Eine davon könnte Denkfaulheit sein, die Unfähigkeit, alte, aus dem Kalten Krieg übernommene Vorstellungen abzuschütteln. Vorstellungen, die wegen ihrer verführerischen Einfachheit stark verwurzelt bleiben. Was meinen Sie mit Einfachheit? In einer Welt des Kalten Krieges läuft alles in der Art eines billigen Western ab. Man hat einen konkreten Feind, der die Ursache allen Übels ist. Man hat ein glasklares Ziel: den Feind zu erledigen. Je mehr Schaden man der anderen Seite zufügt, desto besser ist man selber dran. Man hat auch Mittel gefunden und erprobt, um es ohne schlechtes Gewissen zu tun. Man kann an atavistische Gefühle appellieren wie Hurrapatriotismus, Feindseligkeit und Mißtrauen gegenüber Leuten, die anders leben und anders aussehen und damit dem starken Verlangen nach nationaler Überlegenheit Ausdruck verleihen. Man befindet sich in einer Welt mit zwei Dimensionen: schwarz und weiß. Und, was ziemlich wichtig sein kann, man kann seinen politischen Standort zur kostbarsten Fernsehzeit innerhalb einer einzigen Minute umreißen. Die Denkkategorien der Entspannung sind dagegen viel ausgefeilter und schwieriger zu begreifen. Man muß einen weiten Horizont haben und entsprechend tolerant sein, um zu verstehen, daß Koexistenz und Zusammenarbeit möglich und wünschenswert sind, auch wenn die Gesellschaftssysteme der einzelnen Länder, die politischen Institutionen, die Werte und die Sympathien und Antipathien weitgehend verschieden sind. Es wäre dazu auch notwendig einzusehen, daß Beziehungen zwischen Ländern nicht rechnerisch aufgehen und eine Seite genauso viel gewinnt, wie die andere verliert, und daß trotz aller Differenzen und Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 22 Schwierigkeiten dennoch die gemeinsamen Interessen bei weitem überwiegen werden. Was noch schwieriger ist: Man muß einsehen können, daß die Schuld an einem Problem nicht immer der andere hat, sondern oft auch die eigenen Fehler und das eigene falsche Handeln schuld sind, ganz zu schweigen von Ereignissen und Kräften, die niemand unter Kontrolle hat. Weiter muß man einsehen, daß Eigenschaften wie Zurückhaltung, Mäßigung und Kompromißbereitschaft, die sowohl ein größeres Maß an Klugheit als auch mehr politischen Mut erfordern, vorzuziehen sind gegenüber Selbstgerechtigkeit, Arroganz und der Neigung, den starken Mann zu spielen. Schließlich sollte man versuchen, die andere Seite zu verstehen. Wie erscheint die eigene Politik dem anderen? Welche Empfindungen erweckt die eigene Politik beim anderen? Sind Sie enttäuscht? Hat sich Entspannung als zu kompliziert erwiesen, als daß die breite Öffentlichkeit sie begreifen könnte? Sehen Sie, es handelt sich um einen Prozeß. In den fünfziger Jahren verstanden nur sehr wenige Leute die komplizierten politischen Zusammenhänge in der modernen Welt. In den sechziger Jahren wuchs die Zahl derer, die die Situation begriffen, rasch an. Und in den siebziger Jahren wurden schließlich bestimmte Einsichten in die moderne Welt bereits von Millionen von Menschen geteilt. Ich hoffe immer noch, daß die Idee der Entspannung in den achtziger Jahren die Oberhand gewinnen wird. Sie haben gesagt, daß es große Mühe kostet, die Entspannung aufrechtzuerhalten, die Spannungen dagegen von allein entstehen. Wollten Sie damit zum Ausdruck bringen, daß Entspannung ein Netz komplizierter intellektueller und psychologischer Verflechtungen ist, verglichen mit den gefährlich vereinfachenden Formeln des Kalten Krieges? Ja, aber nicht nur das. Schwerfälligkeit spielt eine wichtige Rolle. Die Entspannung ist erst ein paar Jahre alt, während der Kalte Krieg, der ihr vorausging, mehrere Jahrzehnte gedauert hat. Diese Jahrzehnte haben nicht nur eine Unzahl vorgefaßter Meinungen und Vorurteile hinterlassen, sondern auch gewisse darin begründete Mechanismen. Ich spreche von Mechanismen wie dem Wettrüsten, den bestehenden militärischen und politischen Allianzen und auch von anderen Teilen einer riesigen Infrastruktur, die im Dienste des Kalten Krieges geschaffen wurden, wie z. B. Bürokratien und Organisationen für psychologische Kriegsführung, für subversive Tätigkeiten und andere ähnliche Dinge. Alle diese Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 23 Mechanismen trachten danach, ihr Überleben und ihr Fortbestehen zu sichern. Das bedeutet, sie müssen internationale Spannungen schaffen, die Rivalität auf militärischem Gebiet anspornen und Mißtrauen und Haß gegen den ‘äußeren Feind’ säen. Diese Mechanismen werden in den USA noch verstärkt durch bestimmte ‘Transmissionsriemen’, durch die sie mit bedeutenden Teilen des Wirtschaftssystems und mit sehr einflußreichen etablierten Mächten verbunden sind. Wird es je dauerhafte Entspannung geben? Es spricht sehr vieles für die Entspannung. Sie besitzt eine starke vitale Kraft. Das Hauptargument für Entspannung ist, daß es keine akzeptable Alternative gibt, wenn wir den Weltuntergang vermeiden wollen. Was genau versteht die UdSSR unter Entspannung? Lassen Sie mich die offizielle sowjetische Definition von Leonid Breschnew zitieren: ‘Entspannung bedeutet in erster Linie die Überwindung des Kalten Krieges und den Übergang zu normalen, reibungslosen Beziehungen zwischen den Staaten. Entspannung bedeutet die Bereitschaft, Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten nicht mit Gewalt, Drohungen oder mit Säbelrasseln zu lösen, sondern mit friedlichen Mitteln am Verhandlungstisch. Entspannung setzt ein bestimmtes Maß an Vertrauen voraus, sowie die Fähigkeit, die Interessen der anderen Seite mit einzubeziehen. Das ist, kurz gesagt, unsere Auffassung von Entspannung.’6 Der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky sagte zu mir, seiner Meinung nach stelle der Österreichische Friedensvertrag aus dem Jahr 1955 den allersten Schritt einer Politik der Entspannung in Europa dar. Die Unterzeichnung des Österreichischen Friedensvertrages war seiner Natur und seinen politischen Konsequenzen nach unzweifelhaft ein Akt der Entspannung. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich als den ersten Schritt dieses politischen Prozesses betrachten können. Die internationale Politik wird immer komplizierter. Nichtsdestoweniger spielen die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion weiterhin eine ausschlaggebende Rolle und bleiben der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Weltsystems. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 24 Sie haben recht. Obwohl es falsch wäre, jede Entwicklung auf der Erde unter dem Blickwinkel dieser Beziehungen zu sehen, kann man ihre Bedeutung für die Menschheit kaum überschätzen. Ich würde es so beschreiben: Eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington ist kein Allheilmittel für alle Schwierigkeiten; dagegen kann eine schrankenlose Feindseligkeit zwischen den beiden zur Zerstörung der ganzen Zivilisation führen. Ich fragte den Harvard-Psychologen B.F. Skinner, was heutzutage von absolutem Vorrang sei. ‘Das Überleben!’ erwiderte er ohne zu zögern. So einfach ist das. Das überragende gemeinsame Interesse der UdSSR und der USA ist es tatsächlich, zu überleben. Deshalb ist die friedliche Koexistenz zwischen uns unabdingbar. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind auf diesem Planeten zusammengekettet. Keiner kann diesen Globus verlassen. Wir sind hier. Die Amerikaner sind hier. Wir müssen lernen, in Frieden miteinander zu leben. Gelingt es uns, so werden wir nicht nur überleben, sondern vielleicht auch imstande sein, Beziehungen aufzubauen, die für beide Seiten wie für die übrige Welt von Nutzen sind. Von Nutzen? Unser Wohl und das Wohl der Welt hängen weitgehend davon ab, ob wir mehr für friedliche Zwecke ausgeben oder unsere Mittel für das Wettrüsten verschwenden. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden größten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Mächten könnte für alle Seiten von ungeheurem Nutzen sein. Schließlich sehen wir uns mit wachsenden weltweiten Problemen konfrontiert, die nur in einer friedlichen Atmosphäre in Angriff genommen werden können. Wenn wir uns gestatten, uns in unkontrollierbare Feindseligkeiten zu verstricken, steht uns bestenfalls eine trostlose, düstere Zukunft bevor, schlimmstenfalls aber die atomare Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten. Im Grunde genommen gibt es im herkömmlichen Sinn keine unmittelbaren Konfliktherde zwischen Moskau und Washington, wie z. B. Streitigkeiten über territoriale Ansprüche. Vor langer Zeit gab es vielleicht einmal einen potentiellen Zankapfel zwischen Rußland und Amerika. Alaska? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 25 Ja. Die Russen entdeckten das Gebiet schon lange vor der Gründung der Vereinigten Staaten. Aber die russische Regierung verkaufte es 1897 zu einem Preis von ca. fünf Cents pro Hektar an Washington. Als Russe bedauere ich den Verkauf natürlich, weil es wirklich ein sehr schlechter Handel war. Andererseits hat uns der Verkauf aber vielleicht eine Menge Ärger erspart. Offensichtlich sind die Schwierigkeiten in den gegenwärtigen sowjetisch-amerikanischen Beziehungen ganz anderer Natur. Wir sprechen von den beiden Hauptrivalen um die Einflußnahme in der Welt. Gewiß, die Beziehungen zwischen den beiden größten und mächtigsten Ländern, die sich jahrzehntelang als die Hauptkontrahenten gegenüberstanden, zu verbessern, ist eine unerhört schwierige Herausforderung. Aber die Realität des Atomzeitalters erfordert es. Erwartungen, daß es zu besseren Beziehungen komme, werden ständig torpediert. Dies führt zu wachsender Hoffnungslosigkeit und zu Zynismus. Unglücklicherweise ist das so. Es ist deshalb ein Unglück, weil in solch negativen Einstellungen gegenüber der Idee des Spannungsabbaus offensichtliche Gefahren liegen. Wird dauernd eine solche Haltung eingenommen, so werden es viele Menschen für selbstverständlich halten, daß nur Feindseligkeiten, ein unkontrolliertes Wettrüsten und politische oder in der Zukunft vielleicht sogar militärische Auseinandersetzungen zu erwarten sind. Solche verzweifelten Stimmungen können zu sich - von selbst erfüllenden Prophezeiungen werden. Hat man die Ereignisse im Winter 1979/80 verfolgt, so kann man die Leute eigentlich nicht dafür tadeln, wenn sie solche Gefühle hegen. Es ist dennoch falsch. Diese Ereignisse beweisen wohl kaum, daß eine Konfrontation und ein Wiederaufleben des Kalten Krieges unvermeidbar sind. Was wir erlebt haben, zeigt eher, daß die Prozesse, die auf eine Verbesserung unserer Beziehungen und eine Minderung der internationalen Spannungen abzielen, zum Stillstand gebracht werden können und eine Verschlechterung jederzeit provoziert werden kann. Es zeigt zugleich, daß vieles von dem, was in den letzten zehn Jahren von beiden Seiten unter großen Anstrengungen und mit viel Mühe behutsam aufgebaut wurde, nur allzu leicht zerstört werden kann. Anders gesagt: Wir haben gesehen, daß es nicht genug ist, bessere Beziehungen zu schaffen, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 26 sondern daß wir auch lernen müssen, sie zu bewahren und zu sichern. Das ist eine Schlußfolgerung, die wir in der Sowjetunion daraus ziehen. Es wird viel von der Rivalität zwischen den USA und der UdSSR gesprochen. Die höchsten Regierungskreise in Washington sagen, daß Rivalität die Hauptursache der Probleme ist und auch weiterhin unter allen Umständen sein wird, selbst wenn vielleicht eine begrenzte Zusammenarbeit hinzukommt. Richtig, das ist die offizielle amerikanische Haltung. Während der letzten zwei bis drei Jahre hat sich aus dem ‘Wettstreit und Zusammenarbeit’ ein ‘vorwiegend Wettstreit’ entwickelt. Beide Elemente sind gewiß vorhanden. Die amerikanischen Politiker haben damit nur Selbstverständlichkeiten wiederholt, als sie anfingen, davon zu sprechen. Wenn wir jedoch etwas verstehen wollen, anstatt auf eine weitere Plattitude auszuweichen, sollten wir sehen, daß sich das relative Gewicht und die Bedeutung jedes dieser beiden Elemente in unseren Beziehungen - Wettstreit und Zusammenarbeit - unter verschiedenen politischen Bedingungen beträchtlich unterscheiden können. Um ein bekanntes Zitat von Clausewitz abzuwandeln: Entspannung ist nicht die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen (d.h. vorsichtigeren und sichereren) Mitteln. Es handelt sich vielmehr um eine Politik, die ihrer Natur und ihren Zielsetzungen gemäß sich gegen den Kalten Krieg richtet, nicht jedoch darauf abzielt, bei Konflikten mit Mitteln, die bis an die Schwelle des Atomkriegs reichen, den Sieg zu erringen, sondern die Regelung und Vermeidung von Konflikten sowie den Abbau der militärischen Konfrontation und die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit zum Ziel hat. Der US-Botschafter in Moskau, Malcolm Toon, sagte einmal - und das ist eine weitverbreitete Meinung in Washington -, daß es kein Jahrtausend der Freundschaft und des gegenseitigen Vertrauens geben könne ‘ohne einen grundlegenden Wandel der sowjetischen Denkweise und Weltanschauung’. Man muß in übertrieben optimistischer Laune sein, um zu erwarten, es werde in naher Zukunft irgendwo auf Erden ein Jahrtausend der Freundschaft und des gegenseitigen Vertrauens anbrechen. Natürlich wäre es ideal, solch ein Jahrtausend zu schaffen, aber im Augenblick sollten wir zunächst viel einfachere Überlegungen anstellen, z. B. solche, die das schlichte Überleben betreffen. Die Vorstellung, eine spürbare Verbesserung der Beziehungen sei nur Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 27 bei einem ‘grundlegenden Wandel der sowjetischen Denkweise und Weltanschauung’ möglich, ist einstweilen der sichere Weg zu noch größeren Spannungen. Das ist genau der Ansatzpunkt, von dem die USA seit mehr als einem halben Jahrhundert immer wieder ausgegangen sind. Einziges Ergebnis war stets, daß unsere beiden Länder davon abgehalten wurden, ihre Beziehungen zu normalisieren. Keine Seite zog daraus Nutzen. Der wesentliche Kern der friedlichen Koexistenz ist, daß wir Seite an Seite leben und normale Beziehungen - ja sogar gute Beziehungen - haben können und doch verschieden voneinander bleiben und nicht fordern, die andere Seite müsse wie wir werden. Aber die vorhandenen tiefen weltanschaulichen Unterschiede werden weiterhin ungünstige Auswirkungen auf Beziehungen haben. Nun, sie können solche Auswirkungen haben, aber das in diesen Unterschieden enthaltene Potential hinsichtlich internationaler Konflikte sollte nicht übertrieben werden. Stellen wir uns die rein hypothetische Situation vor, anstatt der Sowjetunion stünde eine andere Supermacht den Vereinigten Staaten gegenüber, die den USA in jeder Weise, also wie eine Kopie, gleicht: eine Supermacht mit der gleichen Denkweise und Weltanschauung, dem gleichen wirtschaftlichen und politischen System, den gleichen politischen Gepflogenheiten einschließlich derer, die mit der Wahl zusammenhängen, mit einem ähnlichen Kongreß mit einer Reihe von schießwütigen Politikern, mit dem gleichen Pentagon, dem gleichen militärisch-industriellen Komplex und den gleichen Massenmedien; eine Supermacht mit dem gleichen energieverschwendenden Lebensstil und ganz ähnlichen Interessen am Persischen Golf, an Erdöl und anderen Bodenschätzen überall auf der Welt. Stellen wir uns vor, diese USA Nr. 2 sind genauso egozentrisch, selbstgerecht und voller messianischem Sendungsbewußtsein wie Nr. 1, genauso voller Gelüste, die ganze Welt nach den eigenen Wünschen umzugestalten, um eine eigene Pax Americana zu begründen. Wäre unser Planet besser dran und ein sichererer Lebensraum als gegenwärtig, da die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion nun einmal verschieden sind? Augenblick mal. Wollen Sie damit sagen, die grundlegenden Unterschiede zwischen den USA und der UdSSR sind letztlich der Sache des Friedens dienlich? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 28 Nein, aber ich glaube, daß solche Unterschiede einen Krieg weder herbeiführen müssen, noch erscheint es wahrscheinlich, daß es deshalb zum Krieg kommt. Und ich glaube fest daran, daß die Existenz und die Politik der Sowjetunion der Sache des Friedens förderlich sind. Was wäre, wenn es eine UdSSR Nr. 1 und Nr. 2 gäbe? Ich glaube, wir wären imstande, mit unserem Ebenbild viel leichter in Frieden zu leben. Aber lassen Sie mich fortfahren. Der Erste Weltkrieg und ebenso zahllose kleinere Kriege waren ja tatsächlich Zusammenstöße zwischen Staaten mit ähnlichen Denkweisen und sozio-ökonomischen Systemen, ähnlichen Zielen und Weltanschauungen. Im Zweiten Weltkrieg waren kapitalistische Länder untereinander verfeindet, und einige waren Verbündete der UdSSR. Was den sowjetisch-amerikanischen Wettstreit anbelangt, so würde ich sagen, daß es ein natürlicher Wettstreit bleibt, solange er keine Gefahr für den Frieden schafft und wir das Ansteigen der militärischen Rivalität unter Kontrolle haben, solange wir künstliche Konflikte vermeiden und die vorrangigen gemeinsamen Interessen, die Zusammenarbeit verlangen, nicht vergessen. Wie würden Sie ‘natürlichen Wettstreit’ zwischen den zwei Supermächten definieren? Es ist nicht so sehr ein Wettstreit zwischen zwei Supermächten als solchen, sondern eher ein Wettstreit zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen. Natürlicher Wettstreit bedeutet, daß jedes System nicht nur seinem eigenen Volk, sondern auch der gesamten Welt zeigt, was es in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, in bezug auf Lebensqualität, Kultur, Ideen usw. hervorzubringen vermag. Solcher Wettstreit ist unvermeidlich, aber er müßte nicht notwendigerweise zu politischen und militärischen Konflikten zwischen den Staaten führen. Ein erheblicher Teil der gegenwärtigen Mißverständnisse wie auch der absichtlich falschen Interpretationen der sowjetischen Anschauungen zu diesem Thema beruhen auf unterschiedlichen Vorstellungen von ‘Wettstreit’. Sowjetisch-amerikanischer Wettstreit wird in Amerika oft als Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt; zwischen Guten und Bösen, wobei die Amerikaner selbstverständlich die Guten sind. Jene, die versuchen, objektiver zu sein, oder wenigstens glauben, daß sie das sind, denken vielleicht an eine Art Wettstreit zwischen zwei Weltreichen, wobei jedes vermutlich versucht, so viel wie möglich vom Kuchen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 29 an sich zu reißen und die Kontrolle über die Welt zu erlangen. Aber das ist nur für diejenigen eine ‘natürliche’ Betrachtungsweise, die von imperialistischem Denken durchdrungen sind. Die Vereinigten Staaten hatten 1945 das Schicksal der Welt in der Hand, haben aber diese Position anscheinend verloren. In unseren Augen hatte Washington nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesprochen imperiale und hegemonistische Ziele. Die Vereinigten Staaten waren wirtschaftlich tatsächlich stark dominierend und dank ihres Monopols auf Nuklearwaffen strategisch weit überlegen. Sie glaubten, sie könnten die Welt nach ihrem Geschmack gestalten und umgestalten, bzw. wenn man so will, die Welt ausbeuten. Von einer solchen Stellung sind sie heute weit entfernt. Ja, aber es ist nicht so, daß die USA aus freien Stücken oder aus Versehen weggegeben haben, was sie einst in Händen gehalten hatten. Die Welt wandelte sich vielmehr grundlegend, und die USA nehmen auf unserem Planeten nun einen bescheideneren, wenn auch immer noch bedeutenden Platz ein. Es hat sich jedoch für Washington als äußerst schwierig erwiesen zu lernen, mit diesen Veränderungen zu leben, alte Illusionen, falsche Vorstellungen und unbegründete Ansprüche loszuwerden. In letzter Zeit sah es so aus, als ob diese überholten Ansprüche erneut Washingtons Außenpolitik bestimmen würden. Warum sollte nicht der Verdacht aufkommen, die UdSSR strebe nur danach, anstelle der USA diese überragende Position einzunehmen? Eine solche Idee wäre unserer Denkweise und Weltanschauung vollkommen fremd. Es sollte auch daran erinnert werden, daß die sowjetische Wirtschaft für ihr Wachstum nicht auf Expansion im Ausland angewiesen ist. Aber auch, wenn man das alles außer acht ließe, gäbe es immer noch sehr stichhaltige praktische Gründe dafür, die USA in dieser Hinsicht nicht nachzuahmen. Ein Weltreich aufrechtzuerhalten, wird heutzutage immer kostspieliger, während der Nutzen geringer wird. Sehen Sie sich die Probleme an, die Amerika in den letzten 15 Jahren wegen seiner weltweiten Verwicklungen gehabt hat. Der momentane imperiale Zug kann nur dazu führen, daß Amerikas Probleme noch weiter anwachsen. In der Welt von heute ist der Imperialismus ein Verlustgeschäft. Er funktioniert einfach nicht. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 30 Wie beurteilen Sie gegenwartig die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen? Je mehr ich mich mit den USA befaßt habe, desto vorsichtiger bin ich mit meinem Urteil geworden. Manchmal, wenn ich nach den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen gefragt werde, fällt mir jener weise Mann ein, der auf die Frage ‘Wie geht es deiner Frau?’ erwiderte: ‘Verglichen mit wem?‘. Nur wenn man Beziehungen in einem Vergleich untersucht, kann man sowohl übertriebenen Pessimismus wie übersteigerten Optimismus vermeiden. Als Antwort auf Ihre Frage würde ich sagen, es gab schlechtere Zeiten in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, aber es gab auch sehr viel bessere Zeiten. Genauer gesagt, da die Amerikaner 1980 so vieles getan haben, um unsere Beziehungen zu verschlechtern, haben diese Beziehungen nun den tiefsten Punkt-zumindest während der letzten 10 Jahre - erreicht. Das ist eine ziemlich düstere Einschätzung. Ich gäbe gern eine andere, doch was kann ich anderes sagen, nachdem sich die Carter-Regierung buchstäblich austobte und dabei alles, was mit soviel Mühe und Anstrengung geschaffen wurde, zerschlug. Es hat den Anschein, als hätten einige Leute von dieser Zerstörungsorgie seit langem geträumt und sich nur zurückgehalten. Die Rüstungskontrollgespräche wurden in Mitleidenschaft gezogen, wenn nicht gar zunichte gemacht. Die Wirtschaftsbeziehungen sind fast völlig zum Erliegen gekommen. Die kulturellen Beziehungen wurden unterbrochen. Konsularische Verbindungen wurden ausgehöhlt. Das Abkommen über direkte Flugverbindungen wurde verletzt und viele Projekte wissenschaftlicher Zusammenarbeit wurden abgebrochen. Es wurde eine Atmosphäre geschaffen, die antisowjetische Gmppen mit Erfolg zu kriminellen Handlungen ermutigte. Leider ist es viel leichter zu zerstören, als aufzubauen. Erwarten Sie, daß die Beziehungen noch eine Weile auf diesem beklagenswerten Stand bleiben? Ich hoffe nicht. Wir waren und sind nach wie vor daran interessiert, geordnete und überschaubare Beziehungen zu den USA zu unterhalten. Bei vielen Gelegenheiten hat die sowjetische Führung dieses Ziel in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Es muß unterstrichen werden, daß wir es lieber hätten, unsere Beziehungen wären wie 1972, als wir den Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 31 Weg der Entspannung eingeschlagen hatten. Doch das hängt nicht allein von uns ab. Wie bei zwischenmenschlichen Beziehungen kann einer allein einen Streit anfangen, wogegen Friede nur mit der Zustimmung aller Beteiligten geschlossen werden kann. Wie beeinflußt die Wahl Ronald Reagans die Aussichten für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in nächster Zeit? Nun, zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man sich schlecht eine definitive Meinung dazu bilden. Und es wird geraume Zeit dauern, bis die Aussichten für unsere Beziehungen für die nächste Zeit klar zutage treten. Dies um so mehr, als jede Wachablösung in Washington dazu führt, daß Entscheidungen aus dem einfachen Grund verzögert werden, daß die neue Mannschaft Zeit braucht, um sich mit allen Einzelheiten vertraut zu machen. So wie es heute aussieht, stehen verschiedene Wege offen. Obwohl wir uns darüber im klaren sind, daß die während des Wahlkampfs geführten Reden sehr oft wenig Hinweise auf die Politik nach der Wahl geben, können wir dennoch manches von dem, was die Neulinge in Washingtoner Schlüsselpositionen vorher gesagt haben, nicht einfach beiseite schieben. Was sie gesagt haben, spiegelte bis zu einem gewissen Grad ihre Ideologie wider, die eine Ablehnung der Entspannung und eine starke Betonung der militärischen Stärke als Werkzeug der Außenpolitik bejaht. Gleichzeitig weiß jeder, daß man sich dem Luxus, sich ganz und gar ideologischen Auseinandersetzungen zu widmen, nur in der Opposition hingeben kann. Wie es ein Mitarbeiter Präsident Fords in seinen Erinnerungen ausdrückt, sieht es von ‘innen’ noch einmal ganz anders aus. Wenn man an der Regierung ist, hat man es mit einer Realität zu tun, die sich häufig ganz wesentlich von der ‘Realität’ unterscheidet, die man auf Festessen zur Finanzierung des Wahlkampfes darstellte. Und gegen Ende des Wahlkampfes, wie auch unmittelbar danach, konnte man Anzeichen feststellen, die auf den Umstand hinwiesen, daß die neue Führung, die sich der Mitte annäherte, bereit war, Mäßigung zu versprechen. So würde mich beides nicht überraschen positive oder negative Entwicklungen. Aber selbst, wenn Washington wünschte, die Beziehungen mit der Sowjetunion zu verbessern, blieben immer noch zahllose Hindernisse. Ja, es gab schon immer Hindernisse, die einer Verbesserung sowjetisch-amerikanischer Beziehungen im Wege standen. Und viele davon gibt es auch heute. Aber die jüngste Geschichte, denke ich, hat deutlich Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 32 genug gezeigt, daß es möglich ist, sie zu beseitigen, wenn beide Seiten begreifen, daß im beiderseitigen Interesse gewaltige Anstrengungen erforderlich sind. Trotz einiger Enttäuschungen sind es diese Interessen meiner Meinung nach wert, die Bemühungen fortzusetzen. Wir sprechen von Koexistenz. Drückt denn der berühmte Satz von Chruschtschow ‘Wir werden euch begraben’ nicht immer noch die sowjetische Haltung angemessen aus? Dieser Ausspruch wurde Gegenstand fieberhafter Spekulationen, als er vor zwei Jahrzehnten fiel. Ich möchte die rhetorischen Qualitäten dieses speziellen Satzes nicht verteidigen, aber lassen Sie mich aufzeigen, daß er alles andere als aggressiv oder kriegerisch gemeint war. Vielmehr sollte damit unser Vertrauen in die historische Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus ausgedrückt werden, die nach unserer Überzeugung auf lange Sicht unweigerlich auf der ganzen Welt zum Sieg des Sozialismus führen wird. Natürlich ist Sieg in dem Sinn zu verstehen, daß sich die Völker in den kapitalistischen Ländern ohne Druck und Zwang von unserer Seite für den Sozialismus entscheiden. Wir Kommunisten glauben daran. Sonst wären wir keine Kommunisten. Genauso, wie ich annehme, daß die Verfechter des Kapitalismus oder des Systems der freien Marktwirtschaft, oder wie immer sie es auch nennen mögen, von der Überlegenheit ihres Systems überzeugt sind und erwarten, daß früher oder später alle Länder ihm den Vorzug geben. Wir glauben aber nicht, daß uns unsere verschiedenen Überzeugungen und Erwartungen davon abhalten sollten, miteinander auszukommen. Wir im Westen glauben, die Kommunisten sind nicht einfach Zuschauer, was die Frage sozialistischer Revolutionen angeht; sie betrachten es vielmehr als eine Pflicht des Internationalismus, anderen Revolutionären beizustehen. Dadurch werden dann Situationen geschaffen, in denen für friedliche Koexistenz kein Platz bleibt. Diese Überlegungen sind nur auf den ersten Blick plausibel. Uns ist der Ausgang des Kampfes um den Sozialismus in anderen Ländern nicht gleichgültig, auch machen wir kein Hehl aus unseren Sympathien. Aber wir halten daran fest, daß der einzige Weg, sozialistische Revolutionen im Ausland zu fördern, der ist, ein Beispiel zu geben, indem wir in unserem Land eine bessere Gesellschaft aufbauen und die noch vorhandenen Probleme erfolgreicher lösen. Wir sind dagegen, anderen Ländern den Sozialismus aufzuzwingen, gegen einen ‘Export der Revolution’. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 33 Zugleich aber widersetzen wir uns jedem Export der Konterrevolution, d.h., den Versuchen, vorrevolutionären Regierungen durch Einmischung von außen wieder in den Sattel zu verhelfen. Die Geschichte hat uns gezeigt, daß der Export der Konterrevolution eine weitverbreitete Praxis bleibt, d.h., die Feinde des Sozialismus sind selbst keineswegs unbeteiligte Zuschauer. Tut mir leid, aber das klingt wie Propaganda. Uns ist es mit diesen Dingen sehr ernst. Tatsächlich war ja auch die erste ernsthafte Auseinandersetzung innerhalb unserer Partei, nach der Revolution von 1917, genau dieser Frage gewidmet, weil einige in der Partei - die Ultralinken, die Trotzkisten darauf bestanden, wir sollten die Revolution mit dem Mittel des ‘revolutionären Krieges’ über unsere Grenzen hinaus fortsetzen. Die Partei hat diese Idee entschieden zurückgewiesen. Lenin beharrte darauf, daß es ‘ein vollständiger Bruch mit dem Marxismus’ wäre, ein Land von außen zur Revolution zu drängen.7 Es gab anscheinend einen ähnlichen Konflikt zwischen Moskau und Peking. Sie haben recht, das war eines der Hauptthemen, als in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren erste Risse zwischen uns auftraten. Mao und seine Gruppe erklärten, die friedliche Koexistenz sei ein ‘Verrat der Revolution’, und sie beharrten darauf, daß ‘die Macht aus den Läufen der Gewehre kommt’. Das war die gleiche unannehmbare Vorstellung, gegen die Lenin einst gekämpft hatte. Übrigens hat bislang anscheinend noch niemand versucht herauszufinden, welche Rolle bei der rapiden Zunahme des Terrorismus in den sechziger Jahren und Anfang der siebziger Jahre diese Ideologie der Chinesen spielte (die in einer Reihe von Fällen praktisch angewandt wurde, indem man zahlreiche Extremistengruppen im Ausland unterstützte). Wie steht es mit Afghanistan? Hat die Sowjetunioh nicht seit 1978 einem kleinen Nachbarn ihren Willen aufgezwungen, sich nach und nach immer stärker eingemischt, bis zu einem Punkt, an dem sie heute das Land praktisch regiert. Das scheint ein klassischer Fall des Exports des Kommunismus mit Waffengewalt zu sein. Wir haben die April-Revolution 1978 nicht nach Afghanistan ‘expor- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 34 tiert’. Jeder, der die Lage dort kennt, weiß um diese Tatsache. Wir haben von der Revolution zuerst aus westlichen Medien erfahren. Tatsächlich mußte auch niemand die Revolution nach Afghanistan exportieren: Die Situation im Land hatte einen Punkt erreicht, an dem eine radikale Änderung des politischen und sozialen Systems für Afghanistan der einzige Ausweg aus der tiefen Krise war. Vergessen Sie nicht, daß Afghanistan zu den ärmsten und rückständigsten Ländern der Welt gehört. Es braucht dringend wirtschaftliche Entwicklung, sozialen und kulturellen Fortschritt und eine sinnvolle Demokratie für seine 17 Millionen Einwohner. Einige halbherzige Reformversuche gab es schon vor der Revolution, aber es gelang damit nicht, die sozialen und ökonomischen Probleme des Landes hinreichend zu verbessern. Eine Modernisierung durch allmähliche Entwicklung kam einfach nicht zustande, wogegen die Forderungen nach Veränderung immer drängender wurden. Übrigens wurde der Umsturz, der im April 1978 stattfand, vom alten Regime selbst provoziert, als man nämlich versuchte, gegen die afghanische Linke einen Schlag zu landen und z. B. die Gewerkschaften, die Studentenverbände und die Nationale Demokratische Partei zu zerschlagen versuchte. Als Antwort auf eine Reihe von Morden und Verhaftungen griffen die Nationalen Demokraten zu den Waffen und stürzten das alte Regime. Das war eine rein innerafghanische Entwicklung. Aber die Sowjetunion hegte große Sympathien für die Revolutionäre. Ja, richtig. Die Ziele der Revolution waren sehr edel und Ausdruck der wahren Bedürfnisse der Menschen: das Land denen zu geben, die es bebauen, den Hunger zu beseitigen, die Diskriminierung der Frauen und ethnischen Minderheiten zu beenden, das Volk zu bilden, das zu 90 Prozent aus Analphabeten besteht - kurzum: die elementaren Menschenrechte zu verwirklichen und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Wir haben nach der Revolution unsere wirtschaftliche und technische Unterstützung für Afghanistan beträchtlich erhöht. Auch die Militärhilfe? Aber sicher. Die Revolution mußte sich verteidigen. Die ehedem herrschende Elite, die ihre Macht, ihren Landbesitz und ihre Privilegien infolge der Revolution verloren hatte, unternahm alles, um die Macht wiederzuerlangen. Sie wurde dabei von den USA, China, Pakistan, Saudi-Arabien und Ägypten aktiv unterstützt. Die neue Regierung in Kabul stand einer erschreckenden Reihe feindlicher Kräfte gegenüber. Man muß bedenken, daß ein Teil der afghanischen Grenze wegen der Wande- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 35 rungen der Nomaden praktisch offen ist. Beinahe vom ersten Tag der Revolution an war Afghanistan fremden Einmischungen ausgesetzt. Bis diese schließlich das Ausmaß eines unerklärten Krieges erreichten. Mit anderen Worten, unsere Militärhilfe hatte nicht zum Ziel, Afghanistan unseren Willen aufzuzwingen, sondern der Regierung zu helfen, der äußeren Einmischung Herr zu werden. Auf Afghanistan sollten wir später zurückkommen. Wir sind abgewichen vom Thema der friedlichen Koexistenz, die schließlich in hohem Maße davon abhängt, wie die Sowjetunion die Vereinigten Staaten einschätzt. Wie beurteilen Sie von Moskau aus die Vereinigten Staaten? Das ist eine komplizierte Frage. Amerika ist für die Sowjetunion von großem Interesse. Viele Bûcher und Artikel wurden dazu geschrieben. Es ist eine schwierige Aufgabe, eine substantielle und doch kurze Einschätzung zu geben. Ich will es versuchen, obwohl die Darstellung nur skizzenhaft sein kann. Ich möchte noch einmal wiederholen, daß die Menschen in der Sowjetunion lebhaftes Interesse an Amerika haben. Das betrifft weite Kreise der Bevölkerung, ohne Ansehen des Alters, der Bildung oder des Berufs. Das ist meiner Meinung nach bei uns entschieden anders, verglichen mit dem Interesse der Amerikaner an der UdSSR. Wir sehen die Vereinigten Staaten als ein sehr starkes Land an, sowohl ökonomisch als auch militärisch, als ein Land, das zu beobachten nie langweilig wird. Ganz privat würde ich hinzufügen, daß es einen dennoch manchmal wütend machen kann. Die Menschen bei uns sind sehr an amerikanischer Kultur, Literatur und Filmkunst, an Musik und Architektur interessiert. Die besten amerikanischen Arbeiten auf diesen Gebieten sind weiten Kreisen bekannt. Unsere Spezialisten sind mit den Errungenschaften in der Technologie, der Industrie, der Medizin und der Landwirtschaft in Amerika bestens vertraut. Es herrscht Interesse und, insbesondere unter jungen Leuten, manchmal geradezu Enthusiasmus für bestimmte Merkmale des ‘American way of life’, wie Popmusik, Jeans, Kaugummi, Pepsi Cola, Coca-Cola, den Wilden Westen, usw., usw. Zugleich ist die sowjetische Öffentlichkeit über die wachsenden Probleme, denen Amerika gegenübersteht, gut informiert. Ich denke dabei in erster Linie an wirtschaftliche Probleme - Inflation, Arbeitslosigkeit, Energieprobleme, die Schwäche des Dollars usw. Ich denke auch an soziale Probleme, als da sind: die Lebensbedingungen der schwarzen Amerikaner, der Indianer und der spanischsprechenden ethnischen Minderheit; weiter die wachsenden Sorgen der alten städtischen Zen- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 36 tren wie New York oder Cleveland, die Gesundheitsfürsorge, die für die Mehrheit der Amerikaner unzureichend ist, die Kriminalität und die Drogensucht und vieles andere. Schließlich denke ich an politische und geistige Probleme, die die amerikanische Gesellschaft bedrängen. Wir sind überzeugt, und der Lauf der Geschichte bestätigt uns darin, daß in Amerika die ausschlaggebende Macht, die letzte Entscheidung über staatliche Angelegenheiten bei der Elite der Konzerne liegt, und diese Überzeugung bestimmt in ganz erheblichem Grad unsere Ansichten über die amerikanische Demokratie und den amerikanischen Lebensstil. Wie haben die Menschen in der UdSSR den Watergate-Skandal aufgenommen? Sie fanden ihn höchst ungewöhnlich. Aber offensichtlich ging es den Amerikanern selbst so. Etwas Ähnliches hatte sich in der Geschichte der USA niemals vorher erreignet. Nebenbei gesagt, verschiedene Forscher unseres Instituts haben darauf gewettet, daß Nixon vorzeitig zurücktreten werde. Ebenso viele aber behielten nicht recht; ich würde deshalb mit unseren prophetischen Gaben nicht prahlen wollen. Ich möchte an Sie ein paar Fragen über das Institut zum Studium der USA und Kanadas richten. Sie haben da, man muß schon sagen, ein prachtvolles Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, ich glaube, nicht einmal eine Meile vom Kreml entfernt. Würden Sie bitte erklären, was Sie und Ihre Kollegen dort tun? Nun, Sie können mir glauben, daß wir unsere Zeit nicht nur damit verbringen, Wetten über politische Ereignisse in den USA abzuschließen. Unser Institut ist eines von vielen Forschungszentren, die die sowjetische Akademie der Wissenschaften unterhält. Wann wurde es gegründet? 1968. Was sind Ihre Studienschwerpunkte? Amerikanische und kanadische Wirtschaftsprobleme, innerpolitische und soziale Probleme, die politischen Parteien, die Vorgänge im Zusammenhang mit der Wahl usw. Wir untersuchen auch die Militärpolitik der USA, nicht das militärische Establishment als solches, sondern die Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 37 Auswirkungen von Rüstungsausgaben und Rüstungsprogrammen sowie den Einfluß von militärischen Doktrinen und Gegebenheiten auf die amerikanische Außenpolitik, die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen natürlich eingeschlossen. Ebenso befassen wir uns mit Problemen der Rüstungskontrolle. Eine besondere Abteilung betreibt Forschungen über allgemeine Probleme der US-Außenpolitik und ihrer regionalen Schwierigkeiten, wie die Politik der USA gegenüber Europa, Asien und dem Nahen Osten sowie gegenüber den Entwicklungsländern. Es gibt auch eine Abteilung, die die öffentliche Meinung, die Ideologie und Kultur in Amerika untersucht. Haben Sie viele Mitarbeiter? Ungefähr 350, hinzu kommen 20 bis 30 Doktoranden. Unser Institut verleiht den Doktorgrad. Ein Großteil unserer Mitarbeiter wurde hier ausgebildet. Wo erscheinen Ihre Veröffentlichungen? Hauptsächlich veröffentlichen wir Bücher. Zu unseren letzten Veröffentlichungen gehören z. B: ‘Neueste Konzepte der amerikanischen Außenpolitik’, ‘Kanada an der Schwelle der achtziger Jahre’, ‘Politisches Bewußtsein in den USA heute’ und ‘Die Wirtschaft der USA: Probleme und Widersprüche’. Wir geben auch eine Monatszeitschrift heraus. Unsere Spezialisten sind sehr gefragt für ein breites Bildungsprogramm; sie halten Vorlesungen, schreiben Artikel und treten im Fernsehen auf. Sicher gehen die Forschungsberichte auch an die Regierung? Nun, sollten wir irgendwelche Erleuchtungen haben, so ist es kein Problem für uns, diese der Regierung zu Gehör zu bringen. Aber Erleuchtungen muß man erst mal haben. Wenn wir von Leuten aus der Regierung zu Themen, die unser Spezialgebiet sind, gefragt werden, so antworten wir bereitwillig. Aber ich möchte betonen, daß unser Institut nicht als ständiger Zulieferer für die Außenpolitik fungiert. Das ist Aufgabe des Außenministeriums und unserer Botschaft in Washington Unsere Aufgabe ist es, Langzeitprobleme und Tendenzen zu untersuchen und eine Grundlagenforschung zu betreiben, die dazu beiträgt, die Länder, die wir beobachten, gründlicher und verläßlicher zu verstehen. Es müßte eigentlich entsprechende Einrichtungen in Amerika geben. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 38 Etwas, was dem direkt entspricht, gibt es nicht. Es gibt aber an vielen Universitäten kleine Zentren zur Erforschung der UdSSR, oder auch im Rahmen von Organisationen, die vom Pentagon gefördert werden, wie die RAND Corporation oder das Institute for Defense Analysis. Es gibt dann noch andere Zentren, wie z. B. das George Kennan Institute an der Smithsonian Institution in Washington. Haben Sie regelmäßige Kontakte mit amerikanischen Forschern? Ja, wir unterhalten viele Arbeitskontakte mit Universitäten, dem Council on Foreign Relations, der Brookings Institution, dem Stanford Research Institute und anderen Zentren und Universitäten. Mit einigen führen wir gemeinsame Forschungsprojekte durch. Tauschen Sie auch Wissenschaftler aus? Ja, unsere Leute gehen dorthin, und wir laden unsererseits Wissenschaftler, Personen des öffentlichen Lebens, Prominente aus der Wirtschaft und andere zu uns ein. Daneben wenden sich viele Amerikaner an uns, wenn sie Moskau besuchen. Können Sie ein paar Namen nennen? Natürlich. Walter Mondale hat bei uns einen Vortrag gehalten, als er noch Senator war. Edmund Muskie besuchte uns, seinerzeit ebenfalls Senator. Averell Harriman war mehrmals Gast des Instituts. Wir haben auch Führer der kommunistischen Partei der USA, wie Gus Hall, Henry Winston und Angela Davis zu Gast gehabt. Wen noch? Die Liste ist ziemlich lang: die Senatoren Kennedy, Biden, Baker, Tower, Garn, den Kongreßabgeordneten Vanik u.a., Cyrus Vance und selbst Zbigniew Brzezinski, Harold Brown und Marshall Shulman, Michael Blumenthal, Arthur Burns, John K. Galbraith, George Kennan, Robert Pranger, Leslie Gelb, Harold Agnew vom Los Alamos Nuclear Weapons Laboratory, Paul Doty und Stanley Hoffman von Harvard, William Kintner, David Rockefeller, den Präsidenten der Bank of America, A. Clausen, Tex Thornton und Roy Ash von Litton Industries, Paul Austin von Coca-Cola und Don Kendall von Pepsi Cola. Den obersten Bundesrichter Warren Burger, General a. D. James Gavin, Admiral a. D. Gene LaRocque, fast alle Mitglieder des Ausschusses des Repräsentantenhauses für die Streitkräfte, sowie Buckley. Welcher Buckley? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 39 Es waren sogar zwei Buckleys hier, wenn ich mich recht erinnere, William F. jr. und sein Bruder James. Haben Sie aus all den Gesprächen mit diesen Besuchern und bei ihren eigenen Reisen in die Vereinigten Staaten nicht den Eindruck gewonnen, daß die Amerikaner oft dazu neigen, viel Aufhebens um ihre Probleme zu machen und zu übertreiben? Es muß eine Art von masochistischem Zug im Wesen der Amerikaner geben. Sehen Sie, jede Gesellschaft hat ihre eigenen Maßstäbe dafür, was ein Problem ist und was nicht. Diese Maßstäbe ändern sich im Laufe der Zeit. Es stimmt, Amerikaner neigen dazu, sehr offen über manche ihrer Probleme zu sprechen, und ich halte das für ihre starke Seite. Ich glaube nicht, daß das Masochismus ist. Wir Kommunisten nennen es Selbstkritik, und wir glauben, daß sie nur hilfreich dabei sein kann, eine Gesellschaft weiterzuentwickeln. Gleichzeitig sollte die Selbstkritik der Amerikaner nicht immer für bare Münze genommen werden, sie hat ihre sonderbaren Seiten. Die Amerikaner haben z. B. eine besondere Gabe dafür, ihre Probleme durch ‘Exorzismus’ auszutreiben, sie reden ihre Probleme hinweg, wenn ich so sagen darf. Oft scheint es, daß sie es für ausreichend erachten, ein Problem aufzuwerfen, zu erörtern, sogar in grelles Licht zu tauchen, ihr Unbehagen darüber laut zu bekunden - und schließlich alles wieder zu vergessen, um sich gleich darauf dem nächsten wunden Punkt zuzuwenden. Das wirkt dann so, als würde man aus einem Kessel Dampf ablassen. Eine weitere Eigenheit, die den Außenstehenden verblüfft, ist die Fähigkeit der Amerikaner, die Übel ihrer Gesellschaft reinzuwaschen und damit zu leben. Die Amerikaner wissen z. B. genau, daß die Polizei von Baltimore - und nicht nur dort - korrupt ist, daß die Spielkasinos von der Mafia kontrolliert werden, daß die Werbung voller Lügen ist, daß Politiker oft betrügen, um gewählt zu werden, und es mit ihren Versprechungen nicht so genau nehmen, sobald sie erst einmal gewählt sind, daß widerliche Dinge in der Politik und im Geschäftsleben geschehen, usw. Aber trotz allem kommt es zu keinem öffentlichen Sturm der Entrüstung. Weit gefehlt: Es sieht sogar aus, als würden einige Leute in diesen Dingen eine vergnügliche Unterhaltung oder eine Art Sport erblicken, und einige beneiden die Akteure sogar noch um deren Geschicklichkeit. Was nun den Masochismus anbelangt - derartige Klagen kann man in den USA tatsächlich immer häufiger hören. Ich glaube nicht, daß das Zufall ist. In den letzten Jahren kann man eindeutig beobachten, daß der Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 40 Trend von der Selbstkritik wegführt und zur nationalen Selbstzufriedenheit hingeht; der Wunsch, die Probleme frontal anzugehen, wird dabei geschwächt. Können Sie das genauer ausführen? Viele Leute mit starkem Einfluß auf die öffentliche Meinung in den USA haben versucht, den Amerikanern einzureden, daß es ihnen noch nie so gut gegangen sei wie heute, bzw., daß es ihnen doch immer noch besser gehe als anderen Ländern, oder daß die Ursachen für ihre Probleme nicht im eigenen Land lägen. Diese Art intellektueller Feigheit und das Suchen nach Sündenböcken ist in meinen Augen heutzutage eines der ernsten geistig-politischen Probleme in Amerika. Es ist deshalb ein wahrhaft ernstes Problem, weil es lähmend auf die Suche nach vernünftigen Lösungen wirkt, und zwar gerade in dem Moment, wo diese dringend geboten wären. Zugleich wächst die Gefahr, daß eine Nation ernste Fehler begeht. Sie meinen also nicht, daß die Zeiten, in denen die Vereinigten Staaten Selbstkritik übten, heute überholt sind? Nein, das glaube ich nicht. Und sei es nur, weil die Suche nach Lösungen für die zahlreichen Probleme, vor denen das Land steht, noch längst nicht abgeschlossen ist. Meine Mitarbeiter und ich sind der Meinung, daß die amerikanische Gesellschaft eine langwierige und vielschichtige Krise durchlebt hat, von der viele Bereiche des Lebens betroffen sind. Eines wird immer deutlicher: Wenn in den USA nicht sehr ernste und rationale Versuche gemacht werden, die amerikanische Politik einschließlich der Außenpolitik den sich verändernden Gegebenheiten anzupassen, dann stehen Amerika eine Reihe sehr starker Erschütterungen bevor - womöglich schwerere, als je im Laufe seiner Geschichte auftraten. Eine Revolution? Keine Sorge, für die nächste Zeit ist der Zusammenbruch der gesellschaftlichen und politischen Institutionen in Amerika nicht zu erwarten. Also keine kommunistische Machtübernahme im Jahre 1984? Falls sich die Dinge in eine Richtung entwickeln, wie sie einige Leute Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 41 prophezeien, könnten sich bis 1984 einige der Vorhersagen Orwells über den ‘Großen Bruder’ erfüllen, aber das wäre dann mit Sicherheit ein antikommunistischer ‘Großer Bruder’. Wäre nicht eine Verschärfung der amerikanischen Probleme in Ihren Augen zu begrüßen, da sie doch für die Sowjetunion in dem historischen Wettstreit mit den USA von Vorteil wäre? Nun, jeder verspürt eine gewisse intellektuelle Genugtuung, wenn sich seine politischen Anschauungen und Theorien einmal mehr als richtig erweisen. Auch Marxisten machen davon keine Ausnahme. Doch das ist keineswegs Schadenfreude. In der UdSSR weiß man sehr wohl, daß nicht ‘Wall Street’ unter dem Niedergang der Städte, unter der Arbeitslosigkeit oder der Kriminalität auf den Straßen zu leiden hat, sondern der Durchschnittsamerikaner, der für seinen Lebensunterhalt arbeiten muß, wenn er überhaupt Arbeit findet. Wie sollten wir uns über diese Probleme freuen können? Wenn Sie die Berichte unserer Medien über die sozialen Probleme im Westen analysieren, werden Sie feststellen, daß wir weder Freudengesänge darüber anstimmen, noch uns dabei die Hände reiben. Wir bringen keinen Toast auf die Autoschlangen vor amerikanischen Tankstellen aus oder berufen jedesmal einen Parteitag ein, wenn wieder eine amerikanische Stadt Bankrott macht. Weitsichtigere Leute bei uns sind sogar über die Verschärfung gewisser Probleme Amerikas besorgt - nicht weil sie das gegenwärtige amerikanische System gut fänden, sondern weil sie sich darüber im klaren sind, daß möglicherweise eine nationale Krise tiefere Gründe haben kann als nur jeweils die, die auch von der breiten Öffentlichkeit erkannt und folglich bei Lösungsversuchen berücksichtigt werden. Sehen Sie, so kann es z. B. sein, daß Leute mit dem gegenwärtigen Zustand unzufrieden sind, sie aber bei der Suche nach den tatsächlichen Ursachen in die Irre geleitet werden. Sie hören dann vielleicht auf falsche Propheten und unterstützen Scheinlösungen. Genau das geschah in den zwanziger Jahren in Italien und in den dreißiger Jahren in Deutschland. Schließlich hat dieselbe Weltwirtschaftskrise, die Franklin Roosevelt in den USA an die Regierung brachte und dort zu den Reformen des ‘New Deal’ führte, Hitler zum deutschen Führer gemacht und damit zum Zweiten Weltkrieg geführt. Ja, wir wollen den historischen Wettstreit mit dem Kapitalismus gewinnen, aber wir möchten unseren Sieg nicht auf radioaktiven Trümmerhaufen feiern. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 42 Das Magazin Time veröffentlichte Zahlen, nach denen sozialistische Regierungen 39 Prozent der Erdoberfläche kontrollieren, während 42 Prozent der Weltbevölkerung Anhänger des Marxismus sind. Diese Zahlen mögen im einzelnen korrekturbedürftig sein, aber es ist für jeden offenkundig, daß der Sozialismus, der Kommunismus, in weiten Teilen der Welt zur Grundlage des Lebens geworden ist. Wie erklären Sie sich die Bemerkung Carters in seiner Rede in Annapolis, daß der Kommunismus für die Völker zunehmend an ‘Anziehungskraft verloren hat, selbst für jene marxistisch-leninistischer Färbung’? Wir können solche Aussprüche nur als Wunschdenken des Weißen Hauses verstehen. Sie werden von den gerade genannten Zahlen widerlegt, zeigen diese doch, daß der Trend der Entwicklung in der Welt weggeht vom Kapitalismus, einschließlich seiner amerikanischen Spielart. Hat nicht Brzezinski in einem Artikel von 1976 mit der Überschrift ‘Amerika in einer feindlichen Welt’ davor gewarnt, die USA könnten schon bald das einzige kapitalistische Land sein? Natürlich verläuft kein geschichtlicher Prozeß, keine Revolution je ganz reibungslos. Sozialistische Länder mußten auch mancherlei Enttäuschungen einstecken. Analysiert man aber objektiv, was in der Welt vor sich geht, so denke ich, der ehemalige amerikanische Präsident hätte vorsichtiger sein sollen. Sie glauben nicht an eine Revolution in absehbarer Zeit in den USA. Halten Sie es aber ganz allgemein für möglich, daß es früher oder später zu radikalen Veränderungen in diesem Land kommt? Warum nicht? Nachdem ich an eine sozialistische Zukunft für alle Völker glaube, sehe ich gemäß der marxistischen Auffassung keinen Grund dafür, warum die USA in dieser Hinsicht eine Ausnahme sein sollten. Vielleicht nicht in der nahen Zukunft - aber irgendwann einmal wird die amerikanische Gesellschaft zum Sozialismus übergehen. Es liegt allein beim amerikanischen Volk, darüber zu entscheiden, welches System seinen Interessen am besten dient. Wenn die Zeit für eine sozialistische Revolution in Amerika reif ist, könnte sich diese von anderen Revolutionen, die die Welt bis jetzt erlebt hat, ganz wesentlich unterscheiden. Der amerikanische Sozialismus wird das Markenzeichen ‘Made in USA’ tragen. 1933 haben sich die Amerikaner für eine rationale Lösung ausgespro- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 43 chen, während die Deutschen den Weg ins Verderben einschlugen. Wer weiß, ob die Vereinigten Staaten nicht unbeabsichtigt in eine ähnliche Krise stolpern könnten? Hoffentlich nicht, es spricht manches dagegen. Wenn ich eine Beobachtung machen konnte, dann die, daß die Amerikaner erheblich dazugelernt haben in den letzten Jahrzehnten. Stürmische Zeiten sind gewöhnlich bessere Lehrer als verschlafene Zeiten. Neben einem Mehr an geschichtlicher Erfahrung beobachten wir einen deutlichen Fortschritt, was die Bildung der breiten Schichten anbelangt. Die Amerikaner lesen heutzutage mehr. Es gibt geradezu einen Leseboom. Das Interesse an wahrer Kultur hat ebenfalls erheblich zugenommen. Viele Amerikaner sind heute wahrscheinlich weniger empfänglich für amtliche Propaganda und eher geneigt, sich selbst ein Urteil zu bilden, als früher. Aber diese Entwicklung auf dem Weg zu einer realistischen Einschätzung der Welt ist ziemlich langsam vorangegangen, fürchte ich. Immer noch gibt es eine Menge Unwissenheit und Leichtgläubigkeit im Lande. Die Situation ist heute sowohl in Amerika als auch anderswo sehr viel komplexer als 1933, und gleichzeitig wurden die Techniken zur Manipulation der Massen mit Riesenschritten weiterentwickelt. Jene, die das Volk in die Irre führen wollen, sind raffinierter geworden. Aus diesen Gründen kann meiner Meinung nach nicht ausgeschlossen werden, daß trotz der gewachsenen Aufgeklärtheit des Durchschnittsamerikaners in einer Krise ein falscher Weg eingeschlagen wird. Tatsächlich hat man in Europa oft das Gefühl, die Amerikaner weigern sich einfach einzusehen, daß Weltreiche heutzutage überholt sind. Wir Europäer haben diese Lektion gelernt. Jetzt sind die Amerikaner an der Reihe. Ich gebe Ihnen recht. Es gibt noch viele Lektionen zu lernen, viele neue Realitäten zu begreifen. Bei den Amerikanern ist z. B. das Gefühl der absoluten Sicherheit tief eingewurzelt, weil es über zwei Jahrhunderte hinweg durch die unüberwindbaren Barrieren der beiden Ozeane genährt wurde. Die strategische Überlegenheit, derer sich die USA in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erfreuten, muß zu diesem Gefühl der absoluten Sicherheit beigetragen haben. Nun hat sich die Situation aber drastisch verändert. Amerika muß sich nicht nur mit einem ungefähren militärischen Gleichgewicht abfinden, sondern ist auch genauso verwundbar und von der Vernichtung bedroht wie wir und alle übrigen Länder, falls es zu einem Krieg kommen sollte. Das ist für die Amerikaner eine neue psychologische Erfahrung. Es ist gewiß nicht Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 44 leicht, sich daran zu gewöhnen und damit zu Rande zu kommen. Dadurch wird ein Klima gefördert, in dem sich mit dem Hinweis auf die ‘sowjetische Bedrohung’ Panikmache betreiben läßt, und zugleich wird die ständige Versuchung geschaffen, jenen Gefolgschaft zu leisten, die ein Wunder - nämlich aufs neue die Unverwundbarkeit früherer Jahre - versprechen, allein vorausgesetzt, es steht genügend Geld dafür zur Verfügung und es werden Waffen im entsprechenden Umfang produziert. Weiter muß man sehen, daß die Abgeschiedenheit, die fast vollständige ökonomische Unabhängigkeit und die Isolation, in der Amerika sich lange befand, das Interesse an der übrigen Welt nicht gerade gefördert haben. Deshalb liegt es den Amerikanern auch nicht besonders, die Verwicklungen auf der internationalen Ebene zu erforschen. Das trägt mit dazu bei, daß die Außenpolitik nur allzu oft ein Opfer der innenpolitischen Situation wird. Welche Einstellung hat der Durchschnittsamerikaner, Ihren Eindrücken nach, zur UdSSR? Nun, ich bin sehr viel Unwissenheit begegnet, unzutreffenden Vorstellungen, Mißverständnissen, Mißtrauen usw. Doch so gut wie nie bin ich Haß begegnet weder gegenüber unserem Land, noch gegenüber den Russen. Der Durchschnittsamerikaner - das ist wenigstens der Eindruck, den ich bei Begegnungen gewonnen habe - ist bereit, zuzuhören und zu lernen. Ich glaube auch, daß die natürliche Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit der meisten Amerikaner dabei sehr hilfreich ist. 1979 hat der für auswartige Beziehungen zuständige Ausschuß des Senats ein Buch über die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen herausgegeben. Sie haben, neben anderen, dazu einen Beitrag geleistet. Ich möchte, daß wir uns mit einigen der von Ihnen dort erörterten Fragen befassen. Eine davon ist, ob die amerikanische Öffentlichkeit eine zutreffende Vorstellung von der Sowjetunion, ihren Menschen und ihren Führern hat. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist - nicht einmal, was die sowjetische Haltung zu den Problemen anbelangt, die auch für die USA selbst, für ihre nationalen Interessen und die Formulierung ihrer Außenpolitik von großer Bedeutung sind. Die Ungenauigkeit vieler amerikanischer Vorstellungen von der Sowjetunion kann kaum überraschen, wenn man davon ausgeht, daß das Bild der Amerikaner von der Sowjetunion von so ausgesprochen einseitigen und verzerrten Informationen bestimmt wurde, wie es bei keinem anderen Land der Welt der Fall ist - zumal das auch noch über einen so langen Zeitraum hinweg geschah. Das ist der Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 45 Grund, warum die Vorstellungen geprägt sind von starker Voreingenommenheit und Vorurteilen. Eine andere Frage war damals: Auf welchen Informationen basiert in Amerika die öffentliche Meinung über die Sowjetunion und Ausdruck welcher psychologischer, sozialer und politischer Kräfte ist sie? Meine Antwort war damals folgende: Der Großteil der Informationen, die die Amerikaner über die Sowjetunion erhalten, stammt aus zweiter Hand, wird dem amerikanischen Publikum durch amerikanische Vermittler dargebracht (Journalisten, Experten, Politiker, CIA-Berichte und andere staatliche oder private Organisationen). Bis zu einem gewissen Grad ist das wahrscheinlich bei anderen Ländern ähnlich. Wenn es aber gilt, die amerikanische Öffentlichkeit über die Sowjetunion zu informieren, zeigen diese Vermittler sehr oft eine besondere Voreingenommenheit. Dies ist das Ergebnis persönlicher ideologischer Vorurteile, wie sie in vielen Fällen charakteristisch sind, und ist zugleich Ausdruck des direkten oder indirekten Drucks, der von jenen Kräften des Establishments ausgeübt wird, in deren Interesse es liegt, ein verzerrtes Bild von der Sowjetunion zu schaffen. In wohl kaum einem Land der Erde haben diverse Interessen so starken Einfluß auf die nationale Politik und die ihr zugrunde liegenden Konzeptionen, wie vergleichsweise in den USA. Zu denen, die vitales Interesse daran haben, daß in Amerika verzerrte Vorstellungen über die UdSSR herrschen, gehören der militärisch-industrielle Machtkomplex, die ultrakonservativen Kräfte, die Gruppen, die vom Kalten Krieg profitieren, antikommunistische Emigrantenorganisationen aus Osteuropa, die Israel-Lobby und andere. Hat die amerikanische Öffentlichkeit nach Ihrer Auffassung tatsächlich einen Einfluß auf die US-Außenpolitik? Ohne Zweifel beeinflußt die öffentliche Meinung die offizielle Politik. Dieser Einfluß kann zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen (z. B. vor Wahlen) in der Tat sehr wesentlich sein. Nach meiner Auffassung nehmen jedoch die Exekutive und der Kongreß normalerweise auf Stimmungen in der öffentlichen Meinung weniger Rücksicht als auf die der gut organisierten ‘pressure groups’. Natürlich geschieht es oft, daß die US-Regierung und Gruppen, die auf die Politik Einfluß nehmen wollen, anstatt den Empfindungen der Öffentlichkeit zum Ausdruck zu verhelfen, versuchen, solche Empfindungen in der von ihnen gewünschten Art und Weise umzuformen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 46 Unterscheidet sich das Bild, das in der öffentlichen Meinung von der Sowjetunion herrscht, wesentlich von dem der Experten? Das ist wahrscheinlich der Fall, aber man darf nicht vergessen, daß es ruiter den US-Experten selbst die unterschiedlichsten Auffassungen gibt. Lange Zeit nahm die Mehrzahl von ihnen eine äußerst feindselige Haltung gegenüber der Sowjetunion ein. Das ist wahrscheinlich dem Umstand zuzuschreiben, daß die Studien über die Sowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges einen Aufschwung erlebten und viele der Experten diesen politischen Zielen dienten. Der unverhältnismäßig hohe Anteil osteuropäischer Emigranten unter den US-Experten war ebenfalls ein Faktor. Ihre Einstellung gegenüber der Sowjetunion mag in Verbindung mit den Veränderungen, zu denen es in ihren Heimatländern nach dem Zweiten Weltkrieg kam, von stark ablehnenden persönlichen Gefühlen geprägt worden sein. Die Situation hat sich während der letzten Jahre bis zu einem gewissen Grad geändert. Die USA haben inzwischen einen Kreis von Experten für die Sowjetunion hervorgebracht, die in Amerika geboren wurden und in ihren politischen Ansichten das ganze Spektrum der amerikanischen Politik abdecken. Seien es nun Experten des alten oder des neuen Schlages - die US-Politiker finden unter ihren Ansichten für praktisch jeden gewünschten Standpunkt eine Bestätigung. Das ist nicht als Aufforderung gemeint, den Experten zu mißtrauen. Ich meine nur, daß erstens - selbst wenn Experten zur Verfügung stehen - die persönliche Kompetenz der politischen Führer unerläßlich ist; und daß zweitens diejenigen, die sich auf den Rat von Experten verlassen wollen, zuerst selbst Experten werden sollten, um zu wissen, wer aller Voraussicht nach eine objektive und gründliche Analyse der Sowjetunion erstellen kann. Wie sieht es mit der politischen Elite aus - ist sie Ihrer Meinung nach ausreichend aufgeklärt, um wirksam Politik betreiben zu können? Hier haben wir es mit einem weiteren Paradoxon zu tun. Man kann nicht umhin festzustellen, daß eine sehr starke Konzentration intellektueller Kapazitäten - vielleicht die stärkste auf dieser Welt - im Dienst der US-Außenpolitik steht (oder zumindest bis jetzt stand). Die Administration war stets darauf bedacht, die besten und klügsten Köpfe dafür zu gewinnen, in der Regierung und für die Regierung zu arbeiten. Eine Unzahl von Forschungsstätten innerhalb und außerhalb der Universitäten prüft Tag für Tag aufmerksam alles, was der Beachtung überhaupt wert ist, und sogar Dinge, die solche Beachtung ganz und gar nicht verdienen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 47 Das Pentagon, der CIA, das Außenministerium und andere Behörden haben riesige Summen ausgegeben, um der Politik analytische Forschung als Entscheidungshilfe an die Hand zu geben. Die Eliten werden ständig über die Schwierigkeiten der Weltpolitik und über die Wege zur Lösung militärischer, ökonomischer und politischer Probleme aufgeklärt und in diesen Bereichen weitergebildet. Aber sobald man die praktischen Ergebnisse dieser umfangreichen Aktivitäten betrachtet, fragt man sich, in welchem Verhältnis Aufwand und Ertrag stehen. Das gesamte intellektuelle Potential, das hinter der US-Politik steht, erwies sich als unfähig, Amerika vor einer Reihe sehr gravierender Fehleinschätzungen und falscher Schritte zu bewahren, die vielleicht sogar schwerwiegender waren als die anderer Länder. Wie erklären Sie dieses Paradoxon? Nun, ich glaube nicht, daß die Politiker einfach nicht auf die Forscher und Analytiker hören. Mag sein, daß sie manchmal nicht sorgfältig genug zuhören, und zudem sind vielleicht manchmal die Spezialisten nicht allzu gut. Aber die Ursachen für die politischen Fehlschläge liegen tiefer. Man muß verschiedene innenpolitische Mechanismen in Betracht ziehen, die die Politiker zu falschen oder gar irrationalen Entscheidungen drängen. Die Art und Weise, in der in den USA die politische Führungsschicht ausgewählt wird, bringt mit sich, daß in manchen Fällen die Qualifikation dieser führenden Persönlichkeiten möglicherweise nicht den Aufgaben entspricht, die sie zu erfüllen haben. Die wichtigste Ursache aber ist das Vorhandensein bestimmter mächtiger Interessen des Establishments, die im Widerspruch stehen zu den Forderungen der Logik und der Vernunft und diese verneinen. Stanley Hoffman hat einmal gesagt, daß die Ursachen für die Fehler in der amerikanischen Außenpolitik nicht mit den Muskeln in Zusammenhang stehen, sondern mit dem Verstand. Das ist mit Sicherheit wahr. Wenn wir aber jetzt eine neue Welle politischer Kraftmeierei beobachten können, so nicht nur deshalb, weil einige Leute zu dumm sind, um die Situation zu verstehen. Es muß tatsächlich das System selbst sein, das die Vernunft zügelt und ihr die Grenzen durch einen sehr engen und festen Rahmen setzt. Welche Aspekte der amerikanischen Außenpolitik bereiten Ihnen das größte Kopfzerbrechen? Einige haben wir schon angesprochen, wie z. B. die Neigung, den äußerst komplizierten Problemen der Sicherheit im Atomzeitalter auszu- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 48 weichen und stattdessen die Rüstungsausgaben weiter zu erhöhen und Berge von Waffen anzuhäufen. Ein weiterer Aspekt ist der Vorrang, den politische Führer innerpolitischen Erwägungen einräumen, und zwar auf Kosten eines beständigen Kurses in der Außenpolitik. Schauen Sie sich dazu nur das Beispiel der US-Politik im Nahen Osten an. Die US-Außenpolitik zeigt einen Mangel an Kontinuität, der die USA zu einem unbeständigen und unzuverlässigen Partner macht, selbst bei so wesentlichen Bemühungen wie den Abkommen zur Rüstungsbegrenzung. Sehen Sie sich nur die traurige Geschichte des SALTII-Vertrages an. Wir begannen die Verhandlungen darüber mit Präsident Nixon, mußten dann aber mit Ford und Carter fast wieder von vorne beginnen. Und nun gibt es abermals Versuche, eine ‘Neuverhandlung’ des Vertrages in die Wege zu leiten. Ich möchte auch auf deutlich spürbare Reste eines messianischen Sendungsbewußtseins hinweisen. Was meinen Sie damit genau? Vielleicht handelt es sich dabei um ein Erbe der calvinistischen Vergangenheit. In jenen Tagen mußten die Pilgerväter, allein schon um des Überlebens willen, einfach daran glauben, daß sie ein neues, auserwähltes Land gründeten, das frei von den Sünden der Welt war. Möglich, daß dieses Gefühl, das dem eigenen Schutz diente, im Laufe der Zeit einen offensiven Charakter annahm und in Überzeugungen von der ‘schicksalhaften Bestimmung’ und später dem ‘Jahrhundert Amerikas’ seinen Ausdruck fand. Obwohl dieses Sendungsbewußtsein viel von seinem alten Schwung verloren hat, ist bis heute das tiefe, fast instinktive Verlangen unvermindert erhalten, andere, wenn möglich mit Worten, wenn nötig mit Gewalt, zu schulmeistern. In jüngster Zeit haben wir sogar die Wiedergeburt eines Enthusiasmus erlebt, der von dem gleichen, immer wieder aufs neue auftauchenden Geist getragen wird. Das schlimmste dabei ist, daß dadurch ständig zweierlei Maß angelegt wird, was sich auf die Aufrechterhaltung normaler Beziehungen zwischen den USA und anderen Ländern äußerst störend auswirkt. Falls Sie an die ‘Menschenrechts-Politik’ denken - darauf werden wir zurückkommen. Lassen Sie uns im Augenblick bei der amerikanischen Außenpolitik verweilen. Ein weiteres typisches Merkmal der US-Außenpolitik - wenngleich Amerika darin nicht einzigartig dasteht - ist die außergewöhnliche Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 49 Hochschätzung von Macht und Stärke. Soweit ich die amerikanische Haltung begriffen habe, ist ein schwaches Land für sie kein Partner, nur dem Starken begegnen sie mit Respekt. Davon sollten wir als Tatsache ausgehen, zumindest für die Gegenwart. Obwohl die vorherrschende amerikanische Klage der Stärke der Sowjetunion gilt, ja sogar unserer angeblichen Überlegenheit (ob letzteres der Wahrheit entspricht, ist eine andere Frage), glaube ich, daß Schwäche unsererseits zu keinen besseren sowjetisch-amerikanischen Beziehungen geführt hätte. Ganz im Gegenteil. Unser Land wäre, was seine Beziehungen zu den USA anbelangt, in diesem Fall weitaus schlechter dran als heute. Das gleiche gilt übrigens für viele andere Länder, die ihre Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit nur gewinnen konnten, weil die Sowjetunion als ein Gegengewicht zur überwältigenden Macht Amerikas auf den Plan trat. Wenn ich das sage, so will ich die Amerikaner damit nicht als ein Volk darstellen, das schon von Natur aus aggressiv ist. Dem ist einfach nicht so, wenn wir die Amerikaner als Einzelwesen betrachten. Obwohl die USA gerne anderen Ländern eine besondere Hochschätzung der Stärke unterstellen, trifft eine solche Wertschätzung doch am allermeisten für die USA selbst zu. Das haben wir mehr als einmal am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ihr Erstarken hat aber die Beziehungen zu den USA nun auch nicht gerade in eine Romanze verwandelt. Nein, das nicht. Ich wollte auch nur betonen, daß Schwäche unsererseits diese Beziehungen nur noch verschlechtert hatte. Dadurch wären die falschen Hoffnungen, uns nach amerikanischen Vorstellungen ummodeln zu können, nur noch verstärkt worden. Wenn ich das feststelle, so habe ich nichtsdestotrotz die Hoffnung, daß sich die Situation ändern wird, daß der Aspekt der Macht sowohl in der US-Politik wie auch in internationalen Beziehungen allgemein eine geringere Rolle spielen wird. Entspannung, Rüstungskontrolle und internationale Zusammenarbeit sollen uns ja genau auf diesen Weg bringen. Während der zwanzig Jahre, in denen ich von Corpus Christi in Texas bis Sheboygan in Wisconsin Vorträge vor amerikanischem Publikum gehalten habe, ist es mir nie gelungen, deutlich zu machen, was Krieg bedeutet, und die Furcht vor dem Krieg, wie wir sie während der Okkupation Hollands durch Nazi-Deutschland erlebten, zu beschreiben. Gunnar Myrdal hat jüngst festgestellt: ‘Daß die US-Bürger die Schrekken des Krieges nicht aus eigener Erinnerung kennen, stellt für die USA Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 50 wie für die übrige Welt eine Gefahr dar.’8 Es ist eine Tatsache, daß die beiden Kriege, die Europa verwüsteten und die Haltung der Europäer zum Krieg so einschneidend veränderten, Amerika reicher machten. Während des Zweiten Weltkriegs, der 50 Millionen Tote forderte, betrugen die amerikanischen Verluste ungefähr zwei Prozent der unseren. Auf dem Leningrader Piskarev Soldatenfriedhof ruhen allein schon mehr Gefallene, als die Amerikaner an allen Kriegsfronten zusammen zu beklagen hatten. Für unser Land bedeutete der Zweite Weltkrieg die Vernichtung eines ungeheuren ökonomischen Potentials, während derselbe Krieg die Amerikaner aus der wirtschaftlichen Depression führte. In Korea und Südostasien waren die Verluste der Amerikaner nichts im Vergleich zu den Leiden der Koreaner, Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten. Natürlich mache ich Amerika daraus keinen Vorwurf, daß es weniger als andere auf dem Altar des Krieges geopfert hat, noch fordere ich es zu größeren Opfern auf. Von dem Standpunkt der Moral aus betrachtet, könnte man von den Amerikanern aber eine weit weniger sorglose Haltung dem Krieg gegenüber erwarten. Was die praktische Seite angeht, so stimme ich mit Myrdal darin überein, daß dadurch, daß in ihrer geschichtlichen Erfahrung Lücken bestehen, im Bewußtsein der Amerikaner ein wichtiger Sicherheitsmechanismus fehlt. Als Europäer würde ich sagen, das alles hängt sehr eng mit der typisch amerikanischen Egozentrik zusammen. Ich glaube, Sie haben recht. Ich habe oft erlebt, wie schwierig es für Amerikaner ist, sich in die Lage anderer Völker zu versetzen, ja auch nur die Folgen des amerikanischen Handelns für andere zu ermessen. Manchmal glaube ich, es sind nicht nur die dubiosen Absichten und etablierten Interessen eines Teils der Amerikaner, die einige der brennendsten Probleme von heute schaffen, auch ihre Unfähigkeit, das Leben durch die Brille der anderen Seite zu sehen, trägt dazu bei. Wir haben schon davon gesprochen, daß die USA z. B. bei der Einschätzung der militärischen Stärke der Sowjetunion die tatsächlichen Gefahren ignoriert, denen die Sowjetunion sich gegenübersieht, zugleich aber heftig die ‘sowjetische Bedrohung’ beklagt. Ich glaube auch nicht, daß die USA ihre eigenen Verbündeten vollkommen verstehen. Vor allem verstehen sie nicht, daß Europa für die Europäer nicht ein vorgeschobener Außenposten ist, der das amerikanische Kernland bewacht, nicht eine weitentfernte Bühne für taktische Schachzüge, sondern daß es ihr Lebensraum ist - und zwar ihr einziger. Vielleicht hat Europa deshalb zur Entspannung und zu einer Verbesserung Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 51 der Beziehungen zu der UdSSR eine andere Einstellung. Von westdeutschen Freunden hörte ich, daß Jimmy Carter fast die gesamten vier Jahre seiner Regierungszeit brauchte, um zu begreifen, was die Ostpolitik wirklich für die Westdeutschen bedeutet. Man kann nur hoffen, daß sein Nachfolger schneller lernt. Die amerikanische Ignoranz gegenüber der Dritten Welt ist sogar noch größer. Ich glaube nicht, daß die Amerikaner überhaupt wissen, wie die Völker der Dritten Welt leben, was sie fühlen und was sie wollen - nicht einmal was Amerikas nächste Nachbarn betrifft, wie die Völker von El Salvador, Nicaragua, Guatemala und Panama oder das übrige Lateinamerika. Oft scheint es mir so, als hätten die Amerikaner in ihrer Geschichte unerhörtes Glück gehabt, vielleicht zu viel Glück, um Völker, deren Geschichte weniger glücklich verlaufen ist, verstehen zu können und für sie tiefe Sympathien zu hegen. Was ist zu den vielgerühmten amerikanischen Wohltätigkeitsprogrammen und kostenlosen Hilfslieferungen zu sagen? Zugegeben, es gibt viele caritative Institutionen, von denen manche bei der Beseitigung von Armut und anderem menschlichen Elend mithelfen. Aber was die Mildtätigkeit anbelangt, möchte ich nicht den üblichen Vorwurf wiederholen, es handle sich dabei lediglich darum, das Gewissen zu beruhigen, um die eigene Sattheit um so mehr genießen zu können. In manchen Fällen sind die Motive ganz andere, in manchen Fällen sind sie edel. Aber die meisten Wohltätigkeitsprogramme sind meilenweit von Idealen wie der Selbstlosigkeit und dem Teilen in christlicher Nächstenliebe entfernt. Sie richten sich vielmehr weitgehend nach den wirtschaftlichen und politischen Interessen des amerikanischen Establishments. Nehmen wir die Ereignisse 1980 in Kamputschea. Einerseits behinderten die USA die Lieferung von Hilfsgütern an die kamputscheanische Regierung, die den größten Teil des Landes kontrollierte und einen verzweifelten Versuch unternahm, dieses vom Schicksal hart getroffene Volk vor Tod und Erniedrigung, welche die barbarische Herrschaft Pol Pots über das Land gebracht hatte, zu retten. Andererseits pochten die Amerikaner lautstark auf ihr Recht, den Resten der Pol-Pot-Armee nahe der thailändischen Grenze ‘humanitäre Hilfe’ zukommen zu lassen. Damit nicht genug des Unrechts, lasteten die Amerikaner der kamputscheanischen Regierung auch noch an, sie stehe dem menschlichen Leid gleichgültig gegenüber. Man kann das amerikanische Verhalten in diesem Fall beim besten Wil- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 52 len nicht als Ausdruck humanitären Anliegens bezeichnen. Allerdings gewinnen die Vorgänge an Logik, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß einerseits die USA mit China gemeinsame Sache machen und Pol Pot Chinas Marionette war und andererseits die Gelegenheit zur Vergeltung an Vietnam bestand. Ferner wird oft im Eifer selbstgerechter Empörung übersehen, daß der Löwenanteil der Schuld an Kamputscheas hartem Schicksal bei den Vereinigten Staaten liegt. Haben doch letztlich die USA den Weg für Pol Pot geebnet, indem sie 1970 militärisch gegen das damalige Kambodscha vorgingen und indem sie sich in die inneren Angelegenheiten einmischten und damit den Sturz der neutralistischen Regierung des Prinzen Norodom Sihanuk erleichterten. Um zu den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zurückzukehren: Glauben Sie, daß eine pluralistische, ungeordnete und bisweilen außer Rand und Band geratende Gesellschaft wirklich mit einer geordneten und zentralisierten Gesellschaft in Koexistenz leben kann? Wenn eine Gesellschaft außer Rand und Band gerät, ist es, für wen auch immer, schwierig, mit ihr zu leben. Aber lassen wir Fälle nationalistischer Hysterie als außergewöhnliche Situationen hier einmal außer Betracht. Den amerikanischen ‘Pluralismus’ dafür verantwortlich zu machen, daß die Entspannung in den letzten Jahren Rückschläge erlitten hat, würde nichts anderes bedeuten, als einen Sündenbock zu suchen. Wir wissen, daß die amerikanische Gesellschaft vielschichtig, heterogen und in gewisser Hinsicht dezentralisiert ist, und wir sind ganz und gar darauf vorbereitet, mit dieser Gesellschaft so in Koexistenz zu leben, wie sie wirklich ist. Wäre es nicht sinnvoll, wenn der US-Kongreß disziplinierter wäre und den Präsidenten z. B. in dringenden Angelegenheiten, wie dem SALT II-Abkommen, unterstützen würde. Sicher wäre es sinnvoll. Aber wir müssen Realisten sein. Der Kongreß spielt im politischen System der USA eine wichtige Rolle, und jetzt, nach all der Erfahrung, die wir mit ihm gemacht haben, verstehen wir die politischen Vorgänge in Washington gut genug. Allerdings, das muß ich eingestehen, zweifeln wir manchmal daran, ob Verfahrensregeln weise zu nennen sind, die es einigen Senatoren, die eine kleine Minderheit vertreten, möglich machen, einen Vertrag zu blockieren, der von hervorragender, ja entscheidender Bedeutung für die ganze Nation ist und der laut Umfragen von einer Mehrheit von über Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 53 70 Prozent unterstützt wird, bei nur 10-15 Prozent Gegenstimmen. Aber solche Fragen wollen wir außer acht lassen, denn wir wissen, daß sie eine Frage der Verfassung sind, über die nur die Amerikaner selbst entscheiden können. Wir sind im übrigen der festen Überzeugung, daß die Entspannung einer ehrlich geführten politischen Debatte in Washington standgehalten hätte, ja sogar gestärkt daraus hervorgegangen wäre. Nach unserer Auffassung waren es nicht die verfassungsmäßigen Rechte des Kongresses, die zu den Problemen im Handel und beim SALT-Abkommen führten, genauso wenig, wie die Pressefreiheit für den dogmatischen Antisowjetismus verantwortlich ist, der in den amerikanischen Medien vorherrscht. Das Problem besteht darin, daß sich wohletablierte, festverankerte und weitverzweigte Kräfte innerhalb der Machtelite - wie z. B. das militärisch-industrielle Macht- und Interessenkartell -, die daran interessiert sind, die Entspannung zu unterhöhlen und die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu stören, des Pluralismus in den USA auf sehr wirklungsvolle Weise bedienen. Jene, die andere Interessen haben, und auch jene, die die nationalen Interessen in ihrer Gesamtheit wahren müssen, haben es diesmal nicht geschafft, sich diesen Angriffen wirkungsvoll zu widersetzen, so daß die Entspannung problematisch geworden ist. Ich möchte sogar behaupten, daß das im Kongreß nicht passiert wäre, wenn die Exekutive hartnäckiger und nicht so unentschlossen gewesen wäre. Sie geben der Exekutive die Schuld? Ja, vor allem, was die Debatte zum SALT II-Abkommen anbelangt. Niemand hätte den Vertragsgegnern mit mehr Autorität entgegentreten können als der Regierungsapparat. Nur die Regierung konnte der Öffentlichkeit nachweisen, daß es eine militärische Überlegenheit der UdSSR über die USA nicht gibt und daß die größte Bedrohung für die Sicherheit der USA nicht von der Sowjetunion ausgeht, sondern von einem unkontrollierten Wettrüsten. Die US-Regierung hätte auch besser als irgend jemand sonst die Öffentlichkeit über die tatsächliche Situation im Bereich des sowjetisch-amerikanischen Handels und anderer wichtiger Themen aufklären können. Unglücklicherweise hat das Weiße Haus diese Chance nicht nur verpaßt, sondern in entscheidenden Phasen der Kampagne gegen die Entspannung selbst mitgewirkt und die positiven und realistischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung mit abgewürgt. Was halten Sie von dem Argument, die USA könnten in einem mit vollem Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 54 Einsatz geführten Wettstreit mit der Sowjetunion nicht ihre gesamten Resourcen aufbieten, da sie ein weniger straff geführtes Land sind? Genau genommen ist dieses Argument die Kehrseite der Vorstellung, die Sowjetunion müßte erst eine weniger straff geführte Gesellschaft werden, bevor die USA einer Koexistenz mit ihr zustimmen könnten. Die Liberalen bevorzugen in der Regel eine ‘weniger straff geführte’ Sowjetunion, die Konservativen ein ‘straffer geführtes’ Amerika. Die extreme Rechte will beides. Während die Amerikaner das Recht haben, die USA so zu ‘organisieren’, wie sie wollen, müssen sie es uns überlassen, unsere grundlegenden Hoheitsrechte auszuüben - unsere eigene Gesellschaftsordnung zu bestimmen. Hinzu kommt, daß all diese vereinfachenden Vergleiche an dem entscheidenden Punkt, den ich schon erwähnt habe, vorbeizielen: Der eigentliche Wettstreit findet zwischen sozialen Systemen statt, d.h., zwischen ihrer Fähigkeit, den Menschen von heute ein glückliches und sinnerfülltes Leben zu ermöglichen. Es ist wichtig, das zu betonen, denn wenn die Amerikaner ‘Ressourcen mobilisieren’ sagen, meinen sie wohl kaum mehr Geld für die Armen und Alten. Sie meinen nicht die friedliche Koexistenz und den friedlichen Wettstreit. Die militärische Nebenbedeutung des Wortes ‘mobilisieren’ ist nicht ohne Symbolik. Sie würden also nicht verleugnen, daß die UdSSR für eine Auseinandersetzung mit den USA besser vorbereitet zu sein scheint, als es die Amerikaner für eine Auseinandersetzung mit den Russen sind? Weil in unserer Gesellschaft größere Einmütigkeit herrscht und wir uns geschlossener um eine nationale Sache sammeln, sind wir, glaube ich, besser dafür gerüstet, jedwede nationale Politik konsequent zu verfolgen - vorzugsweise eine Politik der Entspannung, aber im Fall der Konfrontation auch eine Politik mit den dann erforderlichen Maßnahmen. Gleichzeitig sollte man aber nicht die Fähigkeit der Amerikaner unterschätzen, solche gemeinsamen Anstrengungen zuwege zu bringen, bedauerlicherweise aber sind sie mit sehr viel mehr Bereitschaft bei der Sache, wenn es um eine Auseinandersetzung geht, wenn die Trommeln des Patriotismus, ja des Hurrapatriotismus ertönen und der Schlachtruf erschallt ‘Gib's ihnen, Harry!’ (oder Jimmy, oder Ronnie) - ganz gleich, wer ‘sie’ nun gerade sind. Die späten siebziger Jahre und der Beginn der achtziger Jahre haben uns die Richtigkeit dieser These erneut demonstriert. Freilich dürfte heutzutage die Fähigkeit, alle Kräfte für eine Auseinan- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 55 dersetzung aufzubieten, nicht mehr von allzu großer Bedeutung sein. Wenn es nicht zum schlimmsten kommt und die Zeit der Konfrontation früher oder später abgelöst wird von einer neuen Periode der Entspannung, wird diese Fähigkeit keine große Rolle spielen. Kommt es aber zum schlimmsten Fall - ist es dann noch von Belang, ob sich eine Nation durch Bereitschaft, Geschlossenheit oder nationale Gefühle auszeichnete? Reginald Bartholomew, ein ehemaliger Mitarbeiter Brzezinskis und späterer Direktor des State Department Bureau of Political and Military Affairs, deutete in einem Gespräch mit mir an, im Weißen Haus habe man mitunter den Eindruck, die Sowjetunion stelle Amerikas Mannhaftigkeit auf die Probe. Ich muß mich häufig über die Besessenheit amerikanischer Politiker wundern, wenn es um ihre Mannhaftigkeit geht; nicht um die persönliche Mannhaftigkeit, die natürlich wichtig ist, sondern um die Mannhaftigkeit in politischer Hinsicht. Sie scheinen an dieser Vorstellung von Männlichkeit Gefallen zu finden, daran, sich wie Matadore in der Arena zu gebärden. Effekthascherei kann aber in der Politik extrem gefährliche Folgen haben. Das Ziel kann nicht und sollte auch nicht sein, bei jeder Gelegenheit der ganzen Welt seine Mannhaftigkeit zu beweisen. Eine solche Haltung führt zu falschen und unrealistischen Ansätzen in öffentlichen Angelegenheiten. Worauf es dagegen beim politischen Handeln wirklich ankommt, das sind Weisheit, Zurückhaltung, die Fähigkeit, die andere Seite zu verstehen, sowie das Auffinden möglicher und realisierbarer Lösungen, denn Politik war immer die Kunst des Möglichen und wird es auch immer bleiben. Dies sollte wirklich verstanden und für das Atomzeitalter als besonders wichtig erkannt werden. Aber vielleicht ist die Öffentlichkeit in diesen Belangen nicht ausreichend aufgeklärt und informiert. Und Politiker, die versuchen, sich und ihre Politik der Öffentlichkeit zu verkaufen, sind versucht, solche Sehnsüchte nach übertriebener Männlichkeit (die so sichtbar von Bombern, Flugzeugträgern und anderem militärischen Gerät symbolisiert wird), zu wecken, vor allem, weil das viel einfacher ist und weniger geistige Fähigkeiten und Mut verlangt; der Frage, wie unangemessen solches Verhalten ist, wird dagegen kaum Beachtung geschenkt. Unangemessen vor allem im Hinblick auf die wichtigsten Probleme wie Frieden, Inflation, Arbeitslosigkeit und Energiefragen. Dieses einzigartige Syndrom übersteigerter Männlichkeit kann nicht nur Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 56 in der amerikanischen Politik beobachtet werden, sondern ebenso in anderen Bereichen, bei den Künsten, ja sogar bei der Popmusik. Ich bin kein Experte auf dem Gebiet der Kunst. Aber was die amerikanische Politik anbelangt, so gibt es womöglich eine verständliche Erklärung. Die lange Reihe außenpolitischer Niederlagen hat in den letzten Jahren militante Gefühle geschürt und die Eitelkeit gekränkt. Allzuwenige versuchen den tatsächlichen Ursachen dieser oft verletzenden Niederlagen auf den Grund zu gehen, stattdessen schwingt man lieber wutentbrannt die Fäuste. In der Teheraner Geiselaffäre hat ein Beobachter die USA mit einem Löwen verglichen, der verwundet wurde. In diesem Zustand sind Löwen gewöhnlich am gefährlichsten. Im Dschungel ja. Aber wir sollten eigentlich in einer zivilisierten Welt leben und nicht im Dschungel. Leslie Gelb hat die Ansicht vertreten, es sei höchste Zeit für die USA, ‘ein besseres Gespür für die eigenen Interessen zu entwickeln und sie die Russen im voraus wissen zu lassen’. Er fuhr fort: ‘Das Zuckerbrot war das eine wie das andere Mal erbärmlich und die Peitsche zwangsläufig unangemessen. Wir hatten zu wenig anzubieten und keine ausreichenden Drohmittel.’9 Offen gesagt, bei allem Respekt vor Leslie Gelb, halte ich das Symbol von Zuckerbrot und Peitsche für eine allzu simplifizierende Ebene, um auf ihr die Probleme unserer Zeit zu diskutieren. Woran Leslie Gelb gedacht haben muß, ist, daß die USA zu wenig Zuckerbrot angeboten haben und schon bald nur mehr ziemlich erbärmliche Krümel übrig waren, bis die US-Regierung schließlich in einem Ausbruch biblischen Zorns auch diese wieder wegschnappte. Es gab auch nicht den großen Knüppel, abgesehen vom Krieg, der Selbstmord bedeuten würde. Und die kleineren Knüppel, die die USA hatten, waren sehr schnell aufgebracht, wobei sich im weiteren Verlauf herausstellte, daß sie auch ihren Benutzer treffen können und somit den Vereinigten Staaten nicht weniger schaden als uns (z. B. das Getreideembargo, der Abbruch der Handelsbeziehungen und andere Dinge). In einigen Fällen ist nicht auszumachen, zu welcher Kategorie sie gehören - dem Zuckerbrot oder der Peitsche. Nehmen wir den SALT II-Vertrag. Unabhängig davon, wie diese Frage letztlich geregelt werden wird, scheint die ganze Abmachung nun dem wütenden Wunsch, die Sowjet- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 57 union ‘zu bestrafen’, zum Opfer zu fallen. Es werden jetzt unsere beiden Länder darunter leiden, und zwar gleichermaßen. Gleichzeitig würde ich sagen, daß allein schon die Idee, Zuckerbrot und Peitsche anzuwenden, in unserer Zeit nicht funktionieren kann. Ich glaube nicht, daß irgendein Land bereit ist, eine solche Abhängigkeit von Bestechungen und Drohungen zuzulassen, daß seine Politik von der Hauptstadt eines anderen Landes aus gelenkt wird. Und gewiß haben sowohl die USA wie auch die Sowjetunion es bis jetzt vermieden, in eine solche Situation zu geraten, und werden dies auch weiterhin vermeiden. Mit anderen Worten: Zuckerbrot und Peitsche funktionieren nicht, weil es eine Art der Einflußnahme ist, die in unserer Zeit kein souverändes Land dulden würde. Weil es Ungleichheit voraussetzt. Aber folgt nicht aus dem Gesagten, daß das internationale Geschehen weniger steuerbar und chaotischer wird? Die Gefahren eines solchen Trends - falls es ihn gibt - scheinen offenkundig zu sein. Die Außenpolitik eines Landes von außen zu steuern, wird in der Tat immer weniger durchführbar. Ob das gefährlicher oder weniger gefährlich ist, ist eine andere Frage. Denken Sie an die Zeiten, als die Welt in verschiedene Weltreiche aufgeteilt war, die als straffe Kontrollsysteme wirkten. Damals gab es endlose Kriege. Jeder war blutiger als der vorhergehende. Wir in der Sowjetunion glauben, daß die nationale Souveränität und die Gleichberechtigung der Staaten notwendige Voraussetzungen für den Frieden und die internationale Stabilität sind. Gerade auf diesem Fundament der Souveränität und der Gleichheit kann ein neues internationales System errichtet werden, das die Außenpolitik der einzelnen Staaten überwacht und kontrolliert, ein System, das bestimmte politische Verhaltensweisen ausschließt und andere unterstützt. Die Kontrolle wird jedoch nicht in der Hand eines einzelnen Landes oder eines Militärblocks liegen. Dieses System kann nur durch das Völkerrecht oder kollektive Sicherheitseinrichtungen wie die Vereinten Nationen gewährleistet werden. Andernfalls würden wieder imperiale Zustände herrschen mit all den unvermeidlichen Brandherden. Welche Belohnungen und Strafen kann es in einem solchen System geben? Zu den Belohnungen würde eine Garantie der Sicherheit gehören, die es dem betreffenden Land gestattet, für seine interne Entwicklung mehr Ressourcen bereitzustellen. Was die Strafen anbelangt, so würde sich ein Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 58 Land selbst bestrafen, wenn es sich durch sein Verhalten um die genannten Vorteile bringt und das bestehende Sicherheitssystem verletzt. Andere Formen der Strafe wären die wachsende Kriegsgefahr und die Verurteiling durch die Weltöffentlichkeit. In extremen Fällen könnten bestimmte Arten kollektiver Maßnahmen zur Anwendung kommen, wie jene, die in der UN-Charta enthalten sind, und die Stabilität dieses neuen internationalen Systems würde auch noch durch eine Art weitgehende Unabhängigkeit der Staaten gewährleisttet. Was versteht der Westen und was versteht er nicht im Zusammenhang mit der sowjetischen Außenpolitik? Ihre Frage bringt mich in Versuchung, ein Klagelied über all die Ungerechtigkeiten uns gegenüber anzustimmen. Obwohl es für solche Klagen mehr als genug Gründe gäbe, ziehe ich es dennoch vor, mir eine solche Aufzählung zu versagen. Ich möchte lieber versuchen, die Hauptpunkte darzulegen. Das hauptsächliche Problem sind nicht Mißverständnisse oder ein Mangel an Verständnis, sondern es sind allgemeine Haltungen. Lange Zeit hat sich der Westen geweigert, unsere Existenz überhaupt zu tolerieren, und es gibt Leute, die sich noch heute weigern, sie zu akzeptieren. Einige haben wahre Wahnvorstellungen über uns entwickelt. Diese starrsinnige Weigerung, die Realität anzuerkennen, ist sowohl die Wurzel der Schwierigkeiten als auch die Hauptursache für Mißverständnisse. Man kann beredter sein als Cicero, wenn es gilt, die Argumente von Leuten wie Richard Pipes, Paul Nitze oder von Senator Henry Jackson zu widerlegen, dennoch werden sie sich nicht überzeugen lassen, weil ihre Ansichten von einem gußeisernen Anti-Sowjetismus bestimmt sind. Selbstverständlich stellen solche Leute heute eine Minderheit dar. Aber ihre Haltung ist nur ein Extremfall, wogegen viele, auch wenn sie frei von solchem Extremismus sind, immer noch mit den gleichen politischen Haltungen infiziert sind, die in ihrer logischen Konsequenz die Idee einer friedlichen Koexistenz mit der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern ablehnen. Natürlich gibt es im Westen auch andere führende Politiker, sonst hätte es die Entspannung überhaupt nie gegeben. Diese Leute denken in umfassenden zivilisierten Begriffen, sie beweisen Weitblick. Sie sind vernünftig genug, die äußerste Dringlichkeit der Koexistenz mit der Sowjetunion zu begreifen, ob sie nun unsere Gesellschaft mögen oder nicht. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 59 Können Sie einige beim Namen nennen? De Gaulle und Brandt sind vielleicht zwei der prominentesten Beispiele, was ihren Einfluß auf die praktische Politik anbelangt. Es ist natürlich sehr schwierig, diese beiden Männer in die gleiche Kategorie einzuordnen - unterschiedlich wie sie nun einmal sind - sowohl in ihren politischen Auffassungen, als auch in anderer Hinsicht. Gemeinsam war ihnen aber die Fähigkeit, Vorurteile und Stereotype zu überwinden und die Dinge realistischer zu sehen als viele ihrer Zeitgenossen im Westen. Beide erkannten klar die fundamentalen Interessen ihrer eigenen Länder und versuchten nicht, die der Sowjetunion sowie deren Politik und wirkliche Ziele außer acht zu lassen. Vielleicht waren ihre Erfahrungen aus der Kriegszeit ein Grund dafür, daß sie die Realität begriffen. Brandt war von den Nazis aus Deutschland verjagt worden und nahm am Kampf gegen sie teil. De Gaulle war ebenfalls ein entschlossener Kämpfer für die Befreiung Frankreichs von der Okkupation durch die Nazis. Diese Erfahrungen mögen eine Schlüsselrolle gespielt haben, ist doch unsere Einstellung zum Krieg einer der wichtigsten Punkte, über die im Westen falsche Vorstellungen von der Sowjetunion herrschen. Leute aus dem Westen, besonders Amerikaner, übersehen oftmals, was der Zweite Weltkrieg tatsächlich für die Sowjetbürger bedeutete. Wissen Sie, heutzutage kann man manchmal im Westen Meinungen wie diese hören: Da die Russen im letzten Krieg 20 Millionen Menschen verloren haben, sind sie abgehärtet genug, um bei einem Atomkrieg ohne weiteres noch einmal 20 oder sogar 40 Millionen Tote hinzunehmen. Was steekt hinter solchem Denken? Versuche, zu beweisen, daß die Aussicht auf große Verluste die Sowjetunion nicht davor abschrecken kann, einen Atomkrieg zu beginnen. Genauso gut könnte man von jemand, der bei einem Autounfall ernsthaft verletzt wurde, sagen, er werde in Zukunft besonders leichtsinnig fahren, weil er an schwere Verletzungen gewöhnt sei. Der Zweite Weltkrieg hat uns einen glorreichen Sieg beschert. Aber er hat die Sowjetbürger auch gelehrt, den Frieden zu schätzen - mehr noch als je zuvor. Frieden ist unser oberstes Ziel. Haben Sie selbst am Zweiten Weltkrieg teilgenommen? Ja. Ich war 18, als der Krieg begann, und nach ein paar Monaten Ausbildung an einer Militärschule wurde ich als Offizier mit einer der ersten Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 60 Einheiten unserer Raketenartillerie an die Front geschickt. Ich weiß, was der Krieg bedeutet. Aber die nachfolgende Generation, wie z. B. mein Sohn, die den Krieg nur aus Büchern und Filmen kennt, fühlt die gleiche tiefe Verpflichtung zum Frieden. Diese Verpflichtung ist ein sehr starker kultureller Zug in unserem Land. Das ist auch der Grund, warum die Politik des Friedens und der Entspannung so einmütige und breite Unterstützung bei unserem Volk findet, warum sie so tiefe geschichtliche Wurzeln hat. Verkörpert Leonid Breschnew diese Friedenspolitik? Generalsekretär Breschnew hat großen persönlichen Anteil an dieser Politik. Zugleich aber ist es die Politik der ganzen Partei. Es ist das Mandat verschiedener vom ZK der KPdSU durchgeführter Parteitage. Aber ich möchte noch etwas Wichtiges anfügen. Daß wir uns dem Frieden verpflichtet haben, heißt nicht, daß wir uns irgendwelchem Druck beugen werden. Unsere Menschen hassen den Krieg, aber sie sind stolz und patriotisch gesonnen; wenn sie fühlen, daß jemand unsere Sicherheit bedroht, so sind sie bereit, sich dieser Bedrohung zu widersetzen. Ich halte diese Mahnung für sehr wichtig, weil es den Anschein hat, als würde derzeit in den USA wieder in wachsendem Maße die Illusion gehegt, man könne uns in die Knie zwingen, indem man uns in ein neues Wettrüsten verstrickt. Wir mögen ein geringeres Bruttosozialprodukt als die USA haben, aber wir können größere Entbehrungen ertragen. Eine weitere Tatsache wird oft nicht richtig verstanden. Ich meine unsere Empfindlichkeit gegenüber Einmischung von außen in unsere inneren Angelegenheiten. Während unserer ganzen Geschichte seit 1917 waren wir ständig Versuchen von außen ausgesetzt, unsere Entwicklung in der einen oder anderen Weise zu behindern und zu vereiteln. Um uns davon abzuhalten, den 1917 eingeschlagenen Weg fortzusetzen, wurde ein umfangreiches Arsenal an Maßnahmen eingesetzt, angefangen bei bewaffneter Intervention bis hin zu raffinierter Propaganda. Das hat uns ungleich empfindlicher werden lassen für jedwede Einmischung in unsere Angelegenheiten als jene, die nie eine wirkliche feindliche Umwelt zu spüren bekamen. Nicht, daß wir Angst haben, nein. Wir sind stark und zuversichtlich genug. Aber wir neigen leichter dazu, hinter jeglicher Einmischung Feindseligkeit und subversive Ziele zu sehen. Sprechen Sie hierbei von der Haltung der Führung oder von der breiten öffentlichen Meinung in der UdSSR? Von beiden. Ihre Frage bringt uns übrigens zu einem dritten Bereich, in Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 61 dem die sowjetische Politik mißverstanden wird: der Rolle der öffentlichen Meinung in der UdSSR. Im Westen ist die gängige Annahme die, daß die öffentliche Meinung in diesem Land nichts zählt, bzw., daß die Haltung unserer Führung notwendigerweise im Gegensatz dazu steht, was der gemeine Mann denkt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die öffentliche Meinung spielt bei uns eine wichtige Rolle bei der Festlegung der sowjetischen Politik, wenngleich diese Einflußnahme auf ihre Weise geschieht und sich vielleicht von dem, was wir in den USA beobachten, unterscheidet. Ganz gewiß fehlt ihr der amerikanische Hang zur Zurschaustellung, doch sie funktioniert bestens. Sehen Sie, manche Amerikaner scheinen davon auszugehen, daß einerlei, was sie auch tun, die sowjetische Öffentlichkeit - ware sie nicht der Indoktrination von offizieller Seite ausgesetzt - ihnen allzeit zugetan sei. Das nehmen sie übrigens auch von allen anderen Ländern an. Sie scheinen zu glauben, sie könnten sich heute wie Gangster benehmen, und dennoch sei alles wieder in Ordnung und alles Schlechte vergessen, wenn sie morgen ein paar nette Dinge sagen und ein paar Türen öffnen. Das ist eine ungemein chauvinistische Haltung. Wir gehen nicht nur davon aus, daß die öffentliche Meinung von unserer Außenpolitik überzeugt sein muß, wenn diese Substanz haben soll, sondern sie bringt auch auf vielfältige Weise ihre Vorstellungen und Empfindungen zu wichtigen politischen Themen den Führern in Partei und Regierung gegenüber zum Ausdruck. Die USA erweckten in jüngster Zeit viel Mißtrauen in unserer Öffentlichkeit. Einige Handlungen der Amerikaner im Verlauf des Jahres 1980 waren wahrlich bösartig, z. B. das miese Spiel, das man mit Flugzeugen der Aeroflot auf dem Kennedy-Flughafen getrieben hat, wobei das Leben vieler unserer Bürger in Gefahr war. Oder, als weiteres Beispiel, die Ermutigung der Terroristen, die unsere UN-Vertretung attackierten. Oder der Bruch von Handelsvereinbarungen unter dem Vorwand, sie könnten für unsere Wirtschaft von Nutzen sein. Eines der immer wiederkehrenden Themen im Verlauf unseres Gesprächs ist Ihr Appell an die Amerikaner, die Sowjets so zu sehen, wie sie sind, ihre Vorstellung von der Sowjetunion der Realität anzupassen. Ja, ich glaube, daß im Bereich der internationalen Beziehungen die Vermischung von Phantasievorstellungen und Wirklichkeit immer unnötige Schwierigkeiten geschaffen hat. Damit sind wir wieder bei der Egozentrik der Amerikaner. Die Vereinigten Staaten haben in den Augen vieler Amerikaner das Monopol auf das Gute, sollte es aber etwas Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 62 Schlechtes in Amerika geben, so nehmen sie an, das gleiche Übel existiere überall. Haben die USA z. B. Schwierigkeiten mit ihrem militärisch-industriellen Machtund Interessenkartell, so nimmt man automatisch an, in der Sowjetunion gäbe es ein ähnliches Problem. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß unser Wirtschaftssystem nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und daß das Maß an Freiheit, das dieses Kartell als spezielle Interessengruppe in den USA genießt, ein einzigartiges Charakteristikum der amerikanischen Gesellschaft und ihres politischen Systems ist. Die gängige Art imd Weise, in der der Westen auf bei uns bestehende Probleme eingeht, ist ein weiteres Beispiel für Mißverständnisse. Dabei wird das Leben in der Sowjetunion unentwegt als ‘ärmlich’, ‘schäbig’, ‘rückständig’ usw. diffamiert. Nun, der sowjetische Lebensstandard ist ja auch offenkundig niedriger als in den meisten kapitalistischen Ländern des Westens. Wir wissen selbst, daß wir bestimmte Gegenstände, an die sich die wohlhabenden Schichten im Westen schon gewöhnt haben, immer noch nicht im Überfluß haben. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Es macht mich aber wütend, wenn ich höre, wie flott und herablassend manche Amerikaner über die Russen daherreden. Ich meine, unser Volk hat Anspruch auf Respekt angesichts dessen, was es trotz all der unermeßlichen Schwierigkeiten erreicht hat. Im übrigen steigt unser Lebensstandard auch an. Im Westen beginnt sich eine harte Linie gegenüber der UdSSR abzuzeichnen, da nur eine geschlossene Haltung der westlichen Verbündeten die Sowjets lehren könnte, daß sie Afghanistan nicht wiederholen sollten - z. B. im Falle Polens. Meiner Meinung nach ist praktisch jedes Wort Ihrer Frage eine Verdrehung. Ich sehe definitive Versuche, eine geschlossene antisowjetische Front im Westen aufzubauen und zu stärken, aber ich bezweifle nicht nur ernsthaft die Wirklichkeitsnähe solcher Pläne, sondern auch die Motive, die Sie dahinter sehen. Diese Motive sind offensiv, nicht defensiv. Ich habe bereits auf jene Tatsachen hingewiesen, die meiner Meinung nach beweisen, daß die intensivierten antisowjetischen Tendenzen in der Politik der USA und einiger ihrer Verbündeten den Ereignissen in Afghanistan vorangingen und nicht durch diese verursacht sein konnten. Was die Ereignisse in Polen anbelangt, so rechtfertigen sie in keiner Weise Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 63 Versuche, eine geschlossene Front der westlichen Verbündeten zu schaffen und auszubauen. Solche Versuche werden unvermeidlich die Spannungen und die Gefahr eines Konflikts erhöhen, was keinem Land - weder im Westen noch im Osten, auch Polen nicht - nutzen würde. Gleichzeitig möchte ich betonen, daß die Sowjetunion, selbst wenn sie mit feindseligen Maßnahmen der USA und der Nato konfrontiert wird, alles nur mögliche unternimmt, um Schritte zu vermeiden, die die Spannungen erhöhen und der Entspannung schaden würden. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum man von den Sowjets oft den Eindruck hat, ihnen sei mehr an Entspannung gelegen als dem Westen. Wissen Sie, diese Auffassung ist zweischneidig. Einerseits betrachte ich es als Kompliment, wenn Leute sagen, daß wir in höchstem Maße an Frieden und Entspannung interessiert sind. Ich lasse mich lieber einen Mann des Friedens nennen als einen Kriegstreiber. Andererseits wird dieser Auffassung natürlich nicht Vorschub geleistet, um zu beweisen, wie friedliebend die Sowjets sind. Dahinter steckt eine oft finstere und zynische Absicht: Wenn die Russen auf die Entspannung stärker angewiesen sind als der Westen, dann kann der Westen den Preis dafür erhöhen. Das nennt man dann hartnäckig feilschen, harte Geschäfte nach amerikanischem Muster machen, usw. Aber wir sprechen nicht vom Verkauf vorzüglicher Medizin oder von Erdnüssen, wenn wir die Grundlagen der Außenpolitik erörtern. Wir sprechen vom Überleben des Menschen auf diesem Planeten. Händlermentalität ist hier fehl am Platz. Sie glauben also, daß die sowjetische Einschätzung der USA eher zutrifft als die amerikanische Einschätzung der UdSSR? Ich würde eher sagen: weniger falsch. Es ist immer schwer, ein fremdes Land zu verstehen. Die richtige Einschätzung der jeweiligen Gegenseite bleibt ein ungeheuer wichtiges Problem für die sowjetisch-amerikanische Beziehungen, weil sie unmittelbar im Zusammenhang steht mit dem gegenseitigen Verständnis und damit auch dem gegenseitigem Vertrauen. Zutreffende Einschätzungen sind ein sehr wichtiger zusätzlicher Schutz vor einem endgültigen Zusammenbruch der beziehungen, vor einem Atomkrieg. Ich übertreibe nicht, denn solch ein Zusammenbruch kann keine vernunftgemäße Wahl sein, sondern kann nur auf groben Fehlern bei der Beurteilung bestimmter Faktoren, z. B. dem Verhalten, den Absichten und den wahren Zielen der anderen Seite, beruhen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 64 Ist Ihnen die neue Untersuchung der International Communication Agency über die sowjetische Einschätzung der USA bekannt? Ja, ich habe den Untersuchungsbericht gesehen. Er ist nicht allzu schmeichelhaft für die sowjetische Seite. Er ist sehr unterschiedlich. Einige Teile, die unsere Einschätzung der amerikanischen Außenpolitik behandeln, sind ziemlich zutreffend. Viele andere, die das Verständnis der amerikanischen Gesellschaft betreffen, sind entweder naiv oder basieren auf Verzerrungen. Nehmen wir als Beispiel die Behauptung, unsere US-Experten hätten nie von Dingen wie Arbeitslosengeld oder sozialer Sicherheit gehört, oder sie nähmen an, verborgene Planungsmechnismen, die angeblich ein ‘Staatsgeheimnis’ seien, kontrollierten die amerikanische Wirtschaft. Sogar unsere Schüler der Oberstufe wissen weit besser Bescheid, als es hier unterstellt wird. Ich war wirklich überrascht über solche Schlußfolgerungen, die sowohl denen zugeschrieben werden müssen, die den Bericht verfaßten, als auch den Quellen, auf die sie sich verlassen haben. Ich möchte auch der Schlußfolgerung des Berichts entschieden widersprechen, daß in den letzten Jahren ‘ein Rückgang der Kenntnisse’ über die USA festzustellen sei, obwohl ich zustimmen würde, daß es aufgrund einer Reihe von Ursachen in letzter Zeit für jedermann, vermutlich auch für die Amerikaner selbst, noch schwieriger geworden ist, die USA zu verstehen. Gab es während der letzten Jahre nicht auch Fortschritte im gegenseitigen Verstehen? Ich glaube, wir haben auf diesem Gebiet wesentliche Fortschritte gemacht. Die Entspannung hat natürlich eine Hauptrolle gespielt, da sie zur Entwicklung politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kontakte führte, sowie zu kulturellen Verbindungen, verstärktem Tourismus und Kontakten von Mensch zu Mensch. Das aber waren nur die allerersten Schritte. Das Problem ist nicht behoben, es könnte vielmehr als Folge der wachsenden Spannungen zwischen unseren Ländern noch an Bedeutung gewinnen. Wenn Einschätzungen so großes Gewicht zukommt, was kann man tun, damit sie zutreffender werden? Darauf gibt es keine leichten Antworten. Ich will es folgendermaßen ausdrücken: Wir müssen das Gleiche tun, was wir vorher auch getan ha- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 65 ben, aber wir müssen mehr tun und es konsequenter tun. Wir sollten auf die Schaffung normaler politischer Zustände hinarbeiten, die eher eine rationale als eine emotionale Einschätzung von Ereignissen erleichtert. Wir sollten uns darauf konzentrieren, hart an der Ausmerzung von Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen zu arbeiten. Wir sollten eine objektive Einstellung zum anderen Land (oder besser gesagt - zu anderen Ländern, da das nicht nur für die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten gilt) fördern, ebenso wie ein dauerhaftes Interesse an diesem Land, seinen Menschen, seiner Kultur und seinem politischen Leben erwekken. Und selbstverständlich sollten wir den Aufbau von Kontakten und die Entwicklung eines ständigen Dialogs auf verschiedenen Ebenen ermutigen. Mit anderen Worten, wir müssen mit dem fortfahren, was wir begonnen haben, als wir den Weg der Entspannung einschlugen. Und wir müssen die Hindernisse, die einem Fortschritt bei diesen Bemühungen im Wege stehen, überwinden. Eindnoten: Prawda 13.1.1980 Rede vom 19. Februar 1980 vor Mitgliedern der American Legion in Washington D.C. Henry A. Kissinger, Memoiren, 1968-1973, München 1979, S. 1332ff. Time, 4. Februar 1980 New York Times, 10. Oktober 1980 Moscow News, 21. Januar 1979 ‘Die Gewalt ist wirksam gegenüber denjenigen, die ihre Herrschaft wieder aufrichten wollen. Damit ist aber auch die Bedeutung der Gewalt erschöpft, und weiter kommt es schon auf den Einfluß und auf das Beispiel an. Man muß die Bedeutung des Kommunismus in der Praxis, durch das Beispiel, zeigen.’ (Zit. nach: W.I. Lenin, Werke, Dietz Verlag, Berlin, 1972, Band 31, S. 452.) 8 San Francisco Chronicle, 2. Dezember 1979 9 The New York Times Magazine, 10. Februar 1980 1 2 3 4 5 6 7 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 66 II) Die Geschichte der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, und was sie uns lehrt, wenn wir nur wollen Lassen Sie uns die Diskussion darüber fortsetzen, welche Möglichkeiten der Koexistenz es für Länder mit grundverschiedenen Gesellschaftssystemen gibt. Wie ich schon sagte, glaube ich nicht, daß die Unterschiede zwischen unseren beiden Gesellschaften unüberwindliche Schwierigkeiten für die Unterhaltung normaler und fruchtbarer Beziehungen darstellen. Erinnern wir uns der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen von 1917. Das alte Rußland und die USA waren, was das gesellschaftliche und politische System anbelangt, sehr verschieden voneinander. Nehmen Sie das späte 18. Jahrhundert: Auf der einen Seite finden wir das feudalistische, zaristische Rußland, auf der anderen Seite die junge amerikanische Republik, die aus einer der ersten bürgerlichen demokratischen Revolutionen in der Welt entstanden war. Und wer unterhielt wohl die besten Beziehungen zu diesen neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika? Es war Rußland. Diese Beziehungen beruhten auf richtig verstandenem gegenseitigem Interesse. Später, während des Bürgerkriegs in den USA, schickte der Zar sogar die Flotte, um Rußlands Unterstützung für Präsident Abraham Lincoln zu demonstrieren. Russische Kriegsschiffe zeigten sich in New York und San Francisco. Offenkundig war es nicht Mitgefühl mit dem traurigen Los der amerikanischen Sklaven, das den Zaren dazu bewog. Er hatte seine eigenen außenpolitischen Ziele im Auge, die ihn veranlaßten, die USA zu unterstützen. Die Tatsache als solche bleibt davon aber unberührt. Leider kann ich nicht behaupten, die Amerikaner hätten diese Unterstützung erwidert, als wir im Oktober 1917 unsere Revolution hatten. Wie würde Sie die amerikanische Haltung zur Oktoberrevolution beschreiben? Zu jener Zeit waren die meisten Amerikaner erheblich provinzieller, als sie es heute sind, und sie wußten überhaupt nicht, was bei uns geschehen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 67 war bzw. hatten nur sehr vage Vorstellungen davon. Unter den politisch bewußten Intellektuellen und Arbeitern herrschte großes Interesse und Sympathie. Der amerikanische Journalist John Reed hat diese Haltung in seinem Buch über die Revolution mit dem Titel ‘Zehn Tage, die die Welt erschütterten’ dargestellt. Dieser Augenzeugenbericht ist noch immer eines der besten Bücher über jene historischen Ereignisse. Was die Regierung der Vereinigten Staaten und die Mehrheit der politischen Elite in Amerika, einschließlich der Medien betraf, so war deren Haltung ausgesprochen feindselig. Ganz zu schweigen von der amerikanischen Rechten. Selbst von den aufgeklärten Teilen der politischen Führung der Vereinigten Staaten wurde unsere, aus der Revolution entstandene Gesellschaft für ein uneheliches Kind gehalten, das dazu verdammt war, für immer wie ein Bastard der Geschichte behandelt zu werden. Somit war der Grand gelegt für eine langfristige Haltung Amerikas gegenüber dem Sozialismus und Sowjetrußland. Sie meinen, diese Haltung herrscht noch immer vor? Ja, diese traditionelle Einstellung spielt in Amerikas Verhalten uns gegenüber immer noch eine Rolle. Ironischerweise war es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die schon sehr früh und mit aller Entschiedenheit den Grundsatz vertrat, jedes Land habe ein angestammtes Recht zur Revolution, das Recht, sich zu erheben und mit Waffen die erforderlichen Veränderungen in seinem gesellschaftlichen und politischen System durchzuführen. Doch 1917 hat man bei der Formulierung der Antwort der USA auf die russische Revolution nicht auf die Weisheit der Gründerväter zurückgegriffen. Nun hätte es uns allerdings einerlei sein können, was die amerikanische Regierung von unserer Revolution hielt, hätte sich ihre Feindseligkeit nicht fast augenblicklich in entsprechenden Handlungen ausgedrückt. Die Vereinigten Staaten spielten eine aktive Rolle innerhalb der Koalition der Länder, die versuchten, unsere Revolution abzuwürgen. Sie beteiligten sich an der Invasion der nördlichen und östlichen Teile unseres Landes. Bedeutender noch - sie leisteten während des Bürgerkriegs unseren Feinden beträchtliche Hilfe, einschließlich der Gewährung von Darlehen und der Lieferung von Waffen. Sie unterstützten auch ganz offen konterrevolutionäre Führer wie Admiral Kolchak, Ataman Semjonow und andere. Ungefähr vier Milliarden Dollar gaben die Vereinigten Staaten für den Versuch aus, die neue russische Regierung aus dem Sattel zu heben. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 68 Einige Sowjetologen behaupten jedoch, daß diese neue Regierung westliche Feindseligkeiten geradezu herausforderte, indem sie mit der Weltrevolution drohte und viele Beziehungen Rußlands mit der Außenwelt abbrach. Was die Weltrevolution anbelangt, so habe ich bereits Lenins Ansichten zu diesem Punkt genannt. Was dagegen die Veränderung der russischen Auslandsbeziehungen infolge der Revolution betrifft, so muß man bedenken, daß das zaristische Rußland, obwohl selbst eine Kolonialmacht, zugleich auch Halbkolonie des Westens war. Während des Ersten Weltkriegs opferte die Entente Millionen von Russen der Rivalität mit dem deutschen Kaiser und seinen Verbündeten als Kanonenfutter. Das russische Volk hatte das untrügliche Gefühl, mißbraucht und ausgebeutet zu werden und für eine Sache zu sterben, die gänzlich ungerecht war und seinen vitalen Bedürfnissen und Interessen widersprach. Dieses Gefühl war einer der wichtigen Faktoren, die die Revolution von 1917 auslösten. Aus diesem Grunde war eine der ersten Maßnahmen der Regierung Lenins das Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg und die Abschaffung der halbkolonialen Abhängigkeit von Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern. Das bedeutet nicht, daß wir uns von der Welt abwandten oder uns weigerten, mit ihr in Beziehung zu treten, bevor sie nicht sozialistisch geworden wäre. Wir wollten mit der Welt - so wie sie war - Beziehungen unterhalten. Aber wir wollten diese Beziehungen auf der Ebene der Gleichberechtigung, um uns die Souveränität über unsere eigene Wirtschaft und unsere Ressourcen zu sichern und um eine Außenpolitik auf der Basis unserer nationalen Interessen betreiben zu können, anstatt einer Außenpolitik, die sich an den Kreditzinsen ausländischer Banken orientierte. Mit anderen Worten, wir strebten nach einer Demokratisierung unserer Beziehungen mit dem Westen. Wir änderten auch unsere Beziehungen mit den Ländern Asiens. Unter anderem verzichteten wir auf die kolonialen Ansprüche, die die zaristische Regierung in Asien erhoben hatte. Hat die Revolutionsregierung Rußlands ihren Wunsch, mit anderen Ländern Beziehungen aufzunehmen, denn klar zum Ausdruck gebracht? Gewiß. Gleich ganz am Anfang der Revolution - um genau zu sein, am zweiten Tag - richteten wir einen Appell an alle Länder, die USA eingeschlossen, den Krieg zu beenden und Friedensverhandlungen aufzunehmen. Bald darauf boten wir den Vereinigten Staaten die Aufnahme normaler Beziehungen an. Diesem Ansuchen folgte im Mai 1918 ein Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 69 Vorschlag zur Aufnahme von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen auf der Basis gegenseitigen Nutzens. Lenin legte in einem Brief, den er durch den Vorsitzenden der amerikanischen Rot-Kreuz-Mission in Rußland, Colonel Robbins, überbringen ließ, seinen Plan für die Vergabe von Handelskonzessionen an die Vereinigten Staaten sowie für die Aufnahme weiterer Handelsbeziehungen dar. Eine Antwort blieb jedoch aus. Unser Handelsbeauftragter für die Vereinigten Staaten, L. Martens, begann mit amerikanischen Geschäftsleuten Verhandlungen über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Ende des Jahres 1919 hatte er bereits zu ca. 1000 Firmen in 32 amerikanischen Bundesstaaten Kontakte geknüpft. Martens hatte den Eindruck, ein erheblicher Teil der amerikanischen Wirtschaftskreise wünsche den Handel mit Sowjetrußland. Eine Reihe von Verträgen wurde zwar unterzeichnet, aber die US-Regierung schritt dagegen ein, und Martens wurde als ‘unerwünschter Ausländer’ aus Amerika ausgewiesen. War das zu der Zeit, als Armand Hammer, der Vorstandsvorsitzende der Occidental Petroleum Company, nach Rußland kam? Ja, er war einer der ersten Amerikaner, die Geschäftsbeziehungen zu dem neuen Rußland aufnahmen. Er kam aus eigenem Entschluß, und wir hießen ihn willkommen. Später sprachen wir eine allgemeine Einladung an die amerikanischen Geschäftsleute aus, zu uns zu kommen und Wirtschaftsbeziehungen mit uns aufzunehmen. Schätzungen besagten, daß sich der Handel mit ausländischen Firmen auf ein Volumen von ca. drei Milliarden Dollar hätte belaufen können. Das ist mehr als das jährliche Handelsvolumen zwischen der UdSSR und den USA während der letzten Jahre. Ja, selbst wenn man außer acht läßt, daß der Dollar nur mehr einen Bruchteil dessen wert ist, was er damals wert war. Das Potential für unseren Handel mit dem Westen war groß. Von den ersten Tagen unserer Revolution an war die Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen zu allen Ländern, einschließlich den USA, unsere erklärte Politik. Lenin hat sogar einmal betont: ‘Besonders mit den Vereinigten Staaten.’ Es gab verschiedene Gründe, warum er die USA mit besonderem Nachdruck nannte. Die Größenordnung und Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie war ein wichtiger Gesichtspunkt. Daneben waren in jenen Tagen unsere Beziehungen zu Europa angespannter als die zu den Vereinigten Staaten. Ich glaube, daß Lenin dabei auch an die politische Be- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 70 deutung gutentwickelter sowjetisch-amerikanischer Wirtschaftsbeziehungen dachte, da er von ihnen erwartete, daß sie ein wichtiger Faktor für Stabilität und Frieden in der Welt werden könnten. Welchen weiteren amerikanischen Geschäftsleuten wurden zu diesem frühen Zeitpunkt von der sowjetischen Regierung Konzessionen erteilt? Das war eine ganze Reihe, einschließlich der Harrimans. Hat der ehemalige Gouverneur W. Averell Harriman finanzielle Interessen in der Sowjetunion gehabt? Eine im Familienbesitz befindliche Firma besaß umfangreiche Schürfrechte für Mangan. Dennoch blieb die Haltung der US-Regierung gegenüber Moskau unverändert feindselig. Ja, in der Tat. Die Vereinigten Staaten beteiligten sich an allen Koalitionen, die versuchten, Winston Churchills Rat zu befolgen, den jungen russischen Kommunismus in seiner Wiege zu ersticken. Wenn die militärischen Interventionen nicht zum erhofften Ziel führten, griff der Westen zu einer Politik des Wirtschaftsboykotts und der diplomatischen Nichtanerkennung. Das war lediglich eine andere, wenn auch passivere Form der alten Haltung, nämlich den Sowjetstaat nicht zu akzeptieren. Die Grundeinstellung blieb die gleiche: Es kann keine Gemeinsamkeiten zwischen dem Westen und der Sowjetunion geben, denn deren bloße Existenz, so behauptete damals der US-Außenminister Colby, bedinge ‘den Sturz der Regierung in allen anderen großen zivilisierten Ländern’. Außerdem, so schrieb er, gäbe es keine übereinstimmenden Interessen, die die Errichtung normaler Beziehungen zu solch einem Gegner rechtfertigen könnten. Haben denn die Sowjetführer die Vereinigten Staaten nicht ebenso als Gegner betrachtet? Gewiß hätten wir von der amerikanischen Feindseligkeit und Aggressivität gegen uns viel mehr Aufhebens machen können, aber die Sowjetregierung wurde nicht müde in ihren Anstrengungen, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu normalisieren. Lassen Sie mich unseren damaligen Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, Georgij Tschitscherin, zitieren, der auf die Feststellung Außenminister Colbys ant- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 71 wortete: ‘Mr. Colby irrt sich gewaltig, wenn er glaubt, daß unsere Länder nur normale Beziehungen haben können, wenn ein kapitalistisches System in Rußland herrscht. Wir vertreten im Gegenteil die Ansicht, daß es trotz der Tatsache, daß die gesellschaftlichen und politischen Systeme Rußlands und Nordamerikas einander genau entgegengesetzt sind, es im Interesse beider liegt, auch jetzt schon zwischen ihnen untadelige, gesetzmäßige, friedliche und freundschaftliche Beziehungen herzustellen, wie sie auch für die Entwicklung des Handels zwischen beiden Ländern und für die Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse erforderlich sind.’1 Immerhin sollte es noch eine Reihe von Jahren dauern, bis politische Führer in Amerika zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangten. Das alles sah kaum wie der enthusiastische Anfang einer neuen Beziehung aus. Ich habe von der offiziellen Politik gesprochen, die aber war nur Teil eines größeren Ganzen. Wir waren uns dessen bewußt, daß viele Amerikaner davon abweichende Auffassungen hatten. Es gab viele Beispiele des guten Willens Amerikas, Beispiele einer realistischen Einstellung und echter Anstrengungen, um zu normalen Beziehungen mit uns zu gelangen. Einige dieser Bemühungen waren ausgesprochen großmütig. Wir haben vom amerikanischen Volk sogar materielle Hilfe erhalten, und wir haben das nicht vergessen. In den frühen zwanziger Jahren, in einer Zeit des Hungers und großer wirtschaftlicher Not in unserem Land, kamen ungefähr 10 000 Amerikaner durch die ‘Society for Technical Aid to Soviet Russia’ in unser Land. Sie kamen, um beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen. Sie halfen, Bauernhöfe und andere Betriebe wiederaufzubauen; amerikanische und sowjetische Arbeiter und Spezialisten arbeiteten Seite an Seite. Erhebliche Geldmittel wurden für diesen Zweck in den Vereinigten Staaten aufgebracht. Wurde diesen Amerikanern ebenfalls mit dem Entzug ihrer Pässe gedroht? Tatsächlich nahmen sie angesichts der antikommunistischen Hysterie, die in den USA zu jener Zeit herrschte, große persönliche Risiken auf sich. Aber die Gefühle der Solidarität und das große Interesse an dem einzigartigen Experiment der russischen Revolution waren stärker. Zugleich fanden es immer mehr amerikanische Geschäftsleute profitbringend, mit der Sowjetunion Handel zu treiben. Wir haben ihnen Verträge zu guten Bedingungen angeboten, und sie kamen daraufhin. Insgesamt waren es fast 2000 amerikanische Geschäftsleute, die damals mit Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 72 uns Handel trieben. Zu Beginn der dreißiger Jahre hatten ungefähr 40 amerikanische Gesellschaften hier ihren Betrieb aufgenommen, darunter Giganten wie die Ford Motor Co. und General Electric. Einige tausend amerikanische Arbeiter und Spezialisten arbeiteten hier. Zu jenen, die mithalfen, unsere erste große Automobilfabrik in Gorki zu errichten, gehörten auch Walter und Victor Reuther, die später in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung bekannt wurden. Einige Amerikaner erhielten hohe Staatsauszeichnungen, wie H. Cooper, der uns half, unser erstes großes Wasserkraftwerk zu errichten. 1931 gingen nicht weniger als 40 Prozent des gesamten amerikanischen Exports an Ausrüstungsgütern für die Industrie in die Sowjetunion. Im gleichen Jahr suchten wir ungefähr 4000 Spezialisten, die zu uns kommen und bei uns arbeiten sollten, worauf wir über 100 000 Bewerbungen erhielten. Es war wirklich ein strahlendes Kapitel in der Geschichte unserer Zusammenarbeit. Gesunder Menschenverstand und übereinstimmende wirtschaftliche Interessen erwiesen sich als stärker als alle Bestrebungen, sich in schweren Zeiten gegenseitig größtmöglichen Schaden zuzufügen. Letzten Endes halfen wir, die Schwierigkeiten während der Phase der Wirtschaftskrise in den USA zu lindern, während amerikanische Geschäftsleute und Spezialisten zum Aufbau unserer Wirtschaft beitrugen. Es gibt heute Millionen Arbeitslose in den Vereinigten Staaten. Warum suchen Sie nicht mit einer Stellenanzeige in den New York Times Arbeitskräfte für Sibirien? Ich kann mir vorstellen, welch einen Aufruhr ein solcher Schritt auslösen würde, angesichts dessen, was man im Westen mit ‘Sibirien’ verbindet. Aber allen Ernstes, unsere Vorschläge gehen sogar noch weiter. Wir möchten alle Hindernisse ausräumen, die einer angemessenen Entwicklung des Handels und der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern im Wege stehen. Allein schon dadurch würden Tausende von neuen Arbeitsplätzen in den USA geschaffen werden. Im Fall einer wirklichen Entspannung wäre eine Wirtschaft möglich, die nicht auf Rüstungsproduktion ausgerichtet ist, wodurch der Beschäftigungsgrad ebenfalls höher wäre als unter den derzeitigen Gegebenheiten. In ihrer Gesamtheit gesehen, würden die wirtschaftlichen Folgen der Entspannung die allgemeine Beschäftigungsituation in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern erheblich verbessern. Lassen Sie mich auf den geschichtlichen Ablauf zurückkommen. Der Auftakt in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu einer zukünftigen Entspannung war vielversprechend, allein, er währte nicht sehr lan- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 73 ge. Das Jahr 1931 brachte eine Erschwernis der Handelsbeziehungen. In den USA wurde eine Kampagne für ‘Religionsfreiheit in der Sowjetunion’ gestartet. Sie glich dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Ein weiterer Feldzug galt der ‘Bedrohung durch sowjetische Dumpingpreise’; ihr folgte die Einführung gegen uns gerichteter, diskriminierender Handelsbestimmungen. Der amerikanisch-sowjetische Handel ging daraufhin drastisch zurück. Aber schließlich erfolgte 1933 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das war ein Wendepunkt. Ja, in zweierlei Hinsicht wenigstens. Zum ersten wurde die Grundlage für zukünftige, normale Beziehungen geschaffen, zum zweiten bedeutete das einen neuen Aufbruch, was die Haltung des Weißen Hauses anbelangte, das damit nach 16 Jahren der Nichtanerkennung endlich aufhörte, so zu tun, als gäbe es die Sowjetunion überhaupt nicht. Die Amerikaner litten, was China betrifft, von 1949 bis 1972 unter der gleichen geistigen Blockierung. Mag sein, daß man diesen Vergleich anstellen kann - ganz so einfach, wie es vielleicht scheint, ist es jedoch nicht. Aber darüber können wir noch später sprechen. Vorerst sollten wir zum Jahr 1933 zurückkehren. Als die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR aufgenommen wurden, gab es noch einen interessanten Aspekt, der nahezu in Vergessenheit geraten ist, wenn er nicht gar von der amerikanischen Seite heute völlig ignoriert wird. Es gab nämlich einen Briefwechsel zwischen Präsident Franklin D. Roosevelt und unseren Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, Maxim Maximowitsch Litwinow. Auf Drängen Washingtons gaben beide Seiten das feierliche Versprechen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen einzumischen. Darüber hinaus versprachen beide Seiten, alle von der jeweiligen Regierung kontrollierten oder abhängigen Organisationen von offenen oder verdeckten Handlungen abzuhalten, durch die dem inneren Frieden, der Wohlfahrt und der Sicherheit des anderen Landes Schaden zugefügt würde. Zu diesen verbotenen Praktiken gehörten Agitation und Propaganda, die auf eine gewaltsame Änderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung im jeweils anderen Land abzielten. Es ist interessant, sich dessen zu erinnern, weil Washington heutzutage subversive Tätigkeiten gegen uns für ganz normal hält, so z. B. die Tätig- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 74 keit von Radio Liberty und Radio Free Europe. Die USA unternehmen eine ganze Reihe verdeckter oder halbverdeckter, gegen die Sowjetunion gerichteter Operationen und verletzen damit jene zweiseitige Übereinkunft, die die gegenseitige Anerkennung betrifft. Wollen Sie damit sagen, daß die Sowjetunion nichts derartiges gegen die USA unternimmt? In voller Übereinstimmung mit den Verfügungen des Dokuments von 1933, das ich erwähnte, unterstützen wir keinerlei Tätigkeiten, seien sie ‘offen oder verdeckt, die auf irgendeine Weise dazu beitragen, den inneren Frieden, den Besitzstand, die Ordnung oder die Sicherheit’ der Vereinigten Staaten zu gefährden. Noch betreiben wir ‘Agitation oder Propaganda, die die Verletzung der territorialen Integrität der Vereinigten Staaten, ihrer Hoheitsgebiete oder Besitzungen zum Ziel hat, oder die Herbeiführung einer gewaltsamen Veränderung der politischen Ordnung der gesamten Vereinigten Staaten bzw. irgendeines Teils...’2 Zitieren Sie aus dem Briefwechsel zwischen Roosevelt und Litwinow? Ja. Meiner Meinung nach war der Hauptgrund für Roosevelt, die Sowjetunion anzuerkennen, seine Einschätzung der amerikanischen Interessen. Angesichts der wachsenden japanischen Aggressivität in Asien und des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland sah er richtig voraus, daß normale Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern für beide Seiten später einmal von großem Interesse sein könnten. Diese Ansicht hat sich während des Zweiten Weltkriegs bestätigt. Der Zweite Weltkrieg begünstigte engere Beziehungen. Ohne Zweifel. Der Krieg selbst war ein wirklich bemerkenswerter Zeitabschnitt in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Unsere beiden Völker kämpften Seite an Seite als Verbündete. Dies waren Jahre einer engen Zuammenarbeit unserer politischen Führer und unserer Militärs, Jahre eines unvorhergesehenen Auflebens freundlicher, ja sogar brüderlicher Gefühle zwischen unseren Völkern. Ich glaube, daß all das einen tiefen Eindruck im Gedächtnis unserer Völker hinterlassen hat. Die Amerikaner, vor allem jene, die selbst an der Front standen, waren voller Anerkennung für die gewaltigen Anstrengungen der Sowjets in diesem Krieg. Ich erinnere mich an den Auszug aus einem Tagesbefehl eines amerikanischen Kommandeurs in Deutschland, den C.L. Sulzberger in seinen Memoiren zitiert: ‘Millio- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 75 nen russischer Soldaten und Zivilisten starben für unser Leben. Vergeßt das nie. Wenn euch die Propaganda einredet, die Russen zu hassen, so haltet inne und denkt nach. Sie sind auch für euch gestorben.’3 Es hat eines jehrelangen kalten Krieges und intensiver antisowjetischer Gehirnwäsche bedurft, um diese Gefühle auszulöschen. Dennoch lagen auch Schatten über diesen Flitterwochen. Selbstverständlich gab es Probleme und Schwierigkeiten. Trotz der zahlreichen Versprechungen wurde die Eröffnung der Zweiten Front in Westeuropa zwei Jahre lang hinausgezogen - ein Umstand, den viele Sowjetbürger mit dem Leben bezahlen mußten. Das trug zum Entstehen manch bitterer Gefühle in unserem Volk bei. Es gab hinter den Kulissen Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Nazi-Deutschland. Allen Dulles sprach mit den Nazis in Bern, und es bestanden weitere Kontakte in Ankara, wie einer unserer Historiker vor kurzem nachgewiesen hat. Rückblickend fällt es auch schwer, einfach mit einem Achselzucken darüber hinwegzugehen, daß man uns die Entwicklung der Atombombe verheimlicht hat. Dennoch war die Gesamtbilanz unserer Beziehungen ohne Zweifel positiv, und das hätte die Ausgangsbasis für verbesserte Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg sein können. Statt dessen gerieten wir nur wenig später in den Kalten Krieg. Der Kalte Krieg ist Gegenstand zahlreicher Bûcher, und viele weitere werden noch zu diesem Thema erscheinen. Es bleibt ein heißes Eisen, und unsere Perspektive unterscheidet sich ziemlich stark von der bei den Amerikanern vorherrschenden Ansicht, derzufolge die Sowjetunion die Schuld am Kalten Krieg trägt. Wir denken, daß die Hauptverantwortung zu gleichen Teilen bei den USA und bei Großbritannien liegt. Nebenbei bemerkt, wurde diese Tatsache in den USA in den letzten zwei Jahrzehnten von den sogenannten ‘revisionistischen’ Historikern umfassend dokumentiert. Kennen Sie die neo-orthodoxe Kritik an dieser Schule? Ja, alle Orthodoxien haben ein zähes Leben. Aber ich möchte mich nicht in diesen Familienstreit der amerikanischen Historiker einmischen. Ich kann nur darlegen, wie sich die ganze Situation unter unserem Blickwinkel betrachtet ausnahm. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 76 Kam der Kalte Krieg nicht erst richtig auf Touren, als die Sowjetunion den Marshallplan zurückwies? Von Moskau aus gesehen, fing der Kalte Krieg schon viel früher an. Schon im Frühjahr 1945, einige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stellten wir Änderungen in der amerikanischen Politik fest. Präsident Harry S. Truman nahm in vielen Bereichen der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eine andere Haltung ein als Roosevelt. Lieferungen aufgrund des Leih-Pachtsystems4 wurden auf den Tag genau mit dem Ende des Krieges abrupt eingestellt, einige Schiffe, die schon auf See und unterwegs in die UdSSR waren, wurden zurückbeordert. Das Versprechen, ein umfangreiches Darlehen zum Wiederaufbau zu gewähren, wurde gebrochen. Natürlich war da auch noch der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, der nach unserer Ansicht nicht der letzte Kanonendonner des Zweiten Weltkriegs war, sondern viel ehrer der erste, der den Kalten Krieg ankündigte. Er wurde abgegeben, um sowohl die Feinde wie auch die Verbündeten einzuschüchtern. Oder, wie Kriegsminister Henry Stimson es in sein Tagebuch schrieb, ‘um Rußland klarzumachen, daß es sich einzuordnen hatte’. Danach - auch das geschah noch vor dem Marshallplan - hielt Winston Churchill seine berüchtigte Rede in Fulton im Bundesstaat Missouri, die nun tatsächlich die förmliche Erklärung des Kalten Kriegs enthielt. Es sollte daran erinnert werden, daß Churchills Rede vom ‘Eisernen Vorhang’ in Anwesenheit des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, gehalten und von ihm öffentlich gebilligt wurde. Im Februar 1947 wurde dann die Truman-Doktrin verkündet, die zu einem weltweiten antikommunistischen Kreuzzug aufrief. Das war also der politische Kontext, als der Marshallplan angekündigt wurde, und dieser Kontext offenbart die wahre Absicht des Plans. Später wurde die Version in Umlauf gesetzt, wir hätten ‘ein faires Angebot’ zurückgewiesen und es statt dessen vorgezogen, den Kalten Krieg zu verstärken. Prüft man jedoch die kürzlich freigegebenen amerikanischen Dokumente zum Marshallplan, so wird klar, daß das Angebot absichtlich so gehalten war, daß die UdSSR es zurückweisen würde. Amerikanische Beamte sahen sogar mit Bangen einem eventuellen Beitritt der Sowjetunion entgegen. In einem privaten Gespräch sagte damals James Forrestal: ‘Das allerschlimmste wäre, wenn sie (die Russen) beitreten würden.’ Charles Bohlen bekannte sehr viel später: ‘Wir sind ein verdammt hohes Risiko eingegangen, als wir Rußland nicht ausdrücklich davon ausschlossen.’5 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 77 Mit anderen Worten, für Sie stand fest, daß die Haltung der Vereinigten Staaten nach 1945 feindselig war? Es wurde uns klar, daß sich das Blatt gewendet hatte. Wir rechneten sogar allen Ernstes mit einer Kriegsdrohung aus Washington. In Westeuropa herrschte nach 1945 tatsachlich Angst vor einer sowjetischen Invasion. Aus diesem Grund wanderte meine Familie nach Südafrika aus, und ich ging 1948 an die Yale University, um Vorlesungen über internationale Beziehungen zu hören. Ich kann mir vorstellen, daß es Ängste dieser Art gab. Teilweise entsprangen sie dem sehr labilen psychologischen Klima in einem Nachkriegseuropa, das zwischen 1939 und 1945 furchtbare Prüfungen ausgestanden hatte. Hauptgrund für diese Ängste war aber der Feldzug gegen ‘die sowjetische Bedrohung’, den man sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einleitete, um damit Gefühle des Wohlwollens gegenüber der UdSSR auszumerzen. Diese Gefühle waren echt und weitverbreitet - war es nicht schließlich die Sowjetunion gewesen, die die entscheidende Rolle bei der Befreiung Europas von den Nazis gespielt hatte. Eine sehr beunruhigende Parallele dazu sind die jüngsten Vorgänge im Westen, wo viele irrationale Vorurteile und Ängste erneut für den gleichen Zweck und mit den gleichen Mitteln mißbraucht werden. Und wie damals auch, könnten die Panikmacher, die versuchen, die Öffentlichkeit und die Elite für einen antisowjetischen Konsens mobil zu machen, letzten Endes selbst diesen falschen Ängsten erliegen. Was die Einschätzungen der ‘sowjetischen Bedrohung’ in der Nachkriegszeit anbelangt, so möchte ich betonen, daß wir, bei allem Verständnis für die Ängste im Westen, ungleich mehr Grund hatten, uns bedroht zu fühlen. Und diese Gefühle sollten sich später als wohlbegründet erweisen, als nämlich die wahren amerikanischen Kriegspläne bekannt wurden. Kriegspläne? Der Frieden hatte doch erst begonnen. Nun, es kommt wie eine Offenbarung über einen und schmerzt noch heute, wenn man schwarz auf weiß liest, daß selbst einige unserer schlimmsten Befüchtungen hinsichtlich der Absichten der USA mehr als gerechtfertigt waren. Bereits Ende 1949 begannen höchste amerikanische Militärs einen Nuklearangriff auf die Sowjetunion vorzubereiten. 20 unserer größten Städte mit einer Gesamtbevölkerung von 13 Millio- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 78 nen Menschen wurden zu Zielen bestimmt, auf die in einem ersten Schlag 196 Atombomben abgeworfen werden sollten. Davon wußten wir in Westeuropa nichts, und die meisten Leute dort wissen auch heute nichts von diesen Plänen. Daß es sie dennoch gegeben hat, zeigen bestimmte, bis vor kurzem der Geheimhaltung unterliegende Regierungsakten, wie etwa der Bericht Nr. 329 des gemeinsamen Ausschusses der Nachrichtendienste bei den Vereinigten Stabschefs vom Dezember 1945. Dieser und noch folgende ähnliche Berichte dienten als Grundlage einer detaillierten Kriegsplanung zwischen 1946 und 1949 unter Decknamen wie ‘Charioter’, ‘Double Star’, ‘Fleetwood’, ‘Trojan’ und anderen. Die Kriegsvorbereitungen gipfelten 1949 in dem Plan ‘Dropshot’, der einen totalen Krieg gegen die Sowjetunion unter Einsatz aller Nato-Streitkräfte vorsah, unterstützt noch durch einige Länder des Nahen Ostens und Asiens. Das war tatsächlich der Entwurf für den Dritten Weltkrieg. ‘Dropshot’ war aber nicht nur ein Plan zur atomaren Zerstörung unseres Landes mittels ca. 300 Bomben - man nannte das gewöhnlich ‘Atomisierung’ - sondern sah auch die Besetzung unseres Landes durch amerikanische Truppen und eine anschließende Auslöschung des sowjetischen Systems vor. Fleißige Strategen in Washington arbeiteten sogar Verhaltensregeln für künftige Regime auf unserem Territorium aus.6 Für die Verbündeten von gestern, die mehr als 20 Millionen Menschenleben geopfert hatten, um die Welt vor dem Faschismus zu bewahren, hatte man einen Frieden vorgesehen, der an ‘Karthago’ erinnert. Es klingt zwar wie Wahnsinn, ist aber nichtsdestoweniger dokumentarisch bewiesen, daß der große Kriegsheld Winston Churchill damals vorgeschlagen hat, die UdSSR mit Nuklearwaffen auszuradieren. Ja, das tat er, mindestens bei zwei Gelegenheiten. Das erste Mal machte er seinen Vorschlag kurz nach dem Krieg, wie Alan Brooke in seinem Tagebuch festgehalten hat. Henry Cabot Lodge erwähnt in seinen Memoiren eine ähnliche Begebenheit. In jenen Tagen erhielten wir viele solcher Signale, und wir mußten sie sehr ernst nehmen. Wie recht wir daran taten, sollte, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, eigentlich ganz klar sein. Jene Drohungen waren nicht nur leere Worte. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 79 Könnten die zu Papier gebrachten unheilvollen Pläne nicht nur Wunschdenken der Militärs gewesen sein? Einige davon waren Wunschdenken, kein Zweifel. Aber daneben gab es die praktische Politik, die deutlicher war als alle Worte. Es gab das gigantische Wettrüsten, den Aufbau der Nato und die Einkreisung unseres Landes durch Militärstützpunkte sowie durch jene Bomberverbände, die einen ersten Schlag führen konnten. Daß diese grauenhaften Pläne nur Papier blieben, liegt nach unserer Auffassung nicht so sehr daran, daß etwa die Vernunft in Washington die Oberhand behielt, sondern daran, daß wir ständig an Stärke gewannen, was vor allem in dem raschen Ende des atomaren Monopols der USA zum Ausdruck kam. Die US-Regierung sah in einem nuklearen Präventivkrieg gegen die UdSSR durchaus einen denkbaren Weg, mußte aber davon Abstand nehmen, als klar wurde, daß sie ihn nicht gewinnen konnte. 1949 wurde der ‘Trojan’ genannte Plan für einen ersten nuklearen Schlag vom Strategischen Luftkommando der Vereinigten Staaten als unrealistisch beiseite gelegt. Das Dokument Nr. 68 des Nationalen Sicherheitsrats (NSC-68) kam zu dem Schluß, ein Präventivkrieg gegen die Sowjetunion könne unmöglich gewonnen werden. ‘Man könnte einen machtvollen Schlag gegen die Sowjetunion führen’, heißt es darin, ‘aber es ist anzunehmen, daß diese Maßnahmen allein den Kreml nicht veranlassen oder zwingen würden, zu kapitulieren...’7 Im Hinblick auf ‘Dropshot’ hatte man ebenfalls schwere Zweifel. Vielleicht haben die Amerikaner gedacht, daß sie nicht genügend solcher Bomben hätten. Nicht nur das. Es gab auch starke Befürchtungen, daß die Vereinigten Staaten anstatt eines nuklearen Blitzkriegs einen endlosen und auszehrenden Krieg führen müßten, der die ganze Welt zerstören würde. So hätte es eigentlich schon zu der Zeit klar werden müssen, daß ein militärisches Übergewicht im Nuklearzeitalter nur von begrenztem Wert ist. Anscheinend ist das bis heute nicht klar. Nun, Washington entschloß sich damals, die Methoden der Politik des Kalten Kriegs etwas abzuändern, aber die Ziele blieben die gleichen. Es ließ die Idee eines Präventivkriegs vorläufig fallen und wählte die Doktrin der Eindämmung, die ‘Containment’-Politik, als Basis der US-Politik gegenüber Moskau. Im wesentlichen war das eine Strategie, die unser politisches System dadurch zerstören wollte, daß man ständig an al- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 80 len Punkten Druck ausübte. So hielt man neben anderen Druckmitteln das Wettrüsten für geeignet, um die Sowjetunion in die Knie zu zwingen. Da ich mit den Schöpfern dieser Doktrinen kaum konkurrieren kann, was deren anschauliche Darstellung anbelangt, will ich einfach einige Schlüsselstellen aus der offiziellen Bibel der ‘Containment’-Politik zitieren, nämlich aus jener Direktive des Nationalen Sicherheitsrates, die 1950 als Dokument NSC-68 entstand und seit 1975 nicht mehr der Geheimhaltung unterliegt. Das wichtigste Instrument dieser Politik sollte eine überwältigende militärische Überlegenheit sein. ‘Ohne überlegene, geballte militärische Stärke, sowohl tatsächlich vorhandener als auch jederzeit mobilisierbarer’, so stellt das Dokument freimütig fest, ‘ist eine Politik der Eindämmimg, die letzten Endes eine Politik des kalkulierten und abgestuften Zwanges ist, nicht mehr als ein politischer Bluff.’8 Weiter wird darin festgestellt, daß, bis eine solche Überlegenheit erreicht ist, jegliche Verhandlungen mit der Sowjetunion ‘allenfalls eine Taktik sein können... wünschenswert... um öffentliche Unterstützung für das Programm (der Aufrüstung) zu erlangen’.9 Zu den weiteren Mitteln, die vorgeschlagen und auch tatsächlich angewandt wurden, gehörten die ‘offene, psychologische Kriegführung, die auf einen breiten Loyalitätsschwund gegenüber dem sowjetischen System hinarbeitet, die Intensivierung angezeigter, unterstützender Maßnahmen und Operationen mit verdeckten Mitteln, sowohl auf dem Gebiet der wirtschaftlichen als auch der politischen und psychologischen Kriegsführung, in der Absicht, in ausgewählten strategisch wichtigen Satellitenstaaten Unruhen und Revolten anzustiften und zu unterstützen...’10 Pläne bleiben oftmals Pläne. Nicht immer besteht die Absicht, solch verrückte Ideen auch notwendigerweise auszuprobieren. Sicher nicht. Das waren ganz gewiß keine bloßen Phantasien, sondern Richtlinien, die auch in Kraft waren. Die Vereinigten Staaten haben uns während der fünfziger Jahre diese Art der Behandlung angedeihen lassen. Ein weiterer interessanter Aspekt des erwähnten Dokuments NSC-68 war die fixe Idee, sich ein unschuldiges, defensives Aussehen zu bewahren, während man diesen aggressiven Kurs verfolgte. ‘Bei jeder politischen Verlautbarung und bei den angewandten Maßnahmen sollte’ - so rät NSC-68 seelenruhig - ‘der im wesentlichen defensive Charakter mit Nachdruck betont und sorgfältig darauf geachtet werden, ungünstige Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 81 Reaktionen im In- und Ausland soweit wie möglich zu vermeiden.’ Alle diese Maßnahmen dienten dem einen letzten Ziel: der Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses und ‘einer fundamentalen Umgestaltung der Natur des Sowjetsystems’.11 Zbigniew Brzezinskis Diplomatie schien darauf ausgerichtet gewesen zu sein, Einfluß auf die innere Entwicklung in der Sowjetunion zu nehmen. Brzezinskis Ruf als hartnäckiger Verfechter einer solchen Politik hatte seine guten Gründe. Er trug zu ihrer Formulierung in der Vergangenheit bei und hat - das darf wohl unterstellt werden -, als er im Amt war, von solchen Bemühungen nicht abgelassen. Dieses Generalthema des ‘Umformens’ des Sowjetstaates mit den Mitteln der Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, das in dem Dokument NSC-68 zur Doktrin erhoben wurde, zog sich wie ein roter Faden durch viele Worte und Taten der Carter-Administration. Botschafter Anatoli Dobrynin hat gegenüber Henry Kissinger angedeutet, daß zwischen 1959 und 1963 eine Reihe von Gelegenheden versäumt wurde, um die Beziehungen zwischen den Supermächten zu verbessern.12 In den späten fünfziger Jahren, nach dem Sputnik, wurde vielen Amerikanern klar, daß ein Nuklearkrieg unvorstellbar sei - schlichtweg Selbstmord. Es wurden Schritte unternommen, um das Eis des Kalten Kriegs zu brechen. Ich denke an den Besuch von Ministerpräsident Chruschtschow in den Vereinigten Staaten im Jahre 1959, dem 1960 ein Besuch Präsident Dwight D. Eisenhowers in der UdSSR folgen sollte. Unglücklicherweise zerschlugen sich diese Bemühungen. Sie meinen, infolge des U-2-Zwischenfalls, bei dem Gary Powers mit seinem Aufklärungsflugzeug über der UdSSR abgeschossen wurde. Dieser Zwischenfall wurde von einigen Analytikern als der absichtliche Versuch des Geheimdienstes CIA bezeichnet, einen Erfolg des geplanten Treffens zwischen Eisenhower und Chruschtschow in Paris zu verhindern. Mir ist nichts von dahingehenden Plänen des CIA bekannt, außer daß, wie kürzlich berichtet wurde, Aufklärungsvorrichtungen an Bord der Präsidentenmaschine installiert wurden, für den Fall, daß Eisenhowers Besuch in Moskau zustande käme. Der U-2-Aufklärungsflug war vom Präsidenten selbst genehmigt worden, der dann auch einen sehr plumpen Versuch machte, dies zu vertuschen und so die geplante Pariser Gipfelkonferenz zum Platzen brachte. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 82 Die ganze Episode war, obwohl sie etwas albern zu sein scheint und beinahe wie ein Zufall aussieht, doch sehr bezeichnend: Die Administration maß der Routineaufklärung mehr Gewicht zu als der Chance, die Beziehungen mit der UdSSR zu verbessern. So wurde diese günstige Gelegenheit vertan, obwohl sie zu bedeutenden Fortschritten hätte führen können. Weitere Gelegenheiten wurden während der ersten beiden Jahre der Kennedy-Administration versäumt, als sich diese durch ihre eigene Parole von der ‘Raketenlücke’ und durch das kubanische Abenteuer in der Schweinebucht selbst weitgehend um ihren Handlungsspielraum brachte. Es bedurfte des Schocks, den die Raketenkrise um Kuba auslöste, damit die Kennedy-Administration schließlich begann, ihre im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion eingenommene Position neu zu überdenken. Das Ergebnis war der Abschluß des Teststop-Vertrags und einige weitere positive Schritte. Dieser Prozeß wurde dann aber durch die Ermordung des Präsidenten abrupt unterbrochen. Letzten Endes gibt es keine vernünftige Alternative zur friedlichen Koexistenz. Die Außenpolitik kann es sich nicht leisten, dieses fundamentale Prinzip zu ignorieren. Jeder Rückschlag bei der Befolgung dieses kardinalen Faktums der internationalen Beziehungen kann ungeheuer teuer zu stehen kommen. Die Erfahrungen aus den sechziger Jahren sind ein deutlicher Beweis dafür. In den frühen siebziger Jahren gelang uns in unseren Beziehungen der Durchbruch, den wir ohne Erfolg während der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre gesucht hatten. Jedoch war ein ganzes Jahrzehnt verlorengegangen - ein Verlust, der sehr kostspielig war, bedeutete er doch eine ungeheure Aufrüstung. Die kubanische Raketenkrise führte die Menschheit an den Rand des Krieges. ‘Auge in Auge’, wie Dean Rusk sagte. Ja. Dann begann der Krieg in Südostasien, der nicht nur in den Vereinigten Staaten eine nationale Krise hervorrief, sondern auch die internationale Situation für lange Zeit aus dem Lot brachte. Schließlich war noch der Sechstagekrieg im Nahen Osten im Jahr 1967. Seit 13 Jahren schon haben wir mit den Folgen dieses Konflikts zu leben. Der Nahe Osten bleibt eine Brutstätte ständiger Konflikte, und noch ist nichts in Sicht, was eine annehmbare Lösung verspricht. Es gab noch weitere kleinere Krisen. Viel davon hätten in einer Atmosphäre der allgemeinen Entspannung vermieden werden können. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 83 Aber nach den Spannungen in den sechziger Jahren verbesserte sich doch die Situation in den frühen siebziger Jahren? Sicherlich war das der Fall. Ich möchte die Bedeutung dieser Ereignisse nicht herunterspielen. Das war tatsächlich ein Augenblick der Wahrheit für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Das ganze Gebilde der Politik, wie es in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren entworfen worden war, zeigte allmählich ernsthafte Schwächen: Es war von der Realität zu weit entfernt, allzu untauglich für die tatsächlichen Probleme, denen sich die Vereinigten Staaten und die Welt gegenübersahen. Vielen Amerikanern begann es in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zu dämmern, daß die Außenpolitik der Vereinigten Staaten nur zu oft das Gegenteil von dem erreicht hatte, was sie eigentlich wollte. Nach diesen Schwankungen in den beiderseitigen Beziehungen hat es 1981 tatsächlich den Anschein, als wären wir erneut in die Tage des Kalten Kriegs der fünfziger Jahre zurückversetzt. Ja, manchmal hat man den Eindruck, als würde alles noch einmal beginnen. Nach all den traumatischen Erfahrungen, die eigentlich jedermann eine nachhaltige Lektion gewesen sein sollten, haben wir den Eindruck, daß einflußreiche Leute in den Vereinigten Staaten versuchen, die gleiche Sprache zu sprechen und das gleiche Spiel noch einmal von vorne zu spielen. Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Ich bin sicher, daß sich die Geschichte nicht wiederholen wird und nicht wiederholen kann. Wir können es uns nicht leisten, so zu handeln, als ob wir die Erfahrungen der Vergangenheit vergessen hätten, ganz zu schweigen davon, daß wir sie nicht ignorieren dürfen. Eugene Rostow, früherer Unterstaatssekretär im Außenministerium und früherer Dekan der Yale Law School, erklärte mir, daß Amerikas Macht in der Tat abgenommen habe, was so weit gehe, daß Präsident Eisenhower 1958 noch Marine-Korps in den Libanon schicken konnte, während Washington heute außerstande wäre, solch einen Einsatz zu wiederholen. Daß die Vereinigten Staaten diese Möglichkeit heute nicht mehr haben, liegt nicht an einer Abnahme ihrer militärischen Stärke. Die militärische Stärke hat seit 1958 ständig zugenommen. Die tiefgreifenden Veränderungen der internationalen Situation und der Situation in Amerika selbst Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 84 haben solche Unternehmungen jedoch allzu kostspielig werden lassen. Der Vietnamkrieg hat das klar und deutlich gezeigt. Heute aber sehen wir, ungeachtet der Klagen von Rostow, eine ganz andere Tendenz. Enorme Anstrengungen werden unternommen, um die Lehren des Vietnamkriegs rückgängig zu machen und militärischen Interventionismus wieder als ein Instrument der Politik der Vereinigten Staaten neu zu beleben. Vielleicht wurden damals die Lehren daraus gezogen, aber man glaubt nun, es sei die Zeit gekommen umzudenken, weil eine ganze Reihe von neuen Ereignissen für eine Neueinschätzung spreche. Diesmal nicht notwendigerweise zur Freude der Sowjetunion. Genau das versuchen die neuen Kalten Krieger zu beweisen, doch ihre Argumente sind außerordentlich schwach. Die neuen Gegebenheiten, der historische Trend, an den sich die Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren anzupassen versuchten, sind weit davon entfernt, wieder zu verschwinden, sie sind sogar noch gewichtiger geworden. Woran denken Sie dabei besonders? Amerikas Politik des Kalten Kriegs, die jetzt wieder neu belebt wird, wurde in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren formuliert, angeblich als Erwiderung auf die behauptete ‘Bedrohung’ der amerikanischen Interessen - damals feierlich den Interessen der ‘Freien Welt’ gleichgesetzt -, die von einem einzigen Feind ausging, nämlich der Sowjetunion. Washington erklärte es zu seinem Ziel, die ‘Bedrohung’ einzudämmen, und sprach sogar vom ‘roll back’. Das Ziel sollte erreicht werden mit den Mitteln des Wettrüstens, mit Hilfe von Militärstützpunkten und Militär-Allianzen, durch Wirtschaftsblockade gegen uns sowie durch psychologische Kriegführung und andere subversive Tätigkeiten. Alle diese anmaßenden Schritte waren von Anfang an fehl am Platz, denn die ‘sowjetische Bedrohung’ war eine Täuschung. Mit der Zeit erkannten viele Leute in Amerika, daß ihre wahren Probleme sehr wenig mit der Sowjetunion zu tun hatten. Heutzutage, da sich diese Probleme vervielfacht haben, taucht erneut das alte primitive Bild von der UdSSR als Hauptquartier des Teufels und als Ursprung aller Probleme Amerikas auf. Aber lassen Sie uns für einen Augenblick davon ausgehen, daß die Vereinigten Staaten den denkbar feindseligsten Kurs gegen uns steuern würden. Würde dadurch ein weiterer Iran oder ein weiteres Nicaragua verhindert werden? Würde dadurch das Energieproblem gelöst oder der Dollar gestärkt bzw. die Infla- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 85 tion gestoppt werden? Am wichtigsten aber: Würde eine solche Politik zur Sicherheit der Vereinigten Staaten beitragen? Von welchen ‘neuen Gegebenheiten’ sprechen Sie unter anderem? Es ist eine unverrückbare Tatsache, daß die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten über die Sowjetunion für alle Zeiten der Vergangenheit angehört. Deshalb ist es einfach bestürzend zu sehen, daß die offizielle amerikanische Politik solche Überlegenheit erneut zu ihrem Ziel erklärt. Eine weitere Realität, die sich nachdrücklich bemerkbar machen wird, hängt mit den Konsequenzen der wissenschaftlichen und technischen Revolution im Rüstungsbereich zusammen. Die Entwicklung immer neuer Mittel zur Massenvernichtung hat viele traditionelle Auffassungen über den Haufen gestoßen und die Vorstellung, militärische Stärke für vernünftige politische Zwecke einzusetzen, tatsächlich in Frage gestellt. Daneben hat die Tatsache, daß unabhängige Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas als Teilnehmer am Weltgeschehen in Erscheinung traten, die internationalen Beziehungen wahrhaftig zu einer weltweiten Angelegenheit gemacht. In der Vergangenheit war allenfalls eine Handvoll Großmächte in diese Beziehungen verwickelt, wobei die kleinen Länder eher die Objekte denn die Subjekte der internationalen Beziehungen waren. Heute sind sie fast alle souveräne Partner, was zur Folge hat, daß die große Mehrheit der Weltbevölkerung an der Weltpolitik teilhat. Wo dieser Zustand noch nicht erreicht oder gänzlich verlorengegangen ist, dort gibt es einen fortwährenden Kampf, um ihn herzustellen. Diese Entwicklung hatte in der Vergangenheit und hat auch weiterhin starke Auswirkungen auf die amerikanische Außenpolitik, die auf eine so durchgreifende Demokratisierung nicht zugeschnitten war. Schließlich gibt es auch in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu ihren Verbündeten auf lange Sicht eine Veränderung. Die Verbündeten Amerikas sind wirtschaftlich viel stärker geworden und politisch weniger abhängig von Washington. Sie fordern, daß ihre Interessen berücksichtigt werden. Und einige der überseeischen Abenteuer, die die Vereinigten Staaten unternommen haben, führten zu ernsten Befürchtungen unter ihnen. Vietnam? Das war nur eines dieser Abenteuer, aber es hatte sehr ernste Konsequenzen. Kürzlich haben wir starke Zweifel und Widerstreben unter den Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 86 Verbündeten bei der Unterstützung der amerikanischen Politik, zum Beispiel gegenüber dem Iran, erlebt. Henry Kissinger betont jedoch, daß kein westdeutscher Staatsmann es sich leisten könnte, eine Politik zu betreiben, die Washington scharf mißbilligen würde.13 Ich würde darüber mit Kissinger nicht streiten wollen. Tatsächlich erfreuen sich die USA innerhalb der Nato einer Art Vormachtstellung. Aber hat nicht der gleiche Kissinger in den gleichen Memoiren beschrieben, wie behutsam sich Washington gegenüber Willy Brandts Ostpolitik verhalten mußte, obwohl die Amerikaner diese Politik nicht gerade schätzten? Natürlich haben sich Amerikas Beziehungen zu seinen Verbündeten gravierend verandert. Während die Amerikaner früher einfach befehlen konnten, müssen sie jetzt zu Mitteln der Politik und Diplomatie greifen. Ohne Zweifel fiel in die Amtszeit Richard Nixons und Henry Kissingers mancher Rückschlag, was die Beziehungen mit anderen westlichen Staaten angeht. Ja, und als Carter sich um die Präsidentschaft bewarb, machten er und sein Team es zu einem zentralen Wahlkampfthema, daß die Republikaner bei den West-West-Beziehungen versagt hätten. Es stellte sich aber heraus, daß auch die Carter-Administration in dieser Hinsicht ebenfalls nicht sehr erfolgreich war. Die Carter-Administration setzte die Verbündeten in noch größerem Maß unter Druck als ihre Vorgänger. Dies zeigte sich z. B. 1979 während der Nato-Beschlußfassung zu den Pershing 2-Raketen und den Marschflugkörpern in aller Deutlichkeit. Das wurde sogar noch deutlicher, nachdem Washington seine neue politische Marschrichtung gegenüber Moskau eingeschlagen hatte. Die Verbündeten waren keineswegs darauf versessen, Carter in einen zweiten Kalten Krieg zu folgen. Sie legten zwar Lippenbekenntnisse ab, um Washington zufriedenzustellen, doch ließen sie im allgemeinen nur widerstrebend praktische Maßnahmen folgen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß das Vertrauen der Verbündeten in die Vereinigten Staaten geschwunden ist. Die Carter-Aministration hat zu dieser Situation erheblich beigetragen. Gewiß, es handelt sich immer noch um eine ungleiche Beziehung. Falls die Vereinigten Staaten dies wirklich wollen oder für erforderlich halten, können sie die Verbündeten wahrscheinlich zum Gehorsam zwingen. Darin hat Kissinger recht, obwohl dergleichen Ver- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 87 suche in Zukunft für die USA und die Allianz als Ganzes immer kostspieliger werden dürften. Faßt man Ihre Analysen zusammen, so gehört zu den Entwicklungen, an die die Vereinigten Staaten sich anzupassen versucht haben, der Verlust der militärischen Überlegenheit, die neue Rolle der Dritten Welt und Veränderungen in den West-West-Beziehungen. Ich würde noch eine weitere Entwicklung hinzufügen: die Veränderungen, die in Amerika selbst stattfanden. Vom Beginn der vierziger bis zur Mitte der sechziger Jahre hatte von allen öffentlichen Angelegenheiten unbestritten die Außenpolitik den Vorrang. Das war in gewisser Hinsicht logisch, denn mit Beginn dieser Periode hatte auch die Rolle Amerikas in der Welt eine neue Qualität und ein neues Ausmaß erlangt. Nach der Politik des ‘New Deal’ und nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte der Prozeß des Aufbaus und Unterhalts dieses Weltreichs weitgehend den Kontext der amerikanischen Politk. Dieser Drang nach außen hatte vorübergehend eine beruhigende Wirkung auf die inneramerikanische Lage. Aber nicht für lange Zeit. Anstatt Amerika zu stabilisieren, wurde der Kreuzzug des Kalten Krieges ab einem gewissen Zeitpunkt zum Katalysator für eine große innere Krise. Die Probleme im eigenen Land erforderten schnelle, ungeteilte Aufmerksamkeit und verlangten eine Neuverteilung der Ressourcen, ein Abrücken von weltweiten Verpflichtungen und eine vernünftigere Außenpolitik. Die inneren Krisen in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren bestimmten maßgeblich den Hintergrund für die Neuüberlegungen zur Außenpolitik. Es kam zu keinem tatsächlichen Konsens in Form eines konkreten, politischen Rezepts, doch die generelle Richtung dieses Denkens war unmißverständlich. Die amerikanische Politik mußte sich wandeln. Und Nixon fing an, sie zu verändern. Aber wollen Sie damit sagen, daß es keine große Rolle spielte, ob 1969 ein Republikaner oder ein Demokrat ins Weiße Haus einzog, nachdem eine Anpassung an die neuen Gegebenheiten ohnehin unvermeidlich war? Nun, jeder President hätte auf die eine oder andere Weise diese Anpassung versuchen müssen. Ich stimme mit der Auffassung überein, daß es in politischer Hinsicht keine große Rolle spielt, ob der Präsident der Vereinigten Staaten ein Republikaner oder ein Demokrat ist, obgleich einige selbstkritische Demokraten, wie z. B. John K. Galbraith, glauben, daß die Republikaner einen besseren Ruf haben, was ihr Geschick im Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 88 Umgang mit der Sowjetunion anbelangt. Es sieht so aus, als gäbe es manchmal unter den Republikanem bzw. unter den Demokraten größere politische Differenzen als zwischen den beiden Parteien selbst. Die generellen Wechselbeziehungen der politischen Kräfte sind sehr wichtig, und diese Wechselbeziehungen waren damals der Entspannung förderlich. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß man die Persönlichkeit dessen nicht in Betracht ziehen muß, der an der Spitze der Regierung steht, vor allem kann man nicht die individuellen Besonderheiten des Präsidenten außer acht lassen: seine politischen Ansichten, seine Wertordnung, psychologische Aspekte seiner moralischen Haltung, sogar sein Temperament. Alle diese Dinge können oftmals wichtiger als seine Parteizugehörigkeit sein, vor allem heutzutage, da die traditionellen Unterschiede zwischen den Parteien verwischt sind. Messen denn Marxisten der Persönlichkeit überhaupt besondere Bedeutung bei? Aber gewiß. Nach marxistischer Auffassung wird der Lauf der Geschichte grundsätzlich und auf lange Sicht von objektiven Faktoren und Bedingungen, z. B. wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art, usw., bestimmt. Wird jedoch bei den tagtäglichen Entscheidungen auf höchster staatlicher Ebene innerhalb des weiten, objektiv gegebenen Rahmens der eine oder andere Weg gewählt, so kann die Persönlichkeit dessen, der die Politik macht, eine bedeutende, manchmal sogar entscheidende Rolle spielen. Ich kann mir Situationen vorstellen, wo diese Faktoren über Krieg oder Frieden entscheiden können. Hat es Sie überrascht, daß ausgerechnet Richard Nixon, dessen gesamte politische Karriere sich auf den Antikommunismus gründete, als Präsident die Politik der Entspannung betrieb? Ohne versuchen zu wollen, mir und meinen Mitarbeitern in Moskau mehr Weitblick zu attestieren als wir haben, würde ich sagen, daß wir es in gewisser Weise erwarteten. Lassen Sie mich daran erinnern, daß wir unsere Arbeit an diesem Institut gerade erst begonnen hatten, als sich Nixon 1968 um die Präsidentschaft bewarb. Ich erinnere mich an die ersten Artikel und analytischen Arbeitern, die Mitarbeiter des Instituts erstellten. Es herrschte unter unseren Wissenschaftlern die einhellige Meinung - die auch von Spezialisten der Regierung geteilt wurde -, daß bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bedeutsame Veränderungen bevorstanden, einerlei, wer in Washington an die Macht käme. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 89 Wie waren Sie zu diesen Schlußfolgerungen gelangt? Nun, wir haben die wichtigsten objektiven Faktoren, auf die ich schon hingewiesen habe, analysiert, d.h., die Veränderungen sowohl der internationalen wie auch der inneramerikanischen Situation. Unter den sich deutlicher abzeichnenden Entwicklungen schien uns die Art, in der sich die Politik der Republikaner in den Jahren 1967-1968 entfaltet hatte, weiterreichende Schlüsse zu erlauben. Hier handelte es sich um eine Partei, die in den frühen sechziger Jahren durch ihren scharfen Rechtsruck die Kulisse für Lyndon B. Johnsons Politik einer Eskalation des Vietnamkriegs geschaffen und dieser Politik den Weg bereitet hatte. Als jedoch klar geworden war, daß der Krieg nicht gewonnen werden konnte, begannen viele Republikaner - unter ihnen Nixon, der eigentliche Erbe der Goldwater-Bewegung -, nach Alternativen Ausschau zu halten. Was die praktische Politik betraf, so erkannten sie allmählich, daß der Ausweg aus der Krise in einer Neugestaltung des umfassenden Kontexts der Ost-West-Beziehungen lag, in dem Versuch also, diesen Kontext mit der Sowjetunion auszuhandeln. Dieser Umschwung im Denken der Republikaner war ein Anzeichen dafür, daß in der Machtelite der Vereinigten Staaten ein breiter Konsens im Entstehen war, der einen wichtigen Kurswechsel begünstigte. Was die Attraktivität der Politik für den Wähler betraf, so war sich die GOP14 sehr wohl darüber im klaren, daß sie nur als ‘Partei des Friedens’ darauf hoffen konnte, die Macht wiederzugewinnen. Dennoch bleibt es sonderbar, daß der Beginn der Entspannung, der erste Besuch eines amerikanischen Präsidenten in der UdSSR, das erste SALT-Abkommen und ähnliche Entwicklungen mit Nixons Namen verbunden sind. Der Versuch abzuschätzen, was die Persönlichkeit eines einzelnen nun genau zu einem gegebenen historischen Ereignis beigetragen hat, ist eine der schwierigsten Aufgaben für einen Historiker. Es blieb Nixon und Kissinger vorbehalten, die Regierung der Vereinigten Staaten zu führen, als es zu ersten Fortschritten auf dem Kurs der Entspannung kam. Wir erkennen ihre Verdienste an. Natürlich gab es in Amerika eine ganze Flut von Kommentaren dazu, wie paradox es doch war, daß kein anderer als Richard Nixon, der Kommunistenfresser und Hexenjäger, der den McCarthyismus bereits praktizierte, bevor McCarthy selbst in Erscheinung trat, daß ausgerechnet dieser Nixon in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion den Umschwung einleitete, der von der Konfrontation Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 90 zu einer Politik der Verhandlungen führte. In gewisser Weise hat Nixons Ruf den Umschwung zur Entspannung ohne Zweifel erleichtert, denn kein vernünftiger Mensch konnte je den Verdacht hegen, ‘Dick Nixon’, der Scharfmacher im Alger-Hiss-Fall15 und der ‘kitchen debater’16 1959 in Moskau, würde den Ausverkauf Amerikas betreiben. Hubert Humphrey wäre möglicherweise nicht in der Lage gewesen, die Konservativen so erfolgreich zu beschwichtigen, wäre er 1968 gewählt worden. Das heißt aber nicht, daß es einen ‘neuen Nixon’ gegeben hat. Davon sind wir nie ausgegangen. Nixon blieb derselbe, es ist die Situation, die sich gewandelt hatte. Ich glaube, Nixon war immer in erster Linie und in jeder Hinsicht auf politischen Erfolg aus: Er wollte gewählt und wiedergewählt werden und einen hervorragenden Platz in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einnehmen. Während der späten vierziger und während der fünfziger Jahre sah Nixon den Weg zum Erfolg in fanatischem Antikommunismus und Antisowjetismus. In den späten sechziger und in den frühen siebziger Jahren war er dagegen Realist genug, um zu erkennen, daß ein neues Vorgehen angezeigt war, wollte er je ins Weiße Haus gelangen. Dieses Mal ging es um ‘Verhandlungen statt Konfrontation’, ‘eine Generation des Friedens’ und Entspannung mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern. Nixon war clever genug zu erkennen, daß er eine andere Gangart einlegen mußte. Kam er erfolgreicher als seine Nachfolger mit den großen Veränderungen auf dem internationalen Schachbrett zurecht? Geht man von den Ergebnissen aus, dann war er ganz gewiß erfolgreicher, und sei es auch nur, weil ihn die politische Situation in den USA sehr stark in diese Richtung drängte. Doch auch dann verlief der Prozeß der Anpassung noch keineswegs reibungslos, und die Hinnahme der neuen Grenzen amerikanischer Macht fiel alles andere als leicht. Nicht selten hat man sich halsstarrig widersetzt, ein falsches Spiel getrieben und versucht, Zeit zu gewinnen. Nixon kam aufgrund seines Versprechens, den Krieg in Vietnam zu beenden, an die Macht, verlängerte diesen Krieg aber um weitere fünf Jahre und weitete ihn durch die Invasion in Kambodscha sogar noch aus. Es bedurfte der Opfer vieler Vietnamesen, Kambodschaner und Amerikaner und zahlreicher Unruhen in der amerikanischen Gesellschaft, um Nixon zur Erfüllung seines Versprechens zu zwingen. Allgemein gesprochen, folgte Nixons Politik gegenüber dem größten Teil der Dritten Welt dem Grundmuster des Kalten Krieges. Lateinamerika und vor allem Chile sind deutliche Beispiele dafür. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 91 Der Iran ist ein weiterer anschaulicher Fall. Natürlich, die aktive Einmischung Amerikas in die Angelegenheiten des Iran begann bereits 1953, als der CIA mithalf, die verfassungsgemäße Regierung des Premiers Mossadegh zu stürzen. Es fiel aber genau in die Zeit Nixons und Kissingers, daß die USA daraningen, durch ungeheure Waffenverkäufe und mit anderen Mitteln den Iran in ein Bollwerk der amerikanischen Macht im Nahen Osten zu verwandeln. Damit legten die Vereinigten Staaten buchstäblich eine Zeitbombe unter ihre eigenen Stellungen in diesem Teil der Welt, die früher oder später losgehen mußte. Die Revolution im Iran war das unvermeidliche Ergebnis des Machtmißbrauchs, den die Vereinigten Staaten jahrelang nach gewohnten Muster im Iran und ganz allgemein im Nahen Osten betrieben haben. Das Erstaunliche ist, daß das Scheitern der Politik des Kalten Krieges im Iran nun als Vorwand dafür dient, um die gleiche, bankrotte Politik aufs neue zu beleben. Geht man die frühen siebziger Jahre zurück, so gab es damals in der amerikanischen Außenpolitik viele Anzeichen dafür, daß man des Kalten Krieges müde war. Es gab aber auch in der amerikanischen Einschätzung der Weltlage einen wichtigen Umschwung, und allmählich auch in der praktischen Politik. Und Vietnam spielte die entscheidende Rolle, als es zu diesem Umschwung kam. Das Scheitern der Amerikaner in Vietnam spielte eine sehr ernstzunehmende Rolle. Der Prozeß war aber nach meiner Meinung komplizierter und langwieriger. Anzeichen für eine neue globale Situation, die auch das Ende der amerikanischen Überlegenheit zur Folge hatte, sowie die Notwendigkeit, sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren, gab es schon lange vor dem Vietnamfiasko in großer Zahl. Nehmen wir als Beispiel die Kubakrise im Jahre 1962. Obwohl damals kein strategisches Gleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bestand, zeigte die Krise ganz klar, daß die Vereinigten Staaten nicht einfach ihre Bedingungen diktieren und tun konnten, was immer sie wollten. Die Situation in Europa entwickelte sich ebenfalls in einer Weise, die von den Amerikanern größere Zurückhaltung und Flexibilität verlangte. Wäre die Politik der Vereinigten Staaten nicht so vielen Traditionen und Vorurteilen verpflichtet gewesen und - am wichtigsten - nicht jenen mächtigen Interessen, die Amerika so oft davon abgehalten haben, die Realität zu erkennen, so hätte eine Neueinschätzung vor dem Vietnamkrieg stattfinden und dieser dadurch vermieden werden können. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 92 Leider bedurfte es jedoch der Tragödie Vietnams, um sowohl der Öffentlichkeit wie auch den maßgeblichen Politikern gewisse Wahrheiten unübersehbar deutlich zu machen. Wer wird aus sowjetischer Sicht für den eindrucksvollsten amerikanischen Präsidenten des letzten halben Jahrhunderts gehalten? Ich würde sagen, Franklin D. Roosevelt. Weil er die Sowjetunion diplomatisch anerkannte und ihr Verbündeter in der antifaschistischen Koalition während des Zweiten Weltkriegs wurde? Das sind natürlich einige der Gründe. Jedes Land, wie auch jedes menschliche Wesen, pflegt andere danach zu beurteilen, wie es von ihnen behandelt wird. Das mag besonders in diesem speziellen Fall zutreffen, handelt es sich doch dabei um die Haltung gegenüber der Sowjetunion und ihren Menschen während der schwierigsten Zeit ihrer Geschichte. Daß Roosevelt nach unserem Dafürhalten der überragende Präsident der letzten Jahrzehnte ist, läßt sich dennoch nicht allein mit dem Einfluß begründen, den er auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen hatte Beziehungen, die während seiner Präsidentschaft ihren Höhepunkt erreichten. In unserem Land wurde eine ganze Menge über diese Periode der amerikanischen Geschichte geschrieben, einschließlich einer Anzahl von Büchern über Roosevelt persönlich. Viele Menschen hier sind mit seinem Leben und seinem Wirken wohlvertraut. Ich glaube, er wird auch wegen seiner Politik des New Deal hochgeschätzt, da sie die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise entstandene Not des amerikanischen Volkes spürbar linderte. Und selbstverständlich genießt er wegen seiner generellen, konsequent antifaschistischen Politik während des Zweiten Weltkriegs hohes Ansehen. Aber falls Roosevelt etwas länger gelebt hätte, so würde der Kalte Krieg während seiner Amtszeit begonnen haben, und er würde in der Sowjetunion vielleicht anders beurteilt werden. Die sowjetische Haltung Winston Churchill gegenüber änderte sich nach 1945. Churchill wurde während des ganzen Zweiten Weltkriegs anders eingeschätzt als Roosevelt. Er hatte eine lange antisowjetische Vergangenheit hinter sich. Roosevelt dagegen stand bei uns immer in sehr viel höherem Ansehen. Und ich bin mir keineswegs sicher, daß sich die Situation - hätte Roosevelt länger gelebt - genau so entwickelt hätte, wie es der Fall war. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 93 Ohne Zweifel mußten sich unsere Beziehungen nach dem Sieg, als unser gemeinsamer Feind vernichtet war, ändern. Viele Schwierigkeiten, Widersprüche und Spannungen waren unvermeidbar angesichts unserer abweichenden Ansichten über die Neuordnung der Welt nach dem Krieg und angesichts unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem Prozeß revolutionärer Veränderungen, der durch die Zerschlagung des Faschismus unterstützt wurde. Dennoch glaube ich persönlich, daß der Kalte Krieg vermeidbar war. Und falls es einen westlichen Staatsmann gegeben hat, der in der Lage gewesen wäre, zu einer solchen Entwicklung der Ereignisse beizutragen, dann war das Franklin D. Roosevelt. Das ist jedoch nur eine Vermutung, die nie überprüft werden kann. Die Geschichte läßt keine Wenn und Aber gelten. Wie beurteilen Sie Harry S. Truman? Ich würde sagen, er gilt hier als einer der schlimmsten Nachkriegspräsidenten Amerikas, was verständlich ist, wenn man an den scharfen Kurswechsel denkt, der unter seiner Präsidentschaft in der Politik der Vereinigten Staaten vollzogen wurde. Carter hatte auf seinem Schreibtisch im Weißen Haus den gleichen Spruch stehen wie Truman: ‘Hier kann man sich vor der Verantwortung nicht drücken.’ Manche Amerikaner halten Harry für einen der Größten. Ich hatte bei meinem ersten Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahre 1969 den gleichen Eindruck. Das hat mich dann etwas verwirrt. Zuerst war ich geneigt zu glauben, der amerikanische Slogan ‘Gib's ihnen, Harry’ sei populär, weil er die übliche amerikanische Arroganz ausdrücke. Aber dann gelangte ich zu der Auffassung, daß diese Haltung gegenüber Truman aus der Nostalgie heraus entstanden sein könnte, die die Amerikaner mit jenen einzigartigen frühen Nachkriegsjahren verbanden. Alles schien den Amerikanern in jenen Tagen so einfach und klar, so dauerhaft und erreichbar zu sein. Nur wenige ahnten, daß eine solche Situation nur aufgrund vorübergehender und außergewöhnlicher Umstände entstanden war. Wer ist in der Sowjetunion der zweitpopulärste amerikanische Präsident? Ich würde sagen, John F. Kennedy. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 94 Trotz der Operation Schweinebucht und der Raketenkrise? Ja, und sogar trotz einer weiteren wahnsinnigen Runde im Wettrüsten, die unter dem falschen Vorwand einer ‘Raketenlücke’ in Gang gesetzt wurde. Ja, diese schweren Fehler wurden alle begangen, aber Kennedy war Staatsmann genug, um, angeregt durch die Krise in den Jahren 1961-1963, zu erkennen, daß die Konfrontation in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen Verhandlungen zu weichen hatte. Daher die bemerkenswerte Rede, gehalten an der American University, in der zum ersten Mal seit vielen Jahren eine neue Einstellung zur Weltpolitik und zu den Beziehungen zur Sowjetunion postuliert wurde.17 Das war im wesentlichen das Konzept, das fast ein Jahrzehnt später allgemein Entspannung genannt wurde. Auf diese historische Rede folgte 1963 der Teststopvertrag, der erste bedeutende Schritt auf dem Weg zu einer Rüstungskontrolle. Es handelt sich hier zwar um eine weitere Hypothese, aber viele Leute in der UdSSR sind überzeugt, daß durch die Ermordung Kennedys ein größerer positiver Umschwung in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen verhindert wurde. Das war, wie bereits erwähnt, nicht die einzige verpaßte Gelegenheit in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Auch heute noch glaube ich, wir hätten unter Dwight D. Eisenhower viel mehr erreichen können. Manchmal frage ich mich, ob man damit diesem Präsidenten gerecht wird, zumindest was seine Außenpolitik anbelangt. Natürlich stand er während des größten Teils seiner Präsidentschaft im unheilvollen Schatten von John Foster Dulles, dem antikommunistischen Kreuzzügler Nummer eins und großen Moralprediger, der es zugleich schätzte und verstand, einen politischen Kurs am Rande des Abgrunds zu steuern. Ein Teil der Verantwortung dafür, daß die Anstrengungen, die internationale Situation zu verbessern, wieder zunichte wurden, liegt bei Eisenhower selbst, einschließlich der Verantwortung für das zu ungelegener Zeit unternommene U-2-Abenteuer. Nichtsdestoweniger wurden während seiner Amtszeit und unter seiner Mitwirkung die ersten Versuche unternommen, das Eis des Kalten Krieges zu brechen. Es ist sehr bemerkenswert, daß der Berufssoldat Eisenhower, dessen ganzes Leben dem Militär gewidmet war, der erste und bis jetzt einzige Staatsmann der Vereinigten Staaten war, der das Land vor den Gefahren des Militarismus warnte. Tatsächlich wurde sein politisches Testament zu einer Warnung an die Nation vor dem militärisch-industriellen Komplex. Glauben Sie, daß das, was schließlich als Entspannung bezeichnet wurde, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 95 schon in den letzten Jahren der zweiten Amtszeit Eisenhowers hätte beginnen können? Hier stehen wir vor einer weiteren, letztlich nicht klärbaren, hypothetischen Frage zu einer historischen Situation. Aber die von Ihnen angedeutete Möglichkeit erscheint mir durchaus plausibel. Und wenn es dazu gekommen wäre, hätten die sechziger Jahre ganz anders ausgesehen. Präsident Nixon muß von den Russen hoch geschätzt werden. Ja, fand doch zu Nixons Zeit und unter seiner persönlichen Mitwirkung ein Umschwung von der Konfrontation zu Verhandlungen, vom Kalten Krieg zur sogenannten Entspannung statt. Aber es ist möglicherweise noch verfrüht, ein endgültiges Urteil über Nixon zu fällen, da der Ruf eines Politikers oft weniger auf den eigenen Leistungen beruht, als vielmehr auf dem Vergleich dieser Leistungen mit denen seiner Nachfolger. Ein Nachfolger könnte sich als so erbärmlich erweisen, daß sogar ein mittelmäßiger Politker zu einer eindrucksvollen historischen Gestalt wird. Und umgekehrt: Ein recht erstklassiger Staatsmann kann von einem Nachfolger mit noch größeren Leistungen in den Schatten gestellt werden. Die zuletzt genannte Möglichkeit gefährdet Nixons Rang bislang wohl nicht? Falls Sie dabei an Carter denken, so haben Sie recht. Und es ist noch viel zu früh, über Reagan zu sprechen. Aber lassen Sie uns wieder zu Nixon zurückkehren. Wissen Sie, Nixon ist für mich immer noch ein Rätsel. Aufgrund persönlicher Erfahrung im Umgang mit Politikern und Personen des öffentlichen Lebens in Amerika habe ich den Eindruck gewonnen, daß diese, sobald sie aus ihren öffentlichen Ämtern ausscheiden, dazu neigen, weiser, ausgeglichener, vorausschauender und staatsmännischer zu werden, oder wenigstens diesen Eindruck erwecken. Vielleicht lassen die Regierungsämter den natürlichen Fähigkeiten der Leute nur einen sehr begrenzten Spielraum. Nixon und viele der führenden Mitarbeiter aus seinem ehemaligen Stab liefern jedoch ein Beispiel für die Ausnahme von dieser Regel. In ihrem Fall erleben wir das Gegenteil. Soweit dies Nixon betrifft, glaube ich, daß es sich um mehr handelt als nur um das psychologische Trauma, das Watergate und der erzwungene Rücktritt hinterließen. In Nixons Amtszeit als Präsident fiel ein historischer Augenblick, der eine starke, zwingende Logik für sich hatte. Diese Logik bewirkte, daß er einige wichtige und realistische Entscheidungen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 96 traf. Mit anderen Worten, es könnte gut sein, daß die Geschichte Nixon über sich selbst und über seine Vergangenheit hinauswachsen ließ. Später aber, nach seinem Abschied vom Weißen Haus, löste er sich von der geschichtlichen Rolle und nahm wieder seine ursprünglichen Dimensionen an - intellektuell, politisch und persönlich. Die Entspannung ist der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn gewesen, aber jetzt hat er damit begonnen, sie lächerlich zu machen, so als versuche er, sich für das zu entschuldigen, was er getan hat. Manchmal scheint er sogar seine eigene Vergangenheit revidieren zu wollen, um sich für irgendwelche politischen Aufgaben in der Zukunft zu empfehlen. Sie glauben nicht, daß Nixon als ein großer Präsident in die Geschichte eingehen wird? Die Geschichte spielt manchmal sehr seltsame Streiche, was den Ruf von Politikern anbelangt. Lassen wir deshalb diese Art von Spekulationen beiseite. Aber es wäre fair, denke ich, wenn die Geschichte festhalten würde, daß er sein Land durch eine sehr schwere Zeit geführt und einen ziemlich bedeutenden Beitrag dazu geleistet hat, die Rolle Amerikas in der Welt neu und realistischer zu definieren. Ich spreche selbstverständlich nur von der Außenpolitk, obgleich Nixons Vergangenheit sogar in diesem Bereich widersprüchlich ist. Was Nixons Innenpolitik betrifft, so ist das eine ganz andere Geschichte, die ihre Krönung durch Watergate erfuhr, wobei jedoch der Trend zu einer imperialen Präsidentschaft nicht erst mit Nixon begann, sondern in der amerikanischen Geschichte eine lange Tradition hat. Nixon bereiste im Frühjahr 1980 Europa, um für sein neuestes Meisterwerk mit dem Titel ‘The Real War’18 zu werben. Darin stellt er z. B. fest, daß sich während seiner ganzen Amtszeit Amerika ‘im Krieg mit der Sowjetunion’ befand. Wo ist diese ‘Generation des Friedens’, von der er nach dem Gipfeltreffen 1972 in Moskau sprach, geblieben? Er war so stolz auf das von ihm Erreichte, daß er sogar von Kissinger wegen seiner ‘Euphorie’ kritisiert wurde. All das ist nur ein weiterer deutlicher Ausdruck dessen, was wir vorher besprochen haben. Ich erinnere mich an den Nixon des Jahres 1974, während seines letzten Gipfeltreffens mit unserer Führung, als er bei jeder Gelegenheit öffentlich seine freundliche Haltung der UdSSR gegenüber und seine persönliche ‘Freundschaft’ mit unserem Generalsekretär betonte. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 97 Bis zu einem gewissen Grad bedauere ich die Erklärungen, die er jetzt von sich gibt. Auf eine Weise tut er mir nämlich leid, weil er die eine große Leistung seines Lebens - den Übergang zur Entspannung - jetzt selbst untergräbt, herabsetzt und sie kleiner erscheinen läßt, als sie in Wirklichkeit ist. Was sonst noch von seinen politischen Leistungen wird in der Geschichte bleiben? Seine Alger-Hiss-Affäre? Oder die Checkers-Rede?19 Im Mai 1980 erklärte Nixon in Westdeutschland, daß Afghanistan nichts anderes als eine Phase des Dritten Weltkriegs sei. Ich frage mich, wie Leute, die einst so hohe Ämter in ihrer Gesellschaft ausübten, so leichtfertig mit Worten um sich werfen. Wenn man jede Entwicklung auf intemationaler Ebene, die man mißbilligt, gleich als Beginn des Dritten Weltkriegs bezeichnet, verliert man mit der Zeit jeglichen Realitätssinn, obwohl es eine unabdingbare Voraussetzung für eine vernünftige Außenpolitik bleibt, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Wie beurteilt man in der Sowjetunion die Rolle von Präsident Ford? Wir anerkennen Präsident Fords ernstzunehmende politische Leistung, die 1974 in Wladiwostok erzielte Übereinkunft über SALT II. Sobald ihn jedoch die Rechte unter Druck setzte, begann er wieder auf eine Politik der harten Linie zurückzugreifen. Ich denke dabei an Maßnahmen wie etwa das Einfrieren der SALT-Gespräche, die Annahme von Programmen zur Aufrüstung und sogar den Versuch, das Wort Entspannung aus dem Englischen zu verbannen. Später, nachdem er die Wahl verloren hatte, soll er der Ansicht gewesen sein, daß die Panikmache, die angesichts des Drucks vom rechten Flügel erfolgte, ein Fehler und möglicherweise einer der Gründe für seine Niederlage war. Leider muß man sagen, daß Fords Verhalten zur Wahlzeit keine Ausnahme in der politischen Praxis in Amerika darstellte. Wie würden Sie die Auswirkungen der Carter-Administration auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen bewerten? Im Hinblick auf das, was sich bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen von 1979 bis 1980 abgespielt hat, ist man versucht, ausschließlich in dieser Regierung die alleinige Quelle alien Verdrusses auf diesem Gebiet zu sehen. Aber je öfter man heutzutage Nixon, Kissinger oder Ford hört, desto leichter ist es, dieser Versuchung zu widerstehen. Und Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 98 ich möchte fair sein. Die negativen Tendenzen in unseren Beziehungen nahmen lange vor Carter ihren Anfang. Erste Angriffe auf die Entspannung waren bereits 1972 zu beobachten. Später, in den letzten Monaten der Regierungszeit Nixons, schränkte das Pentagon die diplomatische Handlungsfreiheit des Präsidenten sehr stark ein, mit dem Ergebnis, daß er 1974, was SALT II anbelangt, nur mit sehr wenigen substantiellen Verhandlungsvorschlägen nach Moskau kam. Ende des Jahres 1974 brachte der Kongreß das sowjetisch-amerikanische Handelsabkommen zum Scheitern. Später verhärtete Präsident Ford die amerikanische Verhandlungsposition bei den SALT-Gesprächen und leitete ein wichtiges Aufrüstungsprogramm ein. Weit davon entfernt, den Trend umzukehren, hat Carter dem sogar noch kräftig nachgeholfen. Aber am Anfang der Präsidentschaft Carters gingen die Entwicklungen noch nicht so ausschließlich in eine Richtung. Welche Haltung nahm man in der UdSSR anfangs zu Carter ein? Da Carter praktisch in seinem eigenen Land unbekannt war, was wollte man da von uns erwarten? Wir hatten natürlich einige Informationen über ihn und, wie in solchen Fällen üblich, gab es einige Dinge, die zur Besorgnis Anlaß geben konnten, genauso wie andere Dinge als hoffnungsvolle Anzeichen interpretiert werden konnten. Nachdem Carter Präsident wurde, hielt es die sowjetische Regierung für angebracht, unmißverständlich klarzustellen, daß sie weiterhin bereit war, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern und in Bereichen von gemeinsamem Interesse zusammenzuarbeiten. Aber unsere Haltung wurde nicht erwidert. Wiederum möchte ich die Situation nicht vereinfachen. Es gab damals heftige Auseinandersetzungen innerhalb der amerikanischen Machtelite um die Außenpolitik. Carter gab den Falken zu einigen Hoffnungen Anlaß, aber bei ihrem Antritt war die Administration in ihrer Gesamtheit nicht von vornherein darauf festgelegt, die Rüstungsbegrenzung und die Entspannung zu zerstören. Daraufhin begann die Rechte, Carter als liberal hinzustellen und neue Gruppierungen zu schaffen, um Druck auf die Administration auszuüben, wodurch versucht werden sollte, jeden positiven Schritt bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu blockieren und gleichzeitig für Carter Anreize zu schaffen, nach rechts zu rücken. Das ‘Committee on the Present Danger’ wurde fast wie ein Schattenkabinett aufgebaut, ausgestattet mit der starken Rückendekkung der Elite, mit engen Verbindungen zu den Machtzentren und einer insgesamt ‘achtbaren’ Fassade. Die älteren Gruppierungen der Falken wurden aktiver. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 99 Was, glauben Sie, hat Carter bewogen, diesem Druck nachzugeben? Wenn sich die Carter-Administration einhellig der Entspannung verschrieben hätte, hätte sie solchem Druck widerstehen können und eine konstruktive Führungsfunktion sowohl im Kongreß wie auch auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung erfüllen können. Aber das Problem war erstens, daß sowohl bei diesen wie auch bei anderen Problemen Carter selbst weder eine eindeutige Position hatte, noch eine Richtung deutlich zutage trat. Zweitens, das Lager der Entspannungsgegner hatte ziemlich namhafte Vertreter innerhalb der Administration, wie Zbigniew Brzezinski und James Schlesinger. Drittens hat Carter seine Fähigkeit, einen breiten Konsens herbeiführen zu können, der alle Gruppen zufriedengestellt hätte, überschätzt. Das Ergebnis war, daß Carters außenpolitischer Ansatz anfänglich durch Versuche gekennzeichnet war, in seine Politik wichtige Elemente beider Positionen, also der Verfechter wie der Gegner der Entspannung, einzubeziehen. Diese Ambivalenz hat nicht nur den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen geschadet, sondern auch den gerechtfertigten Eindruck erweckt, Carter habe tatsächlich keine zusammenhängende Außenpolitik. Hat man erst einmal einen solchen Eindruck erweckt, so darf man sich nicht wundern, warum man für sein Vorgehen keine Unterstützung finden kann. Sie erwähnten, Carter habe Signale der Sowjets erhalten. Noch vor der Amtseinführung nahm Carter Kontakte mit der sowjetischen Regierung auf. Offenbar hatte man ihn glauben gemacht, wir würden versuchen, ihn in der Zeit zwischen seiner Wahl und der Amtseinführung bzw. in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft zu testen. Er schien sehr besorgt zu sein, und man konnte merken, daß er eine Menge schlimmer Dinge über uns gehört hatte. Nun, er erhielt von uns sehr positive Antworten, z. B., daß er unbesorgt sein könne, daß wir nicht die Absicht hätten, den neuen Präsidenten zu testen, und daß wir bereit seien, auf eine Verbesserung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten hinzuarbeiten. Tatsächlich hat die Sowjetunion auch darauf geachtet, während des Übergangs von einer Administration zur anderen auf dem wichtigen Gebiet der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen keinerlei Schwierigkeiten zu schaffen. Dann kam Leonid Breschnews Rede in Tula, im Januar 1977, am Vorabend der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten. Ja, der Generalsekretär sprach von den enormen Anstrengungen, die Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 100 unternommen worden waren, um die Entspannung Wirklichkeit werden zu lassen, von der Notwendigkeit, das Kapital, das auf dem Gebiet der Entspannung angesammelt worden war, nicht zu vergeuden. Er sagte, ‘wir sind bereit, zusammen mit der neuen US-Administration einen neuen großen Schritt vorwärts in den Beziehungen zwischen unseren Ländern zu tun’. Er rief zu einer raschen Übereinkunft über den SALT II-Vertrag auf, der schnellstens Gespräche über SALT III folgen sollten, zu neuen Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen und zur Einigung bei den Wiener Gesprächen über die beiderseitige Abrüstung und Truppenreduzierung in Mitteleuropa. Er stellte einige wichtige Punkte im Zusammenhang mit der sowjetischen Militärdoktrin und mit militärischen Konzepten klar, die in den USA zum Gegenstand heißer Diskussionen geworden waren. Die sowjetische Regierung sagte, daß der Weg zu besseren Beziehungen offenstehe, daß wir bereit seien, die Entspannung fortzusetzen. Aber die Erwiderung aus Washington, die ein paar Wochen später erfolgte, war ganz anderer Natur. Sie denken an die Menschenrechtskampagne. Aber Schutte wie die Benutzung des amtlichen Briefpapiers des Weißen Hauses für einen persönlichen Brief an den Dissidenten Sacharow wurden auch in USA weithin kritisiert, so auch von dem Magazin Time, James (Scotty) Reston von der New York Times und vielen anderen. Aber es gab den Brief nun einmal, und die nachfolgenden Ereignisse haben gezeigt, daß er nicht als ein isolierter Schritt betrachtet werden konnte. Dem folgte übrigens im Juni 1977 ein weiterer persönlicher Brief, dieses Mal von der neunjährigen Amy Carter an einen russischen Dissidenten, der noch dazu in Paris lebt. Noch wichtiger als jene Briefe war die Tatsache, daß die plötzliche ‘Menschenrechtskampagne’ Hand in Hand einherging mit einem jähen Wechsel der politischen Position der Vereinigten Staaten gegenüber der UdSSR. Außenminister Cyrus Vance besuchte im März 1977 Moskau, und die Vorschläge, die er hierbei zu SALT II unterbreitete, stellten einen ganz erheblichen Bruch mit der Übereinkunft von Wladiwostok von 1974 dar. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 101 War das ein Schock für Sie? Nun, wir hatten Hinweise darauf, daß sich die Dinge in diese Richtung entwickelten. Aber das hat die Sache nicht sehr viel einfacher gemacht. Ich erinnere mich an jene Tage sehr genau. Mein Eindruck damals war, daß unsere Vertreter bei den Gesprächen mit Cyrus Vance und seinen Begleitern bis zum letzten Augenblick seines Moskau-Aufenthalts erwarteten, daß Vance schließlich doch noch Realistischeres auf den Verhandlungstisch legen würde, mindestens als Ausgangsmaterial für die nächste Verhandlungsrunde. Es fiel ihnen schwer zu glauben, daß das anfängliche Verhandlungspaket schon alles gewesen sein sollte, was er zu bieten hatte, daß er die weite Reise nach Moskau gemacht habe, um uns Vorschläge zu unterbreiten, die so unverhüllt einseitig waren und so offen darauf abzielten, einseitige Vorteile für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Bald wurde klar, daß der erste Besuch von Außenminister Vance in Moskau zum Scheitern verurteilt war. Könnten Sie sich denken, daß sich Kissinger auf solch eine vergebliche Reise eingelassen hätte? Ich hatte es von Vance genauso wenig erwartet - er persönlich verdient Hochachtung als Staatsmann und Diplomat. Offen gesagt, sogar heute verstehe ich noch nicht, wie das alles geschah. Was Kissinger anbelangt, wenn Sie mich vor einigen Jahren gefragt hätten, hätte ich wahrscheinlich gesagt, nein, er hätte es nicht getan. Aber heute, angesichts seiner neueren Reden und schriftlichen Äußerungen, fange ich an, das zu bezweifeln. Henry Kissinger kommt aus dem Schoß des riesigen Finanzimperiums der Rockefellers, genauso wie Vance, Brzezinski und andere aus der Rockefellerschar, und was die Regierung Carter anbetrifft, so galt das für mehr als die Hälfte der wichtigsten Mitarbeiter. Ich kenne keine einzige amerikanische Administration der letzten Jahrzehnte, die nicht irgend jemand in ihren Reihen hatte, der auf die eine oder andere Weise mit den Rockefellers verknüpft war, bzw. mit Organisationen, in denen diese eine aktive Rolle spielten, wie z. B. dem ‘Council on Foreign Relations’ oder der ‘Trilateral Commission’. Doch das gilt nicht nur ausschließlich für die Rockefellers, sind diese doch nur der sichtbarste und bekannteste Teil der Elite der amerikanischen Konzerne, der unserer Meinung nach das in der Außenpolitik tätige Establishment zu Diensten ist. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 102 So erwiesen sich also die allerersten Gespräche, die die Carter Administration in die Wege geleitet hat, als ein Reinfall. Ja, sie waren ein Fehlschlag. Die Gespräche hinterließen hier sehr große Enttäuschung. Am wichtigsten jedoch - wir sahen uns zu größter Sorge gegenüber dem gesamten Verhalten der neuen Administration und ihrer zukünftigen Politik veranlaßt. Schon die allerersten Monate der Präsidentschaft Carters warfen die Frage nach der Kontinuität der US-Politik auf. Die vorhergehende Regierung hatte eine Reihe von Abkommen mit der Sowjetunion geschlossen. Aber würde Carter diese Abkommen für verbindlich erachten? Oder würde die neue Adminstration alles von vorne beginnen wollen? Das waren die Fragen, die wir uns zu stellen hatten. Bald wurde deutlich, daß es in unseren Beziehungen ständig zu Schwankungen kam. Aber offen gesagt, im Westen empfindet man es genau umgekehrt, nämlich, daß diese Taktik der ständigen Wechselbäder typisch ist für die von der Sowjetunion betriebene Außenpolitik. Die sowjetische Außenpolitik war über die Jahre hinweg in hohem Maß beständig. Ich glaube, daß wir sogar im Westen in dieser Hinsicht einen guten Ruf genießen. Was die amerikanische Politik - speziell unter Carter - anbelangt, so sprechen die Tatsachen für sich. Das Jahr 1977 fing schlecht an, aber im späten Frühjahr und im Sommer verbesserte sich die Lage ein wenig, und im Oktober waren wir imstande, Einvernehmen über SALT II und den Nahen Osten zu erzielen. Wenige Tage später wurde die Übereinkunft, die den Nahen Osten betraf, praktisch widerrufen, und 1978 ging es insgesamt erneut bergab. Dieses Mal nahm die Sache sogar eine noch ernstere Wendung durch Brzezinskis Besuch in China und das Nato-Treffen im Mai in Washington. Im Sommer waren die Beziehungen wahrscheinlich schlechter als je zuvor in den siebziger Jahren... Glauben Sie nicht, daß Brzezinskis Einfluß in hohem Maß für jene Schritte der Carter-Administration verantwortlich war, die zu der allgemeinen Verschlechterung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen führten? Offensichtlich, er hatte Einfluß und hat ihn für negative Zwecke genutzt. Aber nach meiner Ansicht war Brzezinski innerhalb der Regierung nicht so sehr der Urheber antisowjetischer Bestrebungen, sondern sein Ein- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 103 fluß war vielmehr Ausdruck ihres Vorhandenseins. Die für seine Berufung Verantwortlichen konnten sich über seine Geisteshaltung und seinen Ruf nicht im Unklaren gewesen sein, da diese sowohl in den USA als auch im Ausland seit langem bekannt waren. So ist für mich das Maß an Freiheit, das Brzezinski bei der Beeinflussung der amerikanischen Außenpolitik hatte, ein Zeichen für die vorherrschende politische Stimmung innerhalb dieser Administration. Ich denke jedoch, daß, solche Leute wie Brzezinski in hohen Regierungsämtern zu haben, ein Luxus ist, den sich Amerika nur zu Zeiten der Entspannung leisten kann. Dieser Luxus kommt aber schon bald unerhört teuer zu stehen und wird gefährlich, weil diese Leute die Entspannung sehr schnell und wirksam untergraben. Was Brzezinski an der Chinesischen Mauer sagte, war lächerlich, wenn auch weniger lächerlich als dann eineinhalb Jahre später am Khyberpaß, an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Er hat eine Art Komplex, immer zur falschen Zeit vorpreschen zu müssen, das steht außer Zweifel. Tatsächlich ist also während der Regierungszeit Carters die Entspannung rasch dahingeschmolzen. Seit 1977 verloren die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zunehmend an Stabilität. Jede neue Runde erwies sich als noch abträglicher für die Entspannung als die jeweils vorhergehende. Was ebenfalls sehr schädlich für unsere Beziehungen war, das war der zunehmend hysterischer werdende antisowjetische Ton, nicht nur in den Massenmedien, sondern ebenso in offiziellen Verlautbarungen und in der Propaganda. Indem sie diese Kampagne anstiftete, ließ die Carter-Administration des weiteren einen wesentlichen Zusammenhang in unseren Beziehungen außer acht - die Wechselwirkung zwischen Substanz und Atmosphäre. Dieser Zusammenhang wurde von Kissinger treffend beschrieben, der schon 1974 warnte, ‘... wir können die Atmosphäre der Entspannung nicht ohne die Substanz haben. Es ist gleichermaßen klar, daß die Substanz der Entspannung in einer Atmosphäre des Mißtrauens und der Feindseligkeit verlorengehen wird.’20 Das Ergebnis war, daß wir am Ende weder die Atmosphäre noch die Substanz der Entspannung hatten. Ich bin der Meinung, daß Carters Rede vom Juni 1978 in Annapolis besondere Bedeutung hatte, war sie doch ein Indikator für die neuen gefährlichen Tendenzen in der amerikanischen Außenpolitik. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 104 Was an dieser Rede hat Sie so bedenklich gestimmt? Verschiedene Aspekte. Carters Angebot an die Sowjetunion, zwischen Konfrontation und Kooperation zu wählen, und seine Feststellung, die USA seien bereit, jeden dieser beiden Wege einzuschlagen, konnte nur bedeuten, daß Washington von der gemeinsamen Verpflichtung abrückte, die die beiden Länder in dem Dokument von 1972 über die grundlegenden Prinzipien ihrer Beziehungen eingegangen waren, ebenso wie in der Vereinbarung zur Verhinderung eines Nuklearkriegs aus dem Jahre 1973. Ich meine damit die Erklärung, die besagt, daß es im Atomzeitalter keine Alternative zur friedlichen Koexistenz geben kann. Die antisowjetischen Schmähungen in der Rede von Annapolis haben kaum eine Parallele in irgendeiner anderen offiziellen amerikanischen Verlautbarung seit den schlimmsten Tagen des Kalten Krieges. Ein Leitartikel der Prawda faßte die sowjetische Reaktion zusammen. Ja, das war eine detaillierte Analyse der Politik Carters, die die sowjetische Besorgnis zu dieser Zeit wiedergab. Sie enthielt eine ernsthafte Warnung, daß die Ereignisse eine gefährliche Wendung nehmen könnten. Gleichzeitig aber wiederholte der Leitartikel unsere Bereitschaft, für den Frieden und die internationale Sicherheit einzutreten, und wies - wie es darin hieß - die Einladung zurück, ‘dabei mitzuwirken, die Entspannung zu Grabe zu tragen’. Als im Juli 1978 in Genf das nächste Treffen zwischen Gromyko und Vance stattfand, begann sich die Lage erneut ein wenig zu bessem, und im Herbst 1978 sah es so aus, als würde SALT II bald unterzeichnet werden; doch mit dem Gefühl, dies könnte bald geschehen, hatten wir noch während des ganzen langen Winters von 1978 auf 1979 zu leben. Dann kam schließlich Wien. Ja, der Salt II-Vertrag wurde schließlich im Juni 1979 in der österreichischen Hauptstadt unterzeichnet. Das war in der Tat ein sehr wichtiges Ereignis. Es war nicht nur ein Schritt vorwärts, was die Rüstungskontrolle als solche anbelangte, sondern ein allen Widrigkeiten zum Trotz erzielter Fortschritt, der positive Auswirkungen auf die übrigen Rüstungsbegrenzungsgespräche und die allgemeine politische Atmosphäre haben konnte. Aber der Vertrag mußte erst noch ratifiziert werden, und es war klar, daß es in Washington um die Ratifikation zu erbitterten Auseinandersetzungen kommen würde. Die darauf folgenden Ereignisse sind noch so frisch in Erinnerung, daß sie wohl kaum erwähnt wer- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 105 den müssen. Alles in allem würde ich sagen: Wenn es überhaupt eines historischen Beispiels dafür bedarf, wie ein wichtiger Vertrag zunichte gemacht werden kann hier ist es. Hat SALT II noch immer eine Chance? Hoffentlich. Aber jeder Monat weiteren Aufschubs, vor allem, wenn er begleitet wird von einem ständigen Wachstum des Militärbudgets und der Inbetriebnahme neuer Waffensysteme, schmälert nicht nur die Chancen für eine Ratifikation, sondern auch den Wert des Vertrags. Ronald Reagan scheint die Absicht zu haben, entweder den SALT II-Vertrag neu zu verhandeln, oder ihn ganz fallenzulassen und gleich zu SALT III überzugehen. Die Sowjetunion hat bereits zum Ausdruck gebracht, daß sie die Idee einer Neuverhandlung des Vertrages zurückweist. Ich hoffe, wir werden auf dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt unserer Unterredung in Zusammenhang mit einer ausführlicheren Erörterung des Wettrüstens und der Rüstungskontrolle zurückkommen. Um wieder auf Carter zurückzukommen - bei dem Versuch zu analysieren, was geschah, könnte man zynisch werden und die recht plausibel klingende These aufstellen, daß die Unterzeichnung von SALT II für Carter ein notwendiger Schachzug war, um sich gegen die Angriffe der Liberalen in den USA und in Europa zu schützen. Bei einer Ratifizierung jedoch wäre er den Angriffen der Rechten ausgesetzt gewesen. Sind Sie selbst dieser Auffassung? Ich glaube nicht, daß Präsident Carter 1976 gelogen hat, als er sein Eintreten für die Idee der Rüstungskontrolle und eine Verringerung der Verteidigungsausgaben versprach und es sogar zu seinem obersten Ziel erklärte, die Abhängigkeit von Nuklearwaffen gänzlich abzuschaffen. Auch zweifle ich nicht an seiner Aufrichtigkeit, als er einige entschlossene Befürworter der Rüstungskontrolle in seinen Stab aufnahm. Aber offensichtlich war er nicht weniger aufrichtig, wenn er bei anderen Gelegenheiten ziemlich gegenteilige Ansichten äußerte. Und was vielleicht sogar noch mehr als seine Aufrichtigkeit gezählt haben mag, war sein Verlangen, die politische Unterstützung, die er erfuhr, zu festigen und seine Wiederwahl als Präsident zu sichern. Vergleiche ich den Carter von 1976 mit dem Carter von 1980, so fällt mir unweigerlich der altbekannte Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 106 Spruch von den guten Vorsätzen ein, mit denen der Weg zur Hölle gepflastert ist. Zusammenfassend würde ich sagen, daß das gesamte Gefüge der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen ausgehöhlt wurde, was zu Beginn des Jahres 1980 in einer offenen Kehrtwendung von der Entspannung zum Kalten Krieg seinen Höhepunkt fand. Aber dieser Prozeß der Aushöhlung begann, wie Sie selbst bereits an früherer Stelle sagten, schon bevor Carter Präsident wurde. Richtig. Die Möglichkeiten, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen positiv zu entwickeln, waren seit etwa 1974 geringer geworden. Das erste Bindeglied in den Beziehungen, das verlorenging, war der Handel. Nicht in dem Sinn, daß der Handel gänzlich eingestellt wurde Oder daß keine Aussicht bestünde, die Situation eventuell zu verbessern. Jedoch gait von 1972 bis 1973 der Handel als ein sehr vielversprechender Bereich der gegenseitigen Zusammenarbeit, gleichzeitig sah man darin eine Angelegenheit von großer politischer Bedeutung. Schließlich wurde das Jackson-Vanik-Amendment21 vom US-Kongreß angenommen, und die Situation verschlechterte sich. Seit dieser Zeit stagnierte der amerikanisch-sowjetische Handel, bis ihm die Carter-Administration Anfang 1980 praktisch den Todesstoß versetzte. Kissinger behauptet, daß das Jackson- Vanik-Amendment eindeutig eine Reaktion auf die plötzlich von Ihrer Regierung erhobene Steuer für jüdische Emigranten gewesen sei. Die Annahme des Amendments überraschte offensichtlich ihn selbst wie auch Nixon aufs äußerste. Soweit ich mich erinnere, gab es zu der Zeit, als das Jackson-Vanik-Amendment angenommen wurde, die Frage der Auswanderungssteuer nicht mehr, und sie stand deshalb in keinem direkten Zusammenhang mit der Entscheidung des Kongresses. Was die Auswanderungssteuer selbst anbelangt, so war sie der Versuch, eines der Probleme zu lösen, die in Zusammenhang mit einer neuen Entwicklung auftauchten - nämlich dem Anstieg der Zahl der Emigranten. Das Problem hing damit zusammen, daß der Staat enorme Summen für die Ausbildung jener Leute ausgab, die dann das Land verließen. Dieses Thema wurde gründlich diskutiert, und schließlich wurde die Entscheidung getroffen, jene Summen nicht einzutreiben. Nun, nachdem der Handel als Bindeglied ernsthaft geschwächt war, folgte als nächstes Glied der Kette der Gesinnungswandel bezüglich Europa. Vor 1975 nahmen die Amerikaner konstruktiv, wenn auch nicht sehr aktiv, an den Bemühungen teil, die Sicherheit und Zusammenarbeit Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 107 in Europa zu erhöhen. Nach 1975 erfuhr ihre Position jedoch eine drastische Veränderung. Man könnte sogar sagen, daß sie tatsächlich Versuche starteten, den Prozeß der Wiederannäherung in Europa zu sabotieren. Diese Haltung trat in Belgrad und später in Madrid so überaus deutlich zutage, daß sogar bei den westeuropäischen Verbündeten der Vereinigten Staaten eine gewisse Verstimmung hervorgerufen wurde. Dadurch, daß sich die amerikanische Delegation auf das Thema der Menschenrechte konzentrierte, sollte der Mangel an konstruktiven US-Vorschlägen zu anderen wichtigen Themen elegant verschleiert werden. Nach Europa kam die Wende in der Nahostfrage. Wie ich schon sagte, veröffentlichten Andrej Gromyko und Cyrus Vance im Oktober 1977 ein Dokument über die Prinzipien eines gemeinsamen Vorgehens bei den Nahostproblemen. Das war ein überaus bedeutender Schritt und das Ergebnis beharrlicher Anstrengungen, durch die unsere Ansichten einander angenähert werden sollten. Aber nur wenige Tage später brachen die USA ihr Versprechen, mit der Sowjetunion bei der Lösung des Problems zusammenzuarbeiten. Warum, glauben Sie, haben die USA die gemeinsame Haltung aufgegeben? Einer der Gründe war die von einigen Beratern des Präsidenten geäußerte Befürchtung, daß ein solches Vorgehen das Verhältnis der Administration zu einflußreichen Teilen der jüdischen Gemeinde komplizieren würde. In noch jüngerer Zeit wurden wir Zeugen eines ähnlichen Meinungsumschwungs des Weißen Hauses, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einer Resolution die neuerrichteten Siedlungen am Westufer des Jordans verurteilte. Ein sogenanntes ‘Mißverständnis’ mit dem Botschafter bei den Vereinten Nationen, McHenry. Ja, das ist zu einem weitverbreiteten Verhaltensmuster geworden, was einmal mehr zeigt, wie schwierig es ist, mit den Vereinigten Staaten partnerschaftlich zu verkehren. Aber lassen Sie mich zum Jahr 1977 zurückkehren. So kam es also dazu, daß die Carter-Administration ein weiteres Glied der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zunichte machte - nämlich die gemeinsamen Anstrengungen, einen der gefährlichsten regionalen Konflikte zu lösen. Als diese Gemeinsamkeit wegfiel, schwanden auch die Hoffnungen auf eine erfolgreiche Lösung der Probleme in dieser Region - der labilsten überhaupt auf dieser Erde. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 108 Auf diese Weise kamen wir allmählich an einem Punkt an, wo nur mehr ein bedeutendes Bindeglied übrig blieb: die Rüstungsbegrenzung, die gemeinsamen Bemühungen, das Wettrüsten einzudämmen, vor allem im strategischen Bereich also die Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Waffen. Selbstverständlich ist das zugleich das wichtigste Bindeglied, das direkt in Zusammenhang steht mit dem Hauptziel der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen: der Verhinderung eines Atomkriegs. Aber aufgrund negativer Entwicklungen auf anderen Gebieten war auch dieses Glied ernsthaft geschwächt, und als schließlich alles sozusagen nur nah an einem Faden hing, waren die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen fast ausschließlich von SALT abhängig, ohne daß viel übrigblieb, was diesen Beziehungen oder SALT und der Rüstungsbegrenzung selbst hätte förderlich sein können. Heißt das, das nunmehr politisch isolierte SALT-Abkommen ist viel leichter verletzbar geworden? Ja. Ich hatte gehofft und ich bin sicher, daß viele diese Hoffnung teilten, daß - falls die Dinge den richtigen Verlauf genommen hätten, der Vertrag also ratifiziert worden wäre und Amerika seine Verpflichtungen erfüllt hätte - dann eine schrittweise Wiederherstellung der beschädigten Bindeglieder ermöglicht worden wäre. Aber unglücklicherweise haben sich diese Hoffnungen bis jetzt nicht erfüllt. Sobald wir - falls es dazu kommt - anfangen, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen - und ich hoffe, das geschieht in nicht allzu ferner Zukunft -, sollten wir diese Lehren in Erinnerung behalten. Dem Wettrüsten Einhalt zu gebieten, wird natürlich die wichtigste Aufgabe bleiben. Aber andere Bereiche im Rahmen der Beziehungen sollten nicht gering geachtet werden, einmal um ihrer selbst willen nicht, zum anderen deshalb nicht, weil ohne sie auch jeglicher Fortschritt bei der Rüstungsbegrenzung schwieriger zu erzielen ist. Andererseits wird eine Beschleunigung des Prozesses der Rüstungskontrolle, die während der letzten Jahre unnötigerweise so sehr verzögert wurde, eine ganz wesentliche Voraussetzung sein für eine Stärkung der Entspannung insgesamt. Das hört sich wie Kissingers Vorliebe für politische Verknüpfungen an. Ich bin gegen Verknüpfungen im Sinne Kissingers, weil damit gemeint war, daß die Lösung eines komplizierten Problems abhängig zu machen ist von der Lösung eines anderen noch komplizierteren Problems, was nirgendwohin führt. Und ich bin gegen eine Beendigung oder eine Un- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 109 terbrechung der Anstrengungen bei der Rüstungskontrolle, weil wir schon anderswo genug Probleme haben. In diesem Sinne sollten die Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung so gut wie möglich von allen anderen Problemen getrennt werden. Aber es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß alle Bereiche in unseren Beziehungen bis zu einem gewissen Grad voneinander abhängen und die Verbesserung der Beziehungen in einem Bereich zu mehr gegenseitigem Vertrauen führt sowie ganz allgemein eine bessere Atmosphäre schafft, die hilfreich ist für die Verbesserung der Beziehungen auch auf anderen Gebieten. Das hört sich so ähnlich an wie die Forderungen von Reagan, SALT könne nur dann erfolgreich fortgeführt werden, wenn die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan zurückzieht, ihre Politik in Afrika ändert, usw. Nein, die Sowjetunion stimmt einer solchen Haltung nicht zu, und dies nicht nur deshalb, weil darin Forderungen enthalten sind, die wir als absolut ungerechtfertigt betrachten. Diese Haltung ist von Grund auf verkehrt. Sie beruht auf dem erwähnten traditionellen Konzept der Verknüpfungen (‘linkage’ concept), wodurch unsere Beziehungen in einer ausweglosen Sackgasse landen. Nach der Logik dieses Konzepts wird jeglicher Fortschritt in den Verhandlungen zur Rüstungskontrolle nur in dem Moment möglich - und zwar nur dann -, wenn die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern ungetrübt sind. Mit einer solchen Haltung würden wir jedoch nie Fortschritte bei der Rüstungskontrolle erzielen, vor allem wenn man bedenkt, daß das gegenwärtige Wettrüsten selbst einen Hauptgrund für die spannungen und für das gegenseitige Mißtrauen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen darstellt, es somit aus sich selbst heraus ständig die Gefahr der Konfrontation und des Konflikts schafft. Nebenbei gesagt, solch ein wesentlicher Durchbruch bei der Rüstungskontrolle, wie es SALT I war, erfolgte nicht gerade in der Atmosphäre einer allgemeinen Idylle. Heute sind es nicht nur die Vereinigten Staaten, die über manche Aspekte der Politik der anderen Seite Unmut verspüren. Die Sowjetunion hat mehr als genug Gründe, mit der amerikanischen Politik unzufrieden zu sein. Folgt man der Logik der ‘linkage’, so sollten beide Seiten den Dialog einstellen, oder ihn zumindest auf den Austausch gegenseitiger wütender Anschuldigungen beschränken, wobei man Probleme vorwegnimmt, die zur allgemeinen Unzufriedenheit beitragen, und darauf hofft, daß sich die Probleme von selbst lösen. Aber das wird nie geschehen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 110 Das, woran ich denke, hat mit ‘linkage’ nichts zu tun. Es dreht sich hierbei nicht um Forderungen und Ultimaten, sondern um einen Aufruf, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf breiter Front zu entwikkeln. Anders ausgedrückt, es sollte ganz klar erkannt werden, daß eine Verbesserung der politischen Atmosphäre und des gegenseitigen Verständnisses einen Fortschritt auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle wesentlich erleichtern und größere Gewähr für den Frieden bieten würde, dieser wichtigsten Dimension der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen also großer Nutzen erwachsen würde. Präsident Nixon hat die Gepflogenheit jährlicher Gipfeltreffen mit den Sowjetführern ins Leben berufen. Carter hat auch diese Entwicklung vereitelt und abgebrochen. Ja, die schon zur Gewohnheit gewordene Praxis eines Zusammentreffens der Führer unserer beiden Länder war drei Jahre lang unterbrochen. Und das war selbstverständlich nicht sehr hilfreich. Gleichzeitig würde ich aber sagen, obwohl sie unerhört wichtig sind, sind Gipfeltreffen nicht der einzige Weg, um das politische Klima zu verbessern. Nach der Konferenz der Blockfreien in Belgrad 1961 wurden Nehru, Sukarno, Nkrumah und Keita als Emissäre nach Moskau und Washington entsandt, um auf solche regelmäßigen ausführlichen Aussprachen zwischen den Supermächten zu drängen. Gipfeltreffen sind wichtig, ja. Aber je gewichtiger ein Instrument der internationalen Politik ist, mit um so größerer Sorgfalt und Präzision sollte es zur Anwendung kommen. Andernfalls können die Ergebnisse andere als die erwünschten sein. Ein Gipfeltreffen, das unzureichend geplant und ungeschickt durchgeführt wird, kann gefährliche Konsequenzen haben. Gipfeltreffen, die zu leerer Routine werden, setzen die gesamte Struktur der bestehenden Beziehungen aufs Spiel. Wir sind für Gipfelgespräche mit tatsächlichem Gehalt. Sowohl Nixon wie auch Kissinger vertreten in ihren Memoiren die gleiche Ansicht. Selbstverständlich muß man dann nach einem erfolgreichen Gipfel auch die eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Das Gipfeltreffen von Wladiwostok von 1974 brachte sehr vielversprechende Ergebnisse. SALT II nahm 1975 einen günstigen Verlauf. Niemand bei uns hätte erwartet, daß die Amerikaner so lange brauchen würden, um sich zur Un- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 111 terzeichnung zu entschließen. Und jetzt, nach einem weiteren Gipfel in Wien und abermals im Widerspruch zu dem erzielten Ergebnis, wurde die Ratifizierung auf unbestimmte Zeit verschoben. Welchen Eindruck hatten Sie beim Lesen der Memoiren Kissingers? Mein Eindruck ist ein etwas ambivalenter. Für den, der sich mit den Vereinigten Staaten befaßt, ist dieses Buch Pflichtlektüre. Der Autor schreibt oftmals recht beeindruckend und manchmal gar brillant. Man muß aber hinzufügen, daß der Autor so berühmt und anerkannt ist, daß er sich meiner Meinung nach hätte leisten können, einige der Verzerrungen zu unterlassen, besonders, was die sowjetische Außenpolitik betrifft. Versuche, die Geschichte nachträglich umzuschreiben, sind immer enttäuschend. Könnte es seinem Wunsch entsprungen sein, seinen Lebenslauf nach der neuesten politischen Mode und für seine erkennbar werdenden politischen Ambitionen ‘aufzufrischen’? Ich frage mich. Allzu oft hat man den Eindruck, die gegenwärtige harte, antisowjetische Haltung würde auf die jüngste Vergangenheit projiziert werden. Kissinger stellt sich selbst in seinen Memoiren als überaus erfolgreich dar. Nun, Memoiren werden nie in der Absicht geschrieben, den Ruf des Autors zu schmälern. Die Frage ist, wie man Erfolg in diesem speziellen Fall definiert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Kissinger fast entschuldigt für die Entspannung und dadurch seine Erfolge so darstellt, als hätte er die Russen ausgetrickst und manipuliert, einseitige Vorteile für Amerika erlangt, etc. Ich bin mir sicher, daß er bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen überhaupt nichts von Wert erreicht hätte, wäre das seine hauptsächliche Arbeitsweise gewesen. Kein Zweifel, Henry Kissinger kann erhebliche Leistungen für sich verbuchen. Aber sie kamen durch seinen Sinn für die Realitäten zustande, durch seine Fähigkeit, Bereiche gemeinsamen Interesses aufzuspüren und auszuloten und dann im Rahmen dieser Interessen für beide Seiten akzeptable Lösungen zu suchen. Persönlich beeindruckt mich der Staatsmann Kissinger mehr, der 1974 feststellte: ‘Es kann keine friedliche internationale Ordnung geben ohne ein konstruktives Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion’, als der Politiker Kissinger, der ein paar Jahre später in seinen Memoiren versucht, die Bedeutung dessen, was in unseren Beziehungen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erreicht wurde, herabzusetzen. Und natürlich fesselt mich - sowohl als politische Gestalt, wie auch als Wissenschaftler - weit Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 112 mehr der Henry Kissinger, der nachweist, daß sich militärische Macht heute nicht mehr in politischen Einfluß umsetzt und daß ‘die Aussicht auf entscheidende militärische Vorteile, selbst wenn diese theoretisch möglich waren, politisch nicht akzeptabel ist, da keine Seite eine massive Verschiebung des atomaren Gleichgewichts tatenlos hinnehmen wird’, als der Kissinger, der dazu beitrug, daß eine neue Runde im Wettrüsten zur Vorbedingung für eine Ratifikation des SALT II-Vertrags erklärt wurde, womit man darauf abzielt, militärische Überlegenheit zu erlangen. Welche besonderen Ungenauigkeiten haben Sie in seinen Memoiren festgestellt, was die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft? Ich hatte während der ersten Gipfelgespräche den Eindruck, daß sich Kissinger aufrichtig und überschwenglich über die Erfolge bei diesen Gesprächen freute, und ich habe starke Zweifel, ob die Beschreibung dieser Ereignisse in seinen Memoiren mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nach meiner Erinnerung unterschied sich die Stimmung der amerikanischen Delegation beim Gipfeltreffen 1972 ganz erheblich von dieser ziemlich zynischen, selbstsicheren Haltung, wie sie Kissinger beschreibt. Die Amerikaner sahen unserer Antwort auf die Bombardierung Hanois und die Verminung des Hafens von Haiphong, die sie einige Wochen vorher befohlen hatten, nervös entgegen, ebenso wie auch einem denkbaren Zusammenbruch des Gipfels, da dies ein besonders schwerer Schlag für die Nixon-Administration gewesen wäre angesichts der inneren Unruhen und der Präsidentschaftswahlen in jenem Jahr. Und als schließlich deutlich wurde, daß sich unsere Führung - obwohl sie jene Handlungen der Amerikaner verurteilte - verantwortungsbewußt und mutig genug zeigte, um zu erkennen, daß es nicht an der Zeit war, Auge um Auge und Zahn um Zahn Vergeltung zu fordern, wohl aber an der Zeit, einen größeren Durchbruch bei unseren Beziehungen zu erzielen, da zeigten sich die Amerikaner tief beeindruckt. Ich erinnere mich an einen von ihnen, der in einem persönlichen Gespräch nachdenklich bemerkte, der Gang der Geschichte sei während des ersten offiziellen Empfangs im Granowitaja-Saal des Kremls spürbar geworden. Sogar diese hartgesottenen Leute aus der Nixon-Administration fühlten, daß sich eine bedeutende historische Wende ereignete, und waren voller Hoffnung für die Zukunft. Das war ein sehr bemerkenswertes und charakteristisches Gefühl, aber es fehlt in den Memoiren fast gänzlich. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 113 Wie beurteilen Sie Carters Außenpolitik im Vergleich mit Kissingers Haltung? Kissinger versuchte in der Tat, das Verhaltensmuster des Kalten Krieges zu überwinden, wenn auch die Versuche bisweilen unzulänglich und begrenzt gewesen sein mögen durch die herkömmliche Vorstellung vom Gleichgewicht der Kräfte. Selbstverständlich haben einige Leute aus dem Team von Carter alles in ihren Kräften Stehende getan, um sich von der Politik Kissingers zu unterscheiden, aber letzten Endes gelang es ihnen nicht, eine realistische Alternative zu entwickeln. Es ist nahezu unmöglich, ein durchgehendes Raster in Carters Außenpolitik festzustellen. Am Anfang gab es konzeptionelle Neuerungen, die das Nord-Süd-Verhältnis, die Rüstungsbegrenzung und neue Prioritäten im Bereich der amerikanischen Außenpolitik betrafen, danach lief nach vielen Schwankungen und sprunghaften Veränderungen alles auf eine zusammengestümperte Politik der Konfrontation hinaus, wobei all jene Lehren, die Kissinger in den frühen siebziger Jahren aus der jüngsten Geschichte zu ziehen versuchte, vollkommen außer acht gelassen wurden. Damit sind wir wieder bei der vorrangigen Herausforderung, der die amerikanische Außenpolitik heute gegenübersteht - der Anpassung an die neuen Gegebenheiten der internationalen Lage, an die sich verändernden Bedingungen im In- und Ausland, die auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluß nehmen. Mitunter kann dieser Prozeß der Anpassung verzögert oder gehemmt werden, wie es auch jetzt der Fall ist, aber die grundlegende Tendenz ist nicht umkehrbar und wird sich wieder durchsetzen. Was ist Ihrer Ansicht nach bei einem Vergleich Kissingers mit Brzezinski der Hauptunterschied zwischen diesen Managern der Diplomatie? Selbst wenn man ihre sehr unterschiedlichen intellektuellen und politischen Möglichkeiten außer acht läßt, so bleiben dennoch, glaube ich, einige wichtige Unterschiede, was den Stil betrifft. Der wichtigste Punkt dabei ist, daß Kissinger in allererster Linie ein Jünger der Schule der Realpolitik ist, ein Realist in dem Sinn, daß er nur die greifbareren Faktoren der Politik beachtet, wogegen Brzezinski ein Ideologe ist, dessen Ansichten in hohem Maße von Ideen und Einstellungen beeinflußt sind, die einem vorgefaßten ideologischen Konzept entspringen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 114 Und welche Auswirkungen haben diese Unterschiede auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen? Eine Folge ist, daß aus Kissingers Sicht die Sowjetunion lediglich ein weiterer Mitspieler auf der internationalen Bühne ist, der, je nach Umständen, alles sein kann, vom unversöhnlichen Feind über einen traditionellen Rivalen, bis hin zum Partner. Nach Brzezinski ist die UdSSR in allererster Linie eine ‘illegitime’ Form der Gesellschaft, mit der normale dauerhafte Beziehungen unmöglich sind, Solange nicht grundlegende interne Veränderungen stattgefunden haben. Ich glaube, das geht über die persönlichen Unterschiede dieser beiden Männer hinaus; was wir hier vorfinden, ist in Wirklichkeit das Spiegelbild der beiden einflußreichen Schulen des politischen Denkens in Amerika. Kissinger schien sich vor allem mit Ost- West-Beziehungen zu befassen, wogegen einige der Auffassung sind, Brzezinski konzentrierte sich auf West-West- und Nord-Süd-Probleme. Richtig, die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die West-West- und Nord-Süd-Beziehungen war eine der bevorzugten Ideen Brzezinskis im Rahmen des Trilateralismus. Zwar war alles hinter harmonisch klingender Rheotrik versteckt, aber der tatsächliche Kern war unmißverständlich; es ging darum, für einen Stillstand im Entspannungsprozeß - also bei den Ost-West-Beziehungen - rationale Gründe vorzuschieben, ebenso wie für den Rückzug von den Bemühungen, die in diesem Bereich dringendsten Probleme zu lösen. Das Ergebnis war, daß weder die West-West-Beziehungen noch die Nord-Süd-Beziehungen, von den West-Ost-Beziehungen erst ganz zu schweigen, von solch einer Konstruktion profitierten. Unter der Carter-Administration gab es keinen wesentlichen Fortschritt bei den Nord-Süd-Beziehungen, da der anfängliche Flirt mit den Entwicklungsländern schrittweise durch eher traditionelle, militärisch-interventionistische Konzepte ersetzt wurde. Gleichzeitig, nach nutzlosen Versuchen, die Ost-West-Beziehungen in ihrer Priorität zurückzustufen, wurden diese wieder an die Spitze der Tagesordnung in der amerikanischen Außenpolitik gestellt, doch unglücklicherweise war die Administration nicht imstande, diese Politik in einem Kontext der Entspannung zu verfolgen, sondern tat dies im Kontext der Konfrontation. Das hat seinerseits die gesamte Struktur der US-Außenpolitik verzerrt. Es war, als wenn man mit einem Kompaß Unfug treibt, anstatt ihn anzeigen zu lassen, was er entsprechend den Gesetzen des Magnetismus an- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 115 zeigen muß. Das vorhersehbare Ergebnis war der Verlust der Orientierung in der Außenpolitik. Wenn ich das sage, dann keineswegs in der Absicht, auf irgendeine Weise die Bedeutung der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit Westeuropa und Japan oder anderen Teilen der Welt zu schmälern. Auch streite ich nicht ab, daß jedermann die USA eingeschlossen - das Recht hat, das System von Beziehungen aufzubauen, das seinen jeweiligen Interessen am besten entspricht. Was ich aber damit betonen will, ist, daß - gleichgültig wie wichtig die übrigen Faktoren sein mögen - man nicht die Ost-West-Beziehungen an das Ende der Prioritätenliste abschieben kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, einen ungeheuer folgenschweren Fehler zu begehen. Sehr ernste und drängende Probleme müssen im Rahmen der Ost-West-Beziehungen gelöst werden. Die Sowjetunion ist ohne Zweifel das zentrale und grundlegende Thema, für das sich Kissinger in seinen Memoiren interessiert. Sie sagen mir das so, als ob mir das schmeicheln sollte. Aber das ist nicht eine Frage der Eitelkeit oder des Verlangens, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen, ganz zu schweigen davon, daß das Interesse an uns ganz verschiedene Aspekte haben kann. Im Rückblick würde ich sagen, daß wir, angefangen bei der Intervention der Alliierten von 1918/1919, in vielen Fällen die völlige Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit dem damals starken amerikanischen Interesse an unserem Land vorgezogen hätten. Offensichtlich hatte Brzezinski, als er die übersteigerte Aufmerksamkeit beklagte, die die Ost-West-Beziehungen fanden, nicht die Vorteile solch ‘wohltuender Vernachlässigung’ im Auge. Bei ihm hörte sich das nach einer Aufforderung an, die Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen und zur Lösung der Probleme zu verlangsamen, bzw. sie ganz einzustellen. Aber die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen sind angesichts der mit ihnen für die Menschheit verbundenen Gefahren wie auch Chancen in der Tat eine Angelegenheit von höchster Priorität. Auch ist die Bedeutung, die sie in diesem Rahmen haben, keine Frage, über die wir zu entscheiden hätten, und sie ist auch unabhängig von Vorlieben. Wir sind auf beiden Seiten ganz einfach verpflichtet, unseren Beziehungen zueinander unsere ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen, ob wir das wollen oder nicht. Die wichtigsten gegenwärtigen Probleme von intemationalem Rang haben ihren Dreh- und Angelpunkt in den Ost-West-Beziehungen, das gilt auch für die Probleme im Bereich der West-West- und Nord-Süd-Beziehungen. Sie hängen immer noch weitgehend ab von der Beziehung zwischen so- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 116 zialistischen und kapitalistischen Ländern - einschließlich der Beziehung zwischen den beiden Großen, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, natürlich. Hegel hat einmal gesagt, daß die Menschen nichts aus der Geschichte lernen. Läßt sich dieser Ausspruch auch auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen anwenden? Hegel hat ein großartiges Gedankengut hinterlassen, wogegen mein Gedächtnis oftmals Lücken aufweist. Ich erinnere mich an andere Gedanken aus seiner Philosophie, die nachdrücklich das Gegenteil betonen: die Fähigkeit der Vernunft, die Geschichte zu verstehen und daraus zu lernen. Ich bezweifle aber nicht, daß dieser große Dialektiker auch Gedanken der von Ihnen erwähnten Art hervorgebracht hat. Ich glaube, man kann für beide Standpunkte Argumente anführen, reflektieren sie doch jeweils eine Seite des komplexen Verhältnisses der Menschheit zu ihrer Geschichte. Wären die Menschen gänzlich unfähig gewesen zu lernen, dann gäbe es wohl überhaupt keine Geschichte. Wären sie jedoch begabte und fleißige Schüler gewesen, die die Lehren der Geschichte gründlich studiert hätten, wäre die Geschichte wohl ganz anders verlaufen. Die Menschheit würde dann schon seit langem in einem Reich fortwährenden Friedens, absoluter Sicherheit und völliger Gerechtigkeit leben. Doch beide - sowohl die Geschichte wie die Menschheit - bewegen sich irgendwo zwischen diesen Extremen. Offensichtlich trifft das auch auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu. Unsere beiden Länder haben überlebt, was allein schon ein Beweis für ihre Fähigkeit ist, etwas zu lernen. Aber sie leben in großer Gefahr und unter schlimmeren Umständen als nötig wäre. Und das heißt unter anderem, daß nicht immer Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Das vergangene Jahrzehnt hat viele positive Veränderungen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen mit sich gebracht - dennoch, so wie ich es heute beurteile, glaube ich, daß wir es insgesamt ein Jahrzehnt der versäumten Gelegenheiten nennen können. Was die jüngsten Entwicklungen in unseren Beziehungen anbelangt, so kann man sich wirklich fragen, ob die Geschichte überhaupt verstanden wird, eingeschlossen die Lehren des Kalten Krieges, des Krieges in Vietnam und viele andere, die vor einem Jahrzehnt zu einer Neueinschätzung geführt haben. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 117 Wird die neue Administration geeignete Lehren ans der Geschichte ziehen? Ja, diese Frage wird wieder äußerst akut. Aber so wichtig die Geschichte auch ist, genügt es nicht, aus der Vergangenheit zu lernen. Jede Generation muß neuen Herausforderungen trotzen, für die die Vergangenheit keine Anhaltspunkte bietet, Herausforderungen, die von dieser Generation allein gemeistert werden müssen. Einige der Aufgaben, denen wir Zeitgenossen gegenüberstehen, sind historisch einzigartig, und es gibt bei dem Versuch, sie zu lösen, keinen Spielraum für Fehlentscheidungen. Die wichtigste Aufgabe ist natürlich die Verhinderung des Krieges. Die Generation unserer Eltern, die Augenzeuge des Ersten Weltkriegs wurde und in diesem Krieg gekämpft hat, hat einen tragischen Fehler begangen, als sie versäumte, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen und dadurch zuließ, daß es zum Zweiten Weltkrieg kam. Ich sage es noch einmal, das war eine echte Tragödie. Aber die Menschheit als biologische Spezies und auch die einzelnen Länder, die am meisten darunter gelitten haben, haben es geschafft zu überleben. Sollte dieser tragische Fehler wiederholt werden, so wird es höchstwahrscheinlich niemand mehr geben, der daraus eine Lehre ziehen könnte. In diesem Sinne hat unsere Generation wahrhaftig das Schicksal der Menschheit in der Hand. Eindnoten: 1 Dokumenti wneschnej politiki SSSR (Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR), Band 3, Moskau 1959, S. 176-177 2 ‘Foreign Relations of the United States’, 1933, Bd. II, Washington, GPO 1949, S. 806 3 C.L. Sulzberger, A Long Row of Candles, New York 1969, S. 307-308 4 Mit dem Lend Lease System versorgten die USA während des Zweiten Weltkriegs die Alliierten mit Kriegs- und Hilfsmaterial ohne Barzahlung. Aufgrund des Leih-Pacht-Gesetzes (Lend Lease Act) erhielt allein die Sowjetunion bis zu seiner Aufhebung am 21. 8. 1945 für rund 11 Milliarden Dollar Lieferungen. (Anm. d. Übers.) 5 Zitiert nach D. Yergin, Shattered Peace, The Origins of the Cold War and the National Security State, Boston 1977, S. 315 6 ‘Dropshot’, The United States Plan for War with the Soviet Union in 1957. Hrsg.: A. Brown, New York 1978, S. 45 7 ‘Containment’: Documents on American Policy and Strategy 1945-1950, Hrsg.: T. Etzold, J. Gaddis, New York 1978, S. 431 8 Ibid. S. 402 9 Ibid. S. 423, 424 10 Ibid. S. 435, 436 11 Ibid. S. 434, 489 12 Henry A. Kissinger, Memoiren 1968-1973, München 1980, S. 125 13 Ibid. S. 566 14 Grand Old Party, traditioneller Name der Republikanischen Partei (Anm. d. Übers.) 15 Gegen Alger Hiss wurde Ende der vierziger Jahre der Vorwurf erhoben, er habe während seiner Tätigkeit im Statedepartement (1936-1947) Geheimdokumente an die Sowjetunion weitergegeben. Richard Nixon, zu jener Zeit Kongreßabgeordneter, unterstützte die Anschuldigungen und trug somit zu der überhitzten politischen Atmosphäre bei, in der der Prozeß gegen Hiss geführt wurde. (Anm. d. Übers.) Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 16 Während des Besuchs einer Ausstellung der Vereinigten Staaten in Moskau, 1959, gerieten Ministerpräsident Nikita Chruschtschow und der damalige Vizepräsident Richard Nixon in einen heftigen Wortwechsel. Der Ort des Gesprächs, die Küche eines ausgestellten amerikanischen Musterhauses, gab dem Ereignis dann den Namen. (Anm. d. Übers.) 17 Washington, 10. Juni 1963 18 Richard Nixon, So verlieren wir den Frieden, Hamburg, 1980 19 Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde gegen Nixon der Verdacht erhoben, er habe Spendengelder veruntreut. In einer Fernsehrede verteidigte sich Nixon gegen diesen Vorwurf und behauptete, das einzige Geschenk, das er je angenommen habe, sei ein Cockerspaniel namens ‘Checker’. (Anm. d. Übers.) 20 ‘Detente’, Hearings before the Committee on Foreign Relations, United States Senate, Washington, 1974, S. 239 21 Eine von Charles Vanik im Oktober 1974 im Repräsentantenhaus und von Henry M. Jackson (zusammen mit Ribicoff und Javits) parallel dazu im Senat eingebrachte Gesetzesvorlage, nach der denjenigen kommunistischen Ländern die Gewährung des Meistbegünstigtenstatus sowie Kredite der Export-Import-Bank verweigert werden sollten, die gegen Auswanderungswillige Restriktionen anwenden. (Anm. d. Übers.) Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 118 III) Über Krieg und Frieden, Wettrüsten und Rüstungskontrolle ‘Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten scheint ein Krieg mit der Sowjetunion nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich im Bereich des Möglichen zu liegen - und zwar nicht nur ein kalter Krieg, sondern ein heißer Krieg, ein Krieg, bei dem geschossen wird - ja sogar ein Atomkrieg.’ Ich zitiere nur eine kürzlich getroffene Feststellung von Stephen Rosenfeld, dem führenden Leitartikler der Washington Post. Eine Feststellung wie diese ist ein sehr gefährliches Anzeichen. Alles weist darauf hin, daß wir ein Stadium erreichen, in dem das Undenkbare denkbar zu werden scheint. Und es sieht so aus, als ob sich die Art, in der die Debatte über Krieg und Frieden in den USA geführt wird, gewandelt hätte, und zwar dahingehend, daß der gesunde Menschenverstand verdrängt wird und die Diskussion sich auf immer wahnwitzigere Ideen konzentriert. Im Verlauf der Geschichte ist es mehr als einmal geschehen, daß sich ein Land in einen katastrophalen Krieg hineingeredet hat. Mehr noch, es geht nicht nur um Gerede. Die USA bereiten die eine oder andere Art des Krieges in einem Maße und mit einem Eifer vor, die wahrhaft alarmierend sind. Die Steigerung der US-Militärausgaben für das Haushaltsjahr 1981 hat mit 18 Prozent eine neue Rekordmarke erreicht - das Gewicht hat sich innerhalb des Haushalts auf ‘Bereitschaft’ verlagert, d.h. auf die Bereitstellung von Kriegsmaterial. Die Wehrpflicht scheint vor ihrer Wiedereinführung zu stehen, die mobile Eingreiftruppe ist aufgestellt worden und - wie als Krönung des Ganzen - signalisierte im Juli 1980 eine Direktive Präsident Carters mit der Nummer PD 59 eine ominöse Veränderung in der amerikanischen Nuklearstrategie. In den ersten Tagen des Jahres 1980 wurden die Zeiger der symbolischen Uhr auf dem Titelblatt des Bulletin of Atomic Scientists von neun Minuten vor zwölf auf sieben Minuten vor zwölf vorgerückt. Das ist die Zeit, die diese Uhr in sehr gefährlichen Augenblicken des Kalten Krieges anzeigte. Ich fürchte, diese Zeiger müssen sogar noch weiter vorgerückt werden. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 119 Ist das nach Ihrer Auffassung in erster Linie ein Resultat des jüngsten Ansteigens der Spannungen in der Welt? Ja, aber nicht nur: Die Kriegsgefahr bereitet Wissenschaftlern und Experten schon seit geraumer Zeit wachsende Sorgen. Die wichtigsten Gründe sind das andauernde Wettrüsten, der extrem langsame Fortschritt, bzw. in letzter Zeit der völlige Stillstand bei den Rüstungsbegrenzungsgesprächen und das Scheitern der meisten Versuche, Krisensituationen und Konflikte beizulegen. Heute, da die Spannungen wieder zugenommen haben und der militärische Wettlauf sich beschleunigt hat, ist die Situation natürlich noch alarmierender geworden. Aus dem was Sie sagen, geht hervor, daß die entscheidende Aufgabe der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen die Verhütung eines Atomkrieges darstellt. Ja, die Tatsache, daß die Verhinderung eines Atomkrieges die Hauptaufgabe der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und wichtigster Gegenstand der Entspannung ist, wurde von beiden Mächten auf höchster Ebene anerkannt und offiziell verkündet. Keine der gemeinsamen Positionen, auf die sich die Führer der UdSSR und der USA auf dem ersten Gipfeltreffen 1972 in Moskau geeinigt haben, ist wichtiger, als die Erklärung, daß es ‘im Atomzeitalter zu der Regelung der gemeinsamen Beziehungen auf der Basis der friedlichen Koexistenz keine Alternative gibt’. Dieser Gedanke wurde seither wiederholt von beiden Seiten bekräftigt. 1973 unterzeichneten die beiden Staaten ein entsprechendes Abkommen ‘zur Verhütung eines Nuklearkrieges’, das, jedenfalls aus sowjetischer Sicht, bis heute eines der wichtigsten gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Dokumente ist. Gleichzeitig gibt es in den USA keinen Konsens über die zweite entscheidende Frage: darüber nämlich, ob Entspannung wirklich der sicherste Weg ist, um einen Atomkrieg zu vermeiden. Es ist eine massive Kampagne im Gange, die darauf abzielt, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß der einzige Weg zum Frieden das Wettrüsten und eine Politik der harten Hand sei. Die Haltung der gegenwärtigen US-Regierung zu den weiter oben erwähnten Dokumenten ist ebenfalls alles andere als klar. Und schließlich die ominöse ‘Presidential Directive 59’, die schon erwähnt wurde. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 120 Auf jeden Fall wächst die Angst, daß es eines Tages zu dem verhängnisvollen Zusammenstoß kommen könnte. Kürzlich stieß ich diesbezüglich auf eine sehr dramatische Erklärung von George Kistiakowsky, einem Fachmann, der in Fragen der Nuklearwaffen eine weltweit anerkannte Autorität darstellt. Er betonte, angesichts der gegenwärtigen militärischen, technologischen und politischen Tendenzen ‘wäre es ein Wunder, wenn nicht noch vor Ende dieses Jahrhunderts nukleare Sprengköpfe explodieren würden, und es wäre ein kaum geringeres Wunder, wenn das nicht zur nuklearen Vernichtung größten Ausmaßes führen würde’.1 Obwohl ich diesen Pessimismus übertrieben finde, teile ich uneingeschränkt solch große Besorgnis. Ja, wir glauben, daß die Gefahr immer größer wird. Dies vor allem, weil nach unserer Meinung die Kriegsgefahr nicht nur darin besteht, daß jemand den Krieg vorsätzlich plant und bereit ist, in der Stunde Null auf den Knopf zu drücken; die hauptsächliche und sehr reale Gefahr ist viel anonymerer Art. Es entstehen Situationen, die zu einem Krieg führen können. In einer von Waffen starrenden Welt ist das infolge sich verschlimmernder internationaler Spannungen bzw. eines Ausbruchs bislang latenter Konflikte in den verschiedenen Regionen sehr wohl möglich. Das ist der Grund, warum es - will man eine zuverlässige Gewähr für den Frieden schaffen - nicht ausreicht zu erkennen, wie unsinnig es wäre, einen Krieg zu beginnen, und auch nicht ausreicht, entsprechende formale Verpflichtungen einzugehen. Es muß sehr viel mehr getan werden, um jegliche Möglichkeit eines Krieges nachhaltig zu beseitigen. Das erfordert unablässige Anstrengungen, um die gesamte internationale Situation tiefgreifend zu verbessern. Was meinen Sie mit ‘tiefgreifende Verbesserung der gesamten internationalen Situation’? Keine weltweite sozialistische Revolution selbstverständlich. Ich spreche von Veränderungen, die für beide Systeme akzeptabel sind, von der Festigung der friedlichen Koexistenz, von der Entspannung. Um es genauer zu sagen: von Fortschritten auf dem Weg zur Rüstungskontrolle und zur Beendigung des Wettrüstens, von der Beilegung internationaler Konflikte und Krisen auf dem Verhandlungswege sowie ihrer Verhütung in der Zukunft, von der Entwicklung der Zusammenarbeit in den verschiedensten Bereichen zum beiderseitigen Nutzen. Ich weiß, daß sich das möglicherweise wie eine langweilige Auflistung anhört insbesondere, da nichts davon besonders neu ist und alles längst Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 121 auf der Tagesordnung zahlreicher Diskussionen und Gespräche stand. Aber einen wichtigen Gesichtspunkt muß man im Auge behalten: Sollen solche Bemühungen Erfolg haben, so ist es unabdingbar, die Gegebenheiten des Atomzeitalters genauestens zu begreifen und diesen Gegebenheiten in der praktischen Politik auch die entsprechende Beachtung zu schenken. Es wird gesagt, Generäle bereiteten immer den zuletzt geführten Krieg vor. Oft hat man den Eindruck, daß sich Politiker ähnlich verhalten, indem sie neue Gegebenheiten ignorieren und die Erfahrungen der Vergangenheit heiligsprechen. An welche neuen Gegebenheiten denken Sie hierbei? Das Atomzeitalter stellt neue Anforderungen an die Politik, erfordert wichtige, politische Veränderungen. Der Krieg hat so verheerende Dimensionen angenommen, daß er nicht mehr als ein rationales Instrument der Politik angesehen werden kann. Können Sie einige dieser neuen Anforderungen und Bedingungen benennen? Ein unabweisbares Gebot der Stunde, das ich schon genannt habe, ist es, die Einstellung zur Frage der Gewalt, insbesondere zur militärischen Gewalt, im Rahmen der Außenpolitik drastisch zu verändern. Ganz allgemein kann man sagen, daß das erkannt worden ist. Indessen sind wir derzeit Zeugen offenkundiger Versuche, diese Notwendigkeit weit von sich zu weisen. Ich spreche nicht nur von einigen militanten Erklärungen, sondern von der ganz allgemein vorherrschenden Stimmung in den USA. Beharrliche Versuche werden unternommen, aus der Sackgasse herauszukommen, in der sich die Politik der Stärke befindet. Sie meinen das Dilemma, daß man Gewalt nicht anwenden kann, ohne einen vernichtenden Vergeltungsschlag herauszufordern? Ja. Im Pentagon hat man sich damit nicht abfinden können. Deshalb kam es zu einer meines Erachtens nach völlig abwegigen und außerordentlich gefährlichen Tendenz, nämlich nach neuen und wirksameren Wegen der Anwendung von Gewalt zu suchen und diese Wege als weniger gefährlich für die Menschheit darzustellen. Diese Tendenz zeigt sich auf verschiedenste Art und Weise. Ein Vorgang, der besondere Aufmerksamkeit verdient, ist die Suche nach neuen Waffensystemen, Militärdoktri- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 122 nen sowie Methoden der militärischen Gewaltanwendung, die dazu bestimmt sind, einen Atomkrieg denkbar zu machen. Wie z. B. die Neutronenbombe? Die Neutronenbombe, oder in der offiziellen Sprache des Pentagon, die ‘enhanced radiation weapon’ - die angeblich weit weniger zerstörerisch auf Gebäude und Gegenstände einwirkt als die üblichen Nuklearwaffen - ist eines der Ergebnisse der Suche nach ‘anwendbarer’ militärischer Gewalt. Aber es gibt noch sehr viel mehr auf diesem Gebiet. Es gibt die Verkleinerung der Nuklearwaffen sowie die Verbesserung ihrer Treffgenauigkeit und eine Steigerung der Vernichtungskraft konventioneller Waffen. Es gibt die ‘counterforce doctrine’ (Einsatz von Nuklearwaffen gegen militärische Ziele), d.h., das Konzept der ‘selective strikes’ (Einsatz von Nuklearwaffen gegen ausgewählte Ziele) bzw. ‘surgical strikes’ (Einsatz von Nuklearwaffen zur Erreichung eines begrenzten militärischen Zieles). Es gibt Versuche, gewisse ‘Spielregeln’ für militärische Konflikte einzuführen, sie dadurch in den Bereich des Denkbaren zu rücken. Und es gibt die mobile Eingreifreserve. Dies alles zusammengenommen stellt einen sehr unrealistischen Versuch dar, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Es ist zugegebenermaßen leichter, diesen Weg zu gehen, und zwar deshalb, weil sich im Laufe der Jahrhunderte eine ungeheure Trägheit angesammelt hat, derzufolge weiterhin an den Krieg als Mittel der Politik geglaubt wird, ja, einige glauben sogar, er sei ein absoluter Höhepunkt, ein entscheidender Test für die Politik. Aber dieser Weg führt von dem Damoklesschwert des nuklearen Selbstmords nicht weg. Es geht heute nicht darum, Mittel und Wege zu finden, mit denen sich die Methoden der Gewaltanwendung verbessern und verfeinern lassen, sondern darum, die Anwendung von Gewalt und die Drohung damit aus dem Bereich der internationalen Beziehungen auszuschließen. Aber verhält sich nicht die UdSSR selbst ganz anders? Sie kümmern sich selbst sehr intensiv um Ihre Verteidigungsprobleme. Bei mehreren Anlässen hat die UdSSR auch nicht auf die Anwendung militärischer Gewalt verzichtet, wenn sie das für erforderlich hielt. Ich spreche von dem Prozeß und seinem letztendlichen Zweck. In dieser unvollkommenen Welt können wir es uns nicht leisten, als einzige vollkommen zu sein. Stellen Sie sich eine Sowjetunion vor, die sich aller Waffen entledigt hat, sowie die Politik, die andere Großmächte daraufhin unter dem Druck von Leuten wie Brzezinski, Luns, Richard Pipes Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 123 und einigen Generälen und Admirälen, ganz zu schweigen von der Führung in Peking, betreiben würden. Ich möchte noch einmal wiederholen, daß ich dabei eine sehr komplexe Umstrukturierung der internationalen Beziehungen, der Außenpolitik und des politischen Denkens vor Augen habe - eine Umstrukturierung, die beträchtliche Zeit und ungeheure Anstrengungen erfordert. Paul Nitze hat mirgegenüber betont, daß er überzeugt sei, die Sowjetunion wolle keinen Atomkrieg. Aber gleichzeitig glaubt er, die Sowjetunion rechne mit der Möglichkeit eines nuklearen Konflikts und habe sich auch darauf vorbereitet, ihn zu gewinnen. Vielleicht sollte ich Nitze für die Feststellung, daß wir keinen Atomkrieg wollen, danken, auch wenn sie nur in einem Privatgespräch geäußert wurde. Das hört sich aus seinem Munde ganz neu an. Das übrige aber ist eine Wiederholung der alten Litanei. Nun, ich bin sicher, daß Sie wissen, daß diese Auffassung nicht nur von solchen Leuten vertreten wird. Es gibt auch andere, die daran festhalten, die Sowjetunion schließe einen solchen Krieg als politisches Mittel nicht aus, da sie es für möglich halte, einen solchen Krieg zu führen und zu gewinnen. Ja, ich kenne diese Argumentation. Die Behauptungen, wir würden glauben, einen Atomkrieg führen und gewinnen zu können, stützen sich gewöhnlich auf Zitate, die nicht von Leuten stammen, die die Macht haben, politische Entscheidungen zu treffen, einschließlich der Entscheidung über Krieg und Frieden, und auch nicht auf Aussagen der gegenwärtigen militärischen Führung, sondern auf Zitate aus Artikeln, Reden und Büchern einiger sowjetischer Militärschriftsteller. Diese Leute diskutieren ihrem Beruf gemäß, wie ein Krieg zu führen ist, wenn er uns aufgezwungen wird, und ich kann darin nichts Außergewöhnliches bzw. Alarmierendes entdecken. Es ist die Aufgabe der Militärs zu überlegen, was sie zu tun haben, falls ein Krieg ausbricht. Daraus folgt nicht, daß sie einen Atomkrieg für ein brauchbares Instrument der Außenpoltik halten. Als ich einmal zu Beginn der sechziger Jahre während einer internationalen Krise in London war, sah ich in einem Café ein Poster mit der Aufschrift: ‘Bewahren Sie im Falle eines Atomangriffs die Ruhe; zahlen Sie ihre Zeche und machen Sie, daß Sie zum nächsten Friedhof kommen.’ Ich fürchte, wenn sich die Militärs in jedem Land auf derartige Anweisungen beschränkten, würde sie niemand für ihren Sinn für Humor aus- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 124 zeichnen, sondern sie müßten ihren Abschied nehmen - ohne Aussicht auf eine Altersversorgung. Wer die Sowjetunion anklagt, sollte sich anhören, was in den USA gesagt wird. Und zwar nicht von obskuren Militärschriftstellern, sondern von militärischen Führern in hohen Positionen. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen. General Curtis LeMay z. B., der an der Spitze des strategischen Luftkommandos der USA stand, forderte von den Amerikanern mit Nachdruck, jederzeit in der Lage zu sein, ‘jeden Krieg zu führen und zu gewinnen - einschließlich eines Generalkrieges’ (und mit Generalkrieg meinte er nicht einfach nur einen Krieg, der von Generälen angeführt wird). Der ehemalige US-Außenminister Melvin Laird hat einmal geschrieben, die amerikanische ‘Strategie muß auf Kampf, Sieg und erneute Bereitschaft setzen’, die USA müßten die Bereitschaft entwickeln, ‘den totalen Atomkrieg zu führen’ und es dem Feind glaubhaft machen, ‘daß wir die Initiative ergreifen und zuerst zuschlagen werden’. Als ein weiteres Beispiel mag die 1977 abgegebene Erklärung des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, George S. Brown, dienen: ‘Die amerikanische Nuklearstrategie verlangt eine ausreichende militärische Stärke, die den Zweck der Abschreckung erfüllt, die aber auch im Falle eines Versagens der Abschreckung so groß sein muß, daß eine angemessene Schlagkraft gewährleistet ist, um auf die verschiedensten Konflikte so antworten zu können, daß eine Eskalation kontrollierbar bleibt und der Krieg zu Bedingungen beendet werden kann, die für die Vereinigten Staaten annehmbar sind.’ Ich versichere Ihnen, daß Sie nichts Vergleichbares aus dem Munde oder der Feder führender sowjetischer Militärs oder irgend jemand sonst in der Sowjetunion finden werden. Wenn diese Fragen im Westen erörtert werden, wird nicht nur auf losgelöste Zitate Bezug genommen, sondern auf die generelle sowjetische Militärdoktrin. Ja, ich weiß. Doch in Wirklichkeit werden die Schlußfolgerungen zur Militärdoktrin auf der Grundlage genau dieser Zitate gezogen. Ohne in Details zu gehen, möchte ich mit Nachdruck auf den wesentlichen Kern verweisen: Die sowjetische Militärdoktrin ist ihrem Charakter nach eindeutig defensiv. Das ist ganz deutlich in der sowjetischen Stellungnahme zum Einsatz von Nuklearwaffen dargelegt. Lassen Sie mich die maßgebliche Quelle zitieren - den Oberbefehlshaber der Streitkräfte der UdSSR, Marschall Leonid Breschnew: ‘... Wir sind gegen den Einsatz von Nuklearwaffen; nur außerordentliche Umstände, eine Aggression Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 125 einer anderen Nuklearmacht gegen unser Land oder seine Verbündeten kann uns zwingen, von diesem äußersten Mittel der Selbstverteidigung Gebrauch zu machen.’2 Lassen Sie mich noch ein Zitat, zum möglichen Ersteinsatz von Nuklearwaffen, anführen. In einer Rede in Tula zu Beginn des Jahres 1977 sagte Generalsekretär Breschnew: ‘Haben doch unsere Anstrengungen gerade zum Ziel, es weder zum ersten noch zum zweiten Schlag kommen zu lassen, überhaupt zu keinem Nuklearkrieg.’3 Ich könnte weitere ähnliche Erklärungen von Leonid Breschnew, von dem sowjetischen Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow und anderen sowjetischen Führern zitieren. Die Quintessenz solcher Erklärungen ist, daß wir die Aufgabe unserer strategischen Streitkräfte in der Verhinderung des Krieges sehen. Die Sowjetunion halt es für sinnlos, nach militärischer Überlegenheit zu trachten. ‘Allein schon die Absicht’, so betont Generalsekretär Breschnew mit Nachdruck, ‘verliert jeglichen Sinn angesichts der bereits angehäuften Arsenale von Nuklearwaffen samt ihren Trägern.’4 Die sowjetische Militärdoktrin, die von der sowjetischen Führung wieder und wieder erläutert wurde, macht ganz deutlich, daß wir einen Atomkrieg für das furchbarste Unglück halten, das der Menschheit zustoßen kann; daß unsere Strategie defensiven Charakter hat; daß wir uns Konzepten des ‘ersten Schlages’ widersetzen und unseren strategischen Streitkräften die Rolle zukommt, einen möglichen Angreifer abzuschrecken, bzw. daß sie darauf zugeschnitten sind, einen Vergeltungsschlag führen zu können. All dies wurde von höchster autorisierter Stelle dargelegt. Dies ist unsere Militärdoktrin, und man wird dahinter keine andere ‘geheime’ Doktrin entdecken können, einfach deshalb, weil es eine solche nicht gibt. Alle diese Punkte stehen im Gegensatz zu mancher offiziellen amerikanischen Verlautbarung. An welche amerikanischen Verlautbarungen denken Sie? Ein Beispiel war Brzezinskis Interview mit dem britischen Journalisten Jonathan Power. Brzezinski stellte dabei fest, daß man in einem Atomkrieg letztlich doch nicht solch eine furchtbare Katastrophe zu sehen habe, da ‘nur’ 10 Prozent der Menschheit umkommen würden. ‘Nur’ 10 Prozent sind, beiläufig gesagt, 400 Millionen Menschen. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Variante der alten maoistischen Leien ‘Die Nuklearbombe ist nur ein Papiertiger’, ‘Nur die Hälfte der Chinesen wird bei einem Atomkrieg sterben, während der Rest danach glücklich weiterleben wird’, etc. Es sieht so aus, als wäre das amerikani- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 126 sche Interesse an Peking und das Ausspielen der chinesischen Karte nicht ohne kulturelle Konsequenzen geblieben. Nachdem er diese beruhigende Einschätzung getroffen hatte, fuhr Brzezinski fort, daß er ‘im Bedarfsfall’ nicht zögern würde, den Knopf zu drücken und die Raketen auf die Reise zu schicken. Ich frage mich, wie groß wohl die Schlagzeilen auf der ersten Seite der New York Times und der Washington Post wären, wenn ein hochrangiger Sprecher der sowjetischen Regierung solche Erklärungen abgäbe. Und das sind nicht etwa leere Worte. Unbestrittene Tatsache ist, daß alle theoretischen und technologischen Neuerungen, die dazu bestimmt sind, einen Atomkrieg denkbar und gewinnbar zu machen, aus den Vereinigten Staaten stammen. Das ist nicht Ihr Ernst. Sicher ist das mein Ernst. Carters PD 59 ist nur das jüngste Produkt einer ganzen Schule strategischen Denkens, die den begrenzten Atomkrieg propagiert, d.h., begrenzte Nuklearschläge gegen militärische Ziele sowie andere Mittel, um einen Atomkrieg ‘flexibel’ führen zu können. Weit davon entfernt, nur ein rein intellektuelles Gedankenspiel zu sein, findet sich all dies in einer bestimmten Waffentechnologie verkörpert: in der Verkleinerung und erhöhten Treffsicherheit der Sprengköpfe, in der Vergrößerung ihrer Strahlungskapazität, in der Entwicklung besonderer Trägersysteme, in der Stationierung dieser Systeme in der Nähe der sowjetischen Grenzen usw. Selbst dann, wenn das alles nur den einen Zweck hätte, den politischen Drohungen der Amerikaner größeres Gewicht zu verleihen, bliebe das schreckliche Risiko bestehen, daß die Dinge außer Kontrolle geraten und unmittelbar zu einem heißen Krieg führen, was auch immer die ursprünglichen Absichten gewesen sein mögen. Die fortgesetzten Versuche, die Trennungslinie zwischen einem konventionellen und einem atomaren Krieg zu verwischen, scheinen äußerst gefährlich zu sein. Warum? Weil sie dazu neigen, das zu bagatellisieren, was als Hauptabschreckung gegen einen Atomkrieg hätte dienen können, nämlich die herrschende Abscheu vor diesem Krieg und das Wissen um seine katastrophalen Auswirkungen, die ihn als letztes Mittel unbrauchbar machen. Ist dieser Widerstand erst einmal gebrochen, so wird eine atomare Auseinandersetzung sehr viel eher denkbar und infolgedessen auch wahrscheinlicher. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 127 Es scheint, als glaubten Sie, daß die Möglichkeit eines Atomkriegs nicht ausgeschlossen werden kann, ja, daß eine solche Gefahr sogar zunimmt. Folgt daraus nicht, daß man versuchen sollte, seine môglichen Auswirkungen auf ein Minimum zu beschränken? Die gängige Logik würde eine solche Folgerung nahelegen. Aber die Realitäten im Atomzeitalter erfordern eine andere Betrachtungsweise. Ich habe bereits gesagt, daß allein schon die Idee, einen ‘netten kleinen, sauberen und ordentlichen Atomkrieg’ führen zu können, den Widerstand gegen eine atomare Feuersbrunst untergräbt. Aber das ist noch nicht alles. Wenn der Preis, der für solch einen Krieg bezahlt werden muß, mehr oder weniger annehmbar zu sein scheint, muß das zwangsläufig die Abenteuerlust derer fördern, die an den Knöpfen sitzen. Man kann davon ausgehen, daß ihre Politik viel unüberlegter und viel unbekümmerter wäre, weil sie überzeugt wären, daß selbst bei einer Fehlkalkulation es ein kleiner und kein großer Krieg sein würde - und deshalb recht akzeptabel. In einer wirklich zugespitzen Situation würde dadurch der Griff zum Knopf sehr viel leichter fallen. Aber man könnte einwenden, daß all das aufgewogen wird durch erheblich weniger Verluste und Zerstörungen. Nein, denn das ware wohl kaum zu erwarten. Tatsächlich bezweifle ich sehr stark, daß es je gelingen würde, auch nur die Vorstellung zu erwekken, es könnte einen ordentlichen kleinen Atomkrieg geben. Sehen Sie, jeder Versuch, die zu erwartenden eigenen Verluste in Grenzen zu halten, sei es durch antiballistische Abwehr oder durch Zivilschutz, führt zur Erwiderung der anderen Seite - zu einer größeren Anzahl an Sprengköpfen, mit größerer ‘penetrating capacity’ (Eigenschaft des Sprengkopfs, nach dem Aufschlag möglichst tief einzudringen, ehe es zur nuklearen Explosion kommt) und Zerstörungskraft. Und natürlich kann man kaum erwarten, daß die andere Seite mehr darum besorgt wäre, den Schaden beim Gegner gering zu halten, als man seinerseits darum bemüht wäre, und daß der Krieg gleichsam ein höfliches, aristokratisches Duell wäre, bei dem alle Regeln getreulich beachtet werden. Wenn wir solch einen Grad an Zivilisiertheit erreichen würden, würde nicht nur die Verhinderung des Atomkriegs, sondern auch eine allgemeine und vollständige Abrüstung kein Problem mehr sein. Nein, wir dürfen uns kein Duell nach Kavaliersart vorstellen; weder irgendeine Art begrenzten Krieges, noch begrenzte Nuklearschläge (‘surgical strikes’). Ein Atomkrieg - einmal in Gang gesetzt - würde nie begrenzt bleiben, die Eskalation ist im Grunde genommen unvermeid- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 128 lich, und sei es auch nur deshalb, weil es natürlich jeder der beiden Seiten widerstrebt, in einer solchen Situation eine Niederlage einzugestehen. Außerdem, wer wäre wohl in der Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren und abzuwägen, bei welchem Nuklearschlag welche Erwiderung gerechtfertigt ist, um nur ja die ‘Spielregeln’ nicht zu verletzen, wenn gleichzeitig ringsum Nuklearbomben einschlagen. Der Drang zur Eskalation wäre einfach überwältigend. Ich glaube, die beste Beschreibung des Konzepts vom begrenzten Krieg hat der ehemalige demokratische Senator John C. Culver (Iowa), seinerzeit Mitglied des Senatsausschusses für die Streitkräfte, gegeben, der dieses Konzept verglichen hat mit der ‘Begrenzung der Wirkung eines Streichholzes, das in ein Pulverfaß geworfen wird’5. Wie reagierte die Sowjetunion auf PD 59, die von Präsident Carter verkündete neue nuklearstrategische Doktrin? Vorweg wäre zu bemerken, daß der Wortlaut der PD 59 weiterhin der Geheimhaltung unterliegt, so daß wir in der Sowjetunion dieses Dokument nur anhand dessen beurteilen können, was das Weiße Haus gegenüber wichtigen amerikanischen Publikationsorganen durchsickern ließ, sowie anhand einiger offzieller Verlautbarungen, wie etwa der Rede des ehemaligen Verteidigungsministers Harold Brown vom 20. August 1980 vor dem Naval War College. Aber es gibt genügend Hinweise dafür, daß die US-Regierung offiziell dem Konzept eines begrenzten Nuklearkrieges zugestimmt hat, wobei schon lange der Verdacht bestand, daß sie mit solch einem Konzept liebäugelte. Washington zog es vor, die spezifischen Umstände, unter denen es einen solchen Krieg beginnen würde, absichtlich im unklaren zu belassen, genauso wie das bei anderen entscheidenden Aspekten dieses Problems der Fall ist. Diese vage Situation ist wahrscheinlich beabsichtigt, um die psychologische Auswirkung der neuen Doktrin zu unterstützen und damit den USA maximale Handlungsfreiheit zu bewahren. Warum halten Sie diese Doktrin für gefährlich? Obwohl diese sogenannte ‘countervailing strategy’ von ihren Urhebern oft als bloße Fortsetzung des Abschreckungskonzepts früherer Verteidigungsminister - von Robert McNamara bis James Schlesinger - bezeichnet wird, geht sie in Wirklichkeit weit darüber hinaus. Sie beabsichtigt, die nukleare Schwelle herabzusetzen, das Spektrum der Situationen zu erweitern, in denen die USA den Einsatz von Nuklearwaffen als legitim betrachten. Sie liefert Gründe für eine neue Runde des Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 129 Wettrüstens, die letzten Endes darauf hinauslaufen, ein ungehemmtes Wettrüsten zu rechtfertigen. Schließlich verstärkt diese Doktrin Tendenzen, die in hohem Maße destabilisierend wirken, das gilt sowohl für den Bereich der Waffentechnologie wie auch für den des militärisch-strategischen Denkens. Während die Ängste vor einer Verletzbarkeit durch einen ersten Schlag geschürt werden, wird in Wirklichkeit daraufhingearbeitet, die strategischen Streitkräfte der USA in die Lage zu versetzen, einen ersten Schlag zu führen. Da aber die einzige Garantie für den Frieden die Angst zu sein scheint - das sprichwörtliche Gleichgewicht des Schreckens -, besteht möglicherweise kein allzu großer Unterschied zwischen der früheren und der neuen Strategie. Doch, es gibt viele Unterschiede. Es ist nicht das Ziel der PD 59, die Angst auf beiden Seiten zu verringern, auf der die Abschreckung basiert, vielmehr wird durch sie versucht, beim Gegner noch mehr Angst zu verbreiten und gleichzeitig die eigene Position zu verstärken. Die Nuklearwaffen werden nur Solange in den Arsenalen schlummern, solange sich beide Seiten in gleichem Maße bedroht fühlen und solange beide Seiten in gleichem Maße über die Fähigkeit verfügen, einander zu zerstören. Man sollte außerordentlich vorsichtig sein und nicht leichtfertig mit dem Gleichgewicht des Schreckens spielen, dem bis jetzt die Rolle zukam, in zahlreichen Konfliktfällen eine Eskalation zum Atomkrieg zu verhüten. Andererseits muß man natürlich sehen, daß ein Frieden, der auf Abschreckung beruht, alles andere als ideal ist und letztlich auch nicht dauerhaft sein wird. Die Angst, diese Zwillingsschwester der Abschreckung, schafft aus sich heraus Bedrohung. Erstens muß man, um die Abschrekkung aufrecht zu erhalten, ein Waffenarsenal unterhalten, das der anderen Seite Furcht einflößt, weshalb das Wettrüsten weiter geht. Mehr noch, man muß auch seine Glaubhaftigkeit aufrechterhalten, was in diesem Fall bedeutet, man muß zeigen und beweisen, daß man bereit ist, die Vernichtung in Szene zu setzen, den halben Planeten in Flammen aufgehen zu lassen und nationalen Selbstmord zu begehen. Und das bedeutet nicht nur Drohungen, Säbelrasseln und Erpressungen, sondern von Zeit zu Zeit auch die Durchführung von Aktionen, mit denen man beweist, daß man zu unverantwortlichem Handeln fähig ist (wie das auch die Kinder im Spiel tun), zu abenteuerlichen Unternehmungen und zu unberechenbarem Verhalten. Die Gefahren, die darin liegen, sind offensichtlich. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 130 Rosalynn Carter erzählte Gail Sheehy von der New York Times rundheraus: ‘Oh, ich kann mir Krieg vorstellen. Jimmy würde vor einem Krieg nicht zurückschrecken, um die Ehre meines Landes zu verteidigen...’6 Aber unter Ehre verstehen verschiedene Leute auch verschiedene Dinge. Das trifft sicherlich zu, aber das ist in diesem Fall nicht so wichtig wie die Tatsache, daß man einen Atomkrieg nicht mit einem ritterlichen Duell vergleichen kann - es sei denn, man meint damit einen kollektiven Selbstmord. Lassen wir jedoch den Aspekt der Moral beiseite. Wir haben es hier mit einem Beispiel dieser ungeheuer perversen Logik zu tun, die das Gleichgewicht des Schreckens mit sich bringt. Man muß ständig daran erinnern, daß man imstande ist, Supermassenmord, wenn man so will Mega-Mord, zu begehen. Aus diesem Dilemma gibt es innerhalb dieses Rahmens keinen Ausweg. Auf der einen Seite muß man zugeben, daß der Krieg sinnlos geworden ist. Andererseits aber muß man sich ohne Unterlaß auf den Krieg vorbereiten und seine Bereitschaft betonen, ihn zu beginnen. Unabhängig davon, welche Absichten man ursprünglich hatte, führt diese Logik, wenn man beharrlich an ihr festhält, unausweichlich zu einer Gratwanderung am Abgrund entlang. Wo gibt es einen Ausweg? Nun, alles in allem fahren wir mit der Abschreckung immer noch besser, als es der Fall wäre, wenn wir uns auf einen ‘denkbaren Atomkrieg’ vorbereiten müßten. Abschreckung ist nicht allzu gut. Aber vorläufig gibt es nichts Besseres, so daß man darin das geringere Übel sehen kann. Eines allerdings müssen wir begreifen. Wir können nicht ewig mit der Abschreckung leben, früher oder später wird sie versagen. Deshalb müssen wir von der Abschreckung wegkommen. Das Problem ist nur - in welche Richtung. Es wäre ein Unglück, würden wir uns auf einen denkbaren Atomkrieg zubewegen. Es gibt nur einen vernünftigen Weg - den Weg zum Frieden, aufgebaut auf Rüstungskontrolle und späterhin Abrüstung, auf Vertrauen und Zusammenarbeit. Das ist sehr schwer, ich gebe es zu, das erfordert ungeheure Anstrengungen, sehr viel Weisheit, Geduld und politischen Mut. Aber es gibt kaum einen anderen Weg zu einem dauerhaften und stabilen Frieden. Kissinger sagte einmal: ‘Absolute Sicherheit für eine der beiden Supermächte ist unerreichbar und auch nicht wünschenswert, würde es doch absolute Unsicherheit für die andere Seite bedeuten.’ Ist das nicht auch eine der neuen Gegebenheiten des Atomzeitalters? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 131 So ist es. Und in der Tat war das eine von Kissingers klugen Ideen. Ich bezweifle aber, ob er oder irgend jemand sonst innerhalb der US-Regierung soweit über die herkömmliche Weisheit hinauswachsen könnte, um die eigene absolute Sicherheit für nicht wünschenswert zu halten. Doch was die Praxis anbelangt, so ist das auch nicht unbedingt erforderlich. Es genügt, wenn begriffen wird, daß die absolute Sicherheit unerreichbar ist. Das allein schon hätte das Wettrüsten zum Stillstand bringen können. Diese Realität unserer Zeit ist eng verknüpft mit einer weiteren: Die vorhandenen Vernichtungswaffen haben es unmöglich gemacht, sich nationale Sicherheit mit Hilfe von mehr und mehr Waffen zu erkaufen, wie viele es und wie gut sie auch sein mögen. Im Gegenteil: je mehr Waffen, desto weniger Sicherheit. Weitblickendere Amerikaner haben vor mehr als 15 Jahren begonnen, das zu begreifen. So schrieben Jerome Wiesner und Herbert York z. B.: ‘Beide am Wettrüsten beteiligte Seiten stehen dem Dilemma gegenüber, daß ihre militärische Macht ständig zunimmt und ihre nationale Sicherheit ständig abnimmt. Es ist unsere, durch berufliche Erfahrung gewonnene Überzeugung, daß es für dieses Dilemma keine technische Lösung gibt... Der deutlich vorhersehbare Lauf, den das Wettrüsten nimmt, gleicht einer Spirale, auf der es in immer rascherer Fahrt dem absoluten Nichts entgegengeht.’7 Wann wurde das geschrieben? 1964. Und ich möchte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß es schwer sein dürfte, unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Qualifikation, der Erfahrung und des Wissens zwei weitere Amerikaner zu finden, deren Meinung mehr Aufmerksamkeit verdienen würde. Wiesner war Wissenschaftsberater von Präsident Kennedy, York ist ebenfalls ein bekannter Wissenschaftler, der unmittelbar mit der Herstellung von Waffen befaßt war und früher einmal im Pentagon die Abteilung für Forschung und Entwicklung leitete. Um es noch einmal zu wiederholen - das wurde 1964 ausgesprochen. Was wäre wohl, hätte man diese Worte damals beachtet! Wieviele Milliarden hätte man sparen können, und wieviel sicherer wäre wohl unsere Welt. Ich habe einen ähnlichen Gedanken während eines Gesprächs mit dem ehemaligen britischen Kabinettsmitglied und Militärexperten Lord Chalfont gehaert: ‘Immer mehr Waffen und immer weniger Sicherheit.’ Trefflich gesagt, Lord Chalfont! Mittlerweile ist auch ein weiterer alter Grundsatz nicht mehr länger gültig: ‘Wehr den Frieden will, der bereite Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 132 sich auf den Krieg vor.’ Bereitet man sich fleißig genug auf den Krieg vor, wo wird er letztlich nur unvermeidlich. Und obwohl es mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, sich von solchen Vorstellungen zu trennen, begann man in den sechziger Jahren allmählich, die neuen Gegebenheiten dieser Welt wahrzunehmen, einschließlich der Tatsache, daß es keine Sicherheit ohne Rüstungskontrolle und Abrüstung geben kann. Selbstverständlich ist diese Erkenntnis an sich nicht neu. Während sie jedoch in der Vergangenheit sehr idealistisch zu sein schien, läßt sie heutzutage Realismus erkennen, obwohl ihrer Verwirklichung aus mancherlei Gründen noch viele Hindernisse entgegenstehen. In gewisser Weise wiederholt sich die Geschichte, da allen Kriegen ein wahnwitziges Wettrüsten vorausgeht. Sie haben recht, nur wurden ehedem die Waffen hergestellt, um damit einen Krieg zu führen und ihn zu gewinnen. Das Paradoxon der gegenwärtigen Situation besteht darin, daß, obwohl kein vernünftiger Mensch weiterhin im Wettrüsten ein akzeptables Mittel zur Erreichung politischer Ziele sehen kann, das Wettrüsten fortgesetzt und so tatsächlich zur wichtigsten Ursache für Mißtrauen und Spannungen wird. ‘Macht Schluß mit dem Wettrüsten - nicht mit der Menschheit’ hieß ein Spruch, den man in den letzten Jahren häufig als Aufkleber in Amerika sehen konnte. Doch das Wettrüsten gewinnt weiter an Fahrt. Es gibt nichts Bedauerlicheres als das... Lange Zeit war das Wettrüsten. die Folge schlechter politischer Beziehungen. Heute wird es dagegen mehr und mehr zur Ursache für schlechte Beziehungen, weil der Ausbau der Waffenarsenale und die qualitative Verbesserung der Waffen Ängste und wachsendes Mißtrauen hervorrufen und die politische Atmosphäre vergiften. Nehmen Sie die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Falls es möglich wäre, die Ängste und das Mißtrauen aus der Welt zu schaffen, die mit dem Wettrüsten verbunden sind - insbesondere mit jenen Waffen, die eine so ungeheure und in der Geschichte beispiellose Vernichtskraft haben -, dann würde auch die Hauptursache der Spannungen verschwinden. So ist also das Wettrüsten die Hauptsorge, was die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen anbelangt? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 133 Ja. Oder noch genauer ausgedrückt, das Hauptproblem ist die Frage von Krieg und Frieden, mit der das Wettrüsten so eng verbunden ist. Aber nach heute allgemein üblichem Verständnis ist es gerade das Zerstörungspotential der Nuklearwaffen, das dazu beiträgt, einen Krieg zu verhindern; denn ohne diese Abschreckungswirkung müßte es längst zu einem großen Krieg gekommen sein. Herkömmliche Auffassungen können uns leicht irreleiten, wenn wir es mit etwas so Außergewöhnlichem wie einem Atomkrieg zu tun haben. Wie wir schon erörtert haben, müssen wir uns in diesem Fall auf das Gleichgewicht des Schreckens verlassen, das durch die Nuklearwaffen geschaffen wird, aber das ist keine sehr dauerhafte Garantie für den Frieden. Die Tatsache, daß es 30 Jahre lang gutging, gestattet uns nicht, optimistische Schlußfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie in einer Rede gesagt: ‘Wir haben bislang Glück gehabt, aber wir sollten uns auf unser Glück nicht leichtsinnig verlassen.’ Fürwahr. Die Welt stand inzwischen mehrere Male am Rand der Katastrophe. Die Tatsache, daß der Menschheit bisher die atomare Vernichtung erspart blieb, ist wohl kaum allein staatsmännischer Kunst zuzuschreiben. Ausgesprochenes Glück hat, nach meinem Empfinden, ebenso eine gewisse Rolle gespielt. Das sollte man nicht vergessen. In der Zukunft müssen wir unsere Hoffnungen auf ein Überleben auf ein solideres Fundament bauen als auf das Glück. Insbesondere angesichts der Ereignisse der letzten Monate. Ja, wir nähern uns einem entscheidenden Augenblick. Die USA haben eine neue Runde im Wettrüsten eingeleitet. Wie ich schon an anderer Stelle sagte, versetzte das der Entspannung und den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen einen schweren Schlag. Wenn diese Runde nicht abgebrochen wird, wächst die Kriegsgefahr unvermeidlich. Was sind die wichtigsten Kennzeichen dieser neuen Runde? Die jüngsten technischen Fortschritte im Waffenbereich machen es möglich, Waffensysteme mit erhöhter ‘counterforce capability’8 herzustellen, wie z. B. die MX-Raketen,9 neue Sprengköpfe wie die des Typs MK-12 A, neue Leitsysteme etc. All das für sich genommen reicht aus, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 134 die Besorgnis der anderen Seite zu vergrößern. Es ist nämlich anzunehmen, daß diese Programme als eine Bedrohung aufgefaßt werden, die dem Gleichgewicht und der strategischen Stabilität schaden und deshalb entsprechende Gegenmaßnahmen zur Folge haben werden. Falls zusätzlich zu der Besorgnis über diese Programme auch noch der Eindruck entsteht, es stünden wesentliche Durchbrüche im Bereich der Raketenabwehr und/oder im Bereich der U-Bootabwehr bevor, so könnten neue Befürchtungen, der Gegner sei womöglich dabei, die Erstschlag-Kapazität zu erlangen, die Folge sein. Selbst wenn solche Ängste auf Illusionen beruhen, sind sie sehr gefährlich, weil sie dazu führen, daß man um der Sicherheit und des Überlebens willen allzu leicht bereit ist, einen nuklearen Schlag zu führen, ja sogar einen Präventivschlag in Erwägung zu ziehen - ganz abgesehen von den Auswirkungen solchen Argwohns auf die politische Atmosphäre. Andere neue Systeme drohen, den Rüstungskontrollverhandlungen den Boden zu entziehen, indem sie eine Überwachung außerordentlich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Marschflugkörper10 (besonders die zu Lande und zu Wasser stationierten) können hierfür als ein Beispiel dienen. Schließlich wird ein fortgesetztes Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen Vorschub leisten. Wächst nach Ihrer Auffassung die Gefahr, daß diese düsteren Aussichten Wirklichkeit werden? Ja, wenigstens einige davon. Sehen Sie, ich persönlich glaube kaum nicht daran, daß es technisch machbar ist, das Potential für einen erfolgreichen ersten Schlag zu erlangen. Viele Experten würden mir darin zustimmen. Aber das Wettrüsten hat eine Phase erreicht, in der man dabei ist, eine unverwundbare ‘counterforce capability’ zu schaffen, wodurch unausweichlich Illusionen wie auch Ängste hinsichtlich der Erstschlag-Kapazität entstehen. Das ist sehr gefährlich, und es führt dazu, daß sich das ganze Wettrüsten noch weiter von der Realität, von den tatsächlichen Problemen entfernt und sich an bedrohlich abstrakten Spielen und tagträumerischen Entwürfen orientiert. Wer ist für das Wettrüsten Ihrer Meinung nach verantwortlich? Initiator und treibene Kraft des Wettrüstens sind die Vereinigten Staaten. Das ist offensichtlich nur die eine Sichtweise. Ich bin überzeugt, Sie wissen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 135 aber auch um die wachsenden Ängste, die die militärische Erstarkung der Sowjets in den USA, in Westeuropa und im Westen ganz allgemein hervorruft. Lassen Sie mich z. B. Henry Kissinger zitieren, der anläßlich der Konferenz zum dreißigjährigen Bestehen der Nato im September 1979 in Brüssel erklärte: ‘Seit Mitte der sechziger Jahre ist ein massives Wachstum der sowjetischen strategischen Streitmacht zu verzeichnen. Die Zahl der Interkontinentalraketen stieg von 220 im Jahr 1965 auf 1600 in den Jahren 1972/73. Die Zahl der auf U-Booten installierten Raketen war früher nur geringfügig und stieg in den siebziger Jahren auf über 900 an. Das erstaunliche Phänomen, das künftige Historiker zu untersuchen haben werden, ist dabei, daß all das geschah, ohne daß die Vereinigten Staaten nennenswerte Anstrengungen unternommen hätten, diesen Zuständen entgegenzuwirken. Ein Grund war, daß es nicht leicht war, etwas dagegen zu unternehmen. Aber ein weiterer Grund war das Erstarken einer Denkschule - zu der ich selbst beigetragen habe, ebenso wie viele an diesem Konferenztisch dazu beigetragen haben -, die davon ausging, daß das strategische Gleichgewicht ein militärischer Aktivposten war, und auch die, historisch gesehen, erstaunliche Theorie entwickelte, daä Verwundbarkeit zum Frieden und Unverwundbarkeit zur Kriegsgefahr beitrug.’11 Immer wenn ich solche Erklärungen lese, besonders wenn sie von bekannten Leuten stammen, die eigentlich als kompetent gelten, wie z. B. Kissinger, fühle ich mich etwas unwohl. Ich halte es für durchaus normal, mit diesen Leuten Meinungsverschiedenheiten zu haben, Ereignisse anders als sie zu interpretieren, andere Sympathien zu hegen, usw. Aber ich fühle mich wirklich unwohl, wenn das, was sie sagen, sich als himmelschreiende Unwahrheit erweist, und man sich doch kaum vorstellen kann, daß sie nicht ganz genau, vielleicht sogar besser als irgendjemand sonst, wüßten, was die Wahrheit ist. Aber es geht selbstverständlich nicht nur allein um Kissinger. Während der letzten Jahre waren wir Zeugen einer vorher nie dagewesenen massiven und gut organisierten Kampagne gegen eine in Wirklichkeit überhaupt nicht bestehende ‘strategische Überlegenheit der Sowjetunion’, wodurch die politische Atmosphäre in den USA einseitig beeinflußt wurde. Ich bin überzeugt, dieser Vorgang kann mit vollem Recht der Schwindel des Jahrhunderts genannt werden. Zahlen lügen nicht, sagen diese Leute. Aber sie sind so leicht zu manipulieren. Denken Sie an das berühmte Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 136 Wort von Disraeli, nach dem es drei Arten von Lügen gibt: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken. Dies gilt auch für die von Kissinger genannten Zahlen. Nehmen Sie die Zahl 220, die Zahl der sowjetischen Raketen im Jahre 1965 also. Wieviele Raketen hatten denn die Amerikaner damals? Laut offiziellen amerikanischen Statistiken 901 - viermal mehr als wir. Warum hat Kissinger das nicht erwähnt? Nehmen Sie die auf U-Booten installierten Raketen. Kissinger sagt, die UdSSR habe 1965 nur sehr wenige dieser Raketen gehabt. Nun, die USA hatten zu diesem Zeitpunkt nicht weniger als 464. Aber was ist zur Tendenz zu sagen? Die amerikanischen Zahlen, die ich genannt habe, waren Ergebnis einer massiven Aufrüstung, die die Kennedy-Administration 1962 unter dem Vorwand einleitete, es existiere eine ‘Raketenlücke’ zu unseren Gunsten. Das führte zu einer ganz erheblichen Überlegenheit der USA und versetzte uns in eine Lage, in der wir keine Möglichkeit hatten, anders zu reagieren, wollten wir mit Amerika gleichziehen. Hierin liegt also die Ursache für das ‘massive Wachstum’, dessen uns Kissinger beschuldigt. Und die Zahlen, die wir in den siebziger Jahren erreichten - 1600 Interkontinentalraketen und mehr als 700 auf U-Booten installierte Raketen bedeuteten nach Ansicht der Amerikaner den Gleichstand. Diese Zahlen wurden in dem SALT I-Abkommen festgehalten, dessen wichtigster Architekt auf amerikanischer Seite, nebenbei gesagt, der gleiche Kissinger war. Noch irreführender ist seine Behauptung, daß diese ‘massive’ sowjetische Aufrüstung ‘geschah, ohne daß die Vereinigten Staaten nennenswerte Anstrengungen unternommen hätten, diesen Zuständen entgegenzuwirken’. Ganz im Gegenteil, die USA haben sehr erhebliche Anstrengungen unternommen. Sie begannen damit, ihre Raketen mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten, d.h. jede einzelne Rakete wurde mit mehreren Sprengköpfen versehen, deren jeder in ein eigenes Ziel gelenkt werden kann. Durch diesen Schritt wurde die Zahl der amerikanischen Sprengköpfe alle zwei Jahre verdoppelt, und die Amerikaner sicherten sich somit zum Zeitpunkt von SALT I eine vierfache Überlegenheit im Hinblick auf die Zahl der Sprengköpfe. Mit anderen Worten, die erneute amerikanische Aufrüstung in Form der Ausstattung der Raketen mit Mehrfachsprengköpfen war schon im SALT I-Abkommen berücksichtigt? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 137 Selbstverständlich war das der Fall. Die USA waren keineswegs untätig angesichts des sowjetischen Versuchs, den Anschluß zu finden. Es fällt schwer zu glauben, Kissinger habe vergessen, daß die USA in den frühen siebziger Jahren, als er Präsident Nixons Sicherheitsberater war, einen wirklich neuen ‘großen Sprung nach vorne’ im Wettrüsten einleiteten. Das geschah nicht nur dadurch, daß das Programm der Mehrfachsprengköpfe begonnen wurde, wodurch die Zahl der Sprengköpfe bei den Interkontinentalraketen von 1054 in den späten sechziger Jahren auf 2154 gegen Ende der siebziger Jahre erhöht wurde und die Zahl der Sprengköpfe bei den Raketen, die auf U-Booten installiert sind, im selben Zeitraum von 656 auf ungefähr 7000 anwuchs. In den frühen siebziger Jahren begannen die USA auch mit der Entwicklung der Marschflugkörper, der neuen Trident-U-Boote und einer Reihe anderer Dinge. Nebenbei gesagt, noch vor ein paar Jahren war Kissingers Gedächtnis besser. 1978 z. B. sagte er: ‘Wir haben unsere Programme nach dem SALT-Abkommen 1972 beschleunigt. Ich denke, daß Sie bei einer Betrachtung der Geschehnisse feststellen werden, daß sich das Weiße Haus immer für die weitreichendsten Verteidigungsvorschläge entschloß, die aus dem Pentagon kamen. Es bestanden keine Illusionen unsererseits, daß wir der Sowjetunion aus einer Position der Schwäche heraus begegnen könnten.’12 Aber alle diese Programme der Amerikaner wurden von diesen damit begründet, daß sie als ‘Tauschobjekte’ die amerikanische Position bei den Gesprächen stärken sollten. Wenn sie Tauschobjekte waren, warum wurde dann trotz der Fortschritte bei den SALT-Gesprächen nicht ein einziges Programm eingestellt? Nehmen Sie z. B. die Mehrfachsprengköpfe, ein Programm, das damals mit dem Argument gerechtfertigt wurde, es handle sich um ein Tauschobjekt. Die USA legten besonderen Wert darauf, daß sie durch die SALT I-Gespräche nicht verboten bzw. auch nur verzögert wurden. (Ich erinnere mich, daß sogar Kissinger das dann im Nachhinein bedauerte.) Aber lassen Sie uns auf Kissingers Bemerkungen zurückkommen, zu denen ich Stellung nehmen sollte. Wie Sie sehen, erwiesen sie sich als eine sehr irreführende Einschätzung, wenn man sie im Licht der Tatsachen betrachtet, die in Zusammenhang stehen mit dem militärischen Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR. Sie sind aber auch hinsichtlich der politischen Situation falsch. Lassen Sie uns nur einen Faktor herausgreifen - das Anwachsen der chinesischen Feindseligkeiten gegen-13 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 138 über der Sowjetunion. Sie erreichten einen Stand, der allmählich einer militärischen Zusammenarbeit zwischen China und einigen Nato-Ländern gleichkommt. Und natürlich hat auch die Nato selbst ihr militärisches Potential seit geraumer Zeit drastisch erhöht. An der von Ihnen zitierten Bemerkung Kissingers ist besonders unheilvoll, daß er die Idee infrage stellt, daß ‘das strategische Gleichgewicht ein militärischer Aktivposten’ ist, genauso wie jene Ansichten zur gegenseitigen Verwundbarkeit, die beiden Seiten wenigstens gestatteten, einige Fortschritte bei der Rüstungskontrolle zu erzielen. Wenn dieses Denken in Washington an Boden gewinnt, wenn diese Ideen weiter heranreifen und ihre logischen Schlußfolgerungen zeitigen, dann sind bei ihrer Umsetzung in die Praxis ausschließlich schreckliche und gefährliche Zeiten für die internationalen Beziehungen zu erwarten. Ich habe eine Aussage Kissingers zitiert; aber es werden viele solche Vorwürfe gegen die Sowjetunion erhoben, wonach diese den Westen dazu zwingt, zu rüsten und sich auf einen Krieg vorzubereiten. Es sind doch sicher nicht alle Vorwürfe unwahr? Warum nicht? Es gibt einen Spruch, der besagt, daß zu keiner Zeit so viel gelogen wird wie während des Krieges und vor Wahlen. Ich würde hinzufügen: und wie während und aufgrund des Wettrüstens. Wie kann man Bürger dazu bringen, jahraus, jahrein Milliarden für die Rüstung auszugeben, wenn man nicht eine ‘tödliche Bedrohung’ hat, auf die man verweisen kann? Das ist in Wirklichkeit die Funktion, die die ‘sowjetische Bedrohung’ erfüllt. Sie erfüllt ihre Funktion schon seit langem, nämlich seit der Revolution von 1917. Wir wurden auch als Popanz benutzt, als wir sehr schwach waren. Was ist jetzt zu erwarten, da wir wirklich stark sind? Ich verleugne keineswegs, daß wir heute stark sind, daß wir eine zuverlässige Verteidigung haben, der wir auch viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ist es nicht genau diese Stärke, die Ängste erweckt? Nun, zum ersten handelt es sich um Stärke, aber nicht um Überlegenheit, d.h., die andere Seite ist genauso stark. Zum zweiten, die Ängste waren auch zu der Zeit maßlos übertrieben, als es diese Stärke nicht gab. Lassen Sie uns die Situation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Beispiel in Erinnerung rufen. Damals handelte es sich um eine Sowjetunion, die im Krieg ungeheure Verluste erlitten hatte. Amerika war stärker geworden, erwarb Nuklearwaffen und versuchte das Monopol darauf zu behalten, um der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 139 Es ist anzunehmen, daß die Sowjetunion in Folge von Hitlers Politik der verbrannten Erde 1945 dringendere und vorrangigere Probleme hatte, als mit der Aufrüstung oder mit dem Bau von Nuklearwaffen zu beginnen. Selbstverständlich hätten wir es vorgezogen, unsere Mittel für andere und sehr dringende Aufgaben auszugeben. Aber es gab keinen anderen Weg, einfach deshalb, weil die USA von ihrer Position der Stärke Gebrauch machten. Wir haben das im Zusammenhang mit der Geschichte des Kalten Krieges schon erörtert. Herausgefordert durch die Vereinigten Staaten, mußten wir nach dem Zweiten Weltkrieg der Verteidigung die höchste Dringlichkeitsstufe einräumen. Hierin liegt die wahre Ursache des Wettrüstens. Es wurde und wird uns immer noch aufgezwungen. Die Amerikaner sagen genau das Gegenteil. Jene, die das sagen, scheinen zu vergessen, daß wir in all den Jahren tatsächlich fortwährend hinter den Vereinigten Staaten herrannten. Die USA hatten Nuklearwaffen. Wir hatten keine. Wir mußten sie erst erwerben. Sie hatten Trägersysteme für Nuklearwaffen. Wir hatten solche Mittel nicht. Wir mußten sie erst entwickeln. Dasselbe trifft für praktisch alle wichtigen strategischen Waffensysteme zu - für auf U-Booten installierte Raketen, Mehrfachsprengköpfe, Marschflugkörper usw. Die Amerikaner waren die ersten, die sie einführten und uns in einen weiteren Wettstreit verwickelten, die uns zwangen, Farbe zu bekennen, gleichzeitig aber laute Töne anschlugen wegen der furchtbaren militärischen Gefahr, die von der UdSSR und ihrer militärischen Überlegenheit ausginge. An welche ‘lauten Töne’ denken Sie dabei? Eines der ersten Beispiele war die Kampagne zur ‘Bomberlücke.’ Sie wurde in den USA in den fünfziger Jahren gestartet - können Sie sich vorstellen, wie wir zu jener Zeit eine Überlegenheit im Bereich der Bomber hätten haben können? Aber diese Kampagne half dem Pentagon ein Eilprogramm zum Bau von Bombern durchzudrücken. Und sehr bald schon wurde bekanntgegeben, daß die Zahl der amerikanischen Bomber, ‘wie sich herausgestellt hatte’, von Anfang an um ein Mehrfaches größer war als die der sowjetischen Bomber. In den sechziger Jahren wurde die Geschichte von der ‘Raketenlücke’ in die Welt gesetzt, mit so ziemlich den gleichen Ergebnissen - ungeheure Programme zum Bau von Raketen wurden angenommen. Bald darauf wurde bekannt, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 140 daß die ‘sowjetische Raketengefahr’ damals um ein Vielfaches übertrieben worden war. (In beiden Fällen wurden die Programme auch nach solchen Richtigstellungen - da sie schon einmal angenommen waren - natürlich nicht mehr fallengelassen, sondern durchgeführt.) Was uns aber noch mehr Sorgen bereitete, war die Haltung, die sich hinter diesen Entscheidungen verbarg. Wir konnten nichts anderes darin sehen als ein bewußtes Bestreben, eine sogar noch größere militärische Überlegenheit zu erlangen - ein Wunsch, der nur aus den denkbar übelsten Absichten erwachsen konnte. Jedes Jahr bescherte eine ‘Lücke’ - eine ‘Dollarlücke’ (ich denke dabei an Schauermärchen über den Umfang des sowjetischen Militärbudgets), eine ‘Zivilverteidigungslücke’, eine ‘Lücke’ bei Mittelstreckenwaffen, und vieles mehr. Das ist zum Routinebestandteil der amerikanischen Militärplanung geworden. Vielleicht kommen wir auf einige der ‘Lücken’ später zurück. Zuerst eine allgemeinere Frage: Wie erklären Sie sich diese bemerkenswerte Langlebigkeit der Parole von der ‘sowjetischen Bedrohung’? Angst ist eine sehr starke Emotion, die Politiker wissen das, besonders amerikanische Politiker. Um das zu verdeutlichen, würde es genügen, sich den berühmten Ratschlag in Erinnerung zu rufen, den Senator Arthur Vandenberg Präsident Truman gegeben hat, nämlich ‘dem Land höllische Angst einzujagen, um die Truman-Doktrin durch den Kongreß zu peitschen’. Und man muß in der Tat solche Emotionen wecken, wenn man die Absicht hat, seinem Land ein gefährliches und kostspieliges Wettrüsten aufzuerlegen. Nur wenn man die Leute zu Tode erschreckt, wird man Hunderte von Milliarden für die ‘Verteidigung’ mobilisieren können. Und nichts wird die Öffentlichkeit wirkungsvoller in Schrecken versetzen als der Ruf, ‘die Russen kommen’. Die Leute scheinen auf solche Töne immer noch wie die Pawlow'schen Hunde zu reagieren. Mächtige, etablierte Interessengruppen stehen hinter dieser Angst, und zwar ziemlich große und einflußreiche Gruppen der amerikanischen Gesellschaft: die Geschäftsleute der Rüstungsindustrie und das Pentagon, die Gruppen innerhalb der Regierungsbürokratie, die ihnen dienen, wie auch entsprechende Gruppen im akademischen Bereich und in den Medien. Für sie alle ist der Militarismus zu einem Lebensstil geworden. Sie sind bereit, ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Sie blühen und gedeihen dank des Gespensts von der ‘sowjetischen Bedrohung’. Sie geben sich stets alle erdenkliche Mühe, dieses Gespenst am Leben zu erhalten, wenn es sich durch allzu häufigen Gebrauch abzunutzen droht. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 141 Aber haben nicht die Amerikaner wie auch die Westeuropäer gute Gründe, sich zu fürchten? Hat nicht die Sowjetunion genug Waffen angehäuft, um deren Städte ebenfalls in radioaktiven Schutt und in Asche zu verwandeln? Ich kann dem ganz und gar zustimmen, daß schreckliche Vernichtungsmittel geschaffen worden sind und daß sie einem Angst einfloßen. Aber nicht nur russische Waffen können unter den Amerikanern und Westeuropäern solche Befürchtungen hervorrufen. Wir, in der Sowjetunion, leben sogar schon länger mit dieser Angst. Schauen Sie sich die pervertierte Welt an, in der wir alle, die Menschen in West und Ost, leben: unsere Städte - Marksteine der Kultur und der Künste -, alles das, worauf die menschliche Zivilisation stolz ist, alles das, was uns teuer ist, wie das Leben selber - Millionen von Menschen, wir selbst, unsere Kinder -, alles das wurde schließlich zu ‘Zielen’ reduziert. Und damit leben wir; wir gewöhnen uns daran, in einem Maße, daß wir angefangen haben, einfach zu vergessen, wie die Lage wirklich ist. Es ist diese Situation, die Furcht erwecken muß - und nicht die Sowjetunion. Mehr noch, stündig werden Rufe laut, das alles reiche nicht aus, es seien mehr Waffen und größere Militärausgaben erforderlich, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Es ist wirklich erstaunlich, daß das unablässig funktioniert. Und das, obwohl es doch nicht so schwer sein kann, die Absurdität dieser Situation zu begreifen und zu erkennen, daß diese lautstarken Forderungen schon oft erhoben wurden, ohne daß dadurch etwas besser wurde; zu sehen, daß es einflußreiche Kreise und Gruppen gibt, die davon profitieren, daß sie immer wieder die Öffentlichkeit täuschen und ihr Angst einjagen, wobei die Gefahren, die heraufgezogen sind, vollständig außer acht bleiben. Bezeichnenderweise war es Präsident Dwight D. Eisenhower, ein Soldat, der als erster vor dem militärisch-industriellen Komplex in den Vereinigten Staaten warnte. Ja. Damals hatte diese Gruppe schon begonnen, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen. Bis heute ist sie noch viel stärker geworden. Tatsächlich ist sie der größte Wirtschaftskomplex in Amerika, eine Branche mit mehr als 150 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr, die Millionen von Menschen Arbeit bietet, die ganze Landstriche beherrscht und in der Verwaltung und im Kongreß einflußreich vertreten ist. Natürlich wissen das die Amerikaner sehr genau, sie haben diese Geschichte schon oft genug gehört. Aber dennoch erfreut sich das Rüstungsgeschäft des Rufs, ein patrioti- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 142 sches Geschäft zu sein. Sein Produkt ist die Sieherheit Amerikas. Sein Profit ist Amerikas Ehre und Ansehen. Was die Profitinteressen angeht, die mit dem Wettrüsten verbunden sind, so gilt es als unfein, darüber zu reden. Diese Seite bleibt verborgen, wird schweigend übergangen, weil, wie John K. Galbraith es ausdrückt, die Leute ‘nicht gerne daran denken, daß wir als Nation das Risiko eines potentiellen Selbstmords eingehen, nur um augenblicklicher ökonomischer Vorteile willen’.13 So bleibt Wichtiges unausgesprochen, trotz der sprichwörtlichen Vorliebe der Amerikaner, alles zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen. Was veranlaßt Sie zu glauben, es gäbe hier etwas zu untersuchen? Ganz einfach - es ist zuviel Geld im Spiel. Außerdem gab es schon genug direkte Beweise, wie z. B. den Lockheed-Skandal. Darin waren fremde Staaten verwickelt, aber warum sollten die entsprechenden Leute zu Hause andere Methoden anwenden? Schauen Sie sich an, wie die Preise für Rüstungsgüter steigen - nach Angaben des Magazins Time übertreffen sogar die Preissteigerungen für ältere Waffen die Inflationsrate um ein Vielfaches. Wir wissen auch, wie skrupellos die Rüstungsindustrie in der Wahl ihrer Mittel ist. Unter dem Deckmantel der ‘nationalen Sicherheit’ und dank ihrer Verbindungen zur Regierung und zu den Medien, kann sie aus dem Nichts heraus eine ‘Bedrohung’ an die Wand malen. Erinnern Sie sich, wie es zur ‘Raketenlücke’ kam? Wie kam es dazu? 1957, nachdem der erste sowjetische Sputnik Amerika so sehr in Schrecken versetzt hatte, berichtete eine eigens geschaffene Expertengruppe, das sogenannte ‘Gaither panel’, daß die durch sowjetische Raketen geschaffene Gefahr innerhalb weniger Jahre ‘kritisch’ werden würde, und schlug deshalb eine drastische Erhöhung der Militärausgaben und eine entsprechende Ausweitung der Rüstungsprogramme vor. Präsident Eisenhower war nicht in allen Punkten mit den Empfehlungen einverstanden. Aber die Demokraten griffen das Thema auf, und im Wahlkampf 1960 ließ Senator John F. Kennedy keine Gelegenheit aus, die Republikaner zu beschuldigen, sie würden die nationale Verteidigung vernachlässigen. Er hatte so oft versprochen, diese Situation zu korrigieren, daß er dann, obwohl er beim Einzug ins Weiße Haus die Wahrheit kennenlernte, mit dem rapiden Ausbau der amerikanischen Raketenstreitmacht fortfuhr. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 143 Sind Sie der Ansicht, daß es eine Raketenlücke überhaupt nicht gab? Es gabe eine Lücke, richtig, aber eine von ganz anderer Art. George Kistiakowsky, der seinerzeit der Berater für Technik und Wissenschaft Präsident Eisenhowers war, bestätigte später: ‘Die tatsächlich vorhandene Raketenlücke bestand in Wirklichkeit zu unseren Gunsten.’14 Könnte das eine Ausnahme von der Regel sein? Soweit ich sehen kann, ist es die Regel. Um die Amerikaner mit der Lüge von der ‘sowjetischen Bedrohung’ irrezuleiten und ihnen Angst einzujagen, existiert eine wirksame Maschinerie, die dazu in der Lage ist, jede beliebige Regierungsbehörde zu manipulieren. Nehmen Sie das kürzlich erschienene Buch von Richard Helms, in dem dieser beschreibt, wie der Geheimdienst CIA auf Grund des hartnäckigen Drängens von Seiten des Pentagon eine ausgesprochene Fälschung beging, indem er prognostizierte, daß die in den USA als SS 9 bezeichneten sowjetischen Raketen bis Ende der sechziger Jahre mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüstet sein würden. Diese Prognose erwies sich sehr bald als völlig falsch. Ferner gab es viele Indiskretionen im Zusammenhang mit den SALT-Gesprächen - sie alle zielten darauf ab, Fortschritte bei den Verhandlungen zu vereiteln. Einmal war sogar ich von solch einer Indiskretion betroffen. Wie kam es dazu? Im Sommer 1975 besuchte eine Delegation amerikanischer Senatoren die Sowjetunion. Ich nahm als Mitglied einer Gruppe von Abgeordneten des Obersten Sowjet der UdSSR an den Gesprächen mit ihnen teil. Verschiedene Senatoren waren besonders daran interessiert zu erfahren, ob die UdSSR bereit wäre, in Verhandlungen mit den USA einzutreten, um die militärische Präsenz im Indischen Ozean zu begrenzen. Es gab damals lebhafte Spekulationen über den angeblichen Bau eines sowjetischen Marinestützpunktes in Berbera in Somalia, worauf die Vereinigten Staaten ‘antworteten’, indem sie sich anschickten, ihrerseits auf der Insel Diego Garcia einen Stützpunkt zu errichten. Die Verhandlungen sollten bezwecken, eine solche Entwicklung auf beiden Seiten zu verhindern. Meine Kollegen und ich waren überzeugt, daß unsere Seite bereit war, solche Verhandlungen zu beginnen, jedoch waren unsere Antworten offensichtlich zu allgemein, um die Amerikaner, die immer wieder auf die Frage zurückkamen, zufriedenzustellen. Da die Senatoren sich so interessiert zeigten, entschieden sich unsere Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 144 Parlamentarier, weitere Informationen über die Haltung der sowjetischen Regierung und deren Absichten in dieser Region einzuholen. Uns wurde versichert, daß die Sowjetunion bereit war, unverzüglich mit den USA Verhandlungen aufzunehmen. Aber irgendwie bot sich in den darauffolgenden Tagen keine Gelegenheit, auf die Diskussion über den Indischen Ozean zurückzukommen. Erst unmittelbar vor ihrer Abreise aus der Sowjetunion stellten mir die Senatoren abermals die gleiche Frage, und dieses Mal konnte ich nähere Auskunft geben. Bald darauf veröffentlichte die Washington Post einen Artikel von Evans und Nowak, in dem versucht wurde nachzuweisen, daß die Sowjetunion Verhandlungen über dieses Problem abgelehnt hatte. Die beiden Kolumnisten bezogen sich auf die Gespräche der US-Senatoren in Moskau und auf ein ziemlich pessimistisches Telegramm zu diesem Gegenstand, das die US-Botschaft in Moskau in den ersten Tagen des Besuchs der Senatoren verfaßt hatte. (Später wurde mir gesagt, daß die Indiskretionen, die dieses Telegramm betrafen, aus dem Pentagon kamen.) So kam es, daß Evans und Novak meine Ausführungen auf die denkbar unhöflichste Weise desavouierten, trotz der Tatsache, daß sie zutreffend waren - die Gespräche begannen tatsächlich kurz danach. Die Absicht, die hinter der Indiskretion stand, war ganz deutlich - es ging darum, die Diskussion um die Bewilligung der Mittel für den Stützpunkt Diego Garcia durch den US-Kongreß zu beeinflussen. Denken Sie auch an die jüngste Episode im Zusammenhang mit Senator Perrys Bericht über seine Gespräche in Moskau. Dieser Bericht wurde von der Presse desavouiert, als die New York Times durch Indiskretionen auf seiten eines der beiden Teams, die die Amtsübergabe im Weißen Haus vorbereiteten, vom Inhalt der Telegramme des US-Botschafters T. Watson erfuhr. Solche Episoden sind dazu geeignet, neben anderen Aspekten auch zu zeigen, welch integraler Bestandteil das Gespenst der ‘sowjetischen Bedrohung’ ist, wenn es um den Prozeß der Bewilligung der Militärausgaben und um militärische Planung geht. George Kennan hat einmal festgestellt, daß die am Wettrüsten interessierten etablierten Gruppen in den Vereinigten Staaten solches Gewicht besitzen, daß es eine ungeheuer schwierige Aufgabe wäre, sie auszuschalten, ‘selbst wenn die gesamte äußere Rechtfertigung für es [das Wettrüsten] verschwinden sollte - sogar wenn die UdSSR morgen mit all ihren Armeen und Raketen im Ozean versinken würde’.15 An dem Strang des Wettrüstens ziehen starke Kräfte. Politische Verdächtigungen und etablierte Interessen finden Unterstützung durch die wahnwitzigen Triebkräfte, die das bloße Vorhandensein des Militärpotentials mit seinen gigantischen Ausmaßen bewirkt. Wissenschaftli- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 145 cher und technischer Fortschritt drängen ebenfalls unerbittlich in die gleiche Richtung, stellen sie doch andauernd neue Arten von Waffen zur Verfügung und schaffen dadurch unwiderstehliche Versuchungen für manche Generäle und Politiker. Ferner gibt es nachteilige Auswirkungen dadurch, daß man Überlegungen zu neuen Waffensystemen viele Jahre im voraus anstellen muß, wodurch immer ein Element der Ungewißheit hinzukommt und immer Zwänge auftreten, die Maximallösung zu wählen. Auch gibt es Asymmetrien in unserem Gleichgewicht, die Einschätzungen erschweren und so den Weg für Überreaktionen bereiten. Wie Sie sehen, würden alle diese sachimmanenten Schwierigkeiten schon voll ausreichen, um den Kampf gegen das Wettrüsten zu einem mühsamen Unterfangen zu machen. Und zu all dem kommt noch politisches Kalkül hinzu. Ja, natürlich. Und zusätzlich noch ausgesprochener Betrug. Zu den Aspekten der gegenwärtigen amerikanischen Wirklichkeit, die mich erstaunen, gehört folgendes: In den siebziger Jahren erschauderten die Amerikaner angesichts der abscheulichen Schikanen, Betrügereien und Korruptionsfälle, die in ihren politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen sichtbar wurden. Das Rüstungsgeschäft jedoch, die hämischen Lügen über ‘die sowjetische Bedrohung’, die gesamten Mechanismen, die die etablierten Interessen schützen, und die auch das System schützen, mit dessen Hilfe man im Zusammenhang mit dem Krieg und der Kriegsvorbereitung Profit machen kann - alle diese Dinge blieben weitgehend heilige Kühe. Aus dem einen oder anderen Grund mußte keiner von denen, die die Amerikaner über die Ereignisse im Ausland täuschten und sie dazu brachten, entgegen ihren Wünschen Milliarden von Dollar für die Waffen auszugeben, die das Land ohne Not in Krisen und Konflikte mit anderen Länder hineinzogen - keiner von ihnen mußte dafür Rechenschaft ablegen. Mehr noch, in einigen Fällen stehen dieselben Leute, die die Öffentlichkeit regelrecht irregeführt haben, wenn in kritischen Situationen wichtige langfristige militärische Belange entschieden wurden - sei es in den späten fünfziger, in den sechziger oder in den siebziger Jahren -, stehen genau dieselben Leute nach wie vor hoch im Kurs, gelten als die Gewährsleute schlechthin, als die, ‘die es wissen’ und deren Meinung sowohl in der Öffentlichkeit wie bei den Politikern Beachtung finden sollte. Diese Worte scheinen auf Paul Nitze und seine Freunde zugeschnitten zu sein. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 146 Das liegt daran, daß Paul Nitze diesen Typ besser als irgend jemand sonst verkörpert. 1950 war er Vorsitzender der Gruppe, die das Dokument NSC-68 verfaßte, 1957 war er Mitglied im ‘Gaither panel’, später war er Marineminister und stellvertretender Verteidigungsminister. Zu der Zeit, als Nitze den letztgenannten Posten innehatte, tauchten neue Horrorgeschichten über die Russen auf, einschließlich der falschen Gerüchte bezüglich des sowjetischen Raketenabwehrsystems. 1976 trat Nitze in das ‘Team B’ ein, eine spezielle Gruppe von Experten aus dem Lager der Falken, die von Präsident Ford eigens eingerichtet wurde, um die US-Schätzungen der Stärke der Sowjets nach oben zu korrigieren. ‘Team B’ hat alle Rekorde geschlagen in dem Bemühen, das Bild von der ‘sowjetischen Bedrohung’ weiter auszumalen. Heute ist Nitze einer der führenden Köpfe im ‘Committee on the Present Danger’16, der immer wieder die gleichen Thesen von sich gibt, sei es in den Medien, bei Anhörungen des Kongresses oder bei öffentlichen Veranstaltungen. Es gibt in Amerika noch mehr Leute von seinem Schlag. Und ebenso in Europa. Nehmen Sie Ihren Landsmann Joseph Luns, Generalsekretär der Nato. Nein, ich glaube nicht an eine Verschwörer-Theorie in der Geschichte, ich gehöre nicht zu denen, die in Verschwörungen die letzte Quelle für alle Katastrophen von großem Ausmaß sehen. Aber in diesem besonderen Fall, angesichts der Mythologie von der ‘sowjetischen Bedrohung’ und dem Wettrüsten, bin ich zutiefst davon überzeugt, daß wir es mit einer Verschwörung zu tun haben, wenn nicht gar mit einem verzweigten System von Verschwörungen. Nachdem ich seit ungefähr 30 Jahren in den Vereinigten Staaten lebe, ist mir klar geworden, daß die Interessen, die mit der amerikanischen Kriegsmaschinerie verstrickt sind, gewiß eine kolossale Rolle spielen. Aber gibt es nicht auch den sowjetischen militärisch-industriellen Macht- und Interessenkomplex, der ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Wettrüsten spielt? Man sollte nicht versuchen, dort Parallelen zu ziehen, wo die Situation gänzlich anders ist. Außerdem, um ein schönes Wettrüsten zu haben, reicht wirklich ein Komplex vollkommen aus. Und es war jeweils der amerikanische, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jede Runde des Wettrüstens eingeläutet hat. Ist es denn nicht angebracht, nach Parallelen zwischen dem militärisch-industriellen Komplex in Amerika und der Rüstungsindustrie in der Sowjetunion zu suchen? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 147 Selbstverständlich haben wir Generäle und eine Rüstungsindustrie. Aber unsere Rüstungsindustrie produziert nicht des Profits wegen, weshalb ihr auch das Expansionsstreben fehlt, das die Rüstungsindustrie im Westen auszeichnet. Außerdem ist unsere Wirtschaft nicht auf die Ankurbelung durch Militärausgaben angewiesen - ein Mittel, das im Westen regelmäßig Anwendung findet, um dem Problem einer unzureichenden Nachfrage in der Wirtschaft zu begegnen. Wer dann verdient daran, wenn ein sowjetischer Panzer oder eine sowjetische Rakete hergestellt wird? Nun, sehen Sie, die Arbeiter, Ingenieure, Manager, Konstrukteure usw., alle diejenigen, die einen Panzer oder eine Rakete entworfen oder hergestellt haben, bekommen zweifellos ihren Lohn. Wenn sie gute Arbeit geleistet haben, erhalten sie vielleicht sogar eine Prämie. Nur muß man dazu sagen, daß sie genauso gerne einen Traktor oder Mähdrescher herstellen wie einen Panzer, genauso gerne ein Passagierflugzeug oder hochwertige Ausrüstung zur Energiegewinnung bzw. zur friedlichen Erforschung des Weltraums wie eine Rakete. Und außerdem haben wir keine Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil, wir leiden dauernd unter Arbeitskräftemangel. Es gibt keine ungenützten Kapazitäten in unseren Fabriken, wir leiden auch hier unter Engpässen. Deshalb müssen wir mehr und mehr Produktionsstätten errichten, um die Bedürfnisse des Landes zu befriedigen. Das ist der Grund, warum im Falle einer Umstellung auf zivile Produktion nicht nur unser Land insgesamt daraus Nutzen ziehen würde, sondern im Prinzip auch niemand Schaden erleiden würde. In der Tat stellen auch heute die Industriezweige, die der Verteidigung dienen, in großem Umfang Zivilgüter her. 1971 stellte L.I. Breschnew fest, daß 42 Prozent der gesamten Produktion der Rüstungsindustrie zivilen Zwecken dient. Im Herbst des Jahres 1980 rief er die Manager der Rüstungsindutrie dazu auf, die Produktion von Konsumgütern zu erhöhen und einen größeren Teil ihrer Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen der Schaffung neuer Technologien für den zivilen Sektor der Wirtschaft bereitzustellen. Haben Sie Vergleichszahlen für die gegenwärtigen Militärausgaben in Ost und West? Selbstverständlich. Die amtlichen Zahlen für die amerikanischen Militärausgaben lagen für das Haushaltsjahr 1978/79 bei 127,8 Milliarden Dollar und bei 141,6 Milliarden Dollar für 1979/80. Die Carter-Administration beantragte für das Haushaltsjahr 1980/81 161,8 Milliar- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 148 den Dollar - der Kongreß erhöhe das Budget auf 170 Milliarden Dollar, und der Vorschlag für 1981/82 sieht Ausgaben in Höhe von 196,4 Milliarden vor.17 Die Militärausgaben der UdSSR betragen 17,2 Milliarden Rubel (24,6 Milliarden Dollar) für 1978, bzw. 17,2 Milliarden Rubel (25,7 Milliarden Dollar) für 1979, und die Haushaltszuweisungen für 1980 belaufen sich auf 17,1 Millarden Rubel (26,4 Milliarden Dollar).18 Das klingt äußerst unglaubhaft, ich meine, diese Unterschiede. Sie wissen sicher, daß im Westen ganz andere Summen für den sowjetischen Militärhaushalt genannt werden. Einzelheiten unseres Verteidigungshaushalts werden nicht veröffentlicht, deshalb kann ich nur sehr allgemein gehaltene Erklärungen für die Unterschiede geben. Die USA haben eine Berufsarmee, wogegen die Basis unserer Armee die Wehrpflicht ist. Um qualifizierte Leute für die Armee zu gewinnen, muß die US-Regierung den Soldaten recht beträchtliche Löhne zahlen. Mehr als die Hälfte des amerikanischen Militärhaushalts wird für Löhne und Mieten aufgewendet. Ein GI erhält ungefähr 300 bis 500 Dollar im Monat. Ein sowjetischer Soldat kann von dem Sold, den er bekommt, höchstens Zigaretten kaufen. Der Lebensstandard ist bei einer Armee, in der Bürger aus Pflicht, weniger aus materiellen Überlegungen heraus dienen, weitaus bescheidener als bei einer Berufsarmee. Ich könnte noch einen weiteren Faktor anführen, der mit der Rüstungsindustrie zu tun hat. Unser Preissystem gestattet dieser Industrie nicht, die Preise für ihre Produkte willkürlich anzuheben. Nach CIA-Schätzungen liegen derzeit die sowjetischen Militärausgaben in der Größenordnung von 180 Milliarden Dollar. Ach, das ist anhand des sogenannten ‘Dollarmodells’ berechnet. Einem Detroiter Hersteller von Panzern werden die Daten eines sowjetischen Panzers vorgelegt, und er wird gefragt, was es kosten würde, solch einen Panzer herzustellen. In Detroit? Oder in Flint Oder wo immer auch die Amerikaner ihre Panzer produzieren. Dann wird diese Schätzung mulipliziert mit der Zahl der Panzer, die wir nach Auffassung des CIA jährlich produzieren, und schon hat man die Zahl für die ‘wirklichen’ sowjetischen Ausgaben für die Panzerpro- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 149 duktion. Aber bei dieser Rechnung wird irgendwie vergessen, daß sowjetische Panzer nicht von amerikanischen Herstellem produziert werden. Auf gleiche Weise wird die vom CIA angenommene Truppenstärke mit dem Sold multipliziert, den amerikanische Soldaten und Offiziere erhalten, womit man eine weitere Summe hat. Aber lassen Sie uns, um der besseren Verdeutlichung willen, noch bei den westlichen Schätzungen verweilen, anhand derer die Militärausgaben in Ost und West verglichen werden. Trotz aller Verzerrungen ergeben diese doch keineswegs das Schreckensbild, das die Falken in Washington oder Brüssel gerne zeichnen. Nach den - hauptsächlich auf stark überhöhten amerikanischen Zahlen beruhenden - Schätzungen des Londoner International Institute for Strategie Studies z. B. übersteigen die Militärausgaben der Nato 1978 die der Staaten des Warschauer Paktes um 20 Milliarden Dollar.19 Nimmt man die ‘gemäßigteren’ Schätzungen des Stockholmer International Peace Research Institute, so gewinnt man ein sogar noch schlimmeres Bild. Anhand der hier vorgelegten Zahlen zu den weltweiten Militärausgaben für 1978 entfielen auf die Nato 42,8 Prozent der globalen Rüstungsausgaben, auf die Staaten des Warschauer Paktes 28,6 Prozent, auf China 10,5 Prozent.20 Da wir es sowohl mit einer Bedrohung durch den Westen wie durch den Osten zu tun haben, kann man beide Anteile addieren und erhält ein Verhältnis von 53,3: 28,6 zuungunsten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Es weisen also sogar die stark übertriebenen westlichen Schätzungen, berücksichtigt man auch die Verbündeten, noch auf eine ganz deutliche Lücke zugunsten der Nato hin. Auch die gegenwärtigen politischen Haltungen unterscheiden sich in dieser Hinsicht ganz beträchtlich. Die USA und die Nato planen für die kommenden Jahre einen stetigen und sehr bedeutenden Anstieg der Militärausgaben. Die Sowjetunion ist bis heute diesem Beispiel nicht gefolgt. Aber selbst, wenn sie das tut, muß sich das nicht in den offiziellen Zahlen widerspiegeln. Sie müssen wissen, der Westen schenkt diesen Zahlen keinen Glauben. Man mag diese Zahlen nehmen wie man will, aber es läßt sich nicht leugnen, daß die jüngste Entscheidung der USA, die Militärausgaben inflationsbereinigt um jährlich fünf Prozent oder sogar mehr zu steigern, sowie die Entscheidung der Nato-Länder, ihre Rüstungsausgaben in den nächsten 15 Jahren um jährlich drei Prozent zu erhöhen, der Sowjetunion einen denkbar bequemen Vorwand liefern würde, ihr Militärbudget Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 150 zu erhöhen und jegliche Schwierigkeit, die im Bereich der Wirtschaft besteht, damit zu erklären, daß man den Leuten sagt, schaut was der Westen treibt - und natürlich auch China mit seinen ‘Vier Modernisierungen’. Angesichts einer solchen Politik des Westens müßten wir den Gürtel enger schnallen und für eine Zeitlang die Konsumgüter zurückstellen, um abermals den Großteil unserer Mittel für die Verteidigung aufzuwenden. Wir möchten schließlich nicht unvorbereitet angetroffen werden. Und die Sowjetbürger würden, da sie sehr gute Patrioten sind, einer solchen Entscheidung zustimmen. Wir handeln jedoch anders. Im Laufe der letzten Sitzungsperiode des Obersten Sowjets wurde eine weitere mäßige Kürzung der Haushaltsmittel für die Verteidigung - in Höhe von einigen 100 Millionen Rubel bekanntgegeben... Das Erstaunliche im Zusammenhang mit Carters riesigem Aufrüstungsprogramm für die USA ist die Tatsache, daß hierbei alle vorliegenden wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse völlig mißachtet werden. Das MX-System wird 40 Milliarden Dollar kosten, das Trident-U-Bootprogramm 30 Milliarden Dollar, die für Europa vorgesehenen Mittelstreckenraketen 5 Milliarden. Die Militärausgaben für 1985 werden auf über 250 Milliarden Dollar veranschlagt. Und einige Leute in Präsident Reagans Umkreis halten selbst das noch für zu gering. Erkennt nach Auffassung sowjetischer Fachleute niemand in den USA die negativen Auswirkungen der enormen Rüstungsausgaben? Doch, selbstverständlich. Nur ein paar Beispiele: Im Oktober 1979 veröffentlichte das Magazin Business Week Interviews mit Paul Warnke und General a. D. Maxwell Taylor. Trotz ihrer erheblich von einander abweichenden politischen Einstellung erklärten sie übereinstimmend, daß Carters Aufrüstungsprogramm zu einer wirtschaftlichen Bedrohung der Sicherheit der USA führen könnte.21 Oder nehmen Sie die Feststellung von Henry Kaufman, einem führenden Finanzmakler der Wallstreet, der in einer Rede vor der American Bankers Association im März 1980 sagte: ‘Ein neuer Kalter Krieg würde... für den Dollar zusätzliche Probleme mit sich bringen’, und dann mit einer Aufzählung weiterer Aspekte fortfuhr, die Ergebnisse von Carters Kurswechsel waren und den USA wirtschaftlichen Schaden zufügten. Unsere Fachleute sind der Meinung, daß man in den USA während des Krieges in Südostasien begann, die Übel einer militarisierten Wirtschaft zu erkennen. Die öffentliche Diskussion in den späten sechziger Jahren trug dazu bei, die Tatsache zu erhellen, daß die riesigen Rüstungsausgaben für die amerikanische Wirtschaft allmählich ruinös wurden. Der Kriegshaushalt trieb die Inflation in die Höhe. Er schwächte die Wett- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 151 bewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten auf den Weltmärkten. Viele amerikanische Geschäftsleute kamen zu dem Schluß, daß einer der Gründe, warum die japanische und die westdeutsche Industrie so erfolgreich mit den USA konkurrieren konnten, die abnormen Haushaltsausgaben für den Vietnamkrieg waren. Sowjetische Experten stellen fest, daß die Amerikaner sich auch weiterer schädlicher Folgen der umfangreichen Militärausgaben bewußt werden. Welcher Folgen insbesonders? In den letzten Jahren beklagten manche Amerikaner, die Vereinigten Staaten würden allmählich gegenüber anderen Ländern ins Hintertreffen geraten, was die Zahl der Erfindungen und der wissenschaftlichen Neuerungen anbelangt. Einige sahen einen Grund dafür in der Tatsache, daß Amerikas klügste Köpfe von der Rüstungswirtschaft in Beschlag genommen werden und an diesen Sektor gebunden bleiben. Zwischen einem Drittel und 40 Prozent der amerikanischen Ingenieure arbeiten in der Rüstungsindustrie, was für die übrigen Sektoren einen erheblichen Verlust an intellektuellem Potential bedeutet. Mehr und mehr Leute in den Vereinigten Staaten fangen an zu begreifen, daß die Inflation mit den Rüstungsausgaben in Zusammenhang steht und daß das Wettrüsten dabei eine bedeutende Rolle spielt. Die Ansichten der Gewerkschaften über die Arbeitsplätze, die dem Militär zu verdanken sind, ändern sich ebenfalls. Das erinnert mich daran, daß zur gleichen Zeit, als in Amsterdam eine riesige Demonstration gegen die Herstellung von Neutronenwaffen stattfand, die Kinder in Livermore in Kalifornien T-Shirts kauften, auf denen Slogans aufgedruckt waren, die die Herstellung dieser Horrorprodukte propagierten; der Grund dafür war, daß ihre Väter diesen Betrieben ihren Arbeitsplatz verdankten. Ich finde es tragisch, wenn Leute vor die Wahl gestellt werden, entweder das Geschäft des Todes zu betreiben, oder zu hungern. Es stimmt, daß ganze Landstriche in den USA von den Aufträgen des Pentagon abhängig sind, da dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden. Trotzdem hat man mehr und mehr erkannt, daß Militärausgaben tatsächlich weniger Arbeitsplätze schaffen, als das gleiche Geld, im zivilen Sektor der Wirtschaft investiert, bewirken würde. Das ist einer der Gründe, warum einige der Gewerkschaften, die in der Rüstungsindustrie beschäftigte Arbeiter vertreten, heute zusammen mit Kirchen und Kreisen aus der Wirt- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 152 schaft Pläne ausarbeiten, um die Rüstungsproduktion auf friedliche Zwecke umzustellen. Ich glaube, an der Basis ist die Bereitschaft zu einer Alternative zum Militarismus weit verbreitet. Allerdings scheinen aufgrund der Kursänderungen in der US-Außenpolitik zu Beginn der achtziger Jahre diese Neigungen heute weniger offen in Erscheinung zu treten. Von einer Umstellung der Rüstungswirtschaft auf friedliche Zwecke zu sprechen, kann leicht als ‘unpatriotisch’ hingestellt werden, in einer Zeit, in der sich die Nation neuerlich auf den Kriegspfad begeben hat. Nun, niemand wird bestreiten, daß die Militärausgaben der USA ganz enorm sind. Sicherlich ist Ihnen aber auch bekannt, daß ihr Anteil am Bruttosozialprodukt bzw. am Haushalt heute geringer ist als, sagen wir, vor 15 Jahren. Die nichtmilitärischen Ausgaben übersteigen heute die militärischen Ausgaben, wahrend es in den späten sechziger Jahren umgekehrt war. Trotz der gegenwärtigen drastischen Erhöhung der Militärausgaben wird im Haushalt 1981 dem Pentagon realiter die gleiche Summe zugewiesen wie vor dem Krieg in Indochina. Ja, ich kenne die Argumentationsweise sehr wohl. Beginnen wir mit dem Anteil am Bruttosozialprodukt. Selbstverständlich sind fünf oder sechs Prozent des BSP, also der Anteil, den die Militärausgaben der USA während der letzten Jahre erreichen, weniger als jene 9 oder 13 Prozent, auf die sich der Verteidigungshaushalt in der Vergangenheit bisweilen belief. Aber das heißt nicht, daß fünf Prozent kleine Fische sind. Wenn man das Wachstum des BSP bedenkt, dann bedeutet jeder Prozentpunkt eine gewaltige Summe, ganz zu schweigen von fünf Prozent. Plus oder minus fünf Prozent machen Welten aus, wenn von BSP die Rede ist. Und jedes Jahr werden diese fünf Prozent einfach vergeudet. Was den Haushalt anbelangt, so ist das Bild sogar noch düsterer. Der Staatshaushalt - und auch davon wiederum nur bestimmte Teile - zeigt an, in welchem Umfang die Gesellschaft Mittel für die Lösung der nationalen Probleme bereitstellt. Zu diesen Problemen gehört nicht nur die militärische Sicherheit, sondern auch die soziale Sicherheit, das Gesundheitswesen, die Bildung, Probleme der Städtesanierung, der Umweltschutz, Energiefragen und Grundlagenforschung. Wenn etwa ein Viertel der dafür vorhandenen Mittel militärischen Zwecken dient, so bedeutet das für die Gesellschaft großen Schaden, und ihre Fähigkeit, die dringendsten Probleme zu lösen, wird stark eingeschränkt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 153 Aber ist nicht die langfristige Verschiebung der Prioritäten innerhalb des Haushalts eine unbestreitbare Tatsache? Nun, in diesem Moment können wir feststellen, daß sich die Prioritäten erneut zugunsten der Militärausgaben verschieben. Aber selbst, wenn das Verhältnis der einzelnen Anteile am Staatshaushalt, das sich in den siebziger Jahren herausgebildet hatte, beibehalten werden sollte, so würde das noch lange nicht heißen, daß die Sozialausgaben reichlich bemessen sind, während das Militär kurzgehalten wird. Ganz zu schweigen auch davon, daß ein Vergleich des derzeitigen Standes der Ausgaben mit dem vor dem Vietnamkrieg in hohem Maße irreführend sein kann. Die Zeit vor dem Vietnamkrieg war in dieser Hinsicht nicht im entferntesten eine Phase der ‘Normalität’. Man darf nicht vergessen, daß die USA damals ein umfangreiches Programm zur strategischen Aufrüstung durchführten, das unter dem Eindruck der ‘Raketenlücke’ in einer Atmosphäre der Hysterie beschlossen worden war, genauso wie sie einen rapiden Ausbau der konventionellen Streitkräfte durchführten, entsprechend der Doktrin der ‘flexible response’, d.h., es galt darauf vorbereitet zu sein, zweieinhalb Kriege - zwei große und einen kleinen - gleichzeitig zu führen. Heute bereiten sich die USA angeblich darauf vor, eineinhalb Kriege zu führen, paradoxerweise aber geben sie mehr Geld dafür aus als zu der Zeit, als sie sich auf zweieinhalb Kriege vorbereiteten. Stellt man solche Vergleiche an, so ist es auch sehr wichtig, die Tatsache im Auge zu behalten, daß die Militärausgaben unter dem anhaltenden Druck der wachsenden gesellschaftlichen Bedürfnisse stehen, die die Regierung nicht einfach ignorieren kann, wenn sie überhaupt Stabilität anstrebt. Ich meine damit die Erschließung von Energiequellen, den Umweltschutz und einen verstärkten Zwang zu Sozialausgaben als Folge der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen sich ein Großteil der Bürger konfrontiert sieht. Man muß alle diese Faktoren und Zwänge berücksichtigen, wenn man versucht, die Frage zu beantworten, ob der gegenwärtige Anteil am BSP, den die Militärausgaben verschlingen, hoch oder niedrig ist. Betrachtet man Amerikas innenpolitische Probleme, so gewinnt man nicht den Eindruck, als würden für die Lösung der Probleme so reichliche Gelder zur Verfügung stehen, daß die Amerikaner darin schwimmen könnten. Dennoch sind die Sozialausgaben gestiegen. Ja, sie sind gestiegen. Eine sehr bedeutende Rolle haben hierbei die ernsten innenpolitischen Unruhen in den USA in den sechziger Jahren gespielt. Die Leute gingen auf die Straße. Es kam zu Tumulten. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 154 Denken Sie an Watts?22 Nun, das ganze Jahrzehnt war voller sozialer Unruhen. Die Leute weigerten sich hinzunehmen, was ihnen zugemutet wurde. Die Steigerung der Sozialausgaben wurde von Präsident Johnson in die Wege geleitet. Gewiß, das Konzept von der ‘Great Society’ enthielt eine Menge leerer Rhetorik. Kein Zweifel auch, daß Lyndon B. Johnson seine persönlichen und politischen Interessen verfolgte, als er zu dieser großen Anstrengung aufrief, die drängenden sozialen Probleme in Amerika in Angriff zu nehmen. Aber hier spielte auch noch ein weitreichenderes Motiv eine Rolle, denke ich. Als ein gewitzter Politiker muß Johnson erkannt haben, daß den sozialen Problemen eine weitaus größere Aufmerksamkeit zukommen mußte, da andernfalls die innenpolitische Instabilität zu einer explosiven Lage führen würde. Aber der gleiche Johnson schickte Hunderttausende junger Männer in Vietnam in eine aussichtslos verfahrene Situation. Ja, außerdem torpedierte der Vietnamkrieg die Idee der ‘Great Society’, und die Ära Johnson endete in einem vollständigen Chaos. All das muß man sich in Erinnerung rufen, will man die sich ändernden Prioritäten richtig einschätzen. Als die siebziger Jahre anbrachen, stießen der Vietnamkrieg und der Militarismus ganz allgemein auf hartnäkkigen und oftmals gewaltsamen Widerstand in ganz Amerika, während gleichzeitig die Forderungen nach Sozialausgaben immer stärker wurden. Nixon hatte keine große Wahl. Die ganze Siuation erforderte eine Steigerung der Ausgaben im Binnenbereich und eine Einschränkung der Militärausgaben. Nun aber scheint sich die Situation, die ganze Stimmung im Lande, gewandelt zu haben. Ja, wir können rege Versuche beobachten, das Verhältnis zwischen Militär- und Sozialausgaben erneut umzukehren. Auch ist es der Regierung gelungen - so sieht es wenigstens im Moment aus -, den weitverbreiteten Widerstand gegen eine massive Steigerung der Militärausgaben zu schwächen. Zugleich aber wäre es falsch, einfach zu glauben, die Situation sei wieder die gleiche wie früher. Im Augenblick scheinen viele bereit zu sein, mehr für Kanonen auszugeben. Aber nur wenige unter ihnen wären bereit, deshalb weniger für Butter zur Verfügung zu haben. Der Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 155 Druck auf die Regierung, den innenpolitischen Problemen ernsthaftere Aufmerksamkeit zu widmen, hat nicht nachgelassen, denn die alten Probleme sind nach wie vor nicht gelöst, viele sogar noch dringender geworden, und neue Probleme kamen hinzu. Die Regierung der USA kann die Augen vor der innenpolitischen Situation des Landes nicht verschließen. Sie kann nicht vor ihr davonlaufen. Schließlich sind die Vereinigten Staaten, was die Sozialpolitik anbelangt, eines der rückständigsten westlichen Länder. Aber das augenblickliche Thema Nr. 1 in Washington ist das fehlende Vertrauen der Leute in die Fähigkeit der Regierung, ihre Probleme zu lösen. Ist das nicht einer der Gründe, warum Präsident Reagan gewählt wurde? Ich glaube, die Konservativen in Amerika begehen einen schweren Fehler, wenn sie annehmen, daß eine antiinflationistische Stimmung in der Öffentlichkeit eine solide Basis für eine Kehrtwendung in der Sozialpolitik bildet, daß der ihnen erteilte Wählerauftrag die Aufforderung zu einer Rückkehr zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts darstellt. Die Amerikaner sind zugegebenermaßen verärgert über die Inflation und die Steuern. Gleichzeitig aber nahm in den siebziger Jahren die Unterstützung für die Sozialprogramme, die die Regierung eingeführt hatte, ständig zu. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Die Leute sagen sich einfach: ‘Ja, die Regierung kann dazu beitragen, die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten, die der Markt schafft, zu erleichtern, aber zugleich sollte die Regierung ihre Finanzen in Ordnung bringen und die Steuerlast gerechter verteilen.’ So ist, kurz zusammengefaßt, meiner Meinung nach die Situation. Die Amerikaner erwarten von ihrer Regierung eher mehr als weniger. Außerdem - hat man den Leuten erst einmal etwas gegeben, so ist es schwierig, es ihnen wieder wegzunehmen. Sie haben gesagt, das Wettrüsten stärke die nationale Sicherheit nicht, sondern untergrabe sie vielmehr. Eine negative Auswirkung des Wettrüstens auf die nationale Sicherheit wahrscheinlich die gravierendste überhaupt - besteht darin, daß die Anhäufung von immer mehr Waffen einen Krieg wahrscheinlicher und seine Konsequenzen verheerender macht. Und da es unmöglich ist, auf Dauer irgendwelche einseitigen Vorteile zu erlangen, wächst diese Bedrohung der Sicherheit mit jeder neuen Runde. Eine weitere Auswirkung ist ökonomischer Natur. Indem das Wettrüsten der Wirtschaft und Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 156 den sozialen und kulturellen Bereichen immer größere Summen entzieht, mindert es den Wohlstand der Nation, ihre Stärke, sowie die Zukunftsaussichten von Staat und Gesellschaft. Es ergibt sich daraus das Dilemma, ob es sich lohnt, die Sicherheitsvorkehrungen für ein Haus zu verstärken, wenn die Kosten dafür den Besitzer vollkommen ruinieren. Auch wenn eine Vermehrung der Waffen und die Schaffung neuer Waffen kurzfristig von Vorteil zu sein scheint, kann das schließlich die militärische und politische Stabilität aus dem Gleichgewicht bringen und so eine zusätzliche Gefahr für die nationale Sicherheit schaffen. Können Sie ein Beispiel nennen? Nun, vermutlich eignet sich die Geschichte der Mehrfachsprengköpfe so gut wie jede andere. Wir haben schon über die Problematik der ‘counterforce capability’ gesprochen. Erlangt eine Seite die Fähigkeit, alle oder einen großen Teil der strategischen Waffen des Gegners mit Hilfe eines vorbeugenden Schlags auszuschalten, so schürt das die Ängste und die Unsicherheit auf der anderen Seite, und diese Angst wiederum verstärkt das Bestreben, selbst eine ähnliche Fähigkeit zu erlangen, die wiederum den Gegner bedroht und weiterhin dazu führt, neue Systeme zu schaffen, die vor solch einem Schlag sicher sind, sowie die eigenen Raketen ständig in höchster Bereitschaft zu halten. Das Resultat ist, wie man sieht, eine erhöhte Instabilität. Solch eine Fähigkeit zum ‘counterforce’-Schlag wäre jedoch nur unter der Voraussetzung möglich, daß eine Seite die Zahl der Sprengköpfe beträchtlich erhöht, und zwar deshalb, weil man selbst mehr als einen Sprengkopf braucht, um eine Rakete des Gegners auszuschalten, da die Gewähr einer hundertprozentigen Treffsicherheit und Zuverlässigkeit nicht gegeben ist. Diese Tatsache stabilisierte die Situation bis zum Auftauchen der Mehrfachsprengköpfe, die unabhängig voneinander auf verschiedene Ziele gerichtet werden können. Es war so leicht, jeden Versuch, eine ‘counterforce capability’ zu erlangen, dadurch wettzumachen, daß man, wenn der Gegner zwei oder drei Interkontinentalraketen gebaut hat, ihm ebenso viele eigene entgegenstellte. Wer hat die Mehrfachsprengköpfe zuerst eingeführt? Die USA, wie ich bereits sagte. Da die USA im Unterschied zu uns diese Mehrfachsprengköpfe hatten, machte sich Washington über die Auswirkungen dieser neuen Technologie keine Sorgen. Dann tauchten die sowjetischen Mehrfachsprengköpfe auf, und die USA zeigten sich sehr besorgt und gerieten sogar in Hysterie über die Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 157 ‘Verwundbarkeit’ ihrer Minutemanraketen. Diese Besorgnis wurde zum Hauptthema der Anti-SALT-Kampagne und ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Es war also die ‘Verwundbarkeit’, die als Vorwand diente, um ein neues, sehr gefährliches und destabilisierendes strategisches System einzuführen, nämlich das MX-System, mit all seinen exotisch anmutenden Stationierungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten, die Mehrfachsprengköpfe waren der Anstoß, der eine ganze Lawine von Ereignissen auslöste und damit die Stabilität und das Gleichgewicht und mithin auch die Sicherheit untergraben hat. Tatsächlich scheinen viele US-Experten sehr besorgt zu sein über die Verwundbarkeit ihrer Interkontinentalraketen, wobei sie anführen, daß die russischen Raketen dank ihrer größeren Schubkraft in der Lage sein werden, mehr Sprengköpfe zu tragen, wenn die Sowjetunion in den achtziger Jahren fortfährt, ihre Raketen mit solchen Mehrfachsprengköpfen zu bestücken. Das verhilft ihr, so wird behauptet, zu einer ganz erheblichen Überlegenheit - wenigstens so lange, bis das MX-System aufgebaut ist. Wie ich schon erwähnt habe, wurde die Verwundbarkeit der zu Lande stationierten Raketen Gegenstand einer hitzigen Diskussion, wobei auch die Probleme der ‘sowjetischen Bedrohung’, des strategischen Gleichgewichts und des SALT II-Vertrags zur Sprache kamen. Ob diese Frage eine derartige Erregung rechtfertigt, darf bezweifelt werden. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist - aber ich sage das als Laie, nicht als Fachmann. Warum bewerten Sie das Problem der Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen so gering? Nun gut, lassen Sie uns den Kern des Problems betrachten. Werden die Interkontinentalraketen in technischer Hinsicht durch das Auftauchen der Mehrfachsprengköpfe, durch die Steigerung der Treffsicherheit und der Vernichtungskraft der Sprengköpfe verwundbarer? Selbstverständlich werden sie das. Wenn die Amerikaner deshalb beunruhigt sind, muß man sie daran erinnern, daß es die USA waren, die den Wettlauf um die Mehrfachsprengköpfe, um die Counterforce-Konzepte und um die Verbesserung der Treffsicherheit der Sprengköpfe einleiteten. Aber ich stimme der These, daß die wachsende Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen gewisse Vorteile für die Sowjetunion bedeutet, nicht zu. Diese These ist falsch. Die amerikanische Minuteman 3-Rakete, ausgerüstet mit dem neuen Mark 12 A-Sprengkopf, ist eine mächtige Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 158 Counterforce-Waffe, die die sowjetischen Interkontinentalraketen heute, nicht in der Zukunft, verwundbarer machen, als es die amerikanischen Interkontinentalraketen sind. Was die Zukunft, die frühen achtziger Jahre betrifft, die in den USA als eine besonders gefährliche Periode betrachtet werden, so wurden bei den SALT II-Anhörungen vor dem Ausschuß für Auswärtige Beziehungen des Senats vergleichende Schätzungen zur Verwundbarkeit der amerikanischen und sowjetischen Raketen angestellt. Nach diesen Schätzungen wären die USA in der Lage, 60 Prozent unserer Interkontinentalraketen zu zerstören, während wir 90 Prozent der amerikanischen Raketen zerstören könnten. Es wurde jedoch in dem gleichen Bericht betont, daß die Interkontinentalraketen nur eines von drei ‘Beinen’ sind und dieses ‘Bein’ weit weniger Bedeutung für die USA hat als für die Sowjetunion, da Amerika nur 24 Prozent seiner gesamten Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen installiert hat, die Sowjetunion dagegen 70 Prozent. Dementsprechend wird die Fähigkeit, einen Schlag zur Entwaffnung des Gegners durchzuführen, wie folgt eingeschätzt: Die UdSSR wird zu Beginn der achtziger Jahre imstande sein, 22 Prozent des amerikanischen strategischen Potentials zu vernichten, wogegen die USA bei solch einem Schlag 42 Prozent unseres Potentials vernichten können.23 So sieht also die Situation bei dem gegenwärtigen Stand der Bewaffnung aus. Die Einführung des MX-Systems wird nicht nur die Verwundbarkeit der amerikanischen Interkontinentalraketen verringern, sondern - und das hört man von den Befürwortern dieses Systems nicht oft - die Verwundbarkeit der sowjetischen Interkontinentalraketen erhöhen. Andere von den USA geplante Waffensysteme wie Trident 2 oder Pershing 2 (letzteres verkürzt übrigens die Vorwarnzeit für den Fall, daß die Ziele im europäischen Teil der UdSSR liegen, auf fünf oder sechs Minuten) werden ebenfalls ganz beträchtliche Counterforce-Fähigkeiten aufweisen. Mit anderen Worten, nach Ihrer Meinung entbehrt das Gerede von der ‘sowjetischen Bedrohung’, der die amerikanischen Interkontinentalraketen ausgesetzt sind, jeder Grundlage? Unumstrittene Tatsache ist, daß im Falle eines Angriffs auf die Sowjetunion oder ihre Verbündeten die sowjetischen strategischen Streitkräfte in der Lage sein werden, den Vereinigten Staaten einen sogenannten ‘inakzeptablen Schaden’ zuzufügen. Genauso sicher steht fest, daß die UdSSR über die technischen Fähigkeiten verfügt, eine gewisse Anzahl amerikanischer Interkontinentalraketen zu zerstören. Aber die USA haben ihrerseits mindestens die gleiche Fähigkeit. In diesem Sinne ist die Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 159 Bedrohung gegenseitig. Und was die Fähigkeit betrifft, Interkontinentalraketen zu zerstören, so zielen die amerikanischen Pläne darauf ab, den USA in diesem Bereich eine erhebliche Überlegenheit zu verschaffen. Es ist nur folgerichtig, davon auszugehen, daß die Sowjetunion versuchen wird zu verhindern, daß das Wirklichkeit wird, was umgekehrt die Amerikaner nicht gern sehen werden, und was deshalb einen neuerlichen Anfall von Paranoia angesichts der ‘sowjetischen Bedrohung’ auslösen wird. Aber Sie haben selbst in Zweifel gestellt, daß die Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen ein Problem von solch entscheidender Bedeutung ist. Ja, mit der Einschränkung, daß ich kein Fachmann auf diesem Gebiet bin. Ich habe jedoch festgestellt, daß gar mancher Experte auch auf die Unstimmigkeiten hingewiesen hat, die diese Idee von der Verwundbarkeit enthält, und ich denke, darin sollte man wohl kaum das entscheidende Problem sehen. Zum Beispiel treten ungeheuer komplizierte technische Probleme auf, wenn es gilt, eine Salve abzufeuern, die gleichzeitig auf gut über tausend Ziele gerichtet ist. Und das ist etwas, was niemals ausprobiert wurde und wahrscheinlich auch niemals ausprobiert werden wird. Ferner gibt es das Problem des ‘Brudermordeffekts’, d.h., nachdem die ersten Sprengköpfe ihre Ziele getroffen hätten, würden die Auswirkungen dieser Explosionen unvermeidlich große Probleme schaffen, würden doch die restlichen Sprengköpfe auf dem Flug zu ihren Zielen dadurch zerstört oder abgelenkt werden. Noch wichtiger aber ist - darauf weisen die Experten hin -, daß, selbst wenn es môglich wäre, alle gegnerischen Interkontinentalraketen am Boden zu zerstören, es sich dabei nicht um einen wirklich entwaffnenden Schlag handeln würde. Es gibt nämlich noch die auf U-Booten installierten ballistischen Raketen, die auch mit modernen Waffen so gut wie unangreifbar sind, sowie die strategischen Bomber, die in kürzester Zeit einsatzbereit sind und zurückschlagen können. Diese beiden ‘Beine’ der strategischen Triade der USA - die auf U-Booten installierten Raketen und die Bomber - entsprechen fast 70 Prozent des amerikanischen strategischen Potentials. Wenn man sich sorgt, die Sowjets könnten einen ersten Schlag landen, so sollte man daran denken, daß diese beiden Beine auch weiterhin fast unversehrt für einen Gegenschlag zur Verfügung stehen. Ich könnte all dem noch ein paar weitere Gedanken hinzufügen. Alle Schauermärchen und alle Planspiele, die einen vernichtenden Schlag gegen die Interkontinentalraketen zum Gegenstand haben, ba- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 160 sieren auf der Annahme, daß der Gegner wartet, bis dieser Schlag ausgeführt wird, und sich erst dann in einer Situation wiederfindet, die der gleicht, in der sich Hamlet befand - zerrissen von der Frage, was geschehen soll, wenn überhaupt etwas geschehen soll, und natürlich von der Frage ‘Sein oder Nichtsein’. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Regierung und die militärische Führung eines Landes, die die Nachricht erhält, daß einige tausend Sprengköpfe sich im Anflug auf ihr Land befinden, untätig bleiben und abwarten würde, bis diese explodieren, damit sie feststellen kann, ob es sich um einen Counterforce- oder Countervalue-Schlag handelt, und die dann beginnt, sich diesen schmerzlichen Überlegungen und akademischen Gedankenspielen hinzugeben. Was ist übrigens ein Countervalue-Schlag im Unterschied zu einem Counterforce-Schlag? Ein Counterforce-Schlag ist gegen militärische Ziele, in erster Linie gegen strategische Einrichtungen, gerichtet, wogegen ein Countervalue-Schlag gegen Großstädte und gegen das Wirtschaftspotential gerichtet ist. Nun, anstatt abzuwarten, um welchen Schlag es sich wohl handelt, würde das angegriffene Land unverzüglich einen Vergeltungsschlag auslösen. Natürlich würde es dabei nicht nur die Silos der feindlichen Interkontinentalraketen zum Ziel wählen, die zu diesem Zeitpunkt alle, mindestens jedoch in der Hälfte der Fälle, leer stünden, sondern ganz gewiß auch die Großstädte. Auf diese Weise hätten wir anstatt eines begrenzten Abtausches von sogenannten ‘Counterforce-Schlagen’ einen allgemeinen thermonuklearen Krieg, der der Geschichte der Menschheit ein Ende bereiten würde. Deshalb muß jeder, der einen Präventivschlag gegen die Interkontinentalraketen der anderen Seite plant, in Betracht ziehen, daß der geschilderte Verlauf nicht nur möglich, sondern sogar höchstwahrscheinlich ist. Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, an dem die Kalkulationen, die die Väter solcher Planspiele anstellen, nicht aufgehen. Die Entscheidung, gegen die Interkontinentalraketen des Gegners einen Schlag zu führen, ist absolut gleichbedeutend mit der Entscheidung, den uneingeschränkten Atomkrieg zu beginnen. Wenn die Abschreckung funktioniert und man beim Gegner gesunden Menschenverstand voraussetzt, dann wird dieser einen solchen Krieg nicht beginnen, und damit verliert die Besorgnis um die Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen jegliche Grundlage. Falls man jedoch dem Gegner zutraut, daß er leichtfertig einen totalen Atomkrieg vom Zaun bricht und nationalen Selbstmord begeht, dann heißt das, daß die Abschreckung gescheitert ist, und in diesem Falle wird das Problem der Verwundbarkeit der Interkontinental- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *1 Washington 1973: Georgij A. Arbatow, Leonid Breschnew, Richard Nixon auf dem Rasen des Weißen Hauses Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *2 Leningrad 1975: Georgij A. Arbatow mit Carl Albert, dem damaligen Speaker des Repräsentantenhauses. Moskau 1975: Georgij A. Arbatow mit Professor John K. Galbraith Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *3 Moskau 1977: Frau Agnew, Georgij A. Arbatow und Frau, Harold Agnew, Direktor der Los Alamos Nuclear Laboratories (v.l.n.r.). Moskau 1974: Georgij A. Arbatow mit Senator Walter Mondale Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *4 Moskau 1975: Der Generalsekretär des Zentralkommitees der KPdSU, Leonid Breschnew, empfängt im Kreml die erste offizielle Delegation von US-Senatoren; u.a. Humphrey (Minnesota), Scott (Pennsylvania), Ribicoff (Connecticut), Javits (New York), Mathias (Maryland), Hart (Colorado). Breschnew zur Rechten: Boris Ponomarew (Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses). Vorne links: Georgij A. Arbatow Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *5 Auf den Stufen des Capitols 1972: Georgij A. Arbatow mit George Bush, US- Vizepräsident unter Reagan Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *6 Moskau 1978: Georgij A. Arbatow mit dem Kongreßabgeordneten Charles Vanik. 1974 mit Senator Edward Kennedy. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR *7 Wien 1980: Georgij A. Arbatow mit Cyrus Vance, dem ehemaligen US-Außenminister, beim Treffen der sogenannten Palme-Kommission Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 161 raketen sogar noch bedeutungsloser. In letzterem Fall sollte man ein Stoßgebet zum Himmel schicken und sich beeilen, selbst auf den Knopf zu drücken. Ich bin mir völlig im klaren darüber, daß diese Schlußfolgerungen bei vielen Experten - wenigstens in den USA - nur ein skeptisches Lächeln hervorrufen werden. Gleichzeitig möchte ich behaupten, daß es diese Strategen im Elfenbeinturm sind, die ihrerseits zu einer wahren Bedrohung werden. Indem sie die unglaublichsten Planspiele entwerfen, bringen sie es zuwege, neue Rechtfertigungen zu finden, um das Wettrüsten voranzutreiben und Ängste, Unsicherheit und Spannungen in der Welt zu vermehren. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Politik in der Realität eigentlich heißt - und ich meine damit nicht nur sogenannte Realpolitik. Sie mißachten die elementarsten Mechanismen der menschlichen Psyche. Die meisten von ihnen haben nie ein Gefecht erlebt und wissen nicht, was es mit dem Krieg wirklich auf sich hat. Sie scheinen einen ziemlichen Groll gegen diese Leute zu hegen. Aber wenn das, was Sie gesagt haben, richtig ist, dann ist deren Auffassung zum Thema Verwundbarkeit falsch und richtet deshalb auch keinen Schaden an. Wissen Sie, nachdem der Baptismus in den USA beinahe schon eine Staatsreligion geworden ist, habe ich damit begonnen, die Bibel zu studieren. Erinnern Sie sich, wie es in dem Buch Salomos heißt? ‘Weisheit ist besser denn Harnisch, aber ein einziger Bube verderbt viel Gutes’ (Prediger, 9, 18). Diese Planspiele erzeugen neue Ängste, untergraben gegenseitiges Vertrauen und verleihen dem neuen Aufschwung, den das Wettrüsten nimmt, noch zusätzliche Impulse. Aber ich habe Sie bei Ihren Ausführungen zum Thema Strategie unterbrochen. Sehen Sie, ich glaube ganz allgemein, daß vernünftige politische und militärische Führer die Abschreckung ganz anders sehen als diese Strategen im Elfenbeinturm. In den Augen einer Staatsführung sind allein schon die Aussichten auf die Zerstörung der Hauptstadt eine ernsthafte Abschreckung. (Ich glaube, es war McGeorge Bundy, der einmal auf diese Tatsache hingewiesen hat.) Und was für eine Aussicht erst wäre es, die zehn größten Städte zu verlieren? Was waren die USA ohne New York und Washington, Boston und Chicago, San Francisco und Los Angeles, New Orleans und Houston, Minneapolis und St. Louis? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 162 Oder was die Sowjetunion anbetrifft, was wäre sie ohne Moskau, Leningrad, Kiew, Swerdlowsk, Baku, Taschkent, Minsk, Dnjepropetrowsk, Gorki und Riga? Welche Ziele könnten denn möglicherweise solch ungeheueren Verluste rechtfertigen? Stellen Sie sich gar unsere beiden Länder jeweils ohne die 100 größten Städte vor. Theoretisch kann schon ein einziges U-Boot im jeweils anderen Land solchen Schaden anrichten, und die Gesamtzahl der nuklearen Sprengköpfe, die angehäuft wurden, geht in die Tausende. Dennoch stellt sich heraus, daß einige Leute noch viel mehr von diesen Waffen wollen und sich immer noch phantastischere Planspiele für den Weltuntergang ausdenken. Aber die sowjetischen Programme und Arsenale wachsen doch auch entsprechend den vorgegebenen Zielen und Planspielen. Ja, ich habe diese Wechselwirkung schon erörtert. Die USA preschen ein Stück vor, und wir ziehen nach, um den Anschluß zu behalten. Das ist die irrsinnige Eigendynamik, die dem Wettrüsten innewohnt, die Anhäufung von Waffen übersteigt bei weitem jegliche vernünftigen Bedürfnisse. Wenn wir dem kein Ende bereiten, wird das immer so weitergehen. Und die Kriegsgefahr wird wachsen. Tatsächlich geschehen heutzutage seltsame Dinge: Neue Waffen werden entwickelt und angehäuft, neue Kriege werden vorbereitet und sogar wahrscheinlicher gemacht, und zwar geschieht dies unter ganz verschiedenen Vorwänden und oftmals mit ganz verschiedenen Absichten. Woran denken Sie dabei im besonderen? Wissen Sie, ich habe oftmals das Gefühl, daß diese periodisch wiederkehrenden Versuche der USA, einen militärischen Vorteil über die UdSSR zu erlangen, eine Art Freudsche Kompensation sind für... Impotenz wäre das falsche Wort, ich denke, daß es zutreffender ist zu sagen, für den Mangel an Omnipotenz, den dieses Land in seinem Umgang mit der Welt in den letzten Jahren zu spüren bekam. Professor Edward Teller, der Vater der H-Bombe, sagte mir 1980, daß die Sowjetunion einen absoluten Sieg davontragen würde, sollte ein Atomkrieg ausbrechen. ‘Womit will Carter die Sowjets denn aufhalten’, sagte er. Das gleiche gilt für Ronald Reagan, vermute ich. Ich kann Dr. Tellers vaterliche Gefühle verstehen: Sein ‘Sprößling’ kam nicht zur Anwendung, was ihn zu ärgern scheint. Er scheint sich Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 163 über so viele Gegebenheiten in dieser Welt zu ärgem - wie etwa über die Existenz einer Sowjetunion, die nicht einzuschüchtern ist, oder über die Tatsache, daß ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann. Ich fürchte, ihm ist nicht zu helfen. Es gibt nur eine einzige gesunde Einstellung zu solch einem Krieg - ihn um jeden Preis zu verhindem. Die Vereinigten Staaten, die ursprünglich die ‘Nuklearbombe’ als ein Werkzeug der Außenpolitik eingeführt hatten, haben immer wieder versucht, diese Maxime des Atomzeitalters zu umgehen. Gegenwärtig haben wir es ebenfalls mit einer solchen Periode zu tun, und Leute wie Dr. Teller drängten sich um den Kandidaten Reagan. Nun, da er Präsident ist, hat er hoffentlich die Zeit und die Informationen, um das zu lernen, was sieben seiner Vorgänger lernten, als sie sich mit dem Problem des Unterschiedes zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung auseinandersetzten. Dr. Teller ist schließlich nicht sein einziger Ratgeber, soviel ich weiß. Der frühere Präsident Carter steilte fest, die militärischen Vorbereitungen der Sowjetunion gingen über ihre Verteidigungsbedürfnisse hinaus. Wir haben davon schon gesprochen. Aber ich könnte ein paar Bemerkungen anfügen. Ich frage mich nur, wie die Amerikaner ihre Verteidigungsbedürfnisse eingeschätzt hätten, hätten sie sich in unserer Lage bebinden und vier potentielle Gegner in ihre Überlegungen einbeziehen müssen - die USA sowohl mit ihren strategischen wie auch mit ihren konventionellen Waffen, die Nato-Verbündeten der USA in Europa, das verbündete Japan und China. Andererseits können wir dem eine ähnliche Einschätzung der militärischen Vorbereitungen der USA entgegenhalten, und das wäre dann eine viel besser begründete Rechnung. Wir in der Sowjetunion haben den nachhaltigen Eindruck, daß der Umfang und die Ausrichtung der amerikanischen Militärprogramme nicht mit defensiven Überlegungen begründet werden kann. Die USA übertreffen die Sowjetunion hinsichtlich der Zahl der Nuklearsprengköpfe um ein Vielfaches und entwickeln jetzt ihre strategischen Streitkräfte weiter, wobei großes Gewicht auf die ‘counterforce capability’ gelegt wird, sie haben viele, mit Nuklearwaffen ausgerüstete Flugzeugträger und sehr umfangreiche amphibische Streitkräfte nahe der sowjetischen Grenzen. Weiterhin sind ungefähr die Hälfte der amerikanischen Trappen in Übersee stationiert, werden mobile Eingreifreserven aufgestellt und geht die Militärdoktrin der USA ganz offen von einem ersten Einsatz von Nuklearwaffen aus, usw. Das sieht nicht sehr defensiv aus, besonders dann nicht, wenn man die relativ sichere geographische Lage der USA bedenkt - mit Ozeanen im Osten Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 164 und im Westen, mit freundlich gesonnenen und militärisch schwachen Nachbarn im Norden und im Süden. So nehmen sich also die Verteidigungsbedürfnisse von außen gesehen immer anders aus. Trotzdem kann jeder von uns der ehrlichen Überzeugung sein, gut zu sein und niemand Böses antun zu wollen. Ich würde - wenn man nicht nur die UdSSR herausgreift - hinzufügen, daß es allgemein gesehen tatsächlich zuviel militärische Ausrüstung gibt, die die Welt in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt hat. Das überschreitet Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnisse bei weitem. Deshalb sind wir auch für Abrüstung eingetreten. Auch besteht eine ganz erhebliche Overkillkapazität, von der sich die Großmächte leicht trennen könntenden politischen Willen auf alien Seiten vorausgesetzt. Mindestens aber besteht die uneingeschränkte Möglichkeit, keine neuen Waffen herzustellen. Aber die Sowjetunion hat mehr Truppen, Panzer, Geschütze und weiß Gott was nicht noch alles! Moment mal. Wir haben sehr viel weniger Truppen als unsere potentiellen Gegner - die USA, die Nato-Länder und China. Selbst wenn man davon ausgeht, daß wir mehr Panzer haben, bleibt die Tatsache bestellen, daß die Nato fortschrittlichere Panzerabwehrwaffen hat. Legt man zugrunde, daß wir mehr Geschütze haben, so ist gleichzeitig festzuhalten, daß selbst nach westlichen Schätzungen die Nato überlegen ist, was Geschütze auf Selbstfahrlafetten und taktische Nuklearwaffen anbelangt. Diese Asymmetrien bestehen, aber wenn man sie insgesamt betrachtet, ergibt sich letztlich in etwa Gleichgewicht, Gleichwertigkeit, Gleichheit - oder wie immer man das nennen will. Das wurde wiederholt bestätigt, und zwar nicht nur von uns, sondern auch von vielen westlichen Analytikern und führenden Politikern. Sprechen Sie von einer generellen militarischen Ausgewogenheit oder vom Gleichgewicht in Europa? Ich spreche von beidem. Natürlich gibt es im Westen unterschiedliche Einschätzungen dieser beiden Gleichgewichte, aber ich beziehe mich hierbei auf die maßgeblicheren Stellen, z. B. auf Verlautbarungen des amerikanischen Verteidigungsministers Harold Brown, des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, und des International Institute for Strategic Studies in London, etc. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 165 Sind dabei auch die SS 20-Raketen und andere in Europa stationierte Nuklearwaffen miteinbezogen? Ja, selbstverständlich. Zum Beispiel bestätigte das International Institut for Strategic Studies vor kurzem die Existenz eines nuklearen Gleichgewichts in Europa.24 So bekannte amerikanische Spezialisten wie Paul Doty und Robert Metzger sprechen von einem ungefähren Gleichgewicht bei den ‘eurostrategischen’ Waffensysternen mit einer Reichweite von über 600 Kilometer. Sie wissen bestimmt, welch ein Sturm der Entrüstung ausgelöst wurde durch die Stationierung der SS 20-Raketen in den westlichen Teilen der UdSSR. Warum hat die Sowjetunion ausgerechnet wahrend der Blütezeit der Entspannung auf diesem Schritt beharrt? Ja, wir wissen um diesen Sturm der Entrüstung, von dem Sie sprechen, sehr wohl und wir glauben, daß die Gründe dafür recht ähnliche sind wie in anderen Fällen, in denen man sich über diese oder jene Form der ‘sowjetischen Bedrohung’ entrüstete. Solche Entrüstungsstürme werden nämlich für gewöhnlich ausgelöst, um neue Rüstungsprogramme der Nato zu rechtfertigen - in diesem speziellen Fall das Pershing 2-Programm und die zu Lande stationierten Marschflugkörper. Was die SS 20 anbetrifft, so handelt es sich um eine Rakete, die jene sowjetischen Mittelstreckenraketen ersetzt (im Westen bekannt unter der Bezeichnung SS 4 und SS 5), die vor 20 Jahren eingeführt wurden und inzwischen veraltet sind. Es ist nichts weiter als ein Zufall, daß die Lebensdauer dieser Raketen zur Zeit der Entspannung auslief und ihre Ablösung nicht mehr länger aufgeschoben werden konnte. Vergessen Sie dabei nicht, daß, wie Leonid Breschnew mit vollem Ernst feststellte, die Gesamtzahl der sowjetischen Mittelstreckenraketen in Europa keineswegs anstieg, sondern sogar etwas zurückging. Das gleiche gilt für die sowjetischen Mittelstreckenbomber. Die Experten der Nato behaupten jedoch - und viele im Westen sind sogar davon überzeugt -, daß die Einführung der SS 20 nicht nur als eine Modernisierung angesehen werden kann. Es wird gesagt, es handle sich dabei um völlig neue Raketen von überlegener Bauart. Nun, was würde man wohl im Westen von der UdSSR halten, wenn wir 20 Jahre alte Raketen gegen andere austauschen würden, ohne daß diese neuer und besser wären? Aber das Entscheidende an der Sache ist, daß sich die Funktion dieser Raketen nicht gewandelt hat. Genauso wie bei Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 166 der SS 4 und der SS 5, so liegen auch bei der SS 20 die USA außerhalb der Reichweite, womit diese Raketen Gefechtswaffe bleiben und keinen strategischen Charakter haben. Das ist unsere Antwort auf die sogenannte Vorneverteidigung der USA in Westeuropa, d.h. auf über 1500 Trägerwaffen, also auf die Raketen, Bomber, Kampfflugzeuge, sowie die mit Nuklearwaffen bestückten Maschinen der Flugzeugträger im Mittelmeer und im Nordatlantik, die in der Lage sind, sowjetisches Territorium zu treffen, ebenso wie auf die Raketen und Flugzeuge von Amerikas Verbündeten in Europa, die Atomwaffen besitzen, nämlich Großbritannien und Frankreich. Die sowjetischen Mittelstreckenraketen sind dazu bestimmt, auf unserer Seite die Funktion der Abschrekkung zu erfüllen. Die Begründung, die die Nato für die Stationierung der Marschflugkörper und der Pershing 2-Raketen gibt, ist eine ganz ähnliche: Auch sie spricht von Moderniserung und Wiederherstellung des Gleichgewichts. Eine Ähnlichkeit besteht nur solange, bis man genauer hinsieht. Die neuen Nato-Raketen werden eine neue Rolle spielen, neue Funktionen erfüllen, werden sie doch in der Lage sein, Ziele bis tief in die Sowjetunion hinein zu erreichen. Das bedeutet, entsprechend den bestehenden Maßstäben, daß diese amerikanischen Waffen nicht nur Gefechtswaffen sind, also nicht zu den Waffen gehören, die nur auf Kriegsschauplätzen außerhalb des Territoriums sowohl der UdSSR wie auch der USA eingesetzt werden, sondern daß es sich um strategische Waffen handelt. Gleichzeitig werden sie auch nicht vom SALT-Abkommen erfaßt. Schafft nicht das allein schon neue Probleme? Sind Sie der Meinung, das Modernisierungsprogramm der Nato hat Einfluß auf den Fortgang von SALT? Ja, es hat Einfluß. Gemäß dem SALT II-Vertrag sollen wir schließlich unsere strategischen Waffen um 250 Abschußvorrichtungen abbauen, um auf die gleiche Zahl von Abschußvorrichtigen zu kommen wie die USA. Die Amerikaner haben seit 1972 unablässig auf solcher Gleichheit beharrt, und beide Seiten haben um jedes Dutzend Raketen, wenn nicht gar um jede einzelne gerungen. Wir haben schließlich eingewilligt, obwohl wir zu einem früheren Zeitpunkt darauf beharrt hatten, die amerikanischen Waffensysteme der Vorwärtsverteidigung einzubeziehen. Nun aber planen die USA, ihren strategischen Streitkräften ungefähr 600 neue, nicht vom SALT II-Vertrag erfaßte Abschußvorrichtungen hinzuzufügen. Kann es uns nicht letztlich gleichgültig sein, wo eine Rake- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 167 te, die auf miser Territorium gerichtet ist, gestartet wird - ob in Montana, bzw. Nord Dakota, oder in Westdeutschland, bzw. Holland? Tatsächlich ware letztere Situation wegen der erschreckend kurzen Vorwarnzeit von Pershing 2 noch schlimmer. Und was wird aus SALT III werden, wenn wir uns an den Verhandlungstisch setzen, um darüber zu sprechen? Wie schon vereinbart wurde, würden wir über einen weiteren Abbau der strategischen Waffen sprechen. Aber wie sollten wir an diese Gespräche herangehen, wenn unsere Seite die Anzahl der Waffen zu verringern hat, während die USA zwar ihre Minuteman-Langstreckenraketen und ihre auf strategischen Bombern installierten Marschflugkörper begrenzen, gleichzeitig aber fortfahren, Pershing 2-Raketen und zu Land installierte Marschflugkörper in Europa zu stationieren? Dies sind also die sowjetischen Einwande gegen die Herstellung und Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Europa. Ja, ich will noch weitere hinzufügen. Die Stationierung dieser Raketen ist gleichbedeutend mit einer neuen Runde im atomaren Wettrüsten. Sie können auch eine stark destabilisierende Rolle spielen, indem sie die Illusion aufkommen lassen, die USA waren imstande, ‘auf regionaler Ebene’ einen Atomkrieg gegen die UdSSR zu führen, wobei das Territorium der USA davon verschont bliebe. Alles in allem wird dadurch die atomare Abschreckung in Europa geschwächt. Es ist ganz offensichtlich, daß eine neue Runde des Wettrüstens wahrscheinlich kaum mehr Stabilität mit sich bringen wird, weder für Europa noch für die Welt insgesamt. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die UdSSR mit ihren SS-20-Raketen einen ersten Schrift zu einer solchen Runde getan hat. Das ist nicht ganz richtig, ja es ist sogar ganz und gar falsch. Ich habe schon von den Gründen für die Stationierung unserer Mittelstrecken-raketen in Europa gesprochen. Die amerikanischen Waffensysteme der Vorneverteidigung sind ein sehr wichtiger Faktor. Wir haben immer darauf gedrängt, sie ebenfalls auf die Tagesordnung der SALT-Gespräche zu setzen. Hätten die Amerikaner dem zugestimmt, sähe die Situation vielleicht ganz anders aus. Ferner muß man sich in Erinnerung rufen, wie viele gefährliche Initiativen im Bereich der nuklearen Bewaffnung die Amerikaner und ihre Nato-Verbündeten ergriffen haben. Die USA haben 160 der insgesamt 370 Bomber des Typs F111 in Europa stationiert. In den sechziger und Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 168 in den siebziger Jahren baute Großbritannien vier atomgetriebene U-Boote mit 64 Langstreckenraketen, Frankreich weitere vier mit ebenfalls 64 Langstreckenraketen, sowie 18 zu Land installierte Mittelstrekkenraketen. Großbritannien hat Beschlüsse gefaßt, nach denen es auf alle Fälle vier Trident-U-Boote bauen wird; Frankreich modernisiert auch seine zu Land installierten Raketen und plant, neue mit Mehrfachsprengköpfen bestückte Langstreckenraketen zu bauen, weiterhin baut es gegenwartig zwei neue Unterseeboote, von denen eines bereits fertiggestellt zu sein scheint. Und trotzdem nennt, aus unerfindlichen Gründen, niemand im Westen all das einen ersten Schritt. Aber die UdSSR hot dennoch zugestimmt, die amerikanischen Système der Vorneverteidigung bei den SALT- Gesprächen nicht in die Diskussion einzubeziehen. Ja, in der Tat. Während des Treffens von Leonid Breschnew und Präsident Ford in Wladiwostok 1974 haben wir, um den toten Punkt bei den SALT-Gesprächen zu überwinden, dieses wichtige Zugeständnis gemacht, aber es war ein Zugeständnis, das nur für das SALT II-Abkommen gilt, nicht jedoch für die weiteren Verhandlungen. Seitdem haben wir versucht, eine neue Runde des Wettrüstens in Europa zu verhindern. Denken Sie dabei an Vorschläge, wie sie z. B. Generalsekretär Breschnew im Oktober 1979 und im August 1980 unterbreitete? Ja. Schon vorher war unsere Bereitschaft, dieses Problem auf dem Verhandlungsweg zu lösen, im Verlauf des Besuchs von L.I. Breschnew in Westdeutschland im Jahr 1978 bekundet worden. Ende 1978 unterbreitete anläßlich einer Sitzung der Beratende Politische Ausschuß der Staaten des Warschauer Paktes in einem Kommuniqué einen konkreten Vorschlag für solche Gespräche. Dann erfolgte einer der beiden Vorschlage, die Sie erwähnt haben - ein höchst bemerkenswertes Angebot, in dem L.I. Breschnew im Oktober 1979 vorschlug, die nuklearen Mittelstreckenwaffen unsererseits zu verringern, vorausgesetzt, die Nato würde keine weiteren Waffen dieser Art in Westeuropa stationieren. Die Rede Breschnews enthielt auch eine Warnung: Falls die Nato beschließen sollte, die neuen amerikanischen Raketen in Europa zu stationieren, so sähe sich die UdSSR gezwungen, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Verteidigung zu stärken. Auf der Dezembertagung 1979 des Nato-Rats wurden diese Vorschläge Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 169 abgelehnt und der Beschluß gefaßt, die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen zu bauen und zu stationieren. Im August 1980 bot Leonid Breschnew an, unverzüglich Verhandlungen über die eurostrategischen Raketen und die Systeme der Vorneverteidigung aufzunehmen, ehe die Situation außer Kontrolle gerate. Tatsächlich wurden nach dem Treffen von Gromyko und Muskie im September 1980 Vorgespräche zu diesem Thema eingeleitet. Wie kann man da behaupten, die Sowjetunion sei für die neue Runde des Wettrüstens verantwortlich? Nebenbei gesagt, ich kann immer noch nicht begreifen, warum die USA und die Nato es bloß so eilig hatten und sich weigerten, ihre Entscheidung über den Bau und die Stationierung der neuen Raketen aufzuschieben, um so den Beginn von Gesprachen zu diesem Thema zu ermöglichen. Wohl kaum jemand in Europa glaubt, die Sowjetunion sei im Begriff, einen Krieg zu beginnen. Die Stationierung der neuen Waffen ist für 1983 vorgesehen, jedenfalls ist das die offizielle Lesart der Nato. Wir können uns diese Eile nur damit erklären, daß der Westen entweder nicht willens ist, Gespräche darüber zu führen, oder daß er den Wunsch hat, vor den Gesprachen ‘eine Position der Stärke’ zu erlangen, um der UdSSR die westlichen Bedingungen diktieren zu können. Natürlich erscheint uns das nicht gerade fair. Machen Sie die Amerikaner dafür verantwortlich? Nein, ich bin weit davon entfernt, die ganze Schuld den Amerikanern zuzuschreiben. Jene Europâer, die der sogenannten ‘Nato community’ zuzurechnen sind, waren sehr aktiv. Fred Kaplan, ein Sachverstândiger für militärische und politische Fragen im Mitarbeiterstab des amerikanischen Repräsentantenhauses, ist der Entstehungsgeschichte des Nachrüstungsbeschlusses nachgegangen und dabei auf eine kleine Gruppe einflußreicher Experten, dem sogenannten europäisch-amerikanischen Workshop, gestoßen, dessen Vorsitzender Albert Wohlstetter, ein bekannter amerikanischer Falke, ist. Es bestehen Verbindungen der Gruppe zu dem in London ansässigen International Institute for Strategic Studies, und ihr gehören Berater und Experten aus Deutschland, Großbritannien, Norwegen und anderen Nato-Ländem an. Diese Gruppe überredete zuerst Helmut Schmidt, der dann das Thema im Oktober 1977 in die Debatte brachte. Carter zögerte nicht, es sofort aufzugreifen.25 Was waren die dahinterliegenden Gründe? Ein wichtiges Argument zugunsten des Nachrüstungsbeschlusses waren Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 170 offene oder versteckte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des amerikanischen nuklearen Schutzschirms über Westeuropa - Zweifel, ob im Falle eines Krieges in Europa die USA auch wirklich ihre strategischen Streitkräfte gegen die Sowjetunion einsetzen würden, angesichts des strategischen Gleichgewichts zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Sind diese Zweifel denn völlig unbegründet? Zunächst einmal: Die Stationierung der neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen wird, was den US-Schutzschirm anbelangt, keinerlei Auswirkungen auf die Situation haben. Falls diese Raketen - ich widerhole, amerikanische Raketen - sowjetisches Territorium treffen, wird der Gegenschlag nicht nur gegen jene Länder gerichtet sein, in denen sie abgefeuert wurden, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten, und zwar genauso, als wenn die Raketen in Montana gestartet worden wären. Zum Zweiten: Diese Zweifel basieren auf der vollkommen lächerlichen Vorstellung, man könne einen Krieg in Europa führen, gar einen Atomkrieg, der nicht in einem allgemeinen Weltenbrand enden würde. Hier stoßen wir wieder auf die kreative Gedankenwelt amerikanischer ‘Elfenbeinturm-Strategen’, auf diese strategische Haarspalterei, die abgehoben von der Wirklichkeit existiert und jeglichen gesunden Menschenverstand vermissen läßt. Das Problem ist, daß diese Haarspalterei nicht nur eine Denkübung darstellt. Sie dient als Rechtfertigung für die enormen Ausgaben und Anstrengungen, die der Aufrüstung mit nuklearen und konventionellen Waffen in Europa dienen. Indessen ist es ganz offensichtlich, daß, wer immer sich entschließt, einen Krieg in Europa zu beginnen, auch in Kauf nehmen muß, daß daraus ein Weltkrieg wird, in dem die modernen Massenvernichtungsmittel eingesetzt werden. Die vielleicht absurdeste Vorstellung in dieser Hinsicht ist die, es wäre möglich, den Einsatz von Nuklearwaffen in einem solchen Krieg auf Mittelstreckenwaffen oder taktische Waffen zu begrenzen und den Krieg in den Grenzen eines ‘lokalen Konflikts’ zu halten. Die meisten Europäer wissen sehr wohl, daß solche Erwartungen unsinnig sind. Sicher, denn für sie ware solch ein Konflikt der totale Krieg, ein absolut strategischer, wenn ich so sagen darf. Sogar wenn sich der Krieg auf den Einsatz taktischer Waffen beschränken würde. Schon in den sechziger Jahren wurde errechnet, daß sogar ‘ein sehr begrenzter’ Einsatz solcher Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 171 Waffen in Europa bis zu 20 Millionen Menschenleben kosten würde. Falls, was sehr viel wahrscheinlicher ist, der Krieg diese Grenzen überschritte, würde nach Expertenmeinung die Zahl der Toten auf bis zu 100 Millionen ansteigen.26 Die Neutronenwaffe war in den letzten Jahren in Europa Gegenstand hitziger Debatten. Wie würden sick diese Waffen auf die Gesamtsituation auswirken? Ich kann schwer abschätzen, ob ihr Einsatz mehr oder weniger Verluste an Menschenleben zur Folge hätte. Alles hängt von der Stärke und der Anzahl dieser Waffen ab. Natürlich gäbe es bei der Explosion einer Neutronenbombe mehr Tote infolge von Strahleneinwirkung und wahrscheinlich weniger aufgrund der übrigen Wirkungen, verglichen mit der Explosion einer gewöhnlichen Nuklearbombe. Sieht man einmal von dem moralischen Aspekt einer Waffe ab, die darauf ausgelegt ist, Menschen zu töten, aber materielle Einrichtungen zu schonen, so würde der Neutronenbombe (enhanced radiation weapon) hauptsächlich aus zwei Grimden Widerstand entgegengebracht. Einmal, weil ein neuer Waffentyp eine weitere Runde im Wettrüsten bedeutet. Zum anderen, weil die Gefahr drohte, die ‘Nuklearschwelle’ würde dadurch herabgesetzt werden. Letzten Endes verband man mit der Neutronenbombe die Absicht, die Europäer davon zuüberzeugen, daß im Falle eines Krieges Nuklearwaffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt werden könnten, ohne die Länder und Völker Europas allzu großen Gefahren auszusetzen. Es hieß, die neue Waffe würde nur die feindlichen Soldaten töten und die westeuropäischen Städte sowie andere Einrichtungen intakt lassen. Mit anderen Worten, es handelte sich um einen weiteren Versuch, den Krieg‘akzeptabel’ zu machen und deshalb einen leichtfertigen Umgang mit Atomwaffen zu rechtfertigen. Ein Argument zugunsten der Neutronenbombe war, daß sie nur für defensive Zwecke tauglich sei. Ich glaube nicht, daß es sehr sinnvoll ist, Waffen in die Kategorien offensiv und defensiv einzuteilen. Ein Knüppel, ein Stein, ein Messer - das alles kann sowohl für einen Angriff wie auch für die Abwehr eines Angriffs eingesetzt werden. Das gilt für die Neutronenbombe umso mehr. Ich stelle mir dabei z. B. folgende mögliche Situation vor. Falls die Nato eine Offensive planen würde, bei der sie durch das dichtbesiedelte Europa vorstoßen müßte, so könnten ‘herkömmliche’ Nuklearwaffen, die die Städte in Trümmerhaufen verwandeln, für den An- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 172 greifer selbst ernsthafte Hindernisse schaffen. Was die Neutronenbombe betrifft, so würde sie die Städte vermutlich mehr Oder weniger in einem Zustand belassen, der ein müheloses Vorwärtskommen erlaubt, hätte sie doch ‘nur’ die Verteidiger und die Einwohner getôtet. In gleicher Weise kann die Neutronenbombe dabei hilfreich sein, die Brücken intakt zu halten, während man die Verteidiger tötet - und Europa weist viele Flüsse auf, so daß Brücken für jede Offensive von entscheidender Bedeutung sind. Nun, die USA und die Nato haben bislang davon Abstand genommen, Neutronenwaffen einzuführen. Warum haben die UdSSR und der Warschauer Pakt nicht mit einer ähnlichen Geste darauf reagiert und z. B. die Zahl der SS 20-Raketen verringert? Stimmt, die Neutronenwaffe wurde nicht eingeführt, was wir hauptsächlich auf den gesunden Menschenverstand zurückführen, der in den west-europäischen Landem durch die ungeheure internationale Entrüstung, die dieser Nato-Plan auslöste, wachgerüttelt wurde. In den USA jedoch vernimmt man nun in verstärktem Maße die Forderung, diese Entscheidung zu revidieren. General Bernard Rodgers, der Oberkommandierende der Nato, sagte vor kurzem, er wünsche die Neutronenbombe. Die Frage ist jedenfalls nicht von der Tagesordnung gestrichen. Ronald Reagan hat sich ôffentlich für die Neutronenbombe ausgesprochen und betrachtet sie als einen ‘moralischen’ Fortschritt im Bereich der modernen Kriegsführung. Was die sowjetische Reaktion anbelangt, so haben wir uns von Anfang an dafür ausgesprochen, nicht um ‘gegenseitige Zugeständnisse’ zu feilschen, sondern stattdessen zu einem beiderseitigen Verzicht auf die Herstellung der Neutronenwaffe zu gelangen. Unsere Haltung war die: Falls der Westen die Neutronenwaffe nicht baut, so werden wir es auch nicht tun. Die UdSSR schlug sogar vor, einen Vertrag dieses Inhalts zu unterzeichnen. Lassen wir Europa für einen Moment außer Betracht und kommen wir zurück zu einem allgemeineren Thema, zu dem, was die UdSSR die ‘angebliche sowjetische Bedrohung’ nennt. In der letzten Zeit wurde in den USA viel über die sowjetischen Zivilschutzprogramme geschrieben und geredet. Es wird behauptet, daß diese Programme so umfassend und fortgeschritten sind, daß sie die Sowjetunion in die Lage versetzen, einen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 173 Atomkrieg zu führen, ohne einen ‘inakzeptablen Schaden’ in Kauf nehmen zu müssen. Ja, wir haben in der Sowjetunion einen Zivilschutz, genauso wie die Amerikaner, die Holländer oder irgend ein anderes Land. Dennoch glaubt niemand in der UdSSR, daß der Zivilschutz einen Atomkrieg schmerzlos oder akzeptabel machen könnte, daß er die unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und die sonstigen Schäden auf ein annehmbares Maß reduzieren könnte. Glauben Sie, wir hätten einer Begrenzung der Raketen-Abwehrraketen (anti-ballistic missiles, ABM) zugestimmt, wenn wir unsere Hoffnungen auf den Zivilschutz gesetzt hätten? All das wurde übrigens von einem unserer stellvertretenden Generalstabschefs den amerikanischen Senatoren, die 1979 Moskau besuchten, sehr ausführlich erläutert. Ich habe an diesen Gesprächen teilgenommen und erinnere mich sehr genau, daß den Senatoren mitgeteilt wurde, die Sowjetunion wende für den Zivilschutz ungefähr den gleichen Anteil ihrer Militärausgaben auf wie die USA - nämlich 0,1 Prozent. Tatsächlich sind es die Amerikaner, die dazu neigen, dem Zivilschutz ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie nicht gar von dieser Idee besessen sind. Das war in den sechziger Jahren so und ist auch jetzt wieder zu beobachten. Wenn ich in den USA reise, stoße ich oft auf das Schild ‘Atom-Schutzraum’ . In der Sowjetunion bin ich noch keinem einzigen begegnet. Es ist denkbar, daß eine neuerliche Zivilschutzhysterie in den USA, vom militärischen Standpunkt der Sowjets aus gesehen, vielleicht gar nicht so schlecht ist, würden doch diese Programme eine Menge Geld aus dem Pentagon für nutzlose Dinge abzweigen. Unterdessen werden weiter Gruselgeschichten über den sowjetischen Zivilschutz verbreitet. Generalmajor George Keegan tut sich auf diesem Gebiet besonders hervor. Vor seiner Pensionierung war er Chef des Nachrichtendienstes der US-Luftwaffe und benutzte diese Stellung, um seine Phantasien und Märchen als nachrichtendienstliche Erkenntnisse auszugeben. General Keegan sagte zu mir, Sie seien einer der gefährlichsten Propagandisten, den der Kreml je auf die Amerikaner losgelassen hat. Da Keegan einer der Hauptsprecher einer Kampagne ist, die gleichermaßen verlogen wie gefährlich ist, würde ich solch eine Einschätzung für schmeichelhaft halten. Damit sind wir schließlich bei dem Thema der amerikanischen Generalität Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 174 angelangt. Welche Rolle spielt sie nach Ihrer Meinung in der amerikanischen Politik? Amerikanische Generäle sind zweifelsohne ein Kapitel für sich. Zunächst wäre zu sagen, daß man unter ihnen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten finden kann. An einige von ihnen erinnert man sich bei uns aus der Zeit, als wir Verbündete waren. Jedoch auch nach dem Krieg haben sich nicht wenige amerikanische Generäle und Admirale durch vernünftige politische Ideen hervorgetan. Während der ganzen siebziger Jahre hatte ich Gelegenheit, an Diskussionen und Seminaren mit amerikanischen Offizieren, wie den Generälen James Gavin, Brent Scowcroft, Royal Allison, den Admiralen George Miller und Gene LaRocque und anderen mehr, teilzunehmen. Ich habe nur größte Hochachtung vor diesen Leuten, obwohl wir natürlich in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung sind. Beispielsweise stieß ich zufällig auf die Feststellung von General Richard M. Ellis (Oberkommandierender des Strategischen Luftkommandos), in der er sagt: ‘Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß unsere größten Hoffnungen für die Zukunft in dem durch SALT ausgehandelten Abkommen zur Rüstungsbegrenzung und in einem späteren beiderseitigen Truppenabbau zu suchen sind. Die Alternativen zu einem SALT-Übereinkommen sind unannehmbar...’27 Ich kann einer solchen Feststellung nur Beifall zollen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen nach meiner Ansicht viele der Ideen von General Maxwell Taylor und einiger anderer. Wenn wir jedoch von den amerikanischen Generälen als Gruppe sprechen und die politische Rolle der führenden Militärs insgesamt bewerten sollen, dann muß man feststellen, daß sie eine wichtige Komponente des militärisch-industriellen Komplexes der USA darstellen. Meines Erachtens gibt es kaum ein anderes Land in der Welt die Militärdiktaturen einmal ausgenommen -, in dem die Generäle und Admirale eine solch wichtige Rolle spielen, wie das in den Vereinigten Staaten der Fall ist, wo sie ganz beträchthchen Einfluß auf die öffentliche Meinung, den Kongreß und den Regierungsapparat ausüben. Diese Tradition ist um so erstaunlicher, wenn man in Betracht zieht, daß die Vereinigten Staaten im Verlauf ihrer Geschichte nicht allzuviele größere Kriege geführt haben. Einer der Gründe für diese Situation ist nach meiner Ansicht in der überaus starken Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik zu suchen, wie sie so typisch für die Zeit des Kalten Krieges war. Kein Wunder, daß mit dem Abflauen des Kalten Krieges Ende der sechziger Jahre auch das Vertrauen in das Pentagon und die Generalität sank. Es scheint, daß besonders Vietnam in der Öffentlichkeit verstärkt Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Generäle aufkommen ließ, was die Frage von Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 175 Krieg und Frieden und Belange der nationalen Sicherheit betrifft. Die Amerikaner begannen, sich der alten, allseits bekannten Weisheit zu erinnern, die besagt, daß der Krieg eine zu emste Angelegenheit ist, als daß man ihn den Generälen überlassen könnte. Tatsächlich sind die Vereinigten Staaten jedoch in jüngster Zeit in eine neue Phase der Militarisierung eingetreten, und die Situation könnte sich wieder ändern. Was wäre zu den sowjetischen Generälen zu sagen? Ich habe große Achtung vor ihnen. Sie wissen, was ein schlimmer Krieg wirklich bedeutet. Es hat den Anschein, daß nach Ihrer Meinung nicht nur die amerikanischen Generäle eine gefährliche Rolle spielen, sondern auch die zivilen Spezialisten für militärische Belange, die Sie ‘Elfenbeinturm-Strategen’ genannt haben. Ich stehe mit dieser Meinung nicht allein. Mir scheint, daß der erste, der vor dieser Gefahr gewamt hat, President Eisenhower war, der in der Abschiedsrede am Ende seiner Präsidentschaft darauf einging und dabei auch den militarisch-industriellen Komplex erwähnte. Wir haben es bei diesen Spezialisten mit einem wesentlichen Teil des militärisch-industriellen Komplexes zu tun, mit seinem Gehim sozusagen. Sie haben ohne Zweifel in erheblichem Maße zum Wettrüsten beigetragen, wie auch zu der Tatsache, daß sich das militarische Denken in den USA in eine solch gefährliche Richtung entwickelt hat. Dieser Beitrag wird recht treffend charakterisiert von Herman Kahn, einem dieser Strategen, der sagte: ‘Wir mochten... den Atomkrieg vernünftiger machen..,’28 Könnten Sie die bekanntesten dieser Spezialisten nennnen? Ich könnte schon, aber ich würde das nie tun. Was geschähe, wenn sie bereuen, ihre Ansichten ändem und durch gute Taten wieder alles gutmachen mochten? So etwas ist in der Vergangenheit vorgekommen. Darüberhinaus möchte ich nicht auch noch für sie Reklame machen. Aber hier würde es sich um Kritik und nicht um Reklame handeln. Nichtsdestoweniger. In Amerika, so hat man mir gesagt, wird jede öffentliche Erwähnung positiv bewertet - eine Ausnahme bildet die Todesanzeige. Wenn wir von den Militärexperten sprechen, so möchte ich auf eine weitere Gruppe verweisen. Seit ca. Ende der sechziger Jahre trat Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 176 in den USA eine einflußreiche Gruppe von Spezialisten für militärische und rüstungstechnische Fragen in Erscheinung, die sich in aller Üffentlichkeit für eine Drosselung des Rüstungswettlaufs und eine Verhütung der Kriegsgefahr aussprach. Wohlgemerkt, sie haben das in ihrer Eigenschaft als Spezialisten gesagt. Das war von besonderer Bedeutung, weil schon seit längerem ein ähnlicher Standpunkt von Leuten vertreten wurde, die zwar oftmals sehr geachtet waren, jedoch über so gut wie keine Sachkenntnis in Fragen der Militärtechnologie, der Strategie sowie der Militärpolitik verfügten, und denen jene widersprachen, die auf diesen Gebieten als die zuverlässigsten Fachleute galten. Es ist nur natürlich, daß die Argumente, die auf gesundem Menschenverstand beruhten, zusätzlich an Glaubwürdigkeit gewannen, wenn sie von Leuten vorgebracht wurden, denen man nicht vorwerfen konnte, es mangle ihnen an Sachkenntnis, also z. B. von den ehemaligen Präsidentenberatern für Wissenschaft und Technologie, George Kistiakowsky und Jerome Wiesner, von den Pentagonmitarbeitern Herbert York und Ian Lodal, von Herbert Scoville und Arthur Cox vom CIA, von George Rathjens vom ACDA29, oder auch von so hervorragenden Wissenschaftlem wie Wolfgang Panofsky, Richard Garwin, Bernard Feld, Paul Doty und anderen. Einer der prominenten amerikanischen Marineoffiziere, Admiral Elmo R. Zumwalt jr., Befehlshaber der Naval Operation, während der Ära Nixons machte mir klar, daß Admiral Groschkow die sowjetischen Streitkräfte in so kurzer Zeit aufgebaut hat, daß das an ein Wunder grenzt. Nehmen Sie etwa die U-Boote. Groschkow hat davon so viele bauen lassen, daß die sowjetische Flotte inzwischen dreimal so viele U-Boote hat wie die amerikanische Marine. Vor kurzem habe ich eine Bewertung dieser Asymmetrie gelesen, die von dem bekannten amerikanischen Spezialisten William W. Kaufmann stammt. Er weist darauf hin, daß diese U-Boote (viele davon sind alt und haben Dieselantrieb) auf vier Flotten aufgeteilt sind, wovon zwei - es muß sich um die Schwarzmeerflotte und die Ostseeflotte handeln - aufgrund der geographischen Situation außerstande sind, amerikanische Nachschub- und Verbindungslinien zu bedrohen. Die anderen beiden Flotten müßten, um diese Linien zu erreichen, enge und gefährliche Gewässer passieren, wo sie vom Feind erwartet werden können. Und er kommt zu dem Schluß, der Vergleich auf der Basis von Stückzahlen allein bedeute nicht nur ‘eine hohe Irrtumswahrscheinlichkeit, sondern ihm lägen nicht einmal die für solche Berechnungen erforderlichen Ausgangsdaten zugrunde’.30 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 177 Ich würde hinzufügen wollen, daß es mit Sicherheit so war und so bleibt, daß selbst unter Außerachtlassung der Seestreitkräfte der amerikanischen Verbündeten die US-Marine die stärkste Flotte der Welt ist. Aber nach westlichen Angaben verfügt die UdSSR heute über viel mehr Schiffe als die USA. Es heißt, daß Rußland 240 Überwassereinheiten hat, während Amerika über 160 verfügt. Das ist lediglich ein weiteres Zahlenspiel. Kann man einen Flugzeugträger mit einer Fregatte vergleichen? Die USA haben 13 Flugzeugträger, während wir keinen haben. Die USA haben ein ausgedehntes Netz von Marinestützpunkten auf der ganzen Welt, eine Menge Versorgungsschiffe. Wir haben nichts von alledem. Sie können in Amerika Klagen hören, daß die Anzahl der eigenen Schiffe sinke, während die sowjetischen Schiffe immer zahlreicher würden. Aber die USA bauen riesige atomgetriebene Flugzeugträger, von denen jeder ungefähr soviel kostet wie 15 Fregatten, und damn beklagen sie sich händeringend über die ‘sowjetische Überlegenheit’ an Überwasserschiffen. Hat nicht die UdSSR damit begonnen, ebenfalls Flugzeugträger zu bauen? Das Schiff, an das Sie denken, ist kein Flugzeugträger, sondern ein Anti-U-Boot-Kreuzer. Es ist nicht für Schläge gegen die Küste oder Überwasserschiffe ausgerüstet. Seine Funktion ist es, unsere Schiffe vor Angriffen aus der Luft, bzw. vor U-Boot-Angriffen zu schützen. Dennoch sind viele im Westen überzeugt, daß die UdSSR die äußersten Anstrengungen unternommen hat, ihre Marine aufzubauen. Es steht außer Frage - unsere Marine wurde verstärkt. Aber gibt es irgendeinen besonderen Grund, warum sie - sagen wir seit dem Ende des letzten Krieges unverändert hätte bleiben sollen? Auß erdem würde ich nicht irgendwelche bösen Absichten - von aggressiven ganz zu schweigen - hinter der Verstärkung unserer Flotte suchen. Wir haben sehr ausgedehnte Küsten, die bewacht werden müssen. Das ist um so dringender geboten, als die Seestreitkräfte, die uns gegenüberstehen, in erster Linie die amerikanischen Streitkräfte, eindeutig offensiven Charakter haben, umfassen sie doch große Flugzeugträgerformationen, zahlreiche Einheiten der Marineinfanterie, Landungsfahrzeuge etc. In allen diesen Bereichen verfügen die USA über eine beträchtliche Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 178 Überlegenheit über die Sowjetunion, in einigen Bereichen ist diese Überlegenheit gar überwaltigend. Und der Großteil dieser Streitkräfte ist nahe unserer Küsten stationiert. Die sowjetische Marine mit ihren Unterseebooten, die Admiral Zumwalt erwähnte, muß doch auch ein offensives Potential besitzen. Insbesondere kann die sowjetische Marine Nachschublinien unterbrechen, die von vitaler Bedeutung für den Westen sind. Da von dem offensiven Potential unserer Marine die Rede ist, d.h. von der Schaffung einer Hochseeflotte, die in der Lage ist, der US-Marine sowie der Marine der Nato-Verbündeten die Kontrolle der Meere streitig zu machen, erinnere ich mich, dabß einige amerikanische Experten eine solche Entwicklung nicht nur für höchst unwahrscheinlich halten, sondern - für den Fall, daß es dazu käme - dies vom amerikanischen Standpunkt aus sogar lebhaft begrüß en würden. ‘Nichts könnte den Vereinigten Staaten besser ins Konzept passen, als daß die Russen zu einem derartigen Wettlauf angespornt würden’, schreibt z. B.T. Burns, einer dieser Experten, und fährt fort: ‘Davon träumen westliche Marinekommandeure. Dies würde eine Situation schaffen, in der die Sowjet-union große Teile ihres Staatshaushalts für diesen Wettlauf ausgibt, ohne darauf hoffen zu können, ihn zu gewinnen.’ ‘Falls die Russen angebissen haben, wie uns unsere Propagandisten glauben machen wollen’, schreibt T. Burns im weiteren, ‘dann haben wir den Kalten Krieg schon gewonnen.’31 Was die Fähigkeit anbelangt, die Nachschubwege zu unterbrechen, so ist diese keineswegs immer mit Angriffsabsichten verbunden. Sie kann auch ein Teil der Verteidigung sein. Soweit ich es sehen kann, stellt der Atlantik für die Nato im Kriegsfall die Versorgungslinie für den amerikanischen Nachschub nach Europa dar. Ist es aus der Sicht der UdSSR und der Staaten des Warschauer Paktes nicht logisch, gegen solche Pläne Gegenmaß nahmen in petto zu haben? Eine solche Reaktion ist nach unserer Auffassung rein defensiv, da der Krieg allenfalls vom Westen entfesselt werden wird. Und wie sieht die Situation im Falle des Indischen Ozeans aus? Man muß sich darüber im klaren sein, daß - was die Verbindungswege anbelangt dieser Ozean für uns so wichtig ist, wie es der Panamakanal für die Vereinigten Staaten ist, handelt es sich doch dabei um den einzigen zuverlässigen Schiffahrtsweg, der die westlichen und östlichen Teile unseres Landes verbindet. Das ist unser lebenswichtiger Versorgungs- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 179 weg, und wir sind natürlich sehr darauf bedacht, seine Sicherheit zu gewährleisten. Aber schafft das nicht Gefahren für den lebenswichtigen Verbindungsweg des Westens, nimmt doch der größte Teil des Öls, den Westeuropa, die USA und Japan aus der Region des Persischen Golfs importieren, seinen Weg durch den Indischen Ozean? Ich habe mehr als einmal gehört, daß Besorgnis dieser Art geäußert wurde, aber ich kann immer noch nicht sehen, was man denn nun wirklich befürchtet. Fürchtet man um diesen Nachschubweg für den Fall eines allgemeinen Atomkriegs, dann gehen diese Ängste an der Wirklichkeit vorbei. Bei einem Krieg dieser Art wird dieses Problem so irrelevant werden wie ein unbequemer Schuh an einem bereits amputierten Bein. Auch kann ich diese Besorgnis nicht verstehen, wenn wir über die Situation zu Friedenszeiten sprechen. Hat man Angst, daß wir damit beginnen werden, westliche Öltanker zu versenken? Hat man sich erst einmal entschieden, den großen Krieg auszulösen, so kann man freilich auch das machen. Aber dann wiederum stellt sich die Frage, aus welchem Grund man sich im Westen noch um diese Nachschublinien sorgen sollte? Warum stimmen Sie dem nicht zu, daß eine ‘verstärkte Präsenz’ der US-Marine die Sicherheit der westlichen Versorgungswege erhöhen wird, wenn Sie andererseits darauf beharren, daß es notwendig sei, für eine sowjetische Flottenpräsenz im Indischen Ozean zu sorgen, da hier wichtige Routen der Sowjetunion verlaufen? Was den ersten Teil ihrer Frage betrifft, so glaube ich ganz generell, daß das Problem der Ölversorgung nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Eines, das ist nicht zu leugnen, kann mit Hilfe von militärischer Gewalt erreicht werden - nämlich daß Ölfelder und Pipelines bombardiert, in Brand gesetzt und zerstört werden. Dafür hat erst vor kurzem der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak den Beweis geliefert. Aber wird dadurch Öl produziert? Nein, das Ziel, eine stetige Ölversorgung aus dem Nahen Osten und den Ländern des Persischen Golfs sicherzustellen, kann nur erreicht werden, wenn in der Region für Frieden gesorgt wird, wenn auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieser Länder verzichtet wird und gerechte und gleichberechtigte Beziehungen zu ihnen entwickelt werden. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so möchte ich das oben Gesagte nicht als Rechtfertigung für irgendeine fremde militärische Präsenz Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 180 (einschließ lich sowjetischer Präsenz) im Indischen Ozean verstanden wissen. Die UdSSR tritt für die strikteste Beschränkung einer solchen Präsenz ein. Wir nahmen entsprechende Verhandlungen über diese Fragen mit den Vereinigten Staaten auf, Verhandlungen, die später auf Betreiben der amerikanischen Seite eingefroren wurden. Im Dezember 1980 hat Leonid Breschnew neue, spezifische Vorschläge zur Entmilitärisierung der Region am Persischen Golf unterbreitet, sowie Vorschläge, die die Abschaffung ausländischer Militärbasen, die Nichtstationierung nuklearer Waffen und die Nichtbeeinträchtigung des normalen Verkehrs auf den Handels- und allgemeinen Verbindungsrouten in diesem Gebiet vorsehen. Wäre der Westen tatsächlich so sehr um die Sicherheit der Ölversorgung und der Schiffahrtswege besorgt gewesen, so hätte er diese Vorschläge besser aufgenommen. Die Sowjetunion hat auch andere Vorschläge zur Beschränkung des Wettrüstens auf den Meeren vorgelegt. 1971 schlug Leonid Breschnew vor, den ständigen Aufenthalt von Seestreitkräften außerhalb der eigenen territorialen Gewässer zu untersagen. Die Seestreitkräfte sind keine Ausnahme. Das Wettrüsten muß überall beendet werden. Wenn der Westen bezweifelt, daß die Sowjetunion ein zuverlässiger Partner ist, wenn es gilt, solche Anstrengungen zu unternehmen, sollte er die sowjetischen Absichten auf die Probe stellen, anstatt das Wettrüsten voranzutreiben. Niemand bestreitet, daß die Sowjetunion im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche Abrüstungsvorschläge vorgelegt hat. Heutzutage sind jedoch viele in den Vereinigten Staaten und im Westen ganz allgemein der Überzeugung, daß die militärische Stärke für die UdSSR die wichtigste, wenn nicht gar die ausschließliche Quelle ist, der sie Macht und internationalen Einfluß verdankt, ja sogar ihren Status als Supermacht. Sie denken dabei an die ‘Überzeugung’, daß die Sowjetunion, all ihren Vorschlägen zum Trotz, nicht an Abrüstung interessiert ist, da ihr Einfluß hauptsächlich auf militärischer Stärke beruht. Aber diese ‘Überzeugung’ ist absolut falsch. Die UdSSR ist die zweitgrößte (nur noch von den USA übertroffene) Wirtschaftsmacht der Welt. Eine wichtige Quelle unserer Stärke ist der ausgeprägte Zusammenhalt in der sowjetischen Gesellschaft, ihre Fähigkeit, das gesamte Potential für die Lösung der entscheidendsten Probleme aufzubieten. Es erweist sich, daß unser Beispiel und unsere Ideen auß erhalb unseres Landes bedeutenden Einfluß ausüben. Tatsächlich bereitet das den westlichen kapitalistischen Regierungen ebensoviel Sorge wie die sowjetische Militärmacht. Auf jeden Fall hat der Westen sehr wohl die Möglichkeit, sich der sowje- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 181 tischen Absichten zu vergewissern, wenn er nur eine konstruktive Haltung zu den zahlreichen in Gang befindlichen Verhandlungen zur Rüstungskontrolle einnimmt. Wie beurteilen Sie den Stand dieser Verhandlungen? Alle Gespräche, die vor 1979 begonnen hatten, sind praktisch auf Eis gelegt, was eine unvermeidliche Konsequenz, ja sogar ein grundlegender Bestandteil des jüngsten politischen Kurswechsel ist, den die Vereinigten Staaten vollzogen haben. Wiederum hat es den Anschein, Sie würden den Vereinigten Staaten die Schuld geben. Ich bin weit davon entfernt, Washington von dieser Schuld zu entbinden, aber warum übernimmt die Sowjetunion nicht auch die Verantwortung - wenigstens zum Teil? Und schließlich mag es auch noch gewisse Schwierigkeiten geben, die mit der komplexen Natur der anstehenden Probleme zusammenhängen. Kein Zweifel, solche Schwierigkeiten gibt es. Manchmal hemmen sie Verhandlungen und können sogar zusätzliche Spannungen schaffen. Ich denke dabei an die Schwierigkeiten, die aus der Kompliziertheit der modernen Technik erwachsen, an die Schwierigkeiten der Überwachung von Abmachungen usw., ebenso wie an Schwierigkeiten, die sich aus der Ungleichheit der geographischen und politischen Situation ergeben, und nicht zuletzt denke ich hier an den Mangel an Vertrauen und an den Argwohn - Ergebnis einer langen Phase der Spannungen. Dem sollte man hinzufügen, daß bei Verhandlungen niemand vor gewissen Fehlern bei der Beurteilung der Position der Gegenseite gefeit ist, ebensowenig wie vor falschen taktischen Schritten etc. Hier bin ich bereit zuzugeben, daß wir manches hätten besser und effektiver machen kônnen. Alle diese Schwierigkeiten sollten nicht unterschätzt werden, sie sind aber nicht der springende Punkt. Das Entscheidende ist, daß die USA und die Nato, nach allem, was wir beobachten kônnen, immer noch auf militärische Überlegenheit aus sind, und daß dieses Bemühen um militärische Überlegenheit in jüngster Zeit das Wettrüsten beschleunigt hat. Diese Art von Politik läßt nicht viel Raum für erfolgreiche Verhandlungen und Übereinkünfte zur Rüstungsbegrenzung. Muß man der Sowjetunion die Schuld geben für all das? Gewiß muß man ihr die Schuld geben. Die Schuld allein schon für die Tatsache, daß es sie gibt. Und für ihren Wunsch, als unabhängige Nation weiterzubestehen. Dafür, daß sie sich nicht mit der amerikanischen Überlegenheit abfindet Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 182 und auf einem Gleichgewicht besteht, auf einer Gleichberechtigung mit den USA. Dafür, daß sie nicht willens ist, sich der überlegenen Militârmacht der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Machte auf Gedeih und Verderb auszuliefern, und dafür, daß sie nicht willens ist, einseitige Zugeständnisse zu machen. Nach westlicher Auffassung mag diese Einstellung ein schwerer Fehler sein, aber ich bezweifle, daß man uns dazu bekehren könnte, sie aufzugeben. Diese Ansicht hört sich übertrieben kategorisch und selbstgerecht an. Vielleicht sollten wir wenigstens die wichtigsten Verhandlungen konkreter analysieren. Warum nicht? Lassen Sie uns mit den SALT-Verhandlungen beginnen. Das Übereinkommen wurde im Juni 1979 unterzeichnet und bis heute von den USA nicht ratifiziert. Einige werden dafür bestimmt Moskau die Schuld geben, d.h. den Ereignissen in Afghanistan. Aber man sollte sich daran erinnern, daß, der vorherrschenden Meinung in den USA zufolge, die Ratifizierung noch 1979, also bevor der Wahlkampf voll in Gang kam, abgeschlossen werden sollte. Wenn das nicht gescheheh ist, so liegt die Schuld eindeutig bei der US-Regierung. Zuerst brach sie die Pseudo-Krise wegen Kuba vom Zaun, und dann vergaß sie wegen der Krise in den Beziehungen zwischen den USA und dem Iran SALT ganz einfach. Deshalb bezweifle ich ernsthaft, daß der Vertrag im Verlauf des Jahres 1980 ratifiziert worden wäre - selbst wenn nichts in Afghanistan geschehen wäre. Aber das ist nur ein Aspekt der ganzen Geschichte. Die USA sind auch dafür verantwortlich, daß die SALT II-Verhandlungen sieben Jahre aufgeschoben wurden. Hätte es diese Verzögerung nicht gegeben, so könnten wir heute vielleicht über SALT III oder gar SALT IV diskutieren. Was die aktuelle Situation angeht, der wir uns gegenübersehen, so bin ich der festen Überzeugung, daß bei der Ratifizierung im Kongreß weniger Komplikationen aufgetreten wßren, wßre die Politik der Carter-Regierung nicht so widersprüchlich und zweideutig gewesen. Noch 1977 konnte kein Mensch diese Schwierigkeiten ahnen. Nun, jetzt haben Sie es in den USA mit der Reagan-Administration zu tun. Wir haben davon schon kurz gesprochen - es ergibt sich nun die Frage, welche Aussichten bestehen jetzt Ihrer Meinung nach für SALT? Ronald Reagan war zu Beginn seines Wahlkampfes ein ausgesprochener Gegner von SALT. Gegen Ende des Wahlkampfes nahm er eine andere Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 183 Haltung ein und befürwortete im Prinzip SALT-Verhandlungen, blieb aber bei seiner negativen Einstellung gegenüber dem SALT II-Vertrag. Zumindest einige seiner Berater vollzogen nicht einmal solch einen begrenzten Gesinnungswandel. Die Aussichten sind also nicht günstig. Insbesondere, wenn man die Tatsache in Betracht zieht, daß die neue Administration verspricht, das Wettrüsten sogar noch stärker zu beschleunigen, als das Carter und seine Regierung zuletzt schon taten. Trifft es zu, daß die Sowjetunion einern Vorschlag, den SALT II-Vertrag neu auszuhandeln, nicht zustimmen würde? Ja, das ist unsere Position, die bereits offiziell zum Ausdruck gebracht wurde. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wir glauben nicht, daß es angebracht ist, wichtige Verträge mit jedem neuen amerikanischen Präsidenten noch einmal auszuhandeln. Kontinuität ist ein äußerst wichtiges Prinzip der Außenpolitik. Ohne Kontinuität würde es meiner Meinung nach keinen bedeutenden Vertrag geben. Wir sind schlichtweg nicht in der Lage, derartige Verträge innerhalb der vier Jahre, für die ein US-Präsident gewählt wird, auszuhandeln und zu ratifizieren. Deshalb erscheint der Gedanke von Neuverhandlungen auch vom praktischen Standpunkt aus nicht sehr vielversprechend. Selbstverständlich spreche ich hier von einer Neuverhandlung des SALT II-Vertrags und nicht von irgendwelchen anderen Verhandlungen, bei denen die Rüstungsbegrenzung in einem breiten Rahmen diskutiert werden kann. Manche Amerikaner haben vorgeschlagen, man solle auf SALT II ganz verzichten, und beide Seiten sollten gleich zur nächsten Stufe, zu SALT III übergehen. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unmöglich. Ich persönlich kann mir keinen SALT III-Vertrag vorstellen, der nicht aufbaut auf der bei SALT II erzielten Übereinkunft zur Anzahl der Waffen, zur Begrenzung sowohl hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität, zu den Zählregeln und zu vielen anderen Vorschriften. Wie man hört, schlagen die Amerikaner vor, den SALT II-Vertrag so zu behandeln, als wäre er ratifiziert. Wäre die Sowjetunion damit einverstanden? Soweit mir bekannt ist, ist uns kein derartiger Vorschlag von offizieller Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 184 Seite zugegangen, und die Haltung der neuen Administration zu diesem Punkt ist keineswegs klar. Viele andere Dinge sind ebenfalls unklar. Bedeutet dieser Vorschlag einen Ersatz für eine Übereinkunft oder eine zeitlich begrenzte Maßnahme, von der ausgegangen wird, bis der Vertrag ratifiziert wird? Und welche Garanden bestehen, daß es überhaupt zu einer Ratifizierung kommen wird? Und wann schließlich wird sie stattfinden? Wann wird sie stattfinden? Diesen Fragen kommt entscheidende Bedeutung zu. In den USA ist die Meinung weitverbreitet, man habe bei SALT II selbst mehr Zugestßndnisse gemacht als die Sowjetunion. Sie ist nur unter den Gegnern von SALT II weitverbreitet. Wie würden Sie die tatsächliche Situation beschreiben? Wir glauben, daß der Vertrag auf einem Ausgleich der Zugeständnisse beider Seiten basiert. Der Vertrag wirkt sich auf die strategischen Streitkräfte und Programme der USA nur in begrenztem Maße aus. Was die Sowjetunion anbelangt, so wird sie durch den Vertrag verpflichtet, mehr als 250 strategische Abschußvorrichtungen abzubauen, das entspricht zehn Prozent ihres Arsenals, und sie muß weiterhin zwei Programme für Interkontinentalraketen in fortgeschrittenem Entwicklungsstadium einstellen, darunter die SS 16. Wenn die amerikanischen Programme von dem Vertrag nur wenig berührt werden, sollte dann nicht daraus folgen, daß die Sowjets weniger an dem Vertrag interessiert sind als die USA? Wir fassen die SALT-Gespräche nicht als eine Art Spiel auf, bei dem einer der Partner über den anderen siegen muß. Wenn auch SALT II der UdSSR erhebliche Einschränkungen auferlegt, so glauben wir dennoch, daß im Rahmen von SALT II sowohl unsere Sicherheit wie auch die der USA gestärkt werden wird. Und zwar nicht nur deshalb, weil wir im Rahmen dieses Vertrags imstande sein werden, die für die Gewährleistung unserer Sicherheit erforderlichen Streitkräfte zu unterhalten, d.h. eine zuverlässige Abschreckung zu bewahren und das allgemeine strategische Gleichgewicht mit den USA aufrechtzuerhalten. Sehr wichtig ist die Tatsache, daß das SALT II-Abkommen zur Stärkung der strategischen Stabilität und Berechenbarkeit beiträgt und die Aussicht auf weitere, gewichtige, quantitative und qualitative Begrenzungen erhöht. Es gibt auch einen wichtigen politischen Nutzen im Zusammen- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 185 hang mit SALT II, nämlich - so hofften wir jedenfalls - eine Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Und schließlich gibt es natürlich noch den wirtschaftlichen Nutzen, der entsteht, wenn ein Teil der Ausgaben für die strategischen Streitkräfte entfällt. Es wird oft vergessen, worum es bei SALT überhaupt geht. Die Möglichkeit, die strategischen Streitkräfte und Programme zu reduzieren oder zu begrenzen, ohne die eigene Sicherheit zu gefährden, ist nicht ein Zugeständnis, sondern ein Vorteil, ist ein Gewinn und nicht ein Verlust. Präsident Reagan sagte mehr als einmal, daß er nur für den Fall, daß die Sowjetunion ihre Streitkräfte aus Afghanistan zurückziehen und ihre Politik in Afrika ändern würde, bereit wäre, die SALT-Gespräche wieder aufzunehmen. Wenn die Sowjetunion SALT für so wichtig hält, warum sollte sie nicht solchen Vorschlägen zustimmen? Sie klingen mehr nach Forderungen als nach Vorschlägen. Und wir würden uns solchen Forderungen nicht beugen. Ich sage es noch einmal: Wir betrachten SALT nicht als eine Gunst, die der Sowjetunion erwiesen wird, nicht als eine Art Bonus für Wohlverhalten. Die neue US-Führung muß sich wirklich entscheiden, ob sie selbst Rüstungskontrolle will und Verhandlungen wünscht, die darauf abzielen, das Wettrüsten einzuschränken. Sollte dies bejaht werden, so werden wir bei diesem Unterfangen echte Partner sein. Aber dies ausschließlich auf der Basis der Gleichberechtigung. Die USA sollten solche Änderungen unserer Politik nicht als Vorbedingung für Verhandlungen und Abkommen fordern. Wir werden ebensowenig solche Forderungen an sie stellen, obgleich uns vieles an der amerikanischen Politik mißfällt. Nebenbei gesagt, wenn es uns möglich wäre, unsere Politik so drastisch zu ändern, daß wir die USA voll zufriedenstellen würde, und es den USA möglich ware, die Sowjetunion gleichermaßen zufriedenzustellen, bestünde kaum mehr eine Notwendigkeit für SALT, da das Wettrüsten, die Angst voreinander und die gegenseitigen Verdächtigungen längst vor dem Erreichen eines solchen, für beide Seiten befriedigenden Zustandes gegenstandslos geworden wären. Sollte sich Washington jedoch dazu entscheiden, den SALT-Prozeß abzubrechen und sich von den Rüstungskontrollgesprächen als solchen zurückzuziehen, so sollte es auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Es wßre dies eine sehr bedauerliche Entscheidung, aber wir könnten damit leben, genauso wie wir es in den fünfziger und sechziger Jahren getan haben. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 186 Wie steht es mit den Wiener Verhandlungen über eine beiderseitige Abrüstung und Truppenverminderung in Europa? Diese befinden sich schon seit langem in einer Sackgasse. Um über den toten Punkt hinwegzukommen, unterbreitete die Sowjetunion schon im Juni 1978 Vorschläge, die der westlichen Position weit entgegenkamen. Die sowjetischen Vorschläge wurden selbst von westlichen Unterhändlern als höchst konstruktiv gepriesen. Später nahmen wir eine einseitige Verringerung unserer Streitkräfte in Europa um 1 000 Panzer und 20 000 Mann vor. Im Sommer 1980 unternahmen die sozialistischen Staaten eine neue Initiative und schlugen vor, daß die Sowjetunion ihre Streitkräfte um weitere 20 000 Mann reduzieren sollte, vorausgesetzt, die USA würden ihre Truppen um 13 000 Mann reduzieren. Dann unternahmen die Staaten des Warschauer Paktes im Herbst 1980 einige weitere Schritte in dieser Richtung. Doch die Nato reagierte nicht darauf, was nur bedeuten kann, daß ihr Ziel nicht die Rüstungskontrolle ist, ganz zu schweigen von Abrüstung, sondern eine militärische Aufrüstung, die in erster Linie auf das Gespenst der ‘sowjetischen Bedrohung’ als Rechtfertigung angewiesen ist. Es gibt voneinander abweichende Angaben über die Truppenstärke des Warschauer Paktes. Die Nato schatzt, daß Sie ca. 150 000 Mann mehr haben, als Sie selbst angeben. Wie kann überhaupt eine Übereinkunft zustande kommen, wenn es hinsichtlich der Zahlen solche Unterschiede gibt? Erstens, es gibt keine andere Möglichkeit als die, die jeweiligen Zahlen der anderen Seite zu akzeptieren. Die Nato forderte seit 1973 die Bekanntgabe unserer Zahlen, sah sie doch darin eine Voraussetzung für eine Übereinkunft. Was uns anbelangt, so akzeptieren wir die Zahlen, die uns die Nato genannt hat. Generell läßt sich sagen, daß dieses Spiel mit Zahlen nichts anderes als ein Vorwand ist, um die Gespräche zu verzögern. Schätzungen zum militärischen Gleichgewicht waren schon immer eine politische Waffe. 1977 und 1978, zu einer Zeit, als die Nato Unterstützung für ihr langfristiges Aufrüstungsprogramm suchte, gab es viel Lärm wegen einer angeblichen sowjetischen Überlegenheit in Europa im Bereich der konventionellen Streitkräfte. Jetzt, da das Programm angenommen worden ist und man sich ganz darauf konzentriert, Unterstützung für die eurostrategischen Raketen zu finden, sagt die Nato, daß es ein Gleichgewicht bei den konventionellen Waffen gibt, aber eine sowjetische Überlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckenraketen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 187 Wie würden Sie den Stand der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über eine Begrenzung der militärischen Präsenz im Indischen Ozean charakterisieren? Ein totaler Stillstand trotz unserer neuen Vorschläge, die ich bereits erwähnt habe. Und es liegt eine gewisse Logik in solch einer Position. Über welche Begrenzungen kann auch diskutiert werden, wenn die Vereinigten Staaten kaum an etwas anderes denken, als ihre militarischen Aktivitäten in dieser Region zu verstärken? Das Gleiche trifft für die Gespräche über einen allgemeinen Teststoppvertrag zu. Lange Zeit haben unsere westlichen Verhandlungspartner die sowjetische Weigerung, auf Nuklearexplosionen zu friedlichen Zwecken zu verzichten, als das Hindernis bezeichnet, das einem Fortschritt der Gespräche im Wege stünde. Schließlich stimmten wir bezüglich solcher Explosionen einem Moratorium zu. Dann begann der Westen im Bereich der Kontrolle nach Hindernissen Ausschau zu halten. Aber auch hier wurde wiederum ein für beide Seiten akzeptabler Beschluß gefunden. (Übrigens ließ das Abkommen darauf hoffen, daß manche wichtigen Neuerungen in die bestehende Kontrollpraxis Eingang finden würden.) Das Abkommen steht kurz vor dem Abschluß. Aber wie sollte es unterzeichnet werden, da doch die Vereinigten Staaten (in diesem Fall zusammen mit Großbritannien) einen derartigen Kurswechsel in ihrer Politik vollzogen? Mit anderen Worten, der Stand dieser ganzen Gespräche ist alles andere als erfreulich, um es milde auszudrücken. Ich habe das Dokument des Nationalen Sicherheitsrates NSC-68 schon erwähnt, das zur Zeit der Präsidentschaft von Truman ausgearbeitet wurde, aber es ist es wert, noch einmal einen Abschnitt daraus anzuführen. Fehlt der Hintergrund einer amerikanischen militärischen Überlegenheit, so sagen die Autoren des Dokuments, könnten Gespräche mit der UdSSR ‘... nur eine Taktik sein...wünschenswert, um öffentliche Unterstüzung zu gewinnen für... die militärische Aufrüstung.’ Ich fürchte, daß das auch des Pudels Kern ist, wenn es um die gegenwärtige amerikanische Verhandlungsposition geht. Und noch ein Gesichtspunkt wäre hinzuzufügen. Während ziemlich langer Zeit hielten wir das schleppende Hinterherhinken der militärischen Entspannung hinter der politischen für das Hauptproblem und wiesen darauf hin, daß ein Stillstand bei der Rüstungskontrolle früher oder später die politische Entspannung beenden würde. Nun hat sich, nach meiner Ansicht, die Situation etwas gewandelt: Es gibt eine Reihe von ausgehandelten Rüstungskontrollvereinbarungen, die aufgrund erhöhter politischer Spannungen nicht in Kraft gesetzt werden können. Das ist der Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 188 Grund, warum ein Abbau der Spannungen und eine Verbesserang der gesamten politischen Situation zur vordringlichsten Aufgabe wird. Der allgemeine Teststoppvertrag steht in direktem Zusammenhang mit dem Problem der Weiterverbreitung der Kernwaffen. Besonders in diesem Punkt stimmen die sowjetischen und die amerikanischen Interessen weitgehend überein. Das Problem ist unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung einer nuklearen Katastrophe von entscheidender Bedeutung. Vor einiger Zeit begegnete ich John A. Phillips, einem Studenten der Princeton University, der in seinem Labor tatsächlich eine richtige Nuklearbombe bastelte. Die Filmindustrie war gerade dabei, einen Film über sein Abenteuer vorzubereiten. Gerade diese Episode bekundet auf eindrucksvolle Weise, wie real die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen geworden ist. Sie würde sogar noch viel stärker anwachsen, sollte das Klima des Kalten Krieges erneut ausbrechen. Sie haben ganz und gar recht, wenn Sie feststellen, daß die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen sowohl den amerikanischen wie den sowjetischen Interessen entspricht. Ich darf hinzufügen - den Interessen aller anderen Länder ebenfalls. Aber das gilt auch für das Problem der Rüstungsbeschränkung und der Abrüstung ganz allgemein. Es liegt im gemeinsamen Interesse aller. Erwartungen, daß gewisse sinnvolle und langfristige Vorteile aus dem Wettrüsten erwachsen könnten, sind reine Illusionen. Möglicherweise hätten sich die Amerikaner sicherer gefühlt, wenn es keine Mehrfachsprengköpfe gegeben hätte. Ich habe den starken Verdacht, daß sie über kurz oder lang das gleiche von den Marschflugkörpern und dem MX-Raketensystem denken werden. Unglücklicherweise ist es unendlich schwer, die Geister - hat man sie erst einmal gerafen - wieder los zu werden. Sie haben vorher schon das Problem der Kontrolle erwähnt. Es wurde in den USA im Zusammenhang mit dem SALT II-Vertrag leidenschaftlich diskutiert. Offensichtlich haben einige Senatoren wegen der Unzuverlässigkeit der Überwachungsmethoden gegen den Vertrag Einspruch erhoben. Warum haben die Sowjets nicht zuverlassigeren Maßnahmen, u.a. den Inspektionen an Ort und Stelle, zugestimmt? Mir scheint, daß zu der Zeit, als der Vertrag in den USA aufrichtig und ernsthaft diskutiert wurde, die Zweifel bezüglich der Überwachung weitgehend zerstreut waren. Es hatte sich erwiesen, daß die im Vertrag eingegangenen Verpflichtungen mühelos überwacht werden konnten. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 189 Eines der Probleme hatte seinen Ursprung darin, daß die Administration es veräumte, den Senatoren vollständig und erschôpfend darzulegen, was die Vereinigten Staaten dank bestehender Überwachungseinrichtungen und nachrichtendienstlicher Mittel tatsächlich über unsere Streitkräfte wissen. Dies wurde deshalb versäumt, weil solche Angelegenheiten in den Vereinigten Staaten als eines der bestgehütetsten Geheimnisse betrachtet werden. Dennoch glaube ich, daß aufgrund dieser Diskussionen manche Senatoren wenigstens eine Wahrheit begriffen haben, die nichts mit Geheimnissen zu tun hatte: nämlich die, daß ohne das SALT-Abkommen die Überwachung eher schwieriger denn leichter sein wird. Das gleiche gilt für die Verletzbarkeit der zu Land stationierten Raketen und für andere Probleme, die von den SALT-Gegnern vorgebracht wurden, um ihre Position zu erhärten. Alle diese Probleme werden ohne Abkommen akuter und nicht geringer. Um auf ihre Frage zurückzukommen, môchte ich daran erinnern, daß das Übereinkommen ein ganzes System von Überwachungsmaßnahmen vorsieht: spezielle Regeln hinsichtlich der Zählung, das Verbot, auf die technischen Überwachungseinrichtungen der anderen Seite störend einzuwirken, die Verpflichtung, gewisse telemetrische Daten nicht zu verheimlichen. Der Vertrag sieht auch eine spezielle Kommission vor, die Streitfragen und Beschwerden behandelt. Ohne all das wäre die Situation weitaus schlimmer. Dennoch, warum widersetzt sich die Sowjetunion Inspektionen an Ort und Stelle? Wir gehen von der Tatsache aus, daß Mittel und Umfang der Überwachung zum Charakter und Ausmaß der Rüstungsbegrenzung, die durch dieses oder jenes Abkommen eingeführt wird, im richtigen Verhältnis stehen müssen. Die Einhaltung eines Abkommens sollte Ziel der Überwachung sein und nicht die Befriedigung der Neugierde oder die Beschwichtigung generellen Mißtrauens. Schließlich haben wir es mit der Überwachung eines Abkommens zu tun und nicht mit der Erleichterung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit der anderen Seite. Noch ein weiterer wichtiger Punkt. Je weiter die Rüstungskontrolle ausgedehnt wird, desto komplizierter werden die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, je komplexer die Grenzen sind, desto umfassender muß die Aufgabe der Überwachung sein. Beurteilt man, ob die Überwachung ausreichend ist, so darf man nicht nur an die, rein technisch gesehen, möglichen Vertragsverletzungen denken, sondern man muß auch daran denken, ob eine solche Verletzung für die Seite von Nutzen wäre, die versucht zu betrügen. Man kann es versuchen und bei Kleinigkeiten be- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 190 trügen, aber das wird kaum etwas einbringen, außer daß man sich der großen Gefahr aussetzt, dabei erwischt zu werden und dadurch einen internationalen Skandal auszulösen. Eine Vertragsverletzung, die groß genug wäre, um auf das militärische Gleichgewicht Einfluß zu nehmen, könnte unmöglich verheimlicht werden. Die Rüstungsbegrenzungen, die der SALT II-Vertrag einführt, sind so beschaffen, daß sie durch technische Vorrichtungen vom eigenen Territorium aus überwacht werden können. Das kann bei anderen Verträgen anders sein. Im Fall des Teststoppvertrags z. B. wurde darüber Übereinkunft erzielt, daß man die Einrichtungen auf eigenem Territorium ergänzen muß durch sogenannte ‘black boxes’, die im jeweils anderen Land stationiert sind. Das kann bereits als eine Art von Inspektion an Ort und Stelle betrachtet werden. Sollten wir einmal ein Abkommen über eine allgemeine und umfassende Abrüstung erzielen, dann werden wir, wie die sowjetische Regierung erklärt hat, jeglicher Art und Methode der Kontrolle zustimmen, was ohne Zweifel auch die Inspektion an Ort und Stelle mit einschließt. Ich sollte noch hinzufügen, daß nach Auffassung von Spezialisten Inspektionen an Ort und Stelle weit davon entfernt sind, eine ideale Überwachungsmethode zu bieten. In vielen Fällen (besonders wenn der Zeitfaktor überragende Bedeutung hat) erledigen technische Vorrichtungen die Aufgaben besser. Und schließlich gibt es gewisse Dinge, die nicht einmal mit Hilfe der Inspektionen an Ort und Stelle überwacht werden können. Aber warum gibt es dann soviel Streit und soviele Debatten über die Inspektionen an Ort und Stelle? Deshalb, weil dieses Thema so leicht von jenen manipuliert werden kann, die beabsichtigen, den Fortschritt bei der Rüstungskontrolle zu vereiteln. Das ganze Spiel besteht darin, Forderungen zu stellen, von denen man sicher weiß, daß sie für die andere Seite unannehmbar sind. Das erlaubt es, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Dadurch wird der Verdacht auf den Partner gelenkt und die eigene mangelnde Bereitschaft, zu einem Abkommen zu gelangen, verschleiert. Inspektionen an Ort und Stelle sind wahrscheinlich ein einzigartiges Thema im Bereich der Rüstungskontrolle, insofern, als es sich in den Köpfen leichtgläubiger Leute besonders fest einprägt. Man könnte sie die spießbürgerliche Seite der Rüstungskontrolle nennen. Es ist weithin bekannt, daß die Sowjetunion ihre Geheimnisse äußerst sorgfältig bewacht, und im Westen halten wir sie im allgemeinen für über- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 191 trieben verschwiegen. Das verleiht nicht nur jenen Geschichten Glaubwürdigkeit, die von einer von Wahnvorstellungen geprägten Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Ausland berichten, sondern fördert auch den Argwohn gegenüber ihren Absichten, Zielen usw. Ich muß noch einmal betonen, daß diese Annahmen zum großen Teil das Ergebnis politischer Spekulationen und hinterhältiger Propaganda sind. Diese Propaganda schuf den Mythos von der ‘offenen’ westlichen Gesellschaft im Gegensatz zu unserer‘geschlossenen’ und hält ihn auch weiterhin am Leben. In Wirklichkeit sind wir‘offener’ und ist der Westen einschließlich der USA ‘geschlossener’, als gemeinhin angenommen wird. Viele Dinge werden in den Vereinigten Staaten geheimgehalten. Geheimgehalten vor uns, vor dem eigenen Volk und manchmal vor dem eigenen Kongreß. Versuche, hinter diese Geheimnisse zu kommen oder sie zu enthüllen, werden bestraft, wobei die Strafen in letzter Zeit wesentlich härter geworden sind. Andererseits gibt es wirklich Unterschiede zwischen den sowjetischen und amerikanischen Praktiken in diesem Bereich. Ich will gar nicht verheimlichen, daß unsere in vielen Fällen strenger sind. Dafür gibt es einen historischen Grund. In einem Land, das das Ziel zahlreicher militärischer Invasionen war, das während einer langen Zeit praktisch im Belagerungszustand gelebt hat, ist es ganz natürlich, daß die Menschen weitaus vorsichtiger sind, wenn sie abwägen, was bekanntgegeben werden darf und was besser geheimgehalten werden sollte. Traditionelle Verhaltensmuster währen nicht ewig, sie sind Veränderungen unterworfen. Das trifft auch voll und ganz für die Fragen zu, die wir hier erörtern. Entspannung, wachsendes Vertrauen, eine Ausweitung der Kontakte und die Einbeziehung weiterer Probleme in die Verhandlungen - all das bewirkt eine Veränderung der Gepflogenheiten. Zukünftige Ereignisse werden in dieser Hinsicht eine sehr wichtige Rolle spielen. In der New Yorker Times war kürzlich aufder Kommentarseite zu lesen: ‘Den Sowjets vertrauen? Niemals. Warum sollten wir ihnen schließlich mehr vertrauen als unseren eigenen Generälen und Politikern?’ Nun, es bleibt den Amerikanern selbst überlassen, ob sie ihren eigenen Generälen und Politikern vertrauen oder nicht, wie es ihnen auch überlassen bleibt, ob sie den Sowjets Vertrauen. Wir erwarten von den Amerikanern nicht, daß sie uns auf unser bloßes Wort hin vertrauen, obgleich viele westliche Experten bezeugen, daß wir in der Tat eine sehr gute Bi- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 192 lanz vorzuweisen haben, was die Erfüllung unserer Vertragsverpflichtungen anbelangt. Nichts von alledem, was bislang im Rahmen der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen untemommen wurde, basierte auf blindem Vertrauen. Alle Abkommen waren genauestens überprüfbar. Die Beziehungen haben sich vor aller Augen entwickelt. Andererseits ist übermäßiges Mißtrauen ebenfalls schädlich. Es tut mir leid, das sagen zu müssen - aber wir sind solchem Mißtrauen nur allzu oft begegnet. Wir sehen darin jedoch ein Erbe schlimmer Zeiten, das großenteils nur durch die Entwicklung der Beziehungen, der Kontakte und der Zusammenarbeit überwunden werden kann. Noch eine Frage zum Abschluß unserer Erörterung des Wettrüstens und der Rüstungskontrolle - was ist in diesem Bereich in naher Zukunft zu erwarten? Ich bin überzeugt, daß Rüstungskontrolle - ganz abgesehen von ihrem wirtschaftlichen und politischen Nutzen - unerläßlich ist, will man sichere Gewähr haben, daß es nicht zum Nuklearkrieg kommt. Ich würde es vorziehen, würden Rüstungskontrolle und Abrüstung infolge des Weitblicks und der vemünftigen Entscheidungen der Politiker Fortschritte machen. Wenn beide Seiten die Gefahren des Wettrüstens und den aus der Abrüstung erwachsenden Nutzen erkennen, so eröffnet dies den kürzesten und sichersten Weg in eine friedlichere Zukunft. Ein anderer Weg wäre, wieder auf den Abgrund zuzugehen. Aus der Geschichte kennen wir Zeiten, in denen die Vernunft erst die Oberhand gewann, nachdem die Unvemunft eine Zeitlang herrschen und sich unverhüllt zeigen konnte. Ganz offensichtlich ist solch eine Situation unendlich gefährlicher. Zu diesem Zeitpunkt würde ich es mir nicht zutrauen, eine eindeutige Vorhersage zu treffen. Hoffentlich werden wir den ersten Weg beschreiten. Dennoch kann man eine andere Möglichkeit nicht ausschließen. Gerade jetzt sieht es so aus, als stünden der Rüstungskontrolle, infolge des Kurswechsels in der amerikanischen Außen- und Mitlitärpolitik, harte Zeiten bevor. Trifft dies zu, so kann die Situation, bevor sie besser wird, noch schlimmer werden. In diesem Fall liegt dann das große Problem darin, zu verhindern, daß eine irreparrable Situation entsteht. In letzter Konsequenz kann man das Problem so zusammenfassen: Entweder wir vernichten die Waffenarsenale, oder sie vernichten uns. Eindnoten: 1 The New York Review of Books, 6. Nov. 1980 2 L.I. Breschnew, Rede auf dem XVIII. Kongreß des Leninschen Kommunistischen Jugendverbandes der Sowjetunion, 25. April 1978. APN-Verlag, Moskau, 1978, S. 30-31 3 L.I. Breschnew, Rede in Tula am 18. Januar 1977, APN-Verlag, Moskau 1977, S. 22 4 L.I. Breschnew, Leninskim Kursom, Bd. 7, S. 312 5 ‘Nuclear War Conference’, Washington, Anderson Publishers Inc., 1978, S. 163 6 The New York Times, 13. Dezember 1979 7 Scientific American, Oktober 1964, S. 35 8 ‘Counterforce capability’ ist die Fähigkeit, die strategischen Nuklearwaffen des Gegners auszuschalten, bevor sie zum Einsatz gelangen. (Anm. d. Übers.) Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 9 Bei den MX-Raketen (missile experimental) handelt es sich um Interkontinentalraketen, die zum Zwecke größerer Unverwundbarkeit in Schutzgräben auf ihren Abschußrampen hin- und herbewegt werden. (Anm. d. Übers.) 10 Marschflugkörper ‘cruise missile’ (CM). Eine niedrigfliegende Rakete, die von Trägern (Land, Luft, Wasser) aus gestartet wird und nukleare oder konventionelle Sprengköpfe trägt. Die Zielgenauigkeit ist groß, durch einen bodennahen Flug kann das feindliche Radarsystem unterflogen werden. (Anm. d. Übers.) 11 The Washington Quarterly, Herbst 1979, S. 5-6 12 Public Opinion, Mai-Juni 1978, S. 58-59 13 Common Sense in US-Soviet Relations, Washington, 1978, S. 46 13 Common Sense in US-Soviet Relations, Washington, 1978, S. 46 14 Ibid., S. 59 15 The Cloud of Danger, Boston; Little Brown, 1977, S. 13-14 16 Dem 1976 gegründeten Komitee gehören u.a. hohe ehemalige Regierungsbeamte, Wissenschaftler und Gewerkschaftsführer an. Das Hauptanliegen der Mitglieder ist eine Steigerung der amerikanischen Militärausgaben und die Modernisierung der Waffensysteme, die nach Auffassung des Komitees notwendig ist, um der zunehmenden militärischen Stärke der Sowjetunion gewachsen zu sein. (Anm. d. Übers.) 17 The Budget of the US Government, Haushaltsjahr 1980/81 18 Yezhegodnik BSE, Moskau, 1978, S. 67; ibid., Moskau 1979, S. 66; Izvestia, 1. Dezember 1979; Ekonomicheskaya gazeta, Nr. 10, 1980 (Die Umrechnung der Rubelbeträge in Dollar geschah anhand der jeweiligen offiziellen Wechselkurse) 19 ‘Military Balance 1979/80’, International Institute for Strategic Studies, London, 1979, S. 94) 20 Bulletin of Atomic Scientists, September 1979 21 Business Week, 29. Oktober 1979, S. 69 22 Im August 1965 kam es in Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, unter der benachteiligten schwarzen Bevölkerung zu heftigen, tagelangen Unruhen. (Anm. d. Übers.) 23 ‘The SALT II Treaty’, Hearings before the Committee on Foreign Relations, United States 24 25 26 27 28 29 30 31 Senate, 96the Congress, Teil 3, Wash. GPO, 1979, S. 75 Air Force, Dez. 1979; ebenfalls: ‘The Military Balance 1979-1980’, International Institute for Strategic Studies, London The New York Times Magazine, 9. Dez. 1979, S. 46, 47, 55 Alain Enthoven/Kenneth Smith, How Much Is Enough? New York, 1971, S. 128 Arms Control Today, Bd. 8, Nr. 9, Oktober 1978, S. 5 Dickson, P., Think Tanks, New York, 1971, S. 106 Arms Control and Disarmament Agency: 1961 gegründete US-Behörde für Waffenkontrolle und Abrüstung. (Anm. d. Übers. Setting National Priorities, Agenda for the 1980's, Hrsg.: Joseph A. Pechman, The Brookings Institution, Washington, 1980, S. 286 T.S. Burns, The Sovjet War for Ocean Depths Sovjet-American Rivalry for Mastery of the Seas, New York, Romson 1978, S. 57-58 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 193 IV) Handel treiben - ja oder nein? Es hat den Anschein, als habe der sowjetisch-amerikanische Handel unter der allgemeinen Verschlechterung der Beziehungen an der Schwelle der achtziger Jahre am meisten gelitten. Nein, ich würde sagen, daß der größte und gefährlichste Schaden der Rüstungskontrolle zugefügt wurde. Es mag sein, daß die USA versuchen, den Eindruck zu erwecken, der Handel sei das Hauptopfer gewesen - sah doch auf diese Weise der Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik mehr wie eine ‘Bestrafung’ der Sowjetunion aus, sah doch Washington in Handelsbeschrànkungen den einfachsten Weg, uns größtmöglichen Schaden zuzufügen und gleichzeitig den Preis möglichst gering zu halten. War diese Einschätzung zutreffend? Nein. Es trifft weder zu, daß uns durch Handelsbeschränkungen, selbst durch einen Abbruch der Handelsbeziehungen ernsthafte Schwierigkeiten bereitet werden können, noch, daß Amerika daraus kein Schaden erwächst. Aber es war sicherlich ein einfacher Weg, um der amerikanischen Verärgerung - insbesondere Präsident Carters biblischem Zorn - Luft zu machen und Dampf abzulassen. Das war wieder einmal ein Fall, bei dem sich die Amerikaner von ihren Selbsttäuschungen mitreißen ließen. Aber hatte die Sowjetunion nicht 1979 und 1980 eine schlechte Ernte zu verzeichnen, während sie doch für ihre Viehzucht große Mengen Futtergetreide benötigt? Die Ernte war in der Tat schlecht, und es bestand auch die Notwendigkeit, Getreide einzuführen. Allerdings nicht in solch einem Ausmaß, daß ein amerikanisches Getreideembargo schon einer Katastrophe für unsere Wirtschaft gleichgekommen wäre. Dies um so weniger, als wir Maßnahmen getroffen haben, um den Schaden so gering wie möglich zu Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 194 halten: Wir steigerten die Produktion bei anderen Futtermitteln und kauften Argentinien und anderen Ländem mehr Getreide ab. Gleichzeitig aber hatten die Amerikaner darunter zu leiden, vor allem die Farmer im Mittelwesten, aber auch das US-Finanzministerium. Laut amerikanischen Schätzungen beliefen sich die unmittelbaren Verluste auf 2,5 Milliarden Dollar, und der Gesamtschaden betrug rund 4,5 Milliarden Dollar. Wobei hat sich Washington verrechnet? Kurz gesagt, Washington überschätzte die amerikanische Wirtschaftskraft und deren Bedeutung ganz gewaltig, während es die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Sowjetunion in gleichem Maße unterschätzte. Im amerikanischen Bewußtsein ist die Überzeugung tief verankert - was auch in offiziellen amerikanischen Überlegungen zum Ausdruck kommt -, daß Amerika in der Welt wirtschaftlich so dominierend ist, daß andere Länder an die USA herantreten und um Gunstbezeigungen bitten müssen. Daraus ergibt sich, daß es den USA freisteht, die Bittsteller zu belohnen oder zu bestrafen, je nachdem wie diese sich verhalten. Dennoch ist die Sowjetunion weiterhin am Handel mit den USA interessiert, einschließlich des Imports von Getreide und Technologie. Ja, wir sind daran interessiert, aber es ist sehr wichtig, sowohl die Natur, wie auch den Grad dieses Interesses zu begreifen, da man ansonsten unweigerlich schwere politische Fehler begeht. Welche beispielsweise? Ich denke daßei an das unentwegte Bemühen, den Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen als Druckmittel einzusetzen, um die sowjetische Politik zu beeinflussen. Ich spreche von solchen Maßnahmen wie dem Jackson-Vanik-Amendment aus dem Jahre 1974, der Abänderung der Ausfuhrkontrollbestimmungen von 1978 in Zusammenhang mit der sogenannten Schtscharanski-Affäre, wie auch von den häufig diskutierten Plänen, uns mit der Androhung eines wirtschaftlichen Embargos zu erpressen, um außenpolitische Zugeständnisse zu erzwingen. Es ist genau diese Geisteshaltung, die hinter den Maßnahmen der Carter-Administration zu Beginn des Jahres 1980 stand, als der Handel zum Hauptinstrument erkoren wurde, um die Sowjetunion zu‘bestrafen’. Die gleichen Fehleinschätzungen erklären, warum sogar zu der Zeit, als die Entspannung gedieh, der Handel der Bereich in unseren Beziehun- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 195 gen war, der durch das Erbe des Kalten Krieges am meisten belastet wurde. Wie groß ist denn Ihr Interesse am Handel mit Amerika wirklich? Lassen Sie mich Ihnen die grundlegenden Fakten der Sachlage geben. Erstens, beide Volkswirtschaften - die amerikanische und die sowjetische - sind von so riesigem Ausmaß, daß der gegenseitige Handel, selbst wenn er unter den denkbar günstigsten Bedingungen ausgebaut wird, nur einen sehr kleinen Teil der jeweiligen Bedürfnisse abdecken kann. 1979 z. B. betrug der Anteil der USA an unserem Außenhandel nur 3,5 Prozent bzw. 0,5 Prozent unseres Bruttosozialprodukts. Deshalb sind die Auswirkungen des US-Handels auf unsere Wirtschaft nur geringfügig und werden es auch dann bleiben, wenn es zu den denkbar größten Steigerungsraten kommen sollte. Mehr noch, es ist einfach unrealistisch, sich vorzustellen, eines der beiden Länder würde es je zulassen, daß seine Wirtschaft in erheblichem Umfang einseitig von dem anderen Land abhängig werden würde. Abgesehen davon betreibt die UdSSR mit anderen westlichen Ländern einen ziemlich umfangreichen Handel. In der Tat sind die USA weder unser einziger, noch unser größter Handelspartner. Der größte Teil unseres Außenhandels entfällt auf andere sozialistische Länder. Der Anteil Amerikas an unserem Westhandel betrug 1979 lediglich 11 Prozent. Sieht man einmal vom Getreide ab, so betrug er 5 Prozent. Unser größter westlicher Partner ist Westdeutschland, während unser Handel mit Frankreich, Italien und Finnland im wesentlichen den gleichen Umfang erreicht wie unser Handel mit den USA. Wir können praktisch alles, was wir von Amerika kaufen, auch von anderen westlichen Ländern beziehen. Dennoch, die Amerikaner verfügen offensichtlich in einigen Bereichen, z. B. bei Computer und Bohrausrüstungen, über ein Monopol. Ja, das stimmt, und einige ihrer Computer sind, ebenso wie ihre Bohrausrüstungen und andere technisch hochstehenden Erzeugnisse, besser als die entsprechenden Produkte anderer Länder. Jedoch nicht um so vieles besser, daß die Weigerung der Amerikaner, uns diese Dinge zu verkaufen, unsere Wirtschaft zum Stillstand bringen würde. Schauen Sie sich an, was geschah, als die USA versuchten, uns an dem vermeintlich empfindlichen Punkt der Bohrausrüstungen unter Druck Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 196 zu setzen - wir haben ganz einfach ein großes, für beide Seiten nützliches Geschäft mit Frankreich abgeschlossen. Und in den meisten Fällen kommen wir sehr gut selbst zurecht, haben wir doch eine von außen weitgehend unabhängige Volkswirtschaft. Tatsächlich erwies sich sogar zu einer Zeit, da wir in wirtschaftlicher Hinsicht noch viel schwächer waren, die Praxis, den Handel als politische Waffe einzusetzen, als unwirksam und als Eigentor. Wie denn auch kürzlich Robert Gilpin, ein Wirtschaftswissenschaftler von Princeton, der die Auswirkungen des Wirtschaftskrieges in der Vergangenheit untersuchte, zu dem Schluß kam: ‘Wenn wir ohne Erfolg blieben, als wir stärker und sie schwächer waren, wie können wir dann heute Erfolg haben?’1 Und trotzdem scheinen Sie alles daran zu setzen, den Handel mit den Vereinigten Staaten anzukurbeln. Ich glaube nicht, daß ‘alles daran setzen’ der richtige Ausdruck ist, um unsere Haltung in dieser Angelegenheit zu beschreiben. Nach unserer Auffassung ist der Handel innerhalb des ganzen Komplexes unserer Beziehungen mit den Vereinigten Staaten von geringerer Bedeutung, das wichtigste dabei ist, den Frieden zu sichem und damit unsere Beziehungen im politischen Bereich und auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle zu verbessern. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten haben während einer langen Zeit mit der Tatsache gelebt, daß sie keinen nennenswerten Handel miteinander trieben, und sie können sicher auch weiterhin damit leben. Der Handel ist für keines der beiden Länder eine Überlebensfrage. Aber falls ein Klima der Entspannung und eine generelle Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eintritt, wird die Ausweitung unseres Handels ein logischer Teil dieser Entwicklung sein. Und zwar nicht nur deshalb, weil beiden Seiten größerer wirtschaftlicher Nutzen daraus erwachsen kann. Wir halten den politischen Aspekt dabei für wichtiger. Die Entwicklung des Handels und der wirtschaftlichen Beziehungen kann ein überaus wichtiges Instrument zur Verbesserung der allgemeinen Beziehungen sein. Was die Geschäftsbedingungen betrifft, so verlangen wir keine besonderen Vergünstigungen. Wir erwarten nicht mehr und nicht weniger als bei Geschäften Usus ist - also einen ordentlichen Preis für eine ordentliche Ware, und umgekehrt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 197 Ist es nicht in gewisser Weise eine Ironie, daß ausgerechnet Kommunisten an die Amerikaner appellieren, sich wiegute Geschäftsleute zu verhalten? Wissen Sie, so stolz die Amerikaner auch auf ihren kommerziellen Genius und ihren Pragmatismus sind, so neigen sie doch dazu, auf diesem Gebiet wie Amateurpolitiker aufzutreten. Wie werden sich die Ereignisse in Afghanistan auf die Zukunft der sowjetisch amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen auswirken? Carters Entscheidung, über die Getreidelieferungen an die Sowjetunion ein Embargo zu verhängen und für den übrigen sowjetisch-amerikanischen Handel zusätzliche Restriktionen einzuführen, hatte sehr nachhaltige Auswirkungen auf die weitere Entwicklung unserer Beziehungen. Man kann vielleicht darüber streken, welchen Stellenwert der internationale Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen für die Entspannung haben - meiner Meinung nach kann er ganz erheblich sein -, es besteht aber kein Zweifel daran, daß ein Unterbrechen dieser Beziehungen unvermeidlich zu einer Erhöhung der Spannungen zwischen den Staaten führt. Am wichtigsten dabei ist, daß solche Maßnahmen buchstäblich die Zukunft wirtschaftlicher Beziehungen untergraben, indem sie das Vertrauen zum anderen zerstören. Früher oder später werden die Ereignisse in Afghanistan der Vergangenheit angehören. Aber das Image der Amerikaner, Partner zu sein, bei denen es vorkommen kann, daß sie ihre Verpflichtungen so leicht brechen, wird viel lßnger bestehen bleiben. Kamen diese Repressalien für Moskau überraschend? Nein, und zwar sorgte die Carter-Administration selbst dafür. Gleich von Beginn ihrer Regierungszeit an verstärkte sie die Politisierung des Handels und der Wirtschaftsbeziehungen, indem sie diese bei jeder entsprechenden Gelegenheit vollkommen den Zielen ihrer eigenen Außenpolitik unterordnete. Es wurde eigens ein neues Konzept, die sogenannte ‘conditional flexibility’, erarbeitet, das für diesen Kurs den theoretischen Rahmen lieferte. Samuel Huntington war im Weißen Haus dafür berüchtigt, einer der wichtigsten Architekten der‘Bärenfalle’ zu sein, womit jene Politik gemeint ist, die den Handel als Waffe des Kalten Krieges einsetzt. Er stand jedoch damit keineswegs allein. Obwohl Huntington schließlich zurücktrat, trug seine Politik, die ‘Handel als Waffe’ zum Motto hatte, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 198 letzten Endes im Weißen Haus den Triumph davon. Sie fand zum ersten Mal 1978 Anwendung, als das Weiße Haus den Schtscharanski-Prozeß zum Vorwand nahm, um eine Reihe von Geschäftsabschlüssen zu Fall zu bringen und zugleich einige weitere Beschränkungen für den Handel mit der Sowjetunion einzuführen. So steilten also die 1980 verhängten Sanktionen nur den Höhepunkt einer langen Entwicklung dar. Wie lange wird es bei dieser Politik bleiben? Diese Frage sollten Sie eigentlich dem Weißen Haus stellen. Nach meiner persönlichen Meinung dürfte sich diese Politik so lange behaupten, wie die neue vom Kalten Krieg geprägte Stimmung in Washington vorherrscht. Finden Sie es paradox, daß Ronald Reagan, wahrend er eine US-Politik der harten Linie gegenüber der Sowjetunion forderte, im Verlauf des Wahlkampfes versprach, das gegen die Sowjetunion verhangte Getreideembargo aufzuheben, falls er Präsident werden würde? Die Zeit wird zeigen, ob es ledigüch ein weiteres Wahlversprechen war oder eine Spiegelung realistischer Züge in Reagans außenpolitischem Ansatz. Ganz offen gesagt, halten wir nicht gerade den Atem an in der Erwartung, daß der neue US-Präsident seinen Standpunkt zum amerikanischsowjetischen Handel darlegt. Wir würden eine positive Haltung begrüßen. Aber die Sowjetunion hat andere Optionen offen, falls die Politik Carters dessen Präsidentschaft überdauert. Und wir verfügen selbst über ein starkes wirtschaftliches, wissenschaftliches und technologisches Potential, sowie über stabile und dynamische Wirtschaftsbeziehungen mit sozialistischen Ländern, mit vielen Entwicklungsländern, sowie blockfreien westlichen Staaten. Abgesehen davon glaube ich nicht, daß der amerikanischen Politik der Sanktionen eine Zukunft beschieden sein wird, läuft sie doch den entscheidenden Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung in der modernen Welt zuwider. Die gesamte sich abzeichnende Haltung der Amerikaner gegenüber der Welt draußen steht mit der historischen Tendenz einer wachsenden gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit und Verflechtung nicht in Einklang. Die Welt wird immer kleiner. Ein einziges weltumfassendes Dorf also. In gewisser Weise. Spinnt man diese Metapher weiter, so kann man hin- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 199 zufügen, daß das Leben in dem einen weltumfassenden Dorf, in dem jeder - was Ressourcen, Güter, Rohstoffe etc. anbelangt - auf seinen Nachbarn angewiesen ist, gegenseitige Mäßigung und Anpassung verlangt, sowie die Fähigkeit, die Interessen anderer zu berücksichtigen und mit ihnen auf gleichberechtigter Ebene zusammenzuarbeiten. Aber ich bin nicht sicher, ob sich Washington mit der Interdependenz in ihrer wahren Bedeutung abgefunden hat. In der wachsenden Abhängigkeit Amerikas von Rohstoffimporten, insbesondere vom Öl aus dem Nahen Osten, wurde eine unerträgliche Verletzbarkeit gesehen, die durch einen erneuten Rückgriff auf militarische Stärke und durch unverhüllten Druck überwunden werden sollte. Kurz gesagt, anstatt sich selbst zu ändern, um sich einer neuen Welt anzupassen, versuchen die Amerikaner jetzt, die Welt zu ändern, indem sie sie zwingen, die imperialen Ansprüche Amerikas zu akzeptieren. Welche Haltung nimmt die Sowjetunion in der Frage der Interdependenz ein? Wir glauben, daß es sich dabei um eine objektive und im allgemeinen gesunde Entwicklung handelt, die die Überlebenschancen der Menschheit erhöhen kann, ebenso wie die Chancen auf eine friedliche und vorteilhafte Zusammenarbeit auf der ganzen Welt. Die Frage ist nur, was die Basis dieser Interdependenz sein sollte. Wir sind fest davon überzeugt, daß sie nur auf der Grundlage der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Nutzens errichtet werden kann. Nur wenige würden wohl einer wirtschaftlichen Interdependenz zustimmen, wenn nicht garantiert wird, daß die Länder vor Ausbeutung, Einschüchterung und Erpressung geschützt sind. Aber natürlich setzt ein Fortschritt in dieser Richtung eine entsprechende politische Atmosphäre in der Welt voraus. Sie haben vorhin erwähnt, daß selbst auf dem Höhepunkt der Entspannung das Erbe des Kalten Krieges im Bereich der Handelsbeziehungen besonders stark spürbar war. Ist das der Grund, warum das Volumen des amerikanisch-sowjetischen Handels in den siebziger Jahren ungefähr ein Fünftel Ihres Handels mit Finnland ausmachte, bzw. ein Zwanzigstel des amerikanisch-niederlandischen Handelsvolumens? Sie haben ganz recht. Obwohl das Volumen des sowjetisch-amerikanischen Handels in den siebziger Jahren drastisch anstieg, nimmt sich, im Verhältnis zur Größe der Volkswirtschaften der beiden Länder, ihrer Außenhandelspotentiale und des Gesamtvolumens ihres Außenhan- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 200 dels, der Handel zwischen unseren beiden Staaten nahezu unbedeutend aus. Wir halten das für unnormal. Könnten Sie genauer erklären, was eigentlich eine Ausweitung des amerikanisch-sowjetischen Handels verhinderte? Das ist eine lange Geschichte, denn es gibt eine ganze Reihe von Hindernissen. Ich möchte mit dem Problem des Meistbegünstigtenstatus beginnen, der uns von Washington sogar auf dem Höhepunkt der Entspannung versagt wurde. Tatsächlich ist ‘Meistbegünstigtenstatus’ eine etwas irreführende Bezeichnung, weil das so klingt, als handle es sich um die Gewährung besonderer Vorteile. Und viele Amerikaner, darunter sogar einige Mitglieder des Kongresses, betrachten den Meistbegünstigtenstatus als etwas, das man entweder Amerikas besten Freunden als Belohnung oder anderen als Bonus für ihr Wohlverhalten zugesteht. Was die Leute im Zusammenhang mit der Meistgebünstigtenklausel irreführt, ist der diplomatisch höfliche Klang dieses Ausdrucks. Tatsächlich aber bedeutet, diesen Status einem Land zuzubilligen, nichts anders, als dieses Land hinsichtlich des Handels nicht schlechter zu stellen als alle anderen Länder auch. Anders ausgedrückt heißt dies, daß jenen Ländern, die diesen Status nicht haben, die Gleichbehandlung und bestimmte, weithin übliche Rechte vorenthalten werden, sie also diskriminiert werden. Verweigert man einem Land den Meistbegünstigtenstatus, so begeht man einen Akt der Feindseligkeit und bringt damit zum Ausdruck, daß man mit ihm keine normalen Beziehungen unterhalten will. Ist denn die ganze Angelegenheit mit der Meistbegünstigtenklausel wirklich ein so gravierendes Hindernis für den sowjetisch-amerikanischen Handel? Es scheint, daß seine Bedeutung weitgehend symbolischer und politischer, nicht aber wirtschaftlicher Natur ist. Nun, die symbolische und politische Bedeutung ist selbstverständlich gegeben. Daß sich die Amerikaner seit langem weigern, die UdSSR im Bereich des Handels mit anderen Partnern gleichzustellen, wurde zum Symbol dafür, daß uns Amerika diskriminiert, was unseren politischen Beziehungen sehr abträglich war. Jedoch ist der wirtschaftliche Aspekt ebenfalls wichtig. Das Fehlen dieses Status hat so hohe Schutzzölle auf sowjetische Waren zur Folge, daß wir sie entweder nur in kleinen Mengen oder überhaupt nicht verkaufen können, weil nicht gestattet wird, daß die Waren auf dem amerikanischen Markt auf der Grundlage gleicher Wettbewerbsbedingungen konkurrieren. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 201 Können Sie dazu einige Beispiele anführen? Ein einfaches Beispiel ist russischer Wodka, der pro Flasche ungefähr zwei Dollar weniger kosten würde, hätten wir den Meistbegünstigtenstatus. Und natürlich geht es nicht nur um Wodka. Amerikanische Geschaftsleute haben Interesse daran gezeigt, sowjetische Produkte wie z. B. Flugzeuge des Typs ‘YAK-40’, Tragflügelboote, Kombiwagen des Typs ‘Lada’ Trakteren, Sportgewehre etc. zu importieren. Ohne Meistbegünstigtenstatus werden diese Waren aus der UdSSR jedoch zwei- bis viermal höher verzollt als die gleichen Waren aus anderen Ländern. Bei den YAK-40 Turbojets z. B. steigt der Zoll auf 30 Prozent des Preises an, was den Import dieser Güter von vomherein verhindert. So kommen also diese Verkäufe nicht zustande, was sowohl uns wie auch den Amerikanern schadet. Ich verstehe, daß Sie aus Gründen des Handels Interesse am Meistbegünstigtenstatus haben, aber warum sollte das die Sorge der Amerikaner sein? Was würden sie dabei gewinnen? Nun, der amerikanische Verbraucher verliert gegenwärtig dadurch, daß ihm einige Waren vorenthalten werden. Aber der wesentliche Punkt ist, daß man unsere Exporte beeinträchtigt und unter dieser Diskriminierung unsere Exporterlöse leiden, die ansonsten dazu verwendet werden könnten, unsere Importe aus den Vereinigten Staaten zu erhöhen. Größere sowjetische Importe aus Amerika hätten eine verbesserte Handelsbilanz der USA, mehr Arbeitsplätze und erhöhtes Einkommen zur Folge. Weiterhin besteht von Seiten der Amerikaner ein Interesse daran, daß wir unsere Schulden aus dem Leih-Pacht-Abkommen begleichen. Entsprechend dem amerikanisch-sowjetischen Handelsabkommen von 1972 ist die Begleichung an die Normalisierung unserer Handelsbeziehungen gekoppelt. Welche weiteren Handelshindernisse gibt es? Das zweite bis heute ungelöste Problem ist das der langfristigen Kredite. Die Kredite der Export-Import-Bank wurden 1975 drastischen Einschränkungen unterworfen. Ironischerweise war der Zweck, zu dem dieses Institut am Ende des Zweiten Weltkrieges eigens gegründet wurde, kein anderer als die Kreditvergabe an die UdSSR. Genauso wie in der Meistbegünstigtenklausel, so wird auch in diesen Krediten in den USA häufig ein besonderer Vorteil gesehen, den sich die Sowjetunion erst Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 202 noch durch das eine oder andere politische Zugestandnis verdienen muß. Aber solche Kredite, durch die große Geschäftsabschlüsse erleichtert werden, sind ein althergebrachter Teil ganz normalen Geschäftsgebarens und sowohl für den Kreditgeber wie auch für den Schuldner von Nutzen. Nebenbei gesagt, schadete die Entscheidung von 1975, die Kredite der Export-Import-Bank zu kürzen, vor allem den amerikanischen Finnen, die kurz vor dem Abschluß großer Geschäfte standen, die auf solchen Krediten aufbauten. Weil ihnen die Regierungskredite vorenthalten wurden, erlitten diese Firmen bei den Geschäften mit der UdSSR Wettbewerbsnachteile gegenüber ihren europäischen Konkurrenten. Heute haben wir stabile und im Wachsen begriffene Kreditbeziehungen mit vielen westeuropäischen Ländern und Japan. Ein gutes Beispiel dafür ist das große Röhrengeschäft auf Kreditbasis mit Westdeutschland und einigen anderen Ländern. Zwischen 1976 und 1980 konnten mit Hilfe dieses Geschäfts 100 Milliarden Kubikmeter Erdgas für unseren einheimischen Bedarf gewonnen werden, und fast die gleiche Menge stand für den Export nach Westeuropa zur Verfügung. Die Amerikaner bedauern wahrscheinlich, daß ihnen so umfangreiche Geschäfte entgingen. Gut möglich. Auf jeden Fall versuchen sie oftmals, solche entgangenen Geschäfte zu kompensieren, daß sie unseren Partnern Schauermärchen über eine angebliche sowjetische Zahlungsunfähigkeit erzählen. Aber die Verschuldung Ihres Landes dem Westen gegenüber ist in der Tat ziemlich beträchtlich. Das ist ein weiteres Klischee, das die wirkliche Lage verzerrt. Zunächst einmal sollte unsere Verschuldung im Vergleich zu der anderer Länder gesehen werden. Dann erscheint sie nämlich keineswegs mehr ungewöhnlich hoch. Aufgrund der komplexen Natur moderner ökonomischer Beziehungen ist jeder bei irgend jemand verschuldet. Wir selbst erhalten nicht nur Kredite, sondern gewähren auch vielen Ländern welche. Die wachsende gegenseitige Verschuldung ist eine der objektiv vorhandenen Tendenzen im Welthandel, bedingt durch die lange Dauer des Investitionsprozesses und andere Gründe. Heute werden fast 70 Prozent des internationalen Handels auf dem Maschinen- und Investitionsgütersektor auf Kreditbasis abgewickelt. Das gleiche gilt auch für unseren eigenen Export von Maschinen und Investitionsgütern. Mit anderen Worten, unser Außenhandel stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der weltweit üblichen Praxis dar. Außerdem verfügen wir über ausrei- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 203 chende Ressourcen und eine entsprechende Leistungsfähigkeit, um unseren finanziellen Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen. All das wissen unsere Handelspartner in Westeuropa und Japan sehr wohl, weshalb sie auch, was unsere Zahlungsfähigkeit anbelangt, keinerlei Zweifel haben. Was verhindert darüber hinaus eine Ausdehnung des sowjetisch-amerikanischen Handels? Nicht zuletzt gibt es da noch das Kontrollsystem für US-Exporte. Erstmals 1949 als ein Hauptinstrument der Politik des Kalten Krieges eingeführt, enthält es ein ausgefeiltes System von Handelsbarrieren, angefangen bei den Listen ‘strategischer Güter’ bis hin zu einem absichtlich kompliziert gehaltenen System der Exportlizenzen. Nur um einen Eindruck davon zu vermitteln, zu welch lächerlichen Ergebnissen das System führte: Zu den stategischen Gütern, deren Ausfuhr in die UdSSR verboten war, gehörten Dinge wie falsche Bärte, Perücken, Grabzäune, Büroklammern, Knöpfe und sogar Baseballschläger, letztere deshalb, weil sie für die Aufrechterhaltung der Moral unserer Trappen als wesentlich erachtet wurden. So mußten wir also all die Jahre lang ohne amerikanische Baseballschläger auskommen, was aber glücklicherweise unsere Soldaten nicht allzu sehr demoralisiert hat, da sie ohnehin nicht Baseball spielen. Ist dieses sonderbare System noch in Kraft? Nun, mit der Beendigung des Kalten Krieges wurde es merklich modifiziert, vor allem durch das ‘Export Administration Act’ genannte Gesetz von 1969. Obwohl man bestimmte gesetzliche Vorschriften liberalisierte, wurde das Grandschema der Exportkontrolle beibehalten. Die Carter-Administration versuchte, diesem alten System neues Leben einzuhauchen. Und zwar nicht nur im Hinblick auf den amerikanischen Handel, sondern auch was die Handelsbeziehungen der Verbündeten betrifft. Sprechen Sie von COCOM, dem Nato-Ausschuß zur Koordinierung der Exportkontrolle? Ja, von COCOM und auch von dem auf westeuropäische Regierungen verstärkt ausgeübten Druck. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 204 Maßnahmen zur Exportkontrolle werden normalerweise mit nationalen Sicherheitsinteressen begründet. Ja, obwohl ich nicht glaube, daß irgendeine verantwortungsbewußte Regierung es je zu einer Situation kommen ließe, in der die Verteidigung ernstlich vom Handel mit einem potentiellen Gegner abhängen würde. Wir haben, soweit ich weiß, nie Anstrengungen untemommen, von den USA Minutemen-Raketen, Panzer oder auch nur Gewehre zu kaufen. Der Westen weiß ganz genau, daß wir vollkommen in der Lage sind, selbst herzustellen, was immer für unsere Verteidigung benötigen. Nebenbei gesagt, betrachtet man die Sache genauer und analysiert, was wir in westliche Länder, die USA inbegriffen, exportieren, so wird man darunter Güter finden, die uns die Vereinigten Staaten nie verkauft hätten. Welche zum Beispiel? Nun, wir haben Titan verkauft, wir verkaufen Chrom, Palladium, Mangan, natürliche und synthetisch hergestellte Diamanten sowie Lizenzen für neue Technologien zur Verarbeitung von Aluminium. Den Verkauf von Diamanten an die UdSSR hatten, nebenbei gesagt, die USA seit jeher verboten, was ein Grund dafür war, daß wir unsere geologischen Untersuchungen beschleunigt vorantrieben, mit dem Ergebnis, daß wir umfangreiche Diamantvorkommen in Sibirien entdeckten. Wir stellen auch synthetische Diamanten in großem Umfang her und exportieren sie selbst in die USA. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Vor kurzem vergaben wir an amerikanische Firmen Lizenzen für die Herstellung von Nachbrennem für Turbostrahltriebwerke sowie für Walzwerke feür dünnwandige Rohre, beides für militärische Zwecke durchaus verwendbar. In Wirklichkeit ist das ganze Spielchen der strengen Beschränkungen der Exporte in die UdSSR, die angeblich dazu dienen, unsere Rüstungsindustrie zu beeinträchtigen, nur ein Vorwand. Dahinter steekt eine ganz andere Argumentation, die einige amerikanische Politiker in den Vordergrund stellen, nämlich die, daß durch diese Restriktionen unserer Wirtschaft insgesamt Schaden zugefügt werden könnte. Es scheint, daß es in den USA zwei Hauptrichtungen in der Einstellung zum Handel mit der UdSSR gibt. Nach der einen sollte man die UdSSR und ihr Gesellschaftssystem im eigenen Saft schmoren lassen - warum auch sollte Amerika den Russen helfen, ihre Engpässe zu beseitigen? Nach der anderen sollte Washington darauf hinarbeiten, die UdSSR wirtschaftlich von Amerika abhängig zu machen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 205 Nach meiner Ansicht sind beide Einstellungen nicht nur feindselig uns gegenüber, sondent auch trügerisch. Die Vertreter der ersten unterstellen mit der ihnen eigenen Arroganz, daß wir ohne Amerika mit unseren sogenannten Engpässen nicht fertig werden. Wenn wir aber über ernste Probleme sprechen, dann erwarten wir nicht, daß die Amerikaner sie für uns lösen. Alle Länder, auch die Vereinigten Staaten, müssen ihre wichtigsten wirtschaftlichen Probleme weitgehend selbst lösen. Das wir in der Lage sind, uns auf unsere eigene Kraft zu verlassen, solite niemand in Zweifel ziehen. Im Verlauf unserer Geschichte haben wir es geschafft, auch sehr viel ernstere Schwierigkeiten ohne amerikanische Hilfe zu überwinden. Wir haben manchmal das Gefühl, daß, über längere Zeit hinweg gesehen, die vom Westen verhängte Blockade oder Teilblockade sich mitunter zu unseren Gunsten ausgewirkt hat - nämlich als ein zusätzlicher Anspom für uns, bei der Entwicklung bestimmter Schlüsselindustrien unserer Wirtschaft schneller und wirkungsvoller voranzuschreiten. Was ist zur zweiten Einstellung zu sagen? Diese Haltung gegenüber der Sowjetunion ist ebenfalls ziemlich sonderbar. Man fragt sich nur, warum in aller Welt wir uns erst in die Abhängigkeit begeben sollten, damit wir westliche Technologie erhalten, um dann zuzulassen, daß der Westen dies gegen uns ausspielen kann. Das Erstgeburtsrecht gegen 30 Silberlinge einzutauschen, ist kein guter Handel. Aber Sie haben doch ernste wirtschaftliche Problème. Nun, wir haben Probleme in einigen Branchen unserer Industrie und im Transportwesen. Über diese Probleme wird in unserem Land offen gesprochen. Ein Problem ist, daß wir den technologischen Fortschritt beschleunigen müssen. Auch gibt es Schwierigkeiten beim Transfer der Technologie: das Problem dabei ist aber nicht der Transfer westlicher Technologie in die sowjetische Industrie, sondern die raschere und effektivere Einführung unserer eigenen neuen Technologie in unsere gesamte Wirtschaft. Wir bemühen uns nach Kräften, die Lücke zwischen der Forschung und der praktischen Anwendung ihrer Ergebnisse zu schließen, und ich bin sicher, daß uns dies gelingt. Übrigens werden die Leistungen unserer Wissenschaft und Technik allgemein anerkannt. Wir verkaufen eine Menge Lizenzen ins Ausland, das jüngste Beispiel dafür ist die Lizenzvergabe an die amerikanische Indu- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 206 strie über 30 moderne energietechnologische Verfahren, die im wesentlichen magnetohydrodynamische Techniken betreffen. Deshalb glaube ich, daß, ganz abgesehen von der Feindseligkeit gegen die Sowjetunion, beide Denkrichtungen ziemlich naiv und wirklichkeitsfremd zu sein scheinen. Sie vergessen einfach, was für ein Land wir im Laufe der Jahre geworden sind. Oder, um es genauer zu sagen, sie vergessen es Solange, bis über die Finanzmittel für das amerikanische Militär diskutiert wird. Dann spricht plötzlich jeder von hervorragenden, modernen, ja sogar überlegenen sowjetischen Raketen, Kriegsschiffen, Panzern und Flugzeugen. Um auf die Haupthindernisse für eine Normalisierung des sowjetisch-amerikanischen Handels zurückzukommen - glauben Sie nicht, daß es ziemlich akademisch ist, heute über diese Hindernisse zu sprechen, nachdem es doch ohnehin keine Chance für ihre baldige Beseitigung gibt? Nein, das glaube ich nicht. Wenn wir zu einer klaren Perspektive kommen wollen und über die Zukunft nachdenken, dann sollten wir all dies berücksichtigen. Sobald diese Probleme wieder an der Tagesordnung sind, wird ihre Lösung unumgänglich, um zu einer Normalisierung unserer Handelsbeziehungen zu gelangen und ganz allgemein die Hindernisse aus der Zeit des Kalten Krieges aus der Welt zu schaffen. Lassen Sie es mich wiederholen: Wir bitten nicht um Almosen oder Gefälligkeiten. Alles, was wir wollen, ist eine normale und faire Behandlung durch die andere Seite. Die Entwicklung des Handels und der Wirtschaftsverbindungen wird aber tatsächlich sehr oft als eine Art westlicher Hilfeleistung für den Osten aufgefaßt. Gerade das macht sie auch bei Veränderungen der politischen Situation so verwundbar. Deshalb ja auch die Schwierigkeiten der letzten Jahre. Die Vereinigten Staaten verhaken sich keineswegs so, wenn es um den Handel mit anderen Ländern geht. Innerhalb des Westens sehen die Beziehungen zwischen Käufern und Verkäufern, zwischen den Banken und ihren Kunden ganz anders aus und haben nichts mit Barmherzigkeit oder Gefühlen zu tun. Aber wir bauen auch gar nicht auf amerikanische Hilfe. Es würde schon genügen, würden sie darauf verzichten, uns Schaden zuzufügen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 207 Was meinen Sie mit ‘Schaden zufügen’? In erster Linie, daß sie uns das Wettrüsten aufzwingen. Die Logik, die dahintersteht, ist ganz einfach: Die USA haben ein größeres Bruttosozialprodukt; deshalb - so argumentiert man in Washington - muß die Sowjetunion, will sie ein vergleichbares militärisches Potential unterhalten, eine schwerere Bürde auf sich nehmen, wodurch ihrer Wirtschaft Schaden zugefügt oder sie sogar ruiniert wird. Ganz ehrlich gesagt, ich vermute, daß das eines der Ziele geworden ist, denen die amerikanischen Anstrengungen, das Wettrüsten zu beschleunigen, gelten. Zum Beispiel? Beispielsweise lautet eines der Hauptargumente, das die amerikanischen Militärs für die Bomber des Typs B-1 und für die Marschflugkörper bei Hearings vor dem Kongreß anführten, diese Waffensysteme würden dazu beitragen, die sowjetische Wirtschaft auszuzehren, sähe sich doch die Sowjetunion dadurch gezwungen, ein neues und sehr teures Luftabwehrsystem aufzubauen. So lächerlich das auch klingen mag, aber womöglich werden gerade deshalb, weil in den USA solche Überlegungen zur Routine geworden sind, der Sowjetunion manchmal ähnliche Absichten unterstellt. Ist das Ihr Ernst? Ja, ich erinnere mich, wie die Senatoren Stuart Symington und Charles Mathias, bewaffnet mit Zitaten von Marx und Lenin, nach Kräften versuchten, die Kommunisten als diejenigen hinzustellen, die eine militärische Aufrüstung Amerikas fördem würden, um dadurch den Niedergang des amerikanischen Kapitalismus zu betreiben. Sie hörten sich wirklich sehr überzeugend an, als sie aufzeigten, wie ein fortgesetztes, uneingeschränktes Wettrüsten die amerikanische Wirtschaft zerstören könnte; jedoch kann ich den beiden Herren versichern, daß - falls das eintreten sollte - weder Marx noch Lenin damit etwas zu tun haben werden. Sie müssen dann schon die Schuld bei ihrem eigenen, ach so patriotischen, militärisch-industriellen Komplex suchen. Der sowjetisch-westdeutsche Handel wuchs zwischen 1970 und 1978 um mehr als das Sechsfache an. Ein Beispiel für Amerika? Sicher. Die Bundesrepublik wurde unser größter Handelspartner im kapitalistischen Westen, obwohl es erst ein Jahrzehnt her ist, daß wir auf Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 208 sehr niedrigem Niveau begannen. Solch ein Durchbruch wurde erst im Klima der Entspannung möglich, und umgekehrt wurde der Handel ein überaus wichtiger stabilisierender Faktor in unseren politischen Beziehungen. 1978 schlossen wir ein Abkommen über die Entwicklung und Vertiefung der langfristigen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und industriellem Gebiet, das eine Laufzeit von 25 Jahren vorsieht, womit unsere Wirtschaftsbeziehungen auf eine geordnete, langfristig geplante Grundlage gestellt wurden. Unsere Wirtschaftsverbindungen sind mannigfacher Art und für beide Seiten von Nutzen. Es sind mehr als 1500 westdeutsche Firmen daran beteiligt, und mehr als 500 000 Arbeitsplätze werden nach jüngsten Schätzungen der Bundesregierung dadurch gesichert. Das ist also ein wirklich hervorragendes Beispiel für gesunde Handelsbeziehungen. Ihre Wirtschaftsbeziehungen mit der Bundesrepublik sind möglicherweise ein Sonderfall, dessen Wurzeln in der Geschichte und der Tradition beider Lander liegen. Ist dieses Beispiel wirklich auf andere Länder übertragbar? Selbstverständlich. Unser Handel mit Frankreich z. B. stieg zwischen 1971 und 1979 um mehr als das Fünffache, der mit Japan um nahezu das Vierfache. Langfristige Abmachungen - ähnlich jenen mit der Bundesrepublik - regeln unseren Handel mit Frankreich und Finnland bis zum Jahre 1990. Unser Handel mit Italien nimmt ebenfalls rapide zu. Beispielsweise unterzeichneten wir mit einem Konsortium italienischer Firmen einen Vertrag zum Bau mehrerer Chemiewerke in der UdSSR, mit einem Gesamtvolumen von 800 Millionen Dollar. Es gibt auch enge Zusammenarbeit auf den Gebieten der Forschung und der Entwicklung technischer Projekte, vor allem im Bereich der Chemie und Elektronik, z.B. mit Westdeutschland und Italien. Und schlieBlich leisten auch wir beträchtliche technische Unterstützung beim Bau industrieller Projekte in westlichen Ländem. Um nur einige Beispiele zu nennen: In den vergangenen Jahren half die Sowjetunion beim Bau eines Atomkraftwerks in Finnland, der Errichtung eines Hüttenkomplexes in Frankreich sowie dem Bau von Wasserkraftwerken in Kanada und Norwegen. Wenden wir uns nun den sowjetischen Wirtschaftsproblemen zu. Der CIA veröffentlicht regelmäßig Berichte, wonach sich die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion verschlechtert, und das Außenministerium beeilt sich jeweils, dem hinzuzufügen, der Kreml zeige aufgrund dieser Verschlechterung neuerliches Interesse an der Entspannung. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 209 In den 63 Jahren unseres Bestehens haben wir so viele pessimistische Vorhersagen über unsere Zukunft ganz allgemein und unsere Wirtschaft im besonderen zu hören bekommen, daß ich mich frage, wie solche Vorhersagen immer noch auch nur die geringste Glaubwürdigkeit haben können. Ja, wir haben einige ökonomische Probleme. Aber gleichzeitig entwickelt sich unser Land stetig weiter. Unsere Wachstumsraten liegen auf einem Niveau, das man nach westlichem Standard mindestens als normal bezeichnen muß. Wir haben in unserer ganzen Geschichte nicht eine einzige wirtschaftliche Rezession erlebt. Im Verlauf der siebziger Jahre ist in der UdSSR das Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung um 50 Prozent angestiegen, und gleichzeitig konnten 40 Prozent der Bevölkerung neue und bessere Wohnungen beziehen. Das hört sich recht optimistisch an. Aber sind nicht die Wachstumsraten sowohl Ihres Bruttosozialprodukts wie auch Ihrer Industrieproduktion in den siebziger Jahren stark zurückgegangen? Sie sind etwas zurückgegangen. Dennoch waren sie in den siebziger Jahren fast zweimal so hoch wie in den USA. Wie steht es mit der Landwirtschaft? Sie wird im Westen oft als ein totales Fiasko dargestellt. Das ist einfach nicht wahr. Wir haben immer noch ernste Probleme im Bereich der Landwirtschaft. Jedoch handelt es sich hier um einen Zweig unserer Volkswirtschaft, der sich in einem besonders raschen und grundlegenden Entwicklungsprozeß befindet. Allein in den letzten fünf Jahren haben wir 172 Milliarden Rubel für Investitionen in der Landwirtschaft aufgewendet, das entspricht ungefähr 25 Prozent des gesamten Staatshaushalts. Die Erzeugung der wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte hat stetig zugenommen, wenn auch langsamer, als wir das gerne hätten. Erwarten Sie, daß diese Getreideexporte aus dem Brotkorb Amerikas, dem Mittleren Westen, unbegrenzt weitergehen? Diese Frage hat zwei Seiten. Eine betrifft die Unzuverlässigkeit der USA als Partner, die andere unsere Bedürfnisse und Pläne. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir umfassende landwirtschaftliche Programme in die Wege geleitet, durch die uns Getreide in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen wird. Das betrifft ohnehin nur Futtergetreide, da das Problem des Brotgetreides seit langem gelost ist. Geht man aber von normalen, zuverlässigen, politischen und wirtschaft- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 210 lichen Beziehungen mit den USA aus, so würde das nicht bedeuten, daß der Getreidehandel damit zu Ende geht. Mais und Sojabohnen werden unter den amerikanischen Witterungs- und Klimabedingungen immer besser gedeihen als unter unseren. Aufgrund der Transportkosten wäre es auch billiger, Getreide aus den westlichen Teilen der USA und Kanadas in die entfernten östlichen Gebieten der UdSSR einzuführen, anstatt es von unseren getreideproduzierenden Gebieten im europäischen Teil und in Kasachstan durch das ganze Land dorthin zu transportieren. So bestehen auch weiterhin gute Gründe für einen solchen Handel, obwohl ich sicher bin, daß es in dem Maße, in dem sich unsere Landwirtschaft weiterentwickelt, immer seltener zu massiven Einkäufen kommen wird. Ein weiterer schwacher Punkt der sowjetischen Wirtschaft, auf den man im Westen erst in allerjüngster Zeit aufmerksam wurde, ist die bevorstehende Energieknappheit. Sie wurde zum Gegenstand spezieller CIA-Berichte, deren Ergebnisse von Experten und von der breiten Öffentlichkeit lebhaft diskutiert werden. Was halten Sie davon? Nun, auf lange Sicht wird sich sogar Saudi-Arabien mit der Energieknappheit konfrontiert sehen. Das ist lediglich eine Frage der Zeit. Wenn man jedoch bei der Erörterung dieser Frage einen Vergleich mit anderen Ländern anstellt, dann befindet sich die Sowjetunion in einer ziemlich guten, verglichen mit den meisten Industrieländern sogar ausgezeichneten Lage. Unsere Ölreserven sind nach wie vor ganz erheblich, und unsere Pläne sehen für die achtziger Jahre einen Anstieg der Ölproduktion vor. Zusätzlich verfügen wir über ungeheuere Kohlevorkommen. Nach jüngsten Schätzungen unserer Energieexperten belaufen sich die gesicherten Kohlevorkommen der UdSSR auf 5710 Milliarden Tonnen und die vermuteten Erdgasvorkommen auf ungefähr 150 Billionen Kubikmeter. Rechnet man das Öl hinzu, so ergibt sich, daß diese Vorräte noch sehr lange ausreichen, selbst bei dem geschätzten Wachstum unseres Energieverbrauchs, der sich bis zum Jahr 2000 mehr als verdoppeln wird; dieses Bild wird noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, daß das Öl nur 35 Prozent unseres Energiebedarfs deckt, verglichen mit fast 50 Prozent in den Vereinigten Staaten. Samuel Huntington schrieb in dem Magazin Foreign Policy, daß die sowjetische Erdölproduktion ohne die jüngsten Technologieimporte um 10-15 Prozent niedriger wäre als heute. Diese Rechnung erscheint mir sehr zweifelhaft, und ich weiß nicht, wor- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 211 auf sie beruht. Tatsache ist, daß wir ungefähr 20 Prozent unseres Öls exportieren und daß diese Lieferungen recht wichtig sind - nicht nur für Osteuropa, sondern auch für Länder wie Italien, Westdeutschland und Frankreich. Selbst wenn Huntington recht hätte - was selten genug der Fall ist - wäre in dieser Steigerung eher ein Segen für Westeuropa zu erblicken, als ein Rettungsring für die sowjetische Wirtschaft. Und was ist schon generell schlecht am Handel mit den Vereinigten Staaten und den anderen Ländern, der uns hilft, die Ölförderung bis zu einem gewissem Grad zu steigern? Was ist denn wirklich falsch daran? Das hat nicht nur uns geholfen, sondern anderen genauso, einschließlich der Verbündeten der Amerikaner und, indirekt, nämlich durch ein erhöhtes Angebot auf den Ölmärkten, sogar den Amerikanern selbst. Ganz allgemein scheint die Haltung der Vereinigten Staaten in diesem Punkt sehr widersprüchlich zu sein. Einerseits ist in CIA-Berichten von unserer angeblichen Ölknappheit die Rede, verbunden mit massiven Warnungen, daß sich diese Situation zu einer Hauptquelle der internationalen Spannungen entwikkeln wird; wobei man davon ausgeht, daß sich die UdSSR durch ihre angebliche Ölknappheit genötigt sieht, um das Öl aus dem Nahen Osten zu konkurrieren, bzw. es einfach in Beschlag zu nehmen. Wenn sie solche Überlegungen anstellen, sollten die Amerikaner eigentlich an einem Ansteigen der sowjetischen Erdöl- und Erdgasförderung interessiert sein, dies umsomehr, als das dazu beitragen würde, die Nachfrage auf dem Ölmarkt zu beruhigen und die Ölpreise niedriger zu halten, ganz zu schweigen davon, daß die Chancen, sowjetisches Öl und Gas direkt zu importieren, steigen würden. Andererseits aber stellen die Amerikaner, sobald sie an unserer Außenoder Innenpolitik etwas mißbilligen, dem Verkauf spezieller Technologie neue Hindernisse in den Weg, wie etwa im Fall der Ausrüstungen für Erdölbohrungen. Ihr ehemaliger stellvertretender Ministerprasident und Vorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft und Technologie des Ministerrats der UdSSR, Wladimir Kirillin, hat mir versichert, daß nach seiner Meinung die Energieversorgung auf der Welt für weitere 100 bis 150 Jahre gesichert sei. Ohne Zweifel ist Kirillin ein Experte auf diesem Gebiet. Er hat dabei, glaube ich, in erster Linie von den Gesamtvorräten an Energieträgern gesprochen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 212 Fahren wir fort, Ihre wirtschaftlichen Probleme zu diskutieren. Der Bürokratismus scheint für die Sowjetunion ein Quell immerwahrender Sorgen zu sein. Einer der Gründe ist das unentwegte Anwachsen von organisatorischen Strukturen, das diese für bürokratische Tendenzen anfälliger werden läßt. Das scheint ein weitverbreitetes Problem sowohl hier wie auch im Westen zu sein. Ein weiterer Grund ist nach meiner Ansicht die bürokratische Tradition Rußlands, die Jahrhunderte zurückreicht. Lenin maß dem Kampf gegen diese Tradition große Bedeutung bei, dem Kampf gegen den bürokratischen Stil in der Regierung, der nicht nur der Effektivität der Regierungsarbeit schadete, sondern - was vielleicht noch wichtiger ist - auch den Unternehmungsgeist des Durchschnittsbürgers beeinträchtigte. Wird in der Sowjetunion offiziell zur Kenntnis genommen, daß der Bürokratismus ein Problem ist? Und ob. Das wird nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch als etwas gesehen, was nicht geduldet werden kann, etwas, das ausgemerzt werden kann und muß. Hierzu ein Zitat aus einer kürzlich gehaltenen Rede von Generalsekretär Breschnew: ‘Je schwerer es für den Bürokraten ist, in unserer Gesellschaft zu überleben, desto ausgefeilter werden seine Methoden, sich der Veränderung anzupassen und sich ein neues Äußeres zuzulegen. Aber das Wesen bleibt das gleiche - die Substanz der Arbeit wird ihrer äußeren Form geopfert, der Bürokrat vernachlässigt die Interessen des Staates, die Interessen der Gesellschaft und die Interessen des Volkes, um der Interessen seines Amtes willen...’ Was wird konkret zur Eindämmung eines einseitig bürokratischen Vorgehens gegen nahezu jegliche persönliche Initiative getan? Ja, es gibt bei uns Bürokratie, und sie neigt dazu, persönliche Initiative zu erschweren. Ihre Frage erweckt jedoch den falschen Eindruck, in unserem Land regiere die Bürokratie, während jegliche private Initiative unterdrückt wird. In Wirklichkeit sprechen wir aber in diesem Zusammenhang nicht vom System als solchem, sondern von Erscheinungen, die eine Verzerrung darstellen, selbst wenn diese nicht gerade selten vorkommen. Die Beamten in den Behörden werden für bürokratisches Verhalten bestraft: im Rang zurückgestuft oder aus der Partei ausgeschlossen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 213 Für welches bürokratische Verhaken im besonderen? Beispielsweise, wenn Beschwerden über wirtschaftliche Mißstande oder Gesuchen nicht genügend Beachtung geschenkt wird. Erst kürzlich wurden zwei Sekretäre eines Bezirksparteikomitees aus ihren Ämtern entfernt, ganz zu schweigen von Beamten in niedrigeren Positionen. Eine weitere wesentliche Tendenz ist es, die öffentliche Meinung dahingehend zu beeinflussen, daß sie bürokratisches Verhalten nicht toleriert. Man hört selten eine Rede von führenden Persönlichkeiten, in der dieses Problem nicht angesprochen würde. Gleichzeitig wird persönliche Initiative in jeder Weise ermutigt. 1979, beispielsweise, faßten das Zentralkomitee der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR einen speziellen Beschluß zu Fragen von Planung und Management, der Anspom für eine ganze Reihe spezifischer Maßnahmen war, welche die Entscheidungen in Industrie und Landwirtschaft betreffen, wodurch für umfangreiche Vorkehrungen gesorgt wurde, die landwirtschaftliche Produktion auf privatbewirtschaftetem Boden zu ermutigen. Marshall Goldman vom ‘Soviet Research Center’ in Harvard sagte mir, er finde, daß die Prognosen des CIA, in denen dieser wirtschaftliche Schwierigkeiten für die Sowjetunion heraufziehen sieht, allzu oft im Widerspruch zu den Tatsachen stünden. Es überrascht micht nicht, wenn die Leute immer wieder Beweise dafür finden, daß Berichte, die aus nachrichtendienstlichen Quellen stammen, einem ganz anderen Zweck dienen als dem, die Öffentlichkeit über die Realitäten zu informieren. Mir ist klar, daß es ein wichtiges Ziel solcher Berichte ist, den Amerikanern zu Zeiten, in denen ihre eigene Wirtschaft in tiefen Schwierigkeiten steckt, Mut zuzusprechen. Es ist eines der Rätsel der menschlichen Psyche, daß es irgendwie immer leichter ist, die eigene Last zu tragen, wenn man meint, daß es dem Nachbarn noch schlechter geht. Solche Berichte sind auch dazu da, ein düsteres Bild von der Sowjetunion und ihrer Zukunft zu malen. Tatsächlich ist es so, daß die politisch bedingte Fehlerhaftigkeit dieser pessimistischen Vorhersagen über unsere Wirtschaft oft sogar von offiziellen Stellen der USA anerkannt wird. Erinnern Sie sich an den CIA-Bericht von 1977 über die Energiesituation in der UdSSR? Sie meinen die Vorhersage, daß Sie in den achtziger Jahren mehr Erdöl importieren müssen, als Sie exportieren werden? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 214 Ja. Der US-Kongreß entschloß sich, die Aussagen des CIA zu überprüfen - im Kapitol war man zu jener Zeit noch in einer Stimmung, in der man Nachprüfungen anstellte -, und die Experten fanden heraus, daß die CIA-Prognose nicht nur falsch war, sondern eindeutig politisch motiviert, um die Situation zu dramatisieren, in der Absicht, für Präsident Carters Energieprogramm Unterstützung zu mobilisieren. Oftmals wurden die Kampagnen, die die ‘wirtschaftliche Schwäche’ der UdSSR zum Gegenstand hatten, auch noch aus anderen Überlegungen heraus betrieben man wollte beweisen, daß unser Zusammenbruch kurz bevorstehe, um damit jene Politik rational zu begründen, die es darauf anlegte, durch fortgesetzte Ausübung von Druck ein solches Ergebnis schneller herbeizuführen. Auch sollte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, es sei sinnlos, überhaupt an eine Koexistenz mit der Sowjetunion auf demselben Globus zu denken, da es diese ohnehin bald nicht mehr geben würde. Mehr als einmal wurde der Westen, indem er sich selbst etwas vorgaukelte, ein Opfer seiner eigenen Propaganda. Geschieht das Ihrer Ansicht nach auch jetzt wieder? Oh ja. Wir verleugnen nicht, daß wir Probleme haben - und welches Land hat wohl schon keine -, aber, um zu einem realistischen Bild der sowjetischen Wirtschaft zu gelangen, sollte man nicht nur die Probleme und Schwierigkeiten sehen. Wir können, wenn wir Bilanz ziehen, einige recht eindrucksvolle Erfolge anführen. Da ist einmal die in der Geschichte beispiellose Umwandlung des rückständigen, armen und vorwiegend agrarischen Rußlands in die zweitgrößte Industriemacht der Erde innerhalb von nur einem Menschenalter. In diesem Zeitraum wurde unsere Wirtschaft zweimal zerstört - zuerst durch den Bürgerkrieg und dann durch den Zweiten Weltkrieg - aber beide Male hat das sowjetische Volk sie auf den Ruinen neu aufgebaut. Das stellt fürwahr selbst märchenhafte Heldentaten in den Schatten. Hat es nicht auch enorme Verbesserungen für die ethnischen Minderheiten gegeben, deren Lebensstandard, Lebenserwartung und Bildungsstand auf das Niveau des übrigen Landes angehoben wurde? Sind die Neuerungen im Wohnungswesen, die wahrhaftig einer Revolution gleichkommen, oder die gigantischen Öl- und Gasprojekte in Westsibirien etwa nichts? Wir waren die ersten, die eine nationale Wirtschaftsplanung und eine umfassende Sozialpolitik einführten. Es ist zu einem nicht unerheblichen Teil der Wirkung des sowjetischen Beispiels zuzuschreiben, daß für die arbeitende Bevölkerung im Westen heutzutage der Achtstundentag gilt, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 215 daß es die Sozialversicherung, die Arbeitslosenunterstützung, den bezahlten Urlaub und die gesetzliche Verankerung der Gewerkschaften und ihrer Rechte gibt - Dinge, die noch vor einem halben Jahrhundert, wenn nicht gar in noch jüngerer Zeit, in einem Atemzug genannt wurden mit subversiven Tätigkeiten. Ich erinnere mich an die Worte Theodore Dreisers, nachdem das ‘Social Security Bill’ 1935 als US-Gesetz in Kraft trat: ‘Dafür danke ich Karl Marx und dem Roten Rußland’. Und selbst ein so unvoreingenommener, nichtmarxistischer Beobachter wie Arnold Toynbee räumt ein, daß die UdSSR eine wichtige Rolle daßei spielte, sahen sich doch die westlichen Länder dadurch die Existenz der Sowjetunion dazu gezwungen, ‘Dinge zu tun, die sie eigentlich immer schon tun hätten sollen...’2 Sie mögen den Ansporn dafür geliefert haben, daß es im Westen zu größeren Fortschritten gekommen ist, als es sie ohne die UdSSR gegeben hätte, aber dennoch liegen Sie in vieler Hinsicht hinter dem Westen zurück. Nun, manche Waren sind noch knapp, und die Auswahl in den Geschäften ist begrenzter als im Westen. Der Dienstleistungsbereich läßt viel zu wünschen übrig, und der allgemeine Lebensstandard ist bis jetzt noch niedriger als in einigen anderen Ländern. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Ihre Aufrichtigkeit ehrt Sie. Könnten Sie mehr dazu sagen? Ich schäme mich nicht, diese Mangel einzugestehen, weil sie vor allem durch unsere schwierige geschichtliche Vergangenheit zu erklären sind, lebte doch unser Volk die meiste Zeit unter unglaublich harten Bedingungen und mußte sich deshalb auf das Allernotwendigste beschränken. Eine Folge war, daß wir uns nicht nur mit dem Problem einer unzureichend entwickelten Konsumgüterindustrie konfrontiert sahen, bzw. anderen Konsequenzen, die sich aus dem chronischen Investitionsmangel im Bereich der Landwirtschaft, des Wohnungsbau, des Einzelhandels und der Dienstleistungsbetriebe ergaben, sondern auch mit einer besonderen Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber diesen Bereichen, denen sie nachgeordnete Bedeutung beimaß. Erst jetzt können wir damit anfangen, diese Tradition zu überwinden, und es hat sich, nebenbei gesagt, erwiesen, daß das keine leichte Aufgabe ist. Aber die Dienstleistungen sind immer noch ziemlich schlecht. Was sollte man anderes erwarten? Tatsächlich kamen wir erst in den Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 216 letzten 10,20 Jahren allmählich in den Genuß eines gewissen Luxus, und zwar zum ersten Mal im Verlauf unserer Geschichte. An welche Art Luxus denken Sie? Zum Teil handelt es sich um recht elementare Dinge. Aber lassen Sie mich, bevor ich ins Detail gehe, folgendes betonen: Immer, wenn man den Lebensstandard in der Sowjetunion und in westlichen Ländern vergleicht, sollte man nicht vergessen, daß die Menschen in der Sowjetunion seit Jahrzehnten in den Genuß vider Dinge kommen, die für den Durchschnittsbürger des Westens noch immer schwer zu erlangen sind. Ich meine damit ein kostenloses Bildungswesen, Gesundheitsfürsorge, Beschäftigungsgarantie usw. Bei uns ist man an diese Dinge so gewöhnt, daß man sie oft vergißt - und gar mancher, der die UdSSR verläßt und in den Westen auswandert, erlebt das Fehlen alldessen als einen schweren Schock. Andererseits ist es erst seit ziemlich kurzer Zeit so, daß eine abgeschlossene Wohnung für die einzelne Familie kein unerhörter Luxus mehr ist. Ich will dafür das Beispiel anführen, mit dem ich am besten vertraut bin - meinem eigenen Fall. Ich erhielt 1958 zum ersten Mal eine Zweizimmerwohnung, also zu einer Zeit, als ich bereits ein anerkannter Journalist war. Vorher wohnte ich mit meiner Frau, meinem kleinen Sohn und meiner Schwiegermutter in einem Zimmer, das knapp 16 Quadratmeter maß. In den übrigen neun Zimmern dieser Wohnung lebten mehr als 30 Menschen, mit denen wir die Küche und die sanitären Einrichtungen teilten. Ich kann nicht behaupten, daß das sehr komfortabel war. Aber ich versichere Ihnen, daß wir darin weder eine Entbehrung sahen, noch unglücklich darüber waren, lebten doch alle um uns herum unter denselben Umständen. Man sollte sich darüber im klaren sein, daß fast alle, die meiner Generation angehören, noch aus eigener Erfahrung wissen, was Hunger bedeutet - nicht nur Eiweiß- oder Vitaminmangel, sondern tatsächlicher Hunger. Und solche Mühsal, die tatsächlich von nahezu alien Menschen geteilt wurde, führte zu ganz bestimmten Verhaltensweisen. Ich erinnere mich an die asketische Einstellung, die zur Zeit meiner Kindheit vorherrschte: Zu bestimmten Zeiten ware es allgemein als unschicklich empfunden worden, einen goldenen Ehering oder eine Krawatte zu tragen, selbst wenn man sie gehabt hätte. Wahrend der Besetzung Hollands durch die Nazis haben wir auch einmal Tulpenzwiebeln gegessen. Welche Gefühle rufen solche Erinnerungen bei Ihnen wach? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 217 Ich erinnere mich an all das mit Schmerzen, manchmal mit einem Làcheln, aber auch mit Stolz. Ja, mit Stolz, weil wir dies ailes mit Würde zu tragen wußten und auch einen unerhört schwierigen Geschichtsabschnitt mit Würde durchgestanden haben. Die Zeiten haben sich geändert, und heute ist es zum bevorzugten Zeitvertreib der alten Leute geworden, über die Jüngeren zu klagen, die sich der Vergangenheit nicht erinnern oder das, was sie haben, nicht genügend zu schatzen wissen. Das gleiche gilt aber wahrscheinlich für die Alten überall auf der Welt. Die Menschen bei uns stellen heute höhere Ansprüche, was die Annehmlichkeiten des Lebens anbelangt, und das ist meiner Meinung nach auch nur natürlich und angemessen. Das spricht deutlich für sich - ist ein Zeichen für die Veränderungen zum Besseren, und zugleich bedeutet es, daß wir die Ziele, die wir uns gesteckt haben, erreichen werden. Wenn jedoch unsere Schattenseiten ständig von Fremden angeprangert werden, die nichts von den harten Prüfungen wissen, durch die wir zu gehen hatten, nichts von den Anstrengungen, die unser Leben bestimmten, so kommt mir das unfair vor. Glauben Sie nicht, dafi einige Ihrer Probleme nicht Resultat einer schmerzlichen Geschichte sind, sondern eher mit der sozialistischen Or- ganisationsweise der Produktion zu tun haben? Nein. Gleichzeitig aber muß man sich vor Augen halten, daß es tiefgehende Unterschiede in den Wertvorstellungen geben kann. Jedes Land muß seine Wahl treffen und sollte - hat es sich einmal entschieden - nicht über die Konsequenzen klagen. Zu der Wahl, die wir getroffen haben, gehört z. B. ein möglichst umfassendes System der sozialen Sicherheit, was eine Garantie der Vollbeschäftigung einschließt, sowie Rechte für die Arbeitnehmer, die so weit gehen, daß es nahezu unmöglich ist, jemand zu entlassen. Natürlich laßt sich nicht vermeiden, daß sich daraus Auswirkungen auf die Intensitßt der Arbeit und somit auch auf die Produktivität ergeben. Keines unserer Unternehmen kann praktisch Bankrott machen, was sich wahrscheinlich auch in der Arbeit des Managements widerspiegelt. Ich möchte aber nicht alles darauf zurückführen. Auch bemühen wir uns nach Kräften, an diesen Vorzügen festzuhalten und gleichzeitig die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und bessere ideelle und materielle Anreize zu schaffen. Aber dennoch haben die Dinge, die ich erwähnte, Auswirkungen. Niemand muß bei uns ums Überleben, um die nackte Existenz kßmpfen. Ist das gut oder ist es schlecht? Ich bin sicher, die überwiegende Mehrheit in der UdSSR denkt, daß es gut ist. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 218 Ist das nicht ein zu hoher Preis für die soziale Sicherheit? Wir glauben, daß der Preis angemessen ist. Wir haben diese Wahl getroffen und wir sind bereit, dafür zu zahlen. Andere haben das Recht, ihre eigene Meinung zu vertreten, und wir werden nicht versuchen, sie zu zwingen, diese Meinung zu ändern. Und ich möchte betonen, daß unser Ideal nicht ein asketisches Leben ist. Wir sind keineswegs für ein langweiliges, eintöniges Leben. Andererseits lehnen wir den Konsum um des Konsums willen ab, weil wir glauben, daß dadurch menschliche Wertordnungen entstellt werden und das menschliche Leben sinnentleert wird. Solche Haltungen müssen in Ihrem Land wohl ideologisch verwurzelt sein. Das ist richtig. Die kommunistische Ideologie betont besonders die Rolle des Kollektivismus, d.h., es kann und sollte eine Harmonie bestellen zwischen individuellen und kollektiven Interessen, sind doch letztere ein genauso natürlicher und unerläßlicher Bestandteil der individuellen Freiheit und Entfaltung wie die unmittelbaren Interessen des einzelnen. Das steht in starkem Kontrast zu dem extremen Individualismus, der für viele Amerikaner typisch ist. Die Amerikaner glauben, er helfe ihnen, ihre Freiheit zu bewahren. Nun, das ist eine vielschichtige philosophische Frage, die uns von unserem Thema zu weit wegführen würde. Ich möchte mich auf eine Bemerkung beschränken, ohne dabei auf die grundlegende Definition von Freiheit einzugehen: Der Individualismus war eine machtige Antriebskraft in der amerikanischen Geschichte, jedoch verschlechtert sich die Bilanz immer mehr. Die Amerikaner zahlen jetzt für ihren extremen Individualismus den Preis in Form der weitverbreiteten Entfremdung, der gesellschaftlichen Vereinzelung, der wachsenden Anarchie im Bereich der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung und in Form einer Eskalation gesellschaftsschädigenden Verhaltens wie Verbrechen, Drogenmißbrauch, Gewalttätigkeit, usw. Aus dem Vergleich der beiden Gesellschaftssysteme würden Sie also den Schluß ziehen, daß eine umfassende Kosten-Nutzen-Abwägung für den Sozialismus spricht. Richtig. Auch glauben wir, daß es ohne eine vernunftgemäße Organisie- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 219 rung der Gesellschaft keine wirkliche individuelle Freiheit geben kann. Das höchste Ideal des Kommunismus ist die freie und allseitige Entwicklung der Persönlichkeit eines jeden Individuums. Dieses Ziel kann nur in einer Gesellschaft erreicht werden, die eher auf das Gemeinwohl bedacht ist, als daß sie der privaten Habsucht dienlich ist. Aber hat nicht der Kapitalismus großartige Ergebnisse aufzuweisen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet? Sicherlich ist das der Fall. Gleichzeitig müssen wir, wenn wir die gesamte Leistungsfähigkeit der beiden Systeme einschätzen, viele Faktoren mitberücksichtigen: die Leistungen, die in der Vergangenheit erbracht wurden, die Geschwindigkeit, mit der die Entwicklung heute auf beiden Seiten fortschreitet, die Fähigkeit, in einer Zwangslage Leistungen zu erbringen; außerdem müssen wir aber auch beide Systeme daraufhin untersuchen, inwieweit sie zur Lösung der komplizierten Probleme der Gegenwart und der Zukunft imstande sind. Der Kapitalismus hat seine Fähigkeiten bewiesen, viele Dinge schnell und zu günstigen Bedingungen zu produzieren und die Märkte ausreichend mit Konsumgütern zu versorgen (obwohl ich sicher bin, daß ein System auf der Basis der zentralen Planung und der vergesellschafteten Produktionsmittel es mit dem Kapitalismus in dieser Hinsicht aufnehmen kann und aufnehmen muß). Aber gesellschaftliche Bedürfnisse beschränken sich nicht auf Autos, Strumpfhosen oder Kaugummi. Eine moderne Gesellschaft richtet in zunehmendem Maß ihr Augenmerk auf die Bildung, die medizinische Versorgung, den Umweltschutz, den haushälterischen Umgang mit der Energie und anderen natürlichen Ressourcen, die öffentlichen Transportmittel, die Lebensgestaltung in den Großstädten, usw. Hier gerät der traditionelle Kapitahsmus ins Straucheln, wogegen unser System, trotz aller Probleme, bessere Ergebnisse erzielt und leistungsfähiger ist. Und diese sozialen Bedürfnisse gewinnen heutzutage mehr und mehr an Bedeutung. Es ist kein Zufall, daß man auch im Westen den Problemen der Planung in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit widmet. Sogar im amerikanischen Kongreß wurden mehrere Gesetzesvorlagen eingebracht, die sich mit dieser Materie befassen. Albert Einstein hat schon 1949 sehr treffend gesagt: ‘Die wirtschaftliche Anarchie der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer heutigen Form ist meiner Meinung nach die wirkliche Quelle des Übels... ‘Er führte das auf die Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht in den Händen einiger weniger zurück, sowie auf den Verfall der demokratischen Prozesse, der zu einer ‘Verkrüppelung des sozialen und moralischen Gewissens des Individu- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 220 ums’ führt. ‘Ich bin überzeugt’ - so die Schlußfolgerang Einsteins - ‘daß es nur einen Weg gibt, um diese ernsten Übel auszumerzen, nämlich die Einführung einer sozialistischen Wirtschaftsform, begleitet von einem Bildungssystem, das sich an sozialistischen Zielen zu orientieren hätte.’ Dennoch herrscht im Westen die Ansicht vor, daß der Sozialismus in der Praxis weniger leistungsfähig ist als der Kapitalismus, wenn es gilt, den Lebensstandard anzuheben. Angeblich liegt die sowjetische Wirtschaft in dieser Hinsicht deshalb noch weit hinter den USA zurück. Wie ich schon erwähnte, ist nicht zu leugnen, daß Länder wie Schweden, Westdeutschland oder die Vereinigten Staaten einen höheren Lebensstandard haben. Doch der Abstand zwischen dem Lebensstandard der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder und dem der UdSSR verringert sich stetig. Ich glaube, er wird sich in Zukunft sogar noch rascher verringern. Worauf stützen Sie Ihre Zuversicht? Ein Grand - und ich sage das ohne alle Schadenfreude - ist der, daß alle Anzeichen, einschließlich der Wirtschaftsprognosen, darauf hindeuten, daß der amerikanischen Wirtschaft harte Zeiten bevorstehen. Tatsächlich haben sie ja auch schon begonnen. Sie meinen die Inflation? Ja, sowohl sie wie auch weitere Schwierigkeiten wie Arbeitslosigkeit, Problème der Energieversorgung, die Schwache des Dollars und ein stark verlangsamtes Wirtschaftswachstum. Ich kann auch solche, für die amerikanische Wirtschaft relativ neue Phänomene anführen wie die praktisch bereits eingetretene Stagnation beim Produktivitätszuwachs, die Verlangsamung des technischen Fortschritts und andere Merkmale einer zunehmenden wirtschaftlichen Ineffizienz. Die Statistiken zeigen, daß nach einer Periode der Stagnation ein Rückgang des amerikanischen Lebensstandards eingesetzt hat. So glauben Sie also, daß Amerika magere Jahre bevorstehen? Das ist nicht nur meine Meinung. Forderten nicht Präsident Carter, der Präsident des Zentralbankrats, Paul Volcker, und andere hohe Regierangsstellen die Amerikaner mit schöner Regelmäßigkeit dazu auf, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 221 den Gürtel enger zu schnallen? Wirtschaftswissenschaftler stimmen in ihren skeptischen Prognosen für die achtziger Jahre einhellig üßerein. Allein schon die Höhe des gegenwärtigen Leßensstandards ßeizußehalten, wird für die USA und andere westliche Länder zu einer sehr schweren Aufgaße werden. Die Amerikaner werden lernen müssen, nicht üßer ihre Verhältnisse zu leßen, sowohl die Nation wie auch der einzelne. Was meinen Sie mit ‘nicht über ihre Verhältnisse leben’? Ich meine damit, daß es Dinge gißt, die sich Amerika nicht mehr leisten kann, ohne sich daßei selßst zu gefährden. Es kann sich kein unßegrenztes Wettrüsten leisten, ohne seine Wirtschaft dadurch weiter zu schwächen. Es kann nicht die Situation wiederherstellen, die vor 1973 im ßereich der Ölversorgung herrschte, ßetrachten es doch die ölproduzierenden Länder als ihr souveränes Recht, selßst die Kontrolle üßer ihre Ressourcen auszuüßen. Es kann nicht darauf verzichten, drastische und kostspielige Maßnahmen zu ergreifen, um das ökologische Gleichgewicht wiederherzustellen und zu bewahren. Und es kann sich nicht leisten, weiterhin die Ressourcen in einer Weise zu vergeuden, als wären diese unerschöpflich. Nehmen Sie die sogenannte Energieknappheit. Die Vereinigten Staaten verhalten sich, als waren sie eher bereit, ihre Söhne in den Tod in den Wüsten des Nahen Ostens zu schicken und dabei die Welt an den Rand eines Atomkriegs zu treiben, denn ihre verschwenderischen Gewohnheiten beim Energieverbrauch zu ändern. Sie haben von den Belastungen gesprochen, denen sich die amerikanische Wirtschaft ansgesetzt sieht. Bleibt die Wirtschaft der Sowjetunion von solchen Belastungen verschont? Nun, ich wollte nicht als Prophet auftreten, der Amerika den Untergang weissagt und auch nicht als ein überschwenglicher Optimist erscheinen, wenn ich von uns spreche. Wir haben ebenfalls Probleme, und zwar in Zusammenhang mit ökologischen Fragen, mit Rohstoffen und Arbeitskräftemangel. Aber diese Problème sind meiner Meinung nach in den Griff zu bekommen. Und wenn wir daran gehen, diese Problème zu lösen, dann schwebt uns dabei nicht die amerikanische Verschwendungssucht als die Verkörperung des guten Lebens vor. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 222 Es bleibt die Frage, ob es wirtschaftliche Interessen sind, die die Sowjetunion dazu veranlaßt, dauernd auf Entspannung zu drängen. Wie ich schon gesagt habe, ist das vorrangige Motiv bei unseren Bemühungen, die Spannungen zu entschärfen, das Bestreben, einen Krieg zu verhindern und unser Überleben als Nation wie ganz allgemein das Überleben der Menschheit zu gewährleisten. Aber die wirtschaftlichen Erwägungen haben ebenfalls großes Gewicht. Auch sehe ich darin nichts Schändliches. Wenn die Wirtschaft aus der Entspannung Nutzen zieht und Entspannung verlangt, so handelt es sich um eine gesunde Wirtschaft und eine gesunde Gesellschaft, die sich vor anderen weder fürchtet, noch eine Gefahr für andere bedeutet. Welches sind unsere wirtschaftlichen Motive? Zum einen sind wir daran interessiert,unsere Militärausgaben zu senken. Unser ganzes Streben gilt der Schaffung internationaler Verhältnisse, die uns erlauben würden, weniger für Kanonen und stattdessen mehr für Butter auszugeben. Ein weiteres wirtschaftliches Motiv ist darin zu sehen, daß wir nichts von Autarkie halten. Die internationale Arbeitsteilung ist eine, wirtschaftlich gesehen, gesunde Erscheinung, und wir erwarten, daß wir aus einer Ausweitung des Handels und einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Ländern Nutzen ziehen, und zwar in gleicher Weise wie unsere Partner. Bei der Erörterung der amerikanisch-sowjetischen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen haben Sie den Eindruck erweckt, daß alle Hindernisse von den Amerikanern verursacht wurden. Ist die UdSSR in dieser Hinsicht ohne Fehl und Tadel? Handel und wirtschaftliche Verbindungen erfordern gegenseitige Anpassung, die Entwicklung angemessener institutioneller Einrichtungen für diese Beziehungen sowie die Suche nach neuen und effizienteren Formen des Wirkens, etc.; dazu müssen wir unseren Teil beitragen. Es kommt immer noch vor, daß unsere Behôrden untereinander zu wenig Kontakte pflegen, vor allem bei großen Projekten, wenn es entweder zu einer Überschneidung oder Aufteilung der Verantwortung kommt. Die Vorgänge in Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung im Außenhandel sind oftmals zu starr und kompliziert, was unseren Verhandlungsspielraum einengt und Verhandlungen verzögert. Auch kennen wir möglicherweise den amerikanischen Markt nicht gut genug. Wir unternehmen große Anstrengungen, diesbezüglich für Verbesserungen zu sorgen, und es bleibt auch weiterhin noch viel zu tun. Aber dazu ist auch Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 223 ein gewisser Anreiz erforderlich, also die Aussicht auf greifbare Ergebnisse. Bestehen denn tatsächlich die Voraussetzungen für solche Ergebnisse? Gewiß. Als erstes wäre zu sagen, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion natürliche Handelspartner sind. Die Größe dieser beiden Volkswirtschaften, die immense Aufnahmefähigkeit ihrer Binnenmärkte, die mannigfaltigen Strukturen ihres Außenhandels - all diese Faktoren bilden eine solide Grundlage für Handelsbeziehungen auf der Basis gegenseitigen Nutzens. Zweitens: Unsere Länder verfügen über die zwei größten technisch-wissenschaftlichen Potentiale auf der Welt. Angesichts der rasant anwachsenden Kosten und der zunehmenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Forschung liegt ein weiterer gewichtiger Beweggrund für die technologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit vor. Ein spezieller Bereich, in dem eine solche Zusammenarbeit sowohl am dringendsten geboten ist, wie auch am einträglichsten zu werden verspricht, ist die Entwicklung alternativer Energiequellen. Wir verfolgen einige sehr vielversprechende Ansätze bei der Kohlevergasung, bei magnetohydrodynamischen Generatoren, im Bereich der thermonuklearen Energie und im Zusammenhang mit weiteren Neuerungen. Die Amerikaner arbeiten ihrerseits an eigenen Projekten. Doch die steigenden Kosten und die Kompliziertheit solcher Vorhaben sowie die entscheidende bedeutung, die sie für die ganze Menschheit haben, gebieten mit allem Nachdruck gemeinsame Anstrengungen in diesem Bereich. Gibt es noch weitere Beispiele? Solche bereiche gibt es viele: die Erforschung des Weltraums und der Ozeane, die friedliche Nutzung der Atomenergie, die Landwirtschaft, die Medizin, usw. Eine solche Zusammenarbeit würde nicht nur in beiden Ländern eine beträchtliche Einsparung von Staatsgeldem zur Folge haben, sondern auch dabei helfen, viele drängende und komplizierte technische Probleme zu lösen, mit denen sich die gesamte Welt konfrontiert sieht. Schließlich ist auch die Tatsache nicht unerheblich, daß wir und die Vereinigten Staaten ähnliche Merkmale aufweisen, etwa die Größe unserer Länder, die geophysikalische Beschaffenheit einiger Regionen sowie Aufgaben, die an beide gleichermaßen gestellt werden, z. B. in der Landwirtschaft, beim Umweltschutz, im Energiebereich, beim Verkehrs- und Transportwesen und anderem mehr. Diese Ähnlichkeiten Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 224 führen zu zusätzlichen übereinstimmenden Interessen, zu neuen und einmaligen Möglichkeiten der Zusammenarbeit, wie wir sie ansonsten in unseren Beziehungen zu anderen Ländern nicht kennen. So kann man also sagen, daß das Potential vorhanden ist und die Hindernisse vorwiegend politischer Natur sind. Genau, und das Haupthindernis bleibt diese längst überholte Haltung der Amerikaner, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen als politische Waffe einzusetzen, was nun fürwahr ein Überbleibsel der Mentalität des Kalten Krieges darstellt. Diese Denkungsweise läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn man seine langfristigen Ziele hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der militarischen Konfrontation sieht. Wenn man die Zukunft dagegen unter dem Aspekt der friedlichen Koexistenz zwischen den USA und der UdSSR betrachtet, dann kann man nicht von der bankrotten Voraussetzung ausgehen, der anderen Seite das höchstmögliche Maß an Schaden zuzufügen. Worüber sprechen wir dann eigentlich hier? Obwohl so viel Aufhebens gemacht wird um die Frage, ob man bestimmte technische Neuigkeiten an die UdSSR verkaufen sollte oder nicht, steht doch eigentlich zur Debatte, welcher Art die Welt sein soil, die wir für kommende Generationen schaffen. Natürlich, es sollte tatsächlich darüber debattiert werden, wie nach den Vorstellungen der Sowjetunion und der Vereinigten Saaten die künftige Welt aussehen sollte. Es wäre einfach tragisch, wenn wir bei unserem Bestreben, zu überleben und zu Wohlstand zu gelangen, einen gangbaren Weg darin sehen würden, der anderen Seite so viel Schaden wie möglich zuzufügen oder gar darin, unseren Konkurrenten gänzlich niederzuringen. Tragisch deshalb, weil in der Welt von heute kein Land in der Lage wäre, anderen zu schaden, ohne sich selbst gleichermaßen Schaden zuzufügen. Eindnoten: 1 The New York Times, 13. Januar 1980 2 The Impact of the Russian Revolution. The Influence of Bolshevism on the World Outside Russia, Hrsg.: A. Toynbee, London, 1967, S. 31 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 225 V) Zum Thema Ideologie, Menschenrechte und Dissidenten Welche Rolle spielt die Ideologie in den Beziehungen zwischen Moskau und der westlichen Welt im allgemeinen und den Vereinigten Staaten im besonderen? Ideologische Differenzen zwischen Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen sollten unser Ansicht nach kein Hindemngsgrund sein, normale politische Beziehungen zu unterhalten. Während die kommunistischen Parteien die Entspannung und die internationale Zusammenarbeit nach Kräften unterstützen, halten sie gleichzeitig die ideologischen Differenzen für bedeutend und den Kampf der Ideen für unvermeidlich. Wie lassen sich diese beiden Konzepte miteinander vereinbaren? Die Quintessenz des leninistischen Konzepts der friedlichen Koexistenz besteht darin, daß es die gleichzeitige und friedliche Existenz von Staaten mit entgegengesetzten Gesellschaftssystemen vorsieht. Diese Systeme unterscheiden sich in ihren ökonomischen Strukturen, in der Art ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, in ihren Werten und Idealen. In der Welt von heute kann der Einfluß der Ideologien nicht nur auf jene Länder beschränkt werden, in denen sie jeweils vorherrschen. Die Ideologien prallen unentwegt aufeinander, sowohl auf globaler Ebene, wie auch innerhalb vieler einzelner Staaten. Diese unumstößliche Tatsache wurde nicht von uns erfunden und kann auch nicht einfach ignoriert werden. Vergiftet das nicht die Beziehungen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern und macht Konflikte zwischen ihnen unumgänglich? Differenzen tragen nie dazu bei, Harmonie zu schaffen. Aber genauso wenig machen sie Konflikte zwischen den Ländern unumgànglich. Beschränken sich ideologische Auseinandersetzungen jedoch auf die Welt der Ideen, und bedeuten sie, daß jedes Land seine eigenen Werte bejaht, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 226 die Vorzüge seines eigenen Lebensstils betont und offen das kritisiert, was es am anderen System für falsch hält - warum sollte das dann zu politischen oder militärischen Konflikten führen? Den Amerikanern, die so stolz auf ihre pluralistische Tradition sind, müßte das eigentlich vollkommen klar sein. Wird aber aus dem ideologischen Kampf erst einmal ein Kreuzzug oder eine Hexenjagd, so fßhrt dies unmittelbar zu einem Potential, das Konflikte entstehen läßt und sie verschärft. Die Geschichte bietet uns viele Beispiele dieser Art. Noch zahlreicher sind die Fälle, in denen Ideologie und Ideen ganz allgemein nur der Tarnmantel für Unternehmungen waren, denen andere Motive, wie z. B. Unersàttlichkeit, Machtbesessenheit usw. zugrunde lagen. Als Beispiel dafür könnte man das messianische Gebaren der spanischen Konquistadoren nennen. Ideologie und Propaganda können auch als Instrumente einer bestimmten Politik eingesetzt werden, insbesondere einer Politik, die auf Subversion und Destabilisierung in anderen Gesellschaften abzielt. Das trifft sowohl für Friedens- wie auch für Kriegszeiten zu. Der Kalte Krieg mit seiner besonderen Art des ideologischen Kampfes, die man kurz und bündig ‘psychologische Kriegführung’ nannte, war dafür ein gutes Beispiel. Solche Propaganda ist nach unserer Ansicht unvereinbar mit Entspannung und friedlicher Koexistenz. Sie kann den Beziehungen zwischen den Ländern nur schaden. Dieses Verhalten ist auch gefährlich. Ganz offensichtlich. Und zwar ist das nicht nur meine Meinung. Das Völkerrecht schränkt gewisse Arten der Propaganda ein bzw. ächtet sie - ich kann dazu eine ganze Reihe internationaler Abkommen nennen. Eines davon, der Briefwechsel zwischen Roosevelt und Litwinow, der als formale Grundlage für die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren Ländern diente, wurde schon erwähnt. Ideologie spielt also eine ziemlich wichtige Rolle in den internationalen Beziehungen. Das ist zweifellos der Fall. Aber wir sollten in dieser Hinsicht sehr sorgfältig unterscheiden. Manchmal wird der Begriff des ideologischen Kampfes so weit gefaßt, daß er auch die verschiedenen Haltungen gegenüber Revolutionen und anderen Formen des sozialen Wandels in vielen Ländern der Welt miteinbezieht. Obwohl zwischen Ideologie und diesen Haltungen ein Zusammenhang besteht, sind letztere doch in erster Linie Ausdruck einer weiteren, sehr fundamentalen Tatsache, näm- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 227 lich der radikalen, gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den beiden Systemen. Und hier sehen wir uns unweigerlich mit sehr komplexen Problemen konfrontiert mit politischen Widersprüchen und sogar mit Konflikten im Zusammenhang mit zahlreichen Ereignissen in verschiedenen Ländern, sei es in Äthiopien, Chile oder Afghanistan Die Entspannung ist keine Garantie für den Status quo. Gesellschafthcher und politischer Wandel ist nicht zu vermeiden. Wir sollten lernen, mit ihm zu leben, um nicht den Frieden und die Entspannung zu gefährden. Sollte es nicht im Hinblick auf einen solchen Wandel Verhaltensregeln geben, und zwar vor allem für die Großmächte? Gewisse Prinzipien und Regeln bestehen bereits. Das Prinzip der friedlichen Koexistenz, das bereits erwähnt wurde, schließt schon als solches jegliches Bestreben aus, entweder eine Revolution oder gegebenenfalls eine Konterrevolution zu exportieren. Ist es denn nicht Wunschdenken, wenn man versucht, den Rahmen für eine Zusammenarbeit zwischen Staaten auszuweiten, deren Wertordnungen und Vorstellungen in bezug auf Gesellschaft, Politik und Menschenrechte sich weitgehend unterscheiden? Nein, ich halte das für eine sehr realistische Ansicht. Sicher gibt es Differenzen. Aber wir haben auch wichtige gemeinsame Interessen, wobei das Überleben an allererster Stelle steht. Wir müssen in Frieden miteinander auskommen, und unsere Differenzen dürfen nicht dazu führen, daß das Überleben unserer beiden Nationen und der Menschheit insgesamt aufs Spiel gesetzt wird. Sie haben schon gesagt, daß wir verschiedene Auffassungen bezüglich der Menschenrechte haben. Aber haben nicht beide Gesellschaften eine gemeinsame Ausgangsbasis in Form eines so gmndlegenden Menschenrechts, wie dem Recht zu leben, dem Recht zu überleben? Wenn dieses Recht nicht garantiert wird, dann verlieren schließlich die anderen Rechte ihren Sinn. Ist es angesichts der unterschiedlichen Auffassungen von den Menschenrechten überhaupt möglich, eine Annaherung von Ost und West in dieser Frage zu erreichen? Warum nicht. Ich glaube, die Kluft wurde durch jene im Westen künstlich verstàrkt, die Mißtrauen zwischen den beiden Systemen säen wollen. Tatsächlich aber gibt es so etwas wie eine globale Übereinstimmung zur Menschenrechtsfrage, und zwar in Form der Deklaration der Menschen- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 228 rechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948, sowie der Konventionen jüngeren Datums, die die Vereinten Nationen zur Frage der Menschenrechte beschlossen haben, und in Gestalt der Schlußakte von Helsinki als Ergebnis der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die meisten Länder der Erde gehören zu den Unterzeichnern wenigstens einiger dieser Dokumente. Es mag ja eine Übereinstimmung geben, aber in der Regel werden gleiche Prinzipien von verschiedenen Leuten verschieden ausgelegt. Das gilt für alle Prinzipien. Wie man die Menschenrechte auslegt, hängt von der eigenen gesellschaftlichen Position ab, von den kulturellen Traditionen, mit denen man verwachsen ist, und von den gesamten historischen Gegebenheiten. Aber bevor wir von diesen Unterschieden sprechen, möchte ich etwas ganz Fundamentales deutlich machen. Die Vereinigten Staaten versuchen von der Gesamtsituation im Bereich der Menschenrechte folgenden Eindruck zu vermitteln: Die Amerikaner sind die Tüchtigsten, wenn nicht gar die Meister, was die Menschenrechte angeht, während die Sowjetunion und andere sozialistische Länder dagegen sind und nichts anderes tun, als diese Rechte zu verletzen. Beide Vorstellungen sind denkbar weit von der Wirklichkeit entfernt. Könnten Sie auf diesen Punkt näher eingehen? Er ist sehr wichtig. Gewiß. Wer kann heutzutage schon gegen die Menschenrechte sein? Das wäre das gleiche, als wollte man ein Naturgesetz abschaffen. Will man nicht nur politische Platitüden wiederholen, so muß man konkreter und genauer auf diese Fragen eingehen. Was die UdSSR betrifft, so möchte ich betonen, daß wir seit langem zutiefst den Menschenrechten verpflichtet sind. Es geschah um der Menschenrechte willen, daß wir unsere Revolution durchführten und sie im weiteren Verlauf gegen eine ausländische Intervention und die Invasion der Nazis verteidigten. Mehr noch - es war die Sowjetunion, die die Menschenrechte um die sozialen Rechte erweiterte, die vorher weitgehend vernachlassigt worden waren, jedoch für die überwältigende Mehrheit unseres Volkes wie auch für andere Völker von ganz entscheidender Bedeutung sind. Es hat ein halbes Jahrhundert gedauert, ehe die Staaten als Gemeinschaft die Bedeutung dieser Rechte in Form der UN-Konventionen anerkannten. Würden Sie sagen, die Sowjetunion ist auf dem Gebiet der sozialen Rechte fortschrittlicher als der Westen? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 229 Ja, und das ist auch nur natürlich. Soziale Rechte und Freiheiten waren zur Zeit der russischen Revolution für die Menschen, die unter Hunger litten und in unvorstellbarer Armut lebten, für die Bauern, die Analphabeten waren und die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, von allerhöchster Bedeutung. Dabei handelte es sich um das Recht auf Arbeit, die Gewähr, weder verhungem noch hungern zu müssen, das Recht auf ein Dach über dem Kopf, das Recht auf ein Stück Land zur Bewirtschaftung, das Recht auf Bildung, das Recht auf medizinische Versorgung usw. Und für ein Land, das zunächst im Ersten Weltkrieg und danach im Bürgerkrieg verwüstet und schließlich von der Intervention westlicher Mächte heimgesucht worden war, ist das Recht, in Frieden zu leben, von größter Bedeutung. Diesen und vielen anderen sozialen Rechten werden in der Werteskala unserer Gesellschaft noch immer die höchsten Prioritäten eingeräumt. Natürlich garantiert unsere Verfassung die üblichen politischen Rechte gleichermaßen, einschließlich der Redefreiheit, der Gewissens- und Religionsfreiheit, der Pressefreiheit und der Versammlungsfreiheit - freilich werden diese Rechte und Freiheiten bei uns anders verstanden, als das beispielsweise der durchschnittlichen amerikanischen Auffassung entspricht. Ganz allgemein bin ich mir sicher, daß es - von einer ernsthaften, um Ausgewogenheit bemühten Einstellung ausgehend - zu einem umfassenden und nützlichen Dialog über die Menschenrechte kommen könnte. Unglücklicherweise wurde in den USA und im Westen ganz allgemein diese wichtige und komplexe Frage zu einem Symbol für einen heftigen Propagandafeldzug gegen die UdSSR. Für Bürger westlicher Länder ist es jedoch unerklärlich, warum eine große und mächtige Nation wie die UdSSR so kleinkariert sein sollte, daß sie Bürgern, die es vorziehen, das Land zu verlassen, den Paß und die Erlaubnis zur Ausreise verweigert. Nun, Herr Oltmans, jeder Staat und jede Regierung handelt gemäß dem eigenen Verständnis, ihrer Interessen und Prioritäten sowie ihrer Haltung gegenüber Problemen. Und hierbei gibt es viele Dinge, von denen man sich nicht ohne weiteres freimachen kann, etwa den Einfluß geschichtlicher Traditionen und geschichtlicher Erfahrungen. Es gibt in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Mit Ausnahme der Indianer, die von ihrem Land vertrieben und fast vollständig vernichtet wurden, sind die Amerikaner eine Nation von Einwanderern und deren Nachkommen, und es ist völlig logisch, daß jedermanns Freiheit auszuwandern für sie zu einer Art Naturrecht geworden ist. Aber hierzulande nimmt man Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 230 eine andere Haltung ein. Im Laufe ihrer Geschichte hat die Sowjetunion zwei Auswanderungswellen großen Ausmaßes erlebt. Zur ersten Welle kam es unmittelhar nach der Revolution und dem Bürgerkrieg, als der Großteil der Auswanderer bittere Gegner unserer neuen Gesellschaft waren, die am bewaffneten Kampf gegen die neue Sowjetmacht teilgenommen hatten, Hand in Hand mit eindringenden ausländischen Streitkräften. Unter jenen, die mit der zweiten Welle auswanderten, nämlich während oder nach dem Zweiten Weltkrieg, waren viele Nazikollaborateure oder Kriegsverbrecher. Dies hat zur Folge, daß sich eine sehr entschiedene Haltung gegenüber jenen herausgebildet hat, die das Land verlassen wollen. Und das Wort Emigrant wurde nahezu zum Synonym für Verräter. Ist das nach wie vor eine verbreitete Haltung? Die Situation begann sich allmählich zu ändern, zunächst als ein Ergebnis von Wanderungsbewegungen über Grenzen mit sozialistischen Ländern hinweg, dann durch Familienzusammenführungen und Ehen mit Ausländern sowie durch die Veränderung der politischen Atmosphäre infolge der Entspannung. Später kam es, wie Sie wissen, verstärkt zur Auswanderung nach Israel bzw. unter diesem Vorwand zur Auswanderung in den Westen. Aber das heißt nun nicht, daß die traditionelle Einstellung zur Emigration vollkommen verschwunden ist. Ganz offen gesagt, man ist weit davon entfernt, die jenigen, die emigrieren, für vorbildliche Bürger und Patrioten zu halten. Was meinen Sie damit? Von der UdSSR in die Vereinigten Staaten auszuwandern, ist nicht das gleiche, wie wenn man, sagen wir, Holland verläßt und in die USA oder nach Großbritannien geht. Wenn jemand dieses Land verläßt und in den Westen geht, bedeutet das, daß er die gesamten gesellschaftlichen Werte und Ideale der sowjetischen Nation ablehnt, die mit großen Anstrengungen und schmerzlichen Erfahrungen geschaffen, weiterentwickelt und verteidigt wurden. Das weckt denn auch entsprechende Gefühle bei der breiten Bevölkerung. Das gleiche könnte bis zu einem gewissen Grad auch für die USA gelten. Ich bin sicher, daß die Entscheidung, in ein westeuropäisches Land oder nach Kanada auszuwandern, mit Toleranz hingenommen werden würde. Aber stellen Sie sich die Reaktion eines Sheriffs aus Texas oder auch eines normalen gesetzestreuen Bürgers und Kirchgängers aus einer Kleinstadt des Mittleren Westens vor, wenn er zu hören bekäme, einer seiner Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 231 Nachbarn habe vor, in die Sowjetunion, nach Bulgarien oder in die DDR auszuwandern. Alles in allem gibt es, ob uns das gefällt oder nicht, praktisch in jedem Land gewisse Beschränkungen bezüglich der Ein- und Auswanderung. In den Vereinigten Staaten z. B. gibt es für die Einwanderung strenge Einschränkungen, und das ist doch genauso ein humanitäres Problem wie Auswanderungsbeschränkungen. Wäre es nicht ein Ausdruck humanitären Anliegens, wenn man seine Grenzen öffnen und seinen Reichtum mit Millionen von Armen aus Entwicklungsländern teilen würde. Aber das wird, so wie ich es sehe, nur ausnahmsweise gemacht, und zwar in jenen Fällen, in denen es der amerikanischen Außenpolitik dienlich ist. Erst in Utopia werden dereinst alle Beschränkungen fallen. Tatsache ist, daß nichts stillsteht, daß sich alles verändert. Ich glaube fest daran, daß die Zeit kommen wird, in der alle Beschränkungen fallen werden und die Menschen sich überall freizügig bewegen können. Es ist offensichtlich, daß wir bis dahin diese Frage mit sehr viel Verständnis behandeln und uns darüber im klaren sein sollten, daß dabei viele ernste Probleme berührt werden, die in Betracht zu ziehen sind und nicht zur Trumpfkarte der Propaganda werden sollten. Gleichzeitig bin ich überzeugt, daß unsere Bestimmungen und Gesetze, die die Auswanderung betreffen, in der Tat nicht das eigentliche Anliegen der Menschenrechtskampagne sind, die die Vereinigten Staaten vor ein paar Jahren eingeleitet haben. Was glauben Sie, sind die Gründe? Ich glaube, daß diese Menschenrechtskampagne verschiedenen Zwekken diente: den Anti-Sowjetismus zu wecken, Druck auf die UdSSR auszuüben, das Ansehen Amerikas in der Welt zu verbessern und in den USA wieder einen außenpolitischen Konsens herzustellen. Nicht die Menschenrechte selbst waren es, um die die Regierung besorgt war. Beispielsweise gab es keinen Aufschrei wegen der Menschenrechtsverletzungen in China, obwohl dort politische Unterdrückung in weit größerem Ausmaß stattfindet als in nahezu jedem anderen Land. Mutet es nicht wie Ironie an, daß der US-Kongreß China genau zu dem Zeitpunkt den Meistbegünstigtenstatus zugestand, als die Führung in Peking dabei war, ihren Flirt mit dem Liberalismus abzubrechen und abweichende Meinungen zu unterdrücken? Warum erweisen sich die USA das eine wie das andere Mal als der zuverlässigste Förderer autoritärer Regime? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 232 Und warum ist Washington immer dann, wenn ein solches Regime gestürzt wird, wie in Kamputschea, im Iran, in Nicaragua oder in Afghanistan, so entrüstet und auf Rache bedacht? Aber abgesehen davon, wie Washington die Menschenrechte auslegt, dem Problem als solchem kommt unverändert großes Gewicht zu. Selbstverständlich ist es von großer Bedeutung. Wir in der Sowjetunion treten für eine Sicherung und Ausweitung der Menschenrechte ein. Das ist ein Teil unserer Ideologie, unserer Gesetze und unserer gesamten Weltanschauung. Wenn aber die ganze Rhetorik um die Menschenrechte mit Bedacht dazu eingesetzt wird, um im Hinblick auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen Mißtrauen und Feindseligkeiten zu schüren und die Entspannung zu sabotieren, dann hat das nichts mit den Menschenrechten als solchen zu tun. Der edle Gedanke wird dann pervertiert und mißbraucht. Ich glaube, die Amerikaner sollten versuchen zu begreifen, daß sie sich, wenn ihnen die Menschenrechte so sehr am Herzen liegen, zugleich auch für Entspannung einsetzen müssen. Krieg und Kriegsvorbereitungen, internationale Spannungen und Krisen - das sind die Faktoren, die der Demokratie und dem sozialen Fortschritt am meisten schaden. McCarthys Hexenjagd in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren hätte ohne das Klima des Kalten Krieges nicht stattfinden können. Ich glaube, es war Daniel Bell, ein Soziologe der Harvard University, der einmal gesagt hat, daß Amerika auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine ‘mobilisierte Gesellschaft’ gewesen sei. Unter dem gleichen Vorzeichen wurden in einer Zeit der Spannungen CIA und FBI ins Leben gerufen, um ‘einen äußeren Feind’ zu bekämpfen. All die Methoden, die sie bei ihren Tätigkeiten, subversiven Aktionen und ihrer psychologischen Kriegführung anwandten und die für Zwecke des Kalten Krieges entwickelt worden waren, richteten sich gegen die Amerikaner selbst und, wie Watergate zeigte, sogar gegen politisch Andersdenkende innerhalb der Elite. Es darf wohl nebenbei daran erinnert werden, daß die ‘Watergate-Klempner’, vom Gericht nach ihrem Beruf gefragt, nach einigem Zögern antworteten, sie seien ‘Antikommunisten’. Die gleiche Logik macht sich auch jetzt breit, nachdem das Weiße Haus eine zweite Auflage des Kalten Krieges inszeniert. In einer dem Kalten Krieg ähnlichen Situation können es sich Regierungen, wie z. B. jene Südkoreas oder Pakistans, leisten, mit den bürgerlichen Freiheiten nach Belieben umzuspringen, ohne daß Amerikas Unterstützung und materielle Hilfe ausbleibt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 233 Selbst für den Fall, daß die amerikanische Besorgnis um die Menschenrechte durch und durch politisch motiviert und eigennützig sein sollte - warum versucht die Sowjetunion nicht, Washington auszumanövrieren, zu ‘entwafjhen’, wenn man so will, indem sie ihre Haltung zu einigen wunden Punkten ändert, auf die die Amerikaner ständig den Finger legen? Würden wir unsere Haltung zu einigen wunden Punkten ändern, so würde sich dadurch nicht das geringste ändern. Man muß sich darüber im klaren sein, daß wir es bei der ‘Menschenrechtskampagne’ mit einem Versuch zu tun haben, durch anhaltenden, ständig wachsenden Druck unsere innere Ordnung entsprechend westlichen Vorstellungen zu verändern und gleichzeitig die UdSSR in den Augen der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren. Einzelne Forderungen mögen sich manchmal sehr bescheiden ausnehmen: diesen oder jenen aus dem Gefängnis zu entlassen (obwohl er in voller Übereinstimmung mit den sowjetischen Gesetzen verurteilt wurde), diesen oder jenen ausreisen zu lassen (wobei in der Regel der Grund für die Verweigerung der durch den Beruf bedingte Zugang zu geheimen Informationen ist), die Bestimmungen für die Einfuhr bzw. den Verkauf westlicher Zeitschriften zu andem usw. Aber wir haben aus unseren bitteren Erfahrungen die Lehre gezogen, daß man, auch wenn solchen Forderungen entsprochen wird, niemand - um Ihren Ausdruck zu gebrauchen - entwaffnet, daß man nichts erreicht, niemand zufriedenstellt. Ganz im Gegenteil, durch jedes Zugeständnis wächst der Appetit noch weiter und weiter, und die Forderungen werden immer anspruchsvoller. Das ist auch ganz verständlich, gilt doch für viele der Drahtzieher der Kampagne, daß diese Forderungen nicht die aufrichtige Sorge um die Menschenrechte widerspiegeln, sondern ein Vorwand sind, um den Angriff auf unsere Einrichtungen und Werte, auf unser gesellschaftliches und politisches System zu verstärken. Es gab Zeiten, da hat man Krieg geführt, um dieses System zu zerschlagen. Danach kam der Kalte Krieg, und jetzt ist die Reihe an anderen Mitteln, einschließlich der Menschenrechtskampagne, die zu diesem Zweck eingesetzt wird. Übertreiben Sie hier nicht? Ist das nicht Ausdruck der paranoiden Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Westen? Keineswegs, das kann ich Ihnen versichern, Herr Oltmans, aber bitte glauben Sie nicht, daß ich der Kampagne als solcher große Bedeutung beimesse - das Entscheidende dabei ist, daß sie nicht isoliert gesehen werden darf. Man muß sie vor dem Hintergrund gewisser militärischer Bemühungen, außenpolitischer Manöver und anderer Propagandafeld- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 234 züge sehen. Es ist nur angebracht, noch einmal in Erinnerung zu rufen, daß z. B. in einigen entscheidenden Dokumenten der amerikanischen Außenpolitik, wie dem NSC-68, grundlegende Veränderungen unserer internen Strukturen als unabdingbare Voraussetzung für die friedliche Koexistenz bezeichnet werden. Viele Maßnahmen der US-Außenpolitik der jüngsten Zeit erinnern an diese Richtlinien. Mehr noch im politischen Bewußtsein der Amerikaner lebt irgendwo, tief eingewurzelt, immer noch der Gedanke fort, wir seien etwas Unrechtmäßiges, nicht von Gott, sondern vom Teufel Geschaffenes, und unserem Dasein in seiner heutigen Form solite irgendwie ein Ende bereitet werden. Ich glaube, solch eine Stimmung ist für die Vergangenheit typischer als für die Gegenwart. Untersucht man jedoch z. B. die Terminologie der sogenannten ‘Neuen Rechten’, die heutzutage ziemlich einflußreich ist, so wird man die gleiche alte Intoleranz feststellen, wie auch die gleiche hartnäckige Weigerung, allein schon die Idee einer Koexistenz mit der Sowjetunion zu akzeptieren. Oder nehmen Sie nur ein anderes Beispiel - die ‘captive nations' week’, (‘Woche der geknechteten Völker’), die jedes Jahr im Juli vom amerikanischen Kongreß begangen wird. Als wäre es damit nicht schon genug, unterzeichnet der Präsident jeweils auch noch persönlich eine feierliche Erklärung. Das Ganze ist nun schon seit Jahren eine Routineangelegenheit. Aber was will man damit in Wirklichkeit zum Ausdruck bringen? Der Zweck ist, das verdeutlichen viele Kommentare in den Vereinigten Staaten, zu zeigen, daß nach Meinung der USA die Sowjetunion widerrechtlich 14 Republiken in ihrem Griff hält, die deshalb befreit werden sollten. Hinzu kommen noch weite Teile Sibiriens (DVR genannt), weiter ‘Tscherkessien’, ‘Idel-Urals’ und ‘Kazakien’. Ich weiß wirklich nicht, was all diese verrückten Namen bedeuten, aber ich habe das Gefühl, daß die Ural-Gebiete, das untere Wolgabecken, das Kuban- Gebiet, das Don-Gebiet, der nördliche Kaukasus und einige andere Gebiete dazugerechnet werden. Mit anderen Worten, für uns bleibt ein Gebiet übrig, das sich etwa von Moskau bis Leningrad in der Nord-Süd-Ausdehnung erstreckt und von Smolensk im Westen bis Wladimir im Osten. Ich frage mich, wie wohl Amerikaner reagieren würden, wenn der Oberste Sowjet und Generalsekretär Breschnew in feierlichen Proklamationen ihre Unterstützung für eine Bewegung zum Ausdruck brächten, die die staatliche Hoheit der USA für alle Gebiete in Frage stellt, außer dem Land - sagen wir - zwischen Boston und Washington und Baltimore und Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 235 Detroit, und wenn sie weiter erklären würden, daß der Rest befreit werden solite? Man könnte argumentieren, daß die Südstaaten nur mit Hilfe eines Kriegs im Verband der Union gehalten werden konnten, andere Gebiete Mexiko und Frankreich mit Gewalt abgenommen wurden und schon vorher das ganze Territorium jenem Volk gestohlen wurde, das von allen am meisten unter Knechtschaft leidet - den Indianern Amerikas. Ganz zu schweigen von einem gewissen Teil russischen Bluts, das in den Adern der Menschen von Alaska fließt, oder davon, daß wir einstmals im Gebiet von San Francisco siedelten. Aber die meisten Amerikaner ignorieren die ‘captive nations week’ - warum nehmen Sie sie so ernst? Wir sind weit davon entfernt, ihre Bedeutung zu übertreiben. Aber wir können solche Dinge auch nicht völlig ignorieren, selbst wenn wir wollten. Die ‘Menschenrechtskampagne’ würde uns das nicht gestatten. Um dieses Thema abzuschließen, möchte ich zusammenfassend folgendes sagen: Punkt eins: Wir halten die Frage der Menschenrechte für sehr wichtig. Es wurde in unserem Land sehr viel getan auf diesem Gebiet, und es wird auch zukünftig noch sehr viel getan werden. Wir wissen, daß wir noch keinen idealen Zustand erreicht haben. Aber wer hat ihn schon erreicht? Der weitere Fortschritt der Demokratie bleibt eines unserer grundlegenden Ziele. Punkt zwei: Die Propagandakampagne, die die USA im Zusammenhang mit den Menschenrechten in Gang gebracht haben, hat in Wirklichkeit nichts mit diesen Rechten zu tun. Wir sehen darin letztlich ein Instrument antisowjetischer Politik, wobei man sich allerdings keinerlei Illusionen machen sollte, daß wir nachgeben werden. Was der Westen nämlich in dieser Hinsicht wirklich von uns will, ist, daß wir auch noch selbst helfen, antikommunistische und antisowjetische Tätigkeiten zu organisieren, die darauf abzielen, unser gesellschaftliches und politisches System zu unterminieren. Wir werden bei der Destabilisierung unserer gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mithelfen. Genausowenig, wie wir von der amerikanischen Regierung erwarten würden, daß sie auf solche Forderungen unsererseits einginge. Die Amerikaner sollten eine Zusammenarbeit dieser Art von uns genausowenig erwarten. Schließlich Punkt drei: Was uns diese Kampagne besonders zweifelhaft erscheinen läßt, ist, daß die USA nach unserer Ansicht nicht im geringsten das Recht haben, andere über die Menschenrechte zu belehren, weil man in diesem Fall, wie bei vielen anderen Problemen auch, erst bei sich selbst beginnen muß. Obwohl wir nicht versuchen, den Amerikanern un- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 236 sere Normen aufzunötigen, haben wir doch nichtsdestoweniger das Recht, uns unsere eigene Meinung darüber zu bilden, was in den USA vor sich geht und wie das Modell aussieht, das sie uns aufzuzwingen versuchen. Was halten Sie von diesem Modell? Nun, es fällt uns z. B. sehr schwer, an den Wert des amerikanischen Systems der Redefreiheit zu glauben, da die amerikanischen Medien inzwischen riesige private Unternehmen geworden sind, die stark profitorientiert sind und den Wünschen ihrer Besitzer bzw. den Interessen der privatwirtschaftlichen Inserenten mehr dienen als den Interessen der Öffentlichkeit. Wird einem der Zugang zu den Massenmedien verwehrt, so kann man in Amerika äußern, was immer man will, und so lautstark man will - man wird nicht gehört werden; wohl aber läuft man mitunter Gefahr, daß einem FBI oder CIA nachspionieren, wie es jenen jungen Leuten erging, die wegen ihrer Opposition gegen den Krieg in Südostasien verfolgt wurden. Der Journalist David Wise wählte für seinen Bericht, in dem er dieses Vorgehen schildert, den Titel ‘Der amerikanische Polizeistaat’.1 Wir haben in der Sowjetunion Berichte über die Untersuchungen des Kongresses gelesen, die von illegalen Maßnahmen des CIA und des FBI, vom Watergate-Skandal und anderem mehr handeln. Wir wissen, daß Präsident Lyndon B. Johnson die Dienste von J. Edgar Hoovers FBI in Anspruch nahm, um nicht nur Kommunisten und andere Radikale zu überwachen, sondern auch angesehene Mitglieder des Kongresses. Richard Nixon hatte gar eine Liste seiner Feinde angelegt, worunter sich eine Reihe prominter Presseleute wie Henry Brandon, der Washingtoner Korrespondent der Londoner Sunday Times oder Joseph Kraft befand. Ich bin sicher, Sie werden mir darin recht geben, daß so etwas unsere Skepsis gegenüber den USA als einem Ratgeber in Menschenrechtsangelegenheiten nur noch verstärken konnte. Besonders widerwärtig war, wie man mit jungen Leuten umgegangen ist, indem man z. B. CIA- und FBI-Informanten in die Studentenschaft der amerikanischen Colleges und Universitaten eingeschleust hat. Unglücklicherweise kommen die gleichen illegalen Praktiken auch in den Niederlanden vor, wo gelegentlich Lehrer und Professoren oder sogar Journalisten gebeten werden, im Auftrag des BVD2 Studenten oder Personen aus Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 237 den eigenen Berufsgruppen zu bespitzeln. Ganz zu schweigen von dem berüchtigten Berufsverbot in Westdeutschland. Nun, wir wissen, daß die Behörden in den USA, wenn sie es für notwendig erachten, die Leute nicht nur schikanieren, sondern sie auch umbringen. Das geschah z. B. im Fall von Führern der Black Panthers, von denen einige kaltblütig von der Polizei ermordet wurden. Ganz zu schweigen von Attentätern, die Dutzende von führenden Bürgerrechtskämpfern ermordeten oder verwundeten, angefangen bei Martin Luther King bis hin zu Vernon Jordan. Wobei die Schuldigen selten bestraft werden. Erinnern Sie sich auch an die Vorfälle an der Kent State University? Und was geschah mit dem ‘American Indian Movement’? Was ist mit den zahlreichen schwarzen Aktivisten, die gelyncht wurden oder verurteilt und jahrelang ins Zuchthaus gesteckt wurden aufgrund von äußerst fragwürdigen Anklagen? Die Liste ist endlos lang. Ja, aber trotz dieser alarmierenden, ungehemmten Kriminalität ist es andererseits für einen abgesprungenen CIA-Agenten, wie Frank Snepp, möglich, ein 590 Seiten starkes Buck zu veröffentlichen, in dem er die unglaublichen Verbrechen, die in Vietnam und anderswo begangen wurden, schildert. Eine solche Veröffentlichung wäre in der Sowjetunion undenkbar. Die Veröffentlichung von Frank Snepps Buch war vor ein paar Jahren möglich. Ob es heute möglich wäre, ist zweifelhaft. Übrigens hat, als Frank Snepp sein Buch veröffentlichte, der CIA mit Hilfe der Gerichte zurückgeschlagen, und Snepp wurde mit einer hohen Geldstrafe belegt. Infolge von Gesetzen, die 1980 vom Kongreß verabschiedet wurden, steht zu befürchten, daß er und seinesgleichen in Zukunft sehr viel härtere Behandlung erfahren werden. Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daß die Welle der Enthüllungen ein Ende gefunden hat. Die jüngsten Veränderungen, die den Status der Nachrichtendienste und der Geheimpolizei betreffen, sind ein Rückschritt, der die früheren Verhältnisse wiederherstellt. Wenn man über die Sowjetunion spricht, so vergißt man, daß die Praktiken unserer Sicherheitsorgane einer sehr kritischen Prüfung unterzogen wurden, und zwar zu einer Zeit, als CIA und FBI noch für heilige Kühe gehalten wurden. In den fünfziger Jahren hat die KPdSU offen erklärt, daß die Sicherheitsorgane Gesetze verletzt und ihre Macht mißbraucht hatten. Es gab Gerichtsverhandlungen gegen hohe Beamte dieser Organe, und gegen die für schuldig Befundenen wurden schwere Strafen verhängt, einschließlich der Todesstrafe. Die Sicherheitsorgane wurden Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 238 umstrukturiert und unter wirksame Parteikontrolle gestellt. Immer wenn diese Fragen von den großen westlichen Medien erörtert werden, mißt man offensiehtlich mit zweierlei Maß. Ganz gleich, welche Veränderungen in unserem Land geschehen, ganz gleich, was wir auch machen - man beschuldigt uns, ‘undemokratisch’ zu sein. Gleichzeitig aber werden Verletzungen der Menschenrechte, die im Westen geschehen, immer verharmlost und als etwas Ungewöhnliches, nicht jedoch als etwas Typisches betrachtet. Sind Sie derMeinung, daß aufgrund der Entwicklungen während des Jahres 1980 sowohl Washington wie auch Moskau einen Rechtsruck vollzogen haben? Ohne Zweifel hat in Washington solch ein Kurswechsel stattgefunden. Seine Auswirkungen auf die Außenpolitik habe ich bereits erörtert, aber gleichermaßen hat er sich auf die innerpolitische Situation ausgewirkt. CIA und FBI erweisen sich emeut in zunehmendem Maße als immun gegenüber öffentlicher Kritik, ihre Kritiker werden zum Schweigen gebracht, auch gibt es eine wachsende Welle des Chauvinismus und der Intoleranz gegenüber Kritik - all dies geschah sogar noch vor den Präsidentschaftswahlen. Nun zu uns. Begriffe wie ‘links’ und ‘rechts’ können irreführend sein, wendet man sie auf politische Entwicklungen in der Sowjetunion an. Aber wenn eine härtere Gangart gegenüber jenen gemeint ist, die andere Meinungen äußern, dann kann ich keinerlei Veränderungen dieser Art in unserem Land feststellen. Ohne die Gewalttätigkeit in der amerikanischen Gesellschaft, ohne die Mafia, die Bandenkriege, die Schießereien und Morde verteidigen zu wollen, die in diesem Land an der Tagesordnung sind, muß man doch feststellen, daß die Amerikaner nie etwas erlebt haben, das auch nur im entferntesten an eine solche Erfahrung heranreicht, wie sie der ‘Archipel Gulag’ darstellt. Ich halte es nicht für angebracht oder besonders taktvoll, Herr Oltmans, auf die tragischen Ereignisse unserer Vergangenheit, an die sich das sowjetische Volk mit großer Pein erinnert, hinzuweisen und dabei einen Ausdruck zu verwenden, der zum Klischee antisowjetischer Propaganda geworden ist. Wie ich schon an früherer Stelle gesagt habe, hat die Partei strenge Maßnahmen getroffen, um die Fehler zu beheben und jene zu bestraten, die schuldig waren. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 239 Aber da Sie dieses Problem angesprochen haben, möchte ich mit Nachdruck betonen, daß eine der wichtigsten Voraussetzungen, die die Unterdrückung zu Zeiten Stalins möglich machte, die äußerst feindselige Umwelt war, mit der sich unser Land auseinandersetzen mußte. Mit der Bedrohung durch Nazi-Deutschland? Die Bedrohung durch die Nazis war vielleicht der Höhepunkt. Aber die Situation war auch vorher schon ziemlich problematisch. Sehen Sie, unser Land ging nach der Revolution von 1917 durch eine Periode heftigen politischen Kampfes. Die Konterrevolution wollte sich nicht geschlagen geben. Sie führte den Kampf mit schmutzigen Mitteln und wurde dabei von außen in starkem Maße unterstützt. Einige unserer Führer und Botschafter wurden ermordet. Es kam wiederholt zu militärischen Übergriffen auf unser Territorium. Ausländische Geheimdienste wurden im Land aktiv tätig. Wir erwarteten, daß früher oder später ein großer Krieg ausbrechen würde, und nachdem Hitler mit einem antikommunistischen und antisowjetischen Programm an die Macht gekommen war, verschlechterte sich die äußere Situation ganz dramatisch. Das waren also die besonderen äußeren Bedingungen dieser historischen Situation, die die Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung ermöglichte, wie auch schwere Verbrechen gegen unsere Verfassung und unsere Ideale. Wir haben diese tragischen Ereignisse nicht vergessen und erwarten auch von anderen nicht, daß sie sie vergessen. Wogegen wir uns aber wehren, das sind die Versuche, einen ganzen Abschnitt unserer Geschichte im Licht dieser Ereignisse zu interpretieren. Für uns hatte dieser Abschnitt - selbst damals schon, in jenen schweren Zeiten - eine ganz andere Bedeutung. Wir haben eine Menge wahrhaft historischer Leistungen zu verzeichnen, Leistungen von weltweiter Bedeutung: wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fortschritte, die in einem auf der ganzen Welt vorher nie dagewesenen Tempo erreicht wurden; die Wiedergeburt eines Volkes, das bis dahin eines der am meisten unterdrückten und am stärksten ausgebeuteten war, verglichen mit alien zivilisierten Nationen; der Sieg über Nazideutschland und damit die Beseitigung dieser Menschheitsgefahr; eine Reihe ungeheuer wichtiger, erstmals in der Geschichte erzielter Leistungen - die Wirtschaftsplanung, gesellschaftliche Fortschritte wie die Gleichstellung aller Nationalitäten, die Gleichberechtigung der Frauen, die Tatsache, daß medizinische Versorgung und Bildung der ganzen Bevölkerung zugänglich gemacht wurden, und vieles, vieles andere mehr. Es gibt vieles in unserer Geschichte, worauf wir stolz sein können. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 240 Haben Sie je versucht, den Preis zu vergleichen, den die unterschiedlichen Gesellschaften für den Fortschritt zu zahlen haben? Nun, das ist eine extrem schwierige Aufgabe. Die Geschichte der Menschheit ist zu komplex und vielschichtig, um sie in Zahlen auszudrücken. Es gibt wohl kaum eine ausgearbeitete Methode für solche Vergleiche. Aber ich habe keinen Zweifel, daß der Preis für den Fortschritt in einer kapitalistischen Gesellschaft höher war. Erstens muß man die Kriege in Betracht ziehen, zu denen es unter dem Kapitalismus kommt. Es war einzig der Kapitalismus, mit dem ihm innewohnenden Streben nach Technologie - und hier in erster Linie nach militärischer Technologie -, gepaart mit seiner unersättlichen Gier nach Märkten und Rohstoffquellen, der bewirkte, daß Kriege weltumspannend und beispiellos zerstörerisch wurden. Das allein kostete Millionen Menschenleben. Weiter ist der Kolonialismus zu nennen, der dem Kapitalismus voranging, aber erst unter diesem zu einem weltweiten Phänomen wurde und zugleich eine Vorbedingung war für eine rasche Entwicklung der meisten kapitalistischen Länder, wie auch dafür, daß diese Wohlstand und Reichtum anhäufen konnten. Der Preis dafür sind abermals viele Millionen Menschenleben, aber auch brutale Ausbeutung, Kolonialkriege, politische Unterdrückung und die Tatsache, daß die Mehrheit der Weltbevölkerung in einem Zustand der Rückständigkeit gehalten wird. Zum dritten ist festzuhalten, daß der Kapitalismus in der Geschichte nur selten in Form einer liberalen Demokratie bestand. In vielen Ländern nahm das kapitalistische Gesellschaftssystem - und in einigen Ländern ist das immer noch so - die denkbar repressivsten politischen Formen an, nämlich die des Faschismus mit seinem blutigen Terror, die der Militärdiktaturen und die eines rücksichtslosen Totalitarismus. Aber die meisten kapitalistischen Länder, einschließlich der Vereinigten Staaten, begaben sich nicht auf faschistische Wege. Das heißt nicht, daß sie völlig ohne Terror, brutale Unterdrückung und Ausbeutung ausgekommen sind. Der Preis, den Menschen dafür zahlen mußten, daß aus der kleinen Siedlerkolonie in Massachusetts eines der beiden mächtigsten Länder der Erde wurde, ist sehr beträchtlich. Nehmen Sie nur die Verbrechen gegen die Schwarzen, die mit dem Sklavenhandel und den schrecklichen Zuständen auf den Plantagen des Südens begannen und mit dem Alptraum eines Leben in den Ghettos von heute endet. Oder denken Sie an den Völkermord an den Indianern. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 241 Zuerst fielen die Pilgerväter auf die Knie und dann über die Indianer her, sagt eine Redensart. Wissen Sie, es ist für mich immer noch schwer begreiflich, wie es die Amerikaner fertigbrachten, sich gegen jegliche Gewissensbisse im Zusammenhang mit ihren Taten gegen die Ureinwohner des Kontinents zu betäuben. Ich erinnere an diese Kapitel der amerikanischen Geschichte nicht, um die Amerikaner zu beleidigen. An diese Ereignisse soll nur erinnert werden, um den Amerikanern zu helfen, dort, wo es noch möglich ist, etwas gegen solches Unrecht zu unternehmen und um den moralisierenden Eifer einiger amerikanischer Politiker zu dämpfen. Glauben Sie wirklich, daß die Entspannung zum besseren Verständnis beigetragen hat? Ja, dank der Entspannung in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen kam es zu einer beträchtlichen Zunahme der Kontakte, des Austausches und des Tourismus, was in dieser Hinsicht sehr wichtig war. Zuletzt jedoch haben die Vereinigten Staaten nicht nur ihre Anstrengungen verstärkt, diesen Prozeß zu verlangsamen, nun kehren sie ihn sogar um. Die Zunahme der Kontakte gehörte zu den wertvollsten Früchten der Entspannung. Als Wissenschaftler bin ich besonders besorgt über die gegenwärtigen Versuche der USA, diese Kontakte zu beeinträchtigen. Ich interviewte Professor Oleg G. Gazenko, den Direktor des Instituts für medizinische und biologische Fragen des Gesundheitsministeriums der UdSSR. Er machte mich dabei mit vier Bänden eines Werks mit dem Titel ‘Foundations of Space Biology and Medicine’ bekannt, das in Zusammenarbeit mit der ‘National Aeronautics and Space Administration’ der Vereinigten Staaten veröffentlicht worden war. Ko-Autor ist der amerikanische Professor Melvin Calvin. Nur wenige Leute wissen überhaupt, daß die ganze Zeit über diese Form der wissenschaftlichen Zusammenarbeit stattfindet. Ja, diese Zusammenarbeit hat beiden Seiten beachtlichen Nutzen gebracht. Die Wissenschaftskreise beider Länder sind sehr darauf aus, sie fortzusetzen und auszuweiten. Was geschieht aber tatsächlich? Die US-Regierung und einige ‘pressure groups’ außerhalb der Regierung durchtrennen das Geflecht der wissenschaftlichen Zusammenarbeit brutal, das sich in den siebziger Jahren herausbildete. Wissen Sie, abgesehen von der Bedeutung solcher Kontakte für die Weiterentwicklung der Wissenschaften in der ganzen Welt, sind diese Tref- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 242 fen in kultureller, psychologischer und sogar politischer Hinsicht sehr nützlich, weil sie ein Gegengewicht zu den zunehmenden Feindseligkeiten und dem in der öffentlichen Meinung um sich greifenden Mißtrauen darstellen. Ich meine damit nicht nur den wissenschaftlichen Austausch, sondern alle Arten des Austausches und alle Arten von Kontakten und Besuchen. Ihnen ist sicker nicht entgangen, wie unterschiedlich westliche Sowjetexperten den Umfang und die Bedeutung der Veränderungen einschätzen, die in Ihrem Land in den letzten Jahrzehnten stattfanden. Gelehrte wie George Kennan und Jerry Hough behaupten, in der Sowjetunion habe sich ein unerhörter Wandel vollzogen, weshalb der Westen seine traditionellen Vorstellung revidieren sollte. Andere, wie Richard Pipes oder Adam Ulam, sagen genau das Gegenteil, nämlich, daß die Sowjetunion im wesentlichen noch so sei, wie sie zu Zeiten Stalins war, und keine institutionellen Veränderungen von Bedeutung eingetreten seien. Nun, jedes Land hat sich in den letzten 25 Jahren gewandelt, und für unsere dynamische Gesellschaft gilt das in besonderem Maße. Aber der springende Punkt dabei ist, was man unter Wandel verstehen will. Was ist mit ‘institutionellen Veränderungen’ gemeint? Wir bleiben ein sozialistisches Land mit einem zunehmend ausgereiften politischen System, in dem die KPdSU die führende Rolle einnimmt. Wenn das nicht nach dem Geschmack von Herm Pipes oder anderen Leuten seines Schlages ist, haben sie das Recht, sich ihre eigene Meinung dazu zu bilden, genauso wie wir ein Recht auf unsere eigene Meinung haben, was die amerikanischen politischen Einrichtungen betrifft, jedoch können wir kaum etwas für diese Leute tun, um sie zufriedenzustellen. Innenpolitisch gab es eine Menge Veränderungen in unserem Land, und zwar im Zusammenhang mit der Beseitigung der Folgen, die der Personenkuit hinterlassen hatte, wie auch infolge einer weiteren Fortentwicklung der Demokratie. In unserer Außenpolitik kann man, entgegen den Behauptungen einiger Sowjetexperten, sehr viel mehr Kontinuität hinsichtlich der grundlegenden Ziele und Methoden feststellen. Welche Haltung man auch immer gegenüber Stalin einnehmen mag - man kann kaum abstreiten, daß sich seine Außenpolitik durch Umsicht auszeichnete und er kein Abenteurer war. Ich glaube, daß ernstzunehmende und gut informierte amerikanische Sowjetexperten dies anerkennen. Walter Laqueur legt überzeugend dar, daß ‘ohne Kenntnisse der marxistischen Methode keine vernünftige Diskussion über die neuzeitliche Geschichte möglich ist’.3 Für viele Menschen in Westeuropa scheinen je- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 243 doch Gesellschaften, die noch marxistischen Prinzipien aufgebaut sind, nicht gerade attraktive Beispiele zu sein. Und genauso ergeht es den Entwicklungsldndem. Nach 20 Jahren marxistisch-leninistischer Praxis in Kuba schickt sich beispielsweise nur Nicaragua neuerdings zögernd an, Fidel Castros Beispiel teilweise zu folgen. Nun, soweit ich es sehe, nimmt die Revolution in Nicaragua ihre eigenen Formen an. Walter Laqueur mag zwar dafür plädieren, Kenntnisse der marxistischen Methode zu erwerben, was ihn selbst aber anbelangt, so ist er ein entschiedener Gegner jener Gesellschaften, die auf marxistischen Prinzipien beruhen. Was die Attraktivität unseres Beispiels betrifft, so gibt es in sehr vielen westeuropäischen Ländern eine sehr starke kommunistische Partei, die alle für die Errichtung einer Gesellschaft eintreten, die sich auf marxistische Prinzipien gründet. Ich denke dabei an Frankreich, Italien, Spanien und Finnland. Kommunistische Parteien gibt es auch in anderen Ländern, und obwohl sie noch nicht viele Mitglieder haben, unterstützt doch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den westeuropäischen Ländern die Idee, die Gesellschaft nach marxistischen Grundsätzen zu organisieren. Es gibt noch einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang. Es hat sich ergeben, daß Länder, in denen marxistische Parteien an die Macht kamen und mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft begannen, sehr oft mit ziemlichen schwierigen objektiven Bedingungen konfrontiert waren. In der Regel waren das Länder, die unter dem Krieg sehr stark gelitten haften, wie Rußland, Jugoslawien und Polen. Viele davon waren Länder mit einer zurückgebliebenen Volkswirtschaft - dazu gehörten auch Rußland, Bulgarien, Rumänien und andere, ganz zu schweigen von unterentwickelten Ländern wie Vietnam, Kuba und Albanien. Außerdern unternahm der Westen alle nur möglichen Anstrengungen, um den Aufbau neuer Gesellschaften zu behindern, indem er ihnen das Wettrüsten aufnötigte und sich auf Subversion, Wirtschaftsblockaden etc. verlegte. Schließlich entstehen für jene, die neue Wege bahnen, immer Probleme, die sich nicht vermeiden lassen. Bei solch einem schwierigen Unterfangen wird es immer Fehler geben, und zwar mitunter auch emsthafte. Wenn ich all das in Betracht ziehe, so würde ich sagen, daß der Sozialismus sein Bestes getan hat und über große Anziehungskraft verfügt, die weker wachsen wird. Und man wird kaum bestreken wollen, daß die Anziehungskraft des Kapitalismus abgenommen hat. Was ist zu Kuba zu sagen? Der Exodus vieler Kubaner, die 1980 in die Vereinigten Staaten gingen, wurde als Beweis dafür gewertet, daß das ku- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 244 banische Modell des Sozialismus gegenüber dem kapitalistischen Modell verblaßt. Wie auch immer die Feinde Kubas die ganze Geschichte darstellten - sie hat sich, so glaube ich, letzten Endes nicht gegen Kuba ausgewirkt, sondern gegen jene im Westen, die aus der ‘Verteidigung der Menschenrechte’ in sozialistischen Ländern ein Politikum machen. Ist es nicht bezeichnend, daß ein erheblicher Teil derer, die Kuba verließen, Kriminelle und Unzufriedene waren, deren Abwesenheit vom kubanischen Volk nur begrüßt werden wird? Sehen Sie sich einmal den Ausgang der Geschichte an: Was widerfuhr jenen ‘armen, erschöpften Massen’, die sich entschlossen, Kuba zu verlassen und in die USA zu gehen? Ich erinnere mich an eine Karikatur in einer amerikanischen Zeitung, in der in einem Boot eine Grappe Kubaner zu sehen war, die auf einen Lichtschein am Horizont deutete und freudig ausrief: ‘Unsere Mühsal ist zu Ende, das Licht dort ist Miami!’ Und es war auch Miami - nämlich dort, wo das Ghetto der Schwarzen brannte und Trappen auf die Menschen in den Straßen schossen. Es steilte sich heraus, daß Amerika die Kubaner nicht haben wollte. Und diese waren darüber wirklich verwirrt. Einige randalierten in den Lagern, in denen sie seit ihrer Ankunft festgehalten wurden, andere entführten Flugzeuge, um nach Kuba zurückzukehren. Es ist schwer zu sagen, was bei dieser Geschichte überwiegt - die Tragik oder das Lächerliche. Zu einem aber taugt sie auf keinen Fall: einer Anklage des kubanischen Sozialismus. Vor allem nicht, wenn man die nicht zu leugnende Tatsache in Betracht zieht, daß die USA Kuba nach der Revolution eine ganze Menge Schwierigkeiten bereitet haben, einschließlich einer Wirtschaftsblockade und Einmischungsversuchen. Es ist wahr, Kuba leidet immer noch unter vielen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Aber womit vergleicht man dieses Land? Mit Schweden oder der Schweiz? Als Maßstab sollten in Wirklichkeit Guatemala, El Salvador, die Dominikanische Republik oder Kuba selbst, so wie es vor der Revolution war, gelten. Dann wird die Situation in einem ganz anderen Licht erscheinen. In ganz Lateinamerika genießt Kuba großes Ansehen und einen sehr guten Ruf. Lassen Sie uns zu dem immerwährenden Thema der Einschätzungen zurückkehren. Sie scheinen von dem durchschnittlichen Wissensstand der Amerikaner über die Sowjetunion keine sehr hohe Meinung zu haben. Sicher. Hier herrscht immer noch eine ungeheure Unwissenheit. Ich möchte mich dabei auf das beziehen, was ich aus eigener Anschauung Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 245 kenne. Beispielsweise wissen die Leute in den Vereinigten Staaten, sogar in studentischen Kreisen, sehr wenig von der zeitgenössischen sowjetischen Literatur. Wahrscheinlich kennt man Alexander Solschenizyn. Das ist nahezu Pflichtlektüre, obwohl er in letzter Zeit etwas aus der Mode kommt. Aber auch die Namen von Dostojewski und Tolstoi wurden genannt und einmal sogar Tschechow. Und Gorki? Nein, nicht ein einziges Mal. Fragt man dagegen in der UdSSR einen Oberschüler oder eine Oberschülerin nach amerikanischer Literatur, so erhält man Dutzende von Namen zur Antwort. Dabei spreche ich nicht nur von Klassikern wie Edgar Allen Poe oder Mark Twain oder so berühmten Persönlichkeiten der Vergangenheit wie Theodore Dreiser, Ernest Hemingway, William Faulkner, Upton Sinclair und anderen. Bei uns kennen die Jugendlichen auch die zeitgenössischen Autoren sehr gut, wie z. B. Truman Capote, Tennessee Williams, J.D. Salinger, Kurt Vonnegut, Joyce Carol Oates, John Updike und viele andere. Sie sind vollständig übersetzt worden und viel gelesen und bekannt. Und das gilt nicht nur für amerikanische, sondern auch für deutsche, französische und englische Literatur, für die der Dritten Welt, überhaupt für alles von Wert, was im Ausland publiziert wurde. Ich glaube, daß die Leute bei uns im Durchschnitt mehr über Amerika, seinen Nationalcharakter und seine Geschichte wissen, als das umgekehrt der Fall ist. Victor Afanasew, der Chefredakteur der Prawda, versicherte mir, daß die sowjetische Presse dreimal soviet Information über die USA verbreitet wie umgekehrt. In Ungam scheint es 14mal soviet zu sein. Lediglich, als Leonid Breschnew nach Budapest reiste, wurde die ungarische Hauptstadt von Hunderten von westlichen Journalisten überschwemmt. Einer der großen Unterschiede zwischen unseren beiden Systemen liegt auch darin, wie die Presse und die Medien funktionieren. Vielleicht ist bei uns nicht immer sofort für eine Erwiderung auf politische Fragen und Ereignisse gesorgt. Aber ich habe das Gefühl, daß wir unseren Lesern in sehr reichem Maße Hintergrundmaterial anbieten, einschließlich einer ausführlichen Information darüber, wie die gegenwärtige Situation in den USA zu interpretieren und zu verstehen ist. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 246 Aber im Westen wird der sowjetische Stil des Journalismus und der Berichterstattung zum aktuellen Geschehen oftmals für unfair und langweilig gehalten. Nun, lassen Sie uns differenzieren. Sowohl bei uns wie auch im Westen gibt es gute und schlechte Journalisten, gute und schlechte Berichterstattung zum aktuellen Geschehen. In dieser Hinsicht hängt sehr viel von persönlichen Fähigkeiten und anderen individuellen Eigenschaften der Reporter, Redakteure und Herausgeber ab. Aber es gibt auch einen generellen Unterschied im Stil, der mit der Verschiedenheit der Systeme zu tun hat. Westlicher, vor allem aber amerikanischer Journalismus ist einseitig auf Sensationen ausgerichtet, insbesondere auf negative. Normale, ausgeglichene Beziehungen zwischen Ländern oder auch Personen sind immer von geringerem Nachrichtenwert als Konflikte und Streit. ‘In unserem Geschäft zählen die schlechten Nachrichten’, sagte ein britischer Fernsehproduzent, womit er auf diese Tatsache hinwies. In dieser Hinsicht haben amerikanische Journalisten bei uns harte Zeiten durchzustehen, da unser Hauptaugenmerk der Erfüllung unserer Pläne für Industrie und Landwirtschaft und kulturellen Ereignisse gilt. Unsere Presse räumt Meldungen zu Katastrophen, Morden oder Sexskandalen nicht viel Raum ein. Kein Klatsch über pikante Affären ehemaliger Präsidenten und deren Gattinnen? Gewiß nicht. Mir tun sogar die amerikanischen Journalisten in Moskau leid, die nicht sehr viel finden, was nach ihren gewohnten Maßstäben berichtenswert wäre. Vielleicht macht sie das noch beharrlicher in ihrem krankhaften Interesse an Dissidenten und an Gerüchten darüber, was ‘oben’ vor sich geht, und ähnlichem mehr. Aber sie sind wirklich in einer schlimmen Lage. Wenn sie nur darüber berichten, was in der Sowjetunion für eine Nachricht gehalten wird, so wird das kaum jemand veröffentlichen. Ich verstehe das, jedoch gibt es nun mal gewisse objektive Schwierigkeiten. Ich muß auch sagen, daß unsererseits viele Versuche untemommen wurden, den westlichen Journalisten die Arbeit leichter zu machen, z. B. mit Fahrten zu Sehenswürdigkeiten und Treffen mit Ministern, deren Arbeit für den Westen besonders interessant sein könnte, z. B. mit jenen, die mit Energiefragen befaßt sind. Manchmal erbrachte das gute Resultate, manchmal nicht. Um es zusammenzufassen, die Aufgabe der Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 247 westlichen Journalisten in der UdSSR ist sehr wichtig, da ein Großteil der Information, die zum Thema Sowjetunion in den Westen gelangt, durch sie vermittelt wird. Es gibt in diesem Bereich noch immer Probleme, einige davon sind ziemlich ernst. Nach meiner Ansicht können sie gelöst werden, vorausgesetzt, alle Seiten - einschließlich des Westens und seiner Presse - sind guten Willens. Und es bedarf nicht nur guten Willens, sondem auch eines ernsthaften Verantwortungsgefühls. Welchen Eindruck haben Sie von den amerikanischen Kongreßabgeordneten, die Moskau besuchen? Nun, dabei handelt es sich um Leute mit verschiedenen Ansichten, unterschiedlichem Background und unterschiedlichen Neigungen. Allein schon die Entwicklung solch parlamentarischer Kontakte zwischen unseren Ländern, wie sie in den letzten Jahren stattfand, ist sehr wichtig. Ganz allgemein sind diese gegenseitigen Besuche trotz all der Schwierigkeiten, die wir während der vergangenen Jahre hatten, einer der Bereiche, in denen wir nach meiner Ansicht Erfolge zu verzeichnen haben. Dieser Austausch von Ideen und Meinungen wahrend der Besuche hat sich mittlerweile entwickelt und einen recht beachtlichen Stand erreicht. Sie sind beinahe schon zu einer Einrichtung geworden, und sollten sie jetzt wegen des Kurswechsels der US-Politik und der daraus entstandenen Verschlechterung unserer Beziehungen zum Erliegen kommen, so ware das für beide Seiten ein echter Verlust. Wann haben diese Kontakte begonnen? Eine Delegation des Obersten Sowjets wurde zum ersten Mal 1974 in die USA eingeladen. Danach besuchte uns 1975 eine offizielle Delegation des amerikanischen Kongresses. Die allererste Delegation bestand aus Mitgliedern des amerikanischen Senats unter der Führung der Senatoren Hubert Humphrey und Hugh Scott. Die zweite Delegation wurde vom Kongreß entsandt und von dessen Sprecher Carl Albert angeführt. Noch zu einigen weiteren offiziellen Delegationen der letzten beiden Jahre: Drei Delegationen des Senats wurden von den Senatoren Abraham Ribicoff, Howard Baker und Joseph Biden angeführt, und eine Delegation des Kongresses führte der Abgeordnete John Brademas an. Die Kongreßabgeordneten wurden ohnehin schon immer als Parlamentarier zweiter Klasse angesehen. Wir haben sie nie so betrachtet. Verschiedene weitere Grappen von Se- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 248 natoren und Kongreßabgeordneten mit nahezu dem gleichen Status haben Moskau während der letzten Jahre besucht, so z. B. eine Grappe des Kongreßausschusses für die Streitkräfte. Verschiedene Senatoren kamen in kleinen Gruppen. Senator Edward Kennedy kam nach Moskau, um an einem speziellen medizinischen Kongreß teilzunehmen. Senator Charles Mathias eröffnete eine Ausstellung. Waren unter den Besuchern ‘Falken’ wie Senator Sam Nunn? Ja, er kam mit einer der offiziellen Delegationen. Wissen Sie, daß Senator Nunn die Niederlande scharf angegriffen hat, weil eine Mehrheit unseres Parlaments zu dem irrsinnigen Wettrennen nach immer moderneren und immer mehr Nuklearraketen inzwischen eine skeptische und sogar ablehnende Haltung einnimmt? Tatsächlich hat Nunn davor gewarnt, daß die Holländer dadurch ‘eine sowjetische Invasion herausfordern’. Nun, Senator Nunn erfreut sich nicht des Rufs, eine Taube oder auch nur ein Gemäßigter zu sein. Ich weiß nicht, wie er in den Ruf kam, ein Experte auf militärischem Gebiet zu sein, aber er gehört zu jenem harten Kern, den viele für die vorderste Linie des militärisch-industriellen Machtkartells innerhalb des US-Senats betrachten. Deshalb bin ich auch von seinen Anschuldigungen gegen die Niederlande keineswegs überrascht. Jedoch möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es Kongreßabgeordnete, mit denen wir wegen ihrer Ansichten nicht sprechen sollten. Wir sind bereit, mit Kongreßabgeordneten aller Richtungen zusammenzutreffen und ihnen unsere Positionen zu erklären, weil uns klar ist, daß sie das politische Spektrum der USA repräsentieren und wir um unserer Beziehungen willen das Vorhandensein solcher Ansichten nicht ignorieren sollten. Im übrigen wurde auch Senator Nunn bei uns bereitwillig empfangen. Wir führten sehr wichtige Gespräche, die, so glaube ich, für beide Seiten nützlich waren. Ich habe Leute erlebt, die eine ziemlich harte Haltung einnehmen und ihre Meinung natürlich nicht ändern, aber als Ergebnis des Zusammentreffens und der Gespräche uns wenigstens besser verstehen und mehr Offenheit entgegenbringen. Deshalb beunruhigt es mich sehr, wenn ich sehe, daß 80 Prozent der Kongreßabgeordneten nie in der UdSSR waren. Wahrscheinlich trifft das gleichermaßen für die Mitglieder der Exekutive zu. Andererseits hat die Mehrheit unserer Abgeordneten des Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 249 Obersten Sowjet und der überwiegende Teil der hohen Staatsbeamten ebenfalls über die USA keine Kenntnisse aus erster Hand. Der Mangel an solchem aus erster Hand gewonnenen Wissen ist im Atomzeitalter einfach gefährlich. Das ist auch der Grund, warum die Entwicklung solcher Kontakte so wichtig ist. Sind nicht die amerikanischen Parlamentarier, insbesondere, wenn sie zum ersten Mal kommen, voller vorgefaßter Meinungen, die auf mangelnden Informationen über die Sowjetunion beruhen (und gilt nicht das gleiche im umgekehrten Fall)? Das kommt vor (wobei ich nicht den umgekehrten Fall meine). Oft bleiben sie nur kurze Zeit hier, so daß es fast unmöglich ist, alle diese Vorurteile zu zerstreuen. Amerikanische Parlamentarier, die nach Moskau kommen, scheinen besonderen Nachdruck darauf zu legen, mit sowjetischen Dissidenten zusammenzutreffen, ebenso, wie einige Journalisten das als ihre vorrangige Aufgabe zu betrachten scheinen. Es ist für Kongreßabgeordnete und viele andere fast zur Routineangelegenheit, zu einem bevorzugten Zeitvertreib geworden, mit Dissidenten zusammenzutreffen. Ein Abgeordneter des niederländischen Parlaments, der Moskau besuchte, kletterte sogar mitten in der Nacht über das Tor des Gästehauses, in dem er wohnte, um einen Dissidenten treffen zu können. Ich habe viele Delegationen von Parlamentariern aus den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern getroffen, aber ich habe, ehrlich gesagt, ihr Verhalten während der Nacht nicht beobachtet. Manchmal schicken amerikanische Organisationen den Delegationen des Kongresses einige Leute voraus, damit diese Treffen mit Dissidenten sowohl in Leningrad wie auch in Moskau vorbereiten. Wenn mich amerikanische Besucher fragen, ob solche Treffen angebracht sind, so pflege ich sie meist an ihre Delegationsführer zu verweisen. Manchmal aber stelle ich ihnen die Gegenfrage, wie sie wohl reagieren würden, wenn eine offizielle sowjetische Parlamentarierdelegation bei einem Besuch der USA im Programm nicht vorgesehene - manchmal fast heimliche - Begegnungen mit Gruppen arrangieren würde, für die wir tatsächlich Sympathien hegen mögen, wie etwa den Black Panthers, militanten Puertorica- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 250 nern Oder Aktivisten der Indianer, die von der US-Regierung verfolgt werden. Was wurde Ihnen geantwortet? Nichts Einleuchtendes, obwohl sie mit solchen Praktiken unverändert fortfahren. Bei diesen und weiteren Gesprachen habe ich den Eindruck gewonnen, daß viele amerikanische Politiker bei dieser Sache nicht deshalb mitmachen, weil sie sich so sehr für die Dissidenten oder die ‘Zurückgewiesenen’ (d.h. Leute, denen ein Visum für die Ausreise verweigert wird) interessieren, sondem einfach um des Ansehens willen; das gilt vor allem für jene, die eine erhebliche Zahl von Einwanderern in ihrem Wahlkreis haben. Jedenfalls besuchen auch Delegationen des Obersten Sowjets Washington? Ja, es wurden zwei offizielle Delegationen entsandt, eine 1974 und die andere 1978, jeweils unter der Führung von Boris Ponomarew, dem Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses. Auch kleinere Grappen besuchten die USA, die letzte im Herbst 1979. Die Frage der Dissidenten schafft für die Ost- West- Beziehungen fortwährend Schwierigkeiten. Was ist Ihre Meinung zu diesen Leuten? Die sogenannten ‘Dissidentená sind eine kleine Grappe. Wie klein genau? Meines Wissens nach sind im letzten Jahrzehnt ein paar Hundert von diesen Leuten aufgetreten, darin eingeschlossen nicht nur die im engeren Sinn politischen Dissidenten, sondern auch die aktivsten unter den ‘Zurückgewiesenen’, sowie die führenden Mitglieder von extrem nationalistischen Gruppen und illegalen religiösen Sekten. Das sind Leute mit unterschiedlichen Forderungen, Programmen und Beschwerden. Wann immer gerichtliche oder administrative Maßnahmen gegen sie unternommen werden, so ist das nicht eine Folge davon, daß sie Ansichten vertreten, die mit den im ganzen Land vertretenen Meinungen nicht übereinstimmen, wie man das ja im Westen oftmals glaubt. Sie kommen mit dem Staat nicht deshalb in Konflikt, weil sie ‘anders denken’ oder ‘abweichen’, was ja die genaue Bedeutung des lateinischen Wortes ‘Dissident’ ist. Die Probleme fangen dann an, wenn sie sich entschei- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 251 den, sowjetische Gesetze zu brechen. Immer dann ergreift der Staat Maßnahmen gegen sie. Ein typisches Merkmal jener Grappen war, daß sie in den letzten Jahren enge Beziehungen zu auslandischen Bürgern und Organisationen unterhielten. Sie stützten sich auf ausländische Medien, haben oftmals tatsächlich für sie gearbeitet und erhielten verschiedene Arten der Unterstützung von außen, in einigen Fällen auch finanzielle Hilfe. Gleichgültig, wie man im Westen die Motive der Dissidenten darstellt - bei uns sieht die breite öffentliche Meinung in ihnen Leute, die ausländischen Interessen dienen. Und was ist mit der Gruppe, die die Einhaltung der Schlußakte von Helsinki durch die Sowjetunion überwacht? Einige Leute haben dieses Mäntelchen für ihre Tätigkeit gewählt. In Wirklichkeit ist es ihr vorrangiges Ziel, die ausländischen Medien mit Material zu versorgen, das dazu dient, im Westen den Eindruck zu erwecken, es gäbe in der UdSSR eine weitverbreitete politische Bewegung, die sich gegen den sowjetischen Staat und die sowjetische Gesellschaft richtet, und zugleich soll die sowjetische Öffentlichkeit durch Gerüchte und Mitteilungen, die über die westlichen Medien in die UdSSR getragen werden, in Unruhe versetzt und irregeleitet werden. Diese Leute fordern fortgesetzt unsere Gesetze heraus. Einige Leute im Westen sehen das vielleicht gerne. Aber sie, wie auch die sowjetischen Bürger, die sich in dieser Weise betätigen, müssen sich darüber im klaren sein, daß sie die Regierang und das gesamte politische System direkt herausfordern, und sie müssen deshalb damit rechnen, daß dieser Konflikt nicht ohne Konsequenzen bleibt. Was die Menschen im Westen am meisten stort, das ist, daß diese Leute in vielen Fällen verhaftet, vor Gericht gebracht, zu langen Freiheitsstrafen verurteilt oder ins Exil geschickt werden. Gemäß den sowjetischen Gesetzen ist das Verhalten dieser Leute kriminell. Und Verbrechen haben immer Bestrafung zur Folge. Man kann diese Tatsache bedauern, aber sie bleibt nichtsdestoweniger eine Tatsache. Wie der Leiter des Ausschusses für Staatssicherheit kürzlich feststellte, ist die Zahl jener, die in Zusammenhang mit illegalen politischen Tätigkeiten verurteilt sind, heute geringer als zu irgendeiner anderen Zeit im Laufe unserer Geschichte. Es wäre noch besser, wenn es solche Fälle überhaupt nicht gäbe. Wenn der Westen sich jedoch von humanitären Motiven leiten läßt, wie Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 252 er versichert, dann muß er zuerst einmal sein eigenes Tun überprüfen. Ich bin z. B. fest davon überzeugt, daß ohne die systematische Unterstützung und Publizität, die der Westen gewährt, und ohne die Art Heiligenschein, zu dem er den Dissidenten verhilft - weshalb diese Leute auch einen Märtyrerkomplex entwickelt haben und sich für Ebenbilder der Heiligen Johanna halten, die gleich ihr den Scheiterhaufen besteigen -, daß ohne all das die meisten dieser Leute die Gesetze nicht herausfordern und sich folglich nicht auf der Anklagebank wiederfinden würden. Mit anderen Worten, Sie finden, der Westen sei mitverantwortlich für die Sckwierigkeiten, in denen sich die Dissidenten befinden. Der Westen trägt eine schwere Verantwortung. Es ist die Ermutigung und Unterstützung durch den Westen, die einem Dissidenten die Gewißheit geben, daß jeder seiner Schritte weltweite Publizität erlangen wird und, wenn er weit genug geht, ihm das sogar einen Nobelpreis einbringen kann (Friedensnobelpreis, wie seltsam das auch klingen mag). Das brachte einige Leute, die vielleicht ohnehin emotional etwas labil waren, dazu, sich mit der Regierung auf eine Kraftprobe einzulassen und eine Gratwanderung am Rande der Gesetzlichkeit zu wagen. Schließlich überschreiten diese Leute die Gesetze der Legalität. Früher oder später endet es in menschlichen Tragödien. Das ist möglicherweise genau das Ergebnis, das die westlichen Sowjetgegner brauchen, können sie sich doch dann die Hände reiben, die ‘Märtyrer’ beklagen und die Sowjetunion noch mehr denunzieren. Wenn der Westen jedoch wirklich über den humanitären Aspekt und über das Schicksal einiger unserer Bürger besorgt ist, warum benutzt man sie dann auf diese Weise? Wenn es jedoch das Ziel der ganzen Kampagne ist, der UdSSR größtmöclichen Schaden zuzufügen, warum nennt man dann die Dinge nicht beim Namen und hort auf, Tränen zu vergießen? Aber der Westen möchte offenbar beides gleichzeitig haben. Jene, die die Kampagnen zugunsten der Dissidenten betreiben, versuchen einfach, den sowjetischen Behörden endlose Schwierigkeiten zu bereiten, in unserem Land eine Ersatzopposition heranzuziehen, die UdSSR als Polizeistaat abzustempeln, sowie schließlich im Westen die Saat der Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion auszustreuen, um so die Versuche, die internationalen Spannungen zu verringern und das Wettrüsten einzudämmen, zum Scheitern zu bringen. Diese ganzen Tätigkeiten werden nach unserem Eindruck von westlichen Geheimdiensten wie auch von Emigrantengruppen und anderen privaten Organisationen aktiv unterstützt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 253 Betrachtet man diese Situation vom amerikanischen Standpunkt aus, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Dann würde ich den Amerikanern den Rat geben, sich in unsere Situation zu versetzen. Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn sowjetische Journalisten in den Vereinigten Staaten beginnen würden, mit den Mitgliedern von Grappen, wie der Symbionese Liberation Army oder von Weathermen zusammenzuarbeiten? Wäre Daniel Ellsberg von den US-Gerichten freigesprochen worden, wenn er Kontakte mit sowjetischen Vertretern in den Vereinigten Staaten gehabt hätte? Was wäre, wenn wir mit Indianem genau zu dem Zeitpunkt enge Verbindungen aufnehmen würden, zu dem sie sich mit Waffen gegen die Regierung erheben? Wir hegen für sie tiefe Sympathien, aber würde es nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der USA aufgefaßt werden? Und würden sich diese Leute und Organisationen in solch einem Fall nicht wie Agenten einer fremden Macht ausnehmen? Eine Gruppe von Aktivisten der amerikanischen Indianer übergab 1977 auf der Europäischen Sicherheitskonferenz in Belgrad der sowjetischen Delegation Berichte samt den erforderlichen genauen Angaben, aus denen hervorgeht, auf welche Weise nach Ansicht der Indianer die amerikanische Regierung ihre Menschenrechte schwer verletzt und mit Füßen getreten hat. Ja, ich habe von dieser Petition gehört, die vorgelegt, oder, um genauer zu sein, mit der Post geschickt wurde - und genau dieser Vorgang verhinderte es, daß die Petition ein offizielles Dokument der Konferenz wurde. Aber was wäre gewesen, wenn wir ein Ende der ungerechten Behandlung der amerikanischen Indianer zur Vorbedingung für einen weiteren Fortschritt bei der Entspannung gemacht hätten? Solch ein Schritt wäre ein Versuch gewesen, eine Ungerechtigkeit durch eine andere zu beseitigen, ohne daß dabei den Indianern geholfen gewesen wäre. In den internationalen Beziehungen gibt es fraglos Grenzen, die durch die politische Weisheit eines Staatsmannes bestimmt werden. Die Frage ist, wo nehmen Äußerungen, mit denen man bestimmte Ideen unterstützt, den Charakter einer offenen Einmischung an. Das unerläßliche Gebot der Entspannung ist es, diese schmale Grenzlinie nicht zu überschreiten. Glauben Sie, daß Carter mit einigen seiner Maßnahmen diesen Rubikon überschritten hat? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 254 Mit Sicherheit ist das der Fall. Ich glaube, er hat das selbst gemerkt, genauso wie andere Leute innerhalb seines Regierungsapparats. Gegen Ende der Amtszeit wurden sie in dieser Hinsicht vorsichtiger, vor allem als offensichtlich wurde, daß die Menschenrechtskampagne extrem einseitig ausgerichtet war und dabei mit zweierlei Maß gemessen wurde. Wenn die Zahl der Dissidenten so gering ist, wie Sie sagen, wäre es dann nicht praktischer, diese entweder überhaupt nicht zu beachten oder ihnen einfach zu erlauben, das Land zu verlassen? In vielen Fällen wird genau das gemacht. Aber wir haben unsere Erfahrungen, vor allem im Fall der ‘Zurückgewiesenen’, also der Leute, die mit den Behörden Schwierigkeiten bekamen, weil ihnen aus irgendwelchen Gründen die Auswanderung nicht gestattet wurde. Wenn wir den Weg zu einer derartigen Lösung einschlagen, so wird das als Einladung aufgefaßt, weiteren Druck auszuüben: Neue Namen tauchen auf, und das Geschrei wird lauter. Einige, die zurückgewiesen werden, werden offensichtlich dazu angestachelt, daraufhin etwas zu untemehmen. Die westlichen Medien greifen einige Fälle mit ‘Nachrichtenwert’ auf und das ganze beginnt von neuem, aber nun mit doppelter und dreifacher Intensität. Deshalb sind manche Leute dazu übergegangen, es für das Beste zu halten, diesen Forderungen und diesem ganzen Geschrei weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Der Westen hat die Glaubwürdigkeit seiner Besorgnis, seiner Warnungen und seiner Appelle an uns selbst untergraben. Die Frage der ‘Zurückgewiesenen’ bringt uns auf die Situation der Juden in der UdSSR. Einige Beobachter stellen ein Ansteigen des Antisemitismus in der Sowjetunion fest. Die Geschichten über den Antisemitismus in der Sowjetunion sind ein Teil der antisowjetischen Kampagne, die im Westen geführt wird. Diese Geschichten wurden zu wiederholten Malen von den höchsten zuständigen sowjetischen Stellen als falsch entlarvt. Die westliche Kampagne gibt zur Besorgnis Anlaß, denn sie kann nur schlimme Gefühle wecken, wenn nicht gar gewisse Vorurteile aufs neue beleben. Man muß wissen, daß unsere Partei nach der Revolution eine große Leistung vollbracht hat, als sie den Antisemitismus bekämpfte und antisemitische Vorurteile ausrottete. Der Antisemitismus basierte immer auf der Vorstellung, die Juden seien Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 255 ‘Fremde’, seien Bürger, deren Loyalität zweifelhaft oder gar doppelbödig ist. Wird von außen Druck ausgeübt, damit mehr aus der Sowjetunion auswandern können, so kann die ganze Aufregung, die um diese Frage entsteht, solche Vorstellungen nur neu beleben. Und niemand sollte überrascht sein, daß die Zionisten schließlich eine Verbindung hergestellt haben zwischen der Kampagne zur ‘Hilfe für die sowjetischen Juden’ und solch emotionsgeladenen Themen wie Entspannung, Rüstungskontrolle und der Frage der wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen der UdSSR und den USA. Am 18. Februar 1980 veröffentlichte der Dissident und Schriftsteller Alexander Solschenizyn im Magazin Time, das eine Auflage von ungefähr 6 Millionen hat, einen weiteren zwei Seiten langen ‘Rat an den Westen’, in dem er den Kommunismus eine tödliche Gefahr für die Menschheit und eine ansteckende Krankheit nennt. Der Kommunismus wurde schon lange, bevor Solschenizyn zu schreiben anting, ja sogar schon bevor er geboren wurde, als tödliche Gefahr beschrieben. Vom ersten Augenblick unseres Bestehens an stießen wir in allen westlichen Ländern auf weitverbreiteten Haß, Verleumdung und Feindseligkeit. Was diesen speziellen ‘Warner’ anbelangt, so wird er ganz im Gegensatz zu seinen Behauptungen hier bei uns nicht als tödliche Gefahr für den Kommunismus oder für die Moral der Menschen in der Sowjetunion betrachtet. Ich glaube, daß heute auch im Westen eine nüchtemere Haltung gegenüber Solschenizyn eingenommen wird, nachdem die Öffentlichkeit mit dem, was er schreibt, besser bekanntgeworden ist. Nachdem wir einen berühmten Mann erwähnt haben, möchte ich auch den zweiten zur Sprache bringen, nämlich das Mitglied derAkademie der Wissenschaften, Andrej Sacharow. Nun, vieles von dem, was ich dazu schon gesagt habe, gilt auch für diesen speziellen Fall. Sacharow hat sich schon seit langem darauf verlegt, die Regierung öffentlich herauszufordern - manchmal auf die denkbar rüdeste Weise. Die Tatsache, daß er in seinem Tun vom Ausland unentwegt unterstützt, ja sogar dazu angestiftet wird, ermutigt ihn zur Konfrontation mit der Regierung, was ihn wiederum in den Augen der Sowjetbürger verdächtig macht. Heißt das, man sieht in ihm jemand, der nicht die Interessen seines Vaterlandes verteidigt, sondern die Interessen anderer? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 256 Ja. Sie können sich leicht vorstellen, wie die Leute in der Sowjetunion, auch wenn sie um Sacharows frühere Leistungen als Wissenschaftler wissen, auf seine freundschaftlichen Verbindungen, ja mehr noch, auf seine gegenwärtige Zusammenarbeit mit so erklärten Feinden unseres Landes wie Senator Henry Jackson oder James Buckley reagieren. Und was um alles in der Welt soli man in der UdSSR von Sacharow halten, wenn er, wie ‘The Voice of America’ unverzüglich berichtete, der US-Regierung den Rat gab, über den Verkauf von Getreide und anderen Waren an die Sowjetunion ein Embargo zu verhßngen, durch militßrische Aufrüstung den Druck auf die Sowjetunion zu erhöhen, die Olympischen Spiele zu boykottieren und weitere feindliche Handlungen gegen die Sowjetunion zu begehen. Übrigens gibt es in den USA selbst Gesetze, die den Bürgern, wenn sie nicht ausdrücklich dazu autorisiert sind, verbieten, als Privatpersonen mit ausländischen Regierungen Verhandlungen aufzunehmen, in einen Schriftwechsel zu treten und Kontakte aufzubauen. Aber selbst, wenn wir die Anforderungen des Gesetzes außer Betracht lassen - wie würden die Amerikaner selbst einen Mitbürger behandeln, der dauernd fremde Regierungen dazu aufruft, feindliche Handlungen gegen die Vereinigten Staaten zu begehen, der also, sagen wir, Teheran bittet, die Geiselnahme fortzusetzen, oder verlangt, Saudi-Arabien solle den Preis für das Öl, das in die Vereinigten Staaten exportiert wird, erhöhen? Aber katte Sacharows Verbannung nach Gorki nicht den gegenteiligen Effekt von dem, was eigentlich beabsichtigt war, d.h., war sie nicht ‘konterproduktiv’? Sacharows Verbannung und sein Schicksal ganz allgemein können nicht unter dem Gesichtspunkt eines Spiels oder einer Intrige betrachtet werden. Hier haben wir es mit einem ziemlich ernsten politischen Thema und mit einer menschlichen Tragödie zu tun. Ich halte es nicht für angebracht, bei der Diskussion solcher Themen mit den Begriffen ‘produktiv’ und ‘konterproduktiv’ zu operieren. Was würden Sie abschließend zu diesem Thema der Menschenrechte sagen? Ich will noch einmal betonen, daß das Thema der Menschenrechte, gerade weil es so wichtig ist, konstruktiven und nicht destruktiven Zwekken dienen sollte. Ist es nicht für jedermann das wichtigste Recht, in Frieden zu leben? Vorausgesetzt, man geht das Thema korrekt und gewissenhaft an, sollte man Debatten über die Menschenrechte auf eine Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 257 Art führen, die der Entspannung keinen Schaden zufügt. Schließlich sind Frieden und Entspannung die Grundvoraussetzungen, um den Menschenrechten in all ihren Erscheinungsformen auf der ganzen Welt Geltung zu verschaffen. Eindnoten: 1 ‘The Government against the People. The American Police State’, Random House, New York 1976 2 Binnenlandse Veiligheids Dienst (BVD) ist der niederländische Geheimdienst 3 ‘A Continent Astray: Europe 1970-1978’, Oxford University Press 1979, S. 250 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 258 VI) Die beiden Giganten und die Welt Es steht fest, daß das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten weiterhin einen unerhört wichtigen Teil der heutigen internationalen Beziehungen darstellt. Die gesamte Komplexität der internationalen Lage kann jedoch wohl kaum auf den Nenner Moskau - Washington reduziert werden. Beinahe neun Zehntel der Weltbevölkerung leben außerhalb der USA und der UdSSR. In einer Zeit zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit können es sich weder die neun Zehntel leisten, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen außer Betracht zu lassen, noch können die beiden Giganten ihre gegenseitigen Beziehungen losgelöst von dem betrachten, was sich in Asien, Afrika und Lateinamerika ereignet, von Europa ganz zu schweigen. Dem kann ich nur zustimmen. Die Vorstellung, daß die beiden Supermächte spezielle Rechte hätten, war der Sowjetunion schon immer fremd. Wir halten die Entwicklung unserer Beziehungen mit all den anderen Ländem für sehr wichtig und ignorieren sie keineswegs der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wegen. Deshalb sollten wir die Probleme anderer Länder und Regionen sowohl im Kontext der sowjetischen Außenpolitik wie auch der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen erörtern. Lassen Sie uns mit dem Fernen Osten beginnen. Die Beziehungen der Sowjetunion sowohl zu China wie auch zu Japan scheinen Unbehagen zu bereiten. Die Grenzstreitigkeiten dauern weiter an. Ein Mitarbeiter des Weißen Houses schlug mir vor, Sie zu fragen: Warum gibt die UdSSR in dieser Frage nicht in einigen Punkten von geringerer Bedeutung nach, auch wenn sie das Gefühl hat, das Recht stünde auf sowjetischer Seite? Unsere Beziehungen mit China und unsere Beziehungen mit Japan sind zwei verschiedene Dinge. Wenn wir sie begreifen und ihnen gerecht werden wollen, sollten wir sie trotz der geographischen Nähe nicht in ei- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 259 nen Topf werfen, weder bei der analytischen Betrachtung, noch in politischer Hinsicht. Lassen Sie uns zuerst unsere Beziehungen zu China betrachten. Obwohl China mit uns wegen Grenzfragen im Streit liegt, und wir die chinesischen Ansprüche schlicht für unverschämt halten, handelt es sich dabei weder um die einzige Schwierigkeit, noch um das wichtigste Einzelproblem, das zwischen uns besteht. Deshalb glaube ich nicht, daß Zugeständnisse oder Kompromisse in Territorialfragen (die wir ohnehin nicht machen werden) zu einer Wiederannäherung zwischen der Sowjetunion und China führen würden. Was ist dann in erster Linie die Ursache für die Schwierigkeiten? Die Ursache ist die gesamte Politik, die die Pekinger Führung nun seit mehr als zwei Jahrzehnten betreibt. Sie hat ehrgeizige, und ich würde - unter Verwendung ihres bevorzugten Wortes - sagen, hegemonistische Pläne, die ohne eine feindliche Haltung gegenüber der Sowjetunion undenkbar wären. Im Westen wurde in verstärktem Maße die Meinung vertreten, daß das Motiv der Sowjetunion für ihre Entspannungspoltik in erster Linie die Angst vor China und dessen wachsender militärischer Stärke war. Diese Meinung ist völlig unbegründet. Ganz im Gegenteil, unsere Politik der Entspannung wurde mit zum Grund für die Verschlechterung unserer Beziehungen zu China. Schon in den späten fünfziger Jahren wurden die sowjetischen Absichten, eine Entspannung gegenüber dem Westen anzustreben, von den Chinesen barsch als ‘Verrat an der Sache der Revolution’ bezeichnet. Sind Sie der Meinung, daß es keine weiteren Gründe dafür gab, warum sich die chinesisch-sowjetischen Beziehungen so entwickelten, wie das der Fall war? Sicher gab es - jedenfalls vom chinesischen Standpunkt aus gesehen - außer der angekündigten sowjetischen Entspannungspolitik gegenüber dem Westen, und hier insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten, noch weitere Gründe. Einer dieser Gründe, die hier anzuführen wären, war unsere Weigerung, ihnen die Nuklearbombe zu geben. Außerdem sahen die Chinesen ganz offensichtlich in der Sowjetunion ein ernsthaftes Hindernis für ihre Ansprüche auf die Führungsrolle unter den sozialistischen Ländern und in- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 260 nerhalb der kommunistischen Weltbewegung - Ansprüche, die nach Stalins Tod ganz offensichtlich wurden. Wie erklären Sie sich diese neue Mode Washingtons, den Chinesen zu schmeicheln? Psychologisch gesehen mag das mit dem Mythos zusammenhängen, der China jahrelang umgab. Dieser Mythos erhielt wahrscheinlich einen besonders starken Impuls zu der Zeit, als in Washington nach Richard Nixons sogenannter ‘epochemachender’ Reise in den Fernen Osten allenthalben Euphorie herrschte. Es ist eine menschliche Schwäche, das Exotische und Unbekannte zu romantisieren. Und die Chinesen haben alles getan - und zwar mit Erfolg -, um diese Haltung, die man gegenüber dem Fernen Osten einnahm, auszunutzen, ebenso wie sie nach Kräften versuchten, ihre amerikanischen Besucher mit einem gewissen Flair des Geheimisses, der dem volkreichsten Staat der Erde anhaftet, zu beeindrucken. Eine mehrtausendjährige Geschichte, eine alte Kultur, eine vorzügliche Küche, Wertordnungen, die sich von den westlichen unterscheiden - all das wirkte offensichtlich zusammen, um die amerikanischen Besucher und ihre Begleitung in einem Maß zu betôren und ihre Neugierde zu erwecken, daß sie fast überwältigt waren. Und sogar politische Platitüden beginnen manchmal - wenn sie in einer fremden Sprache und auf fremdartige Weise ausgesprochen werden -, verborgene Bedeutung, Charme und Weisheit anzunehmen. Sehen Sie sich an, wie geschickt die Pekinger Führung diese einmal erweckte Neugierde der Mandarine aus dem Weißen Haus, dem Capitol und der Wall Street nährte und ermutigte. Es ist sehr viel schwieriger, die Nachbarn Chinas, die im direkten Umgang mit diesem Land eine lange Erfahrung haben, von der chinesischen Mystik zu überzeugen. Für sie sieht alles ein bißchen einfacher aus, unheilvoller und sehr viel rauher. Wßhrend der letzten Jahre hat das Verhalten der Chinesen in internationalen Fragen gezeigt, daß ihnen nichts besonders Rätselhaftes anhaftet. Wir haben in der chinesischen Außenpolitik einige ziemlich simple Züge erlebt, nämlich Chinas Versuche, seine Gegner gegeneinander auszuspielen und schwächeren Ländern seinen Willen aufzuzwingen, sogar ohne dabei den geringsten Versuch zu unternehmen, seine Aggressivität zu verbergen. Die chinesische Aggression gegen Vietnam war ein illustratives Beispiel dafür. Ja. Das hat wahrhaftig einen tiefen Einblick zugelassen und das andere Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 261 Gesicht des sogenannten rätselhaften Chinas in aller Deutlichkeit offengelegt. Die Verknüpfung mit einer mehrtausendjährigen Geschichte entpuppte sich auf ganz besondere Weise, nämlich als nicht sehr schmeichelhafte Parallele zwischen der gegenwartigen Pekinger Politik und den brutalen Intrigen und Machtkämpfen der feudalen chinesischen Kriegsherren. Kennen Sie Oriana Fallacis Interview mit Deng Xiaoping? Ja, ich kenne es. Dann werden Sie sich an den Zynismus erinnern, mit dem Deng diese Aggression beschreibt, wobei er nur bedauert, daß sie ‘nicht sehr effektiv war, da viele Länder unser Vorgehen nicht billigten’. Nichtsdestoweniger demonstrierte diese Aggression nach seinem eigenen Dafürhalten ganz deutlich, ‘wie entschlossen wir sind, dem Tigerins Auge zu sehen. Und wir behalten uns das Recht vor, ihnen eine weitere Lektion zu erteilen’.1 Glauben Sie, die gegenwärtige Angewohnheit der Chinesen, andere Länder zu ‘bestrafen’, steht in einem Zusammenhang mit der Geschichte der alten chinesischen Kriegsherren? Gut denkbar. Und sie hat ihre Verteidiger, ja sogar ihre Nachahmer im Westen gefunden, wo das Verlangen, die Sowjetunion zu ‘bestrafen’, zum Vorwand wurde, um zum Kalten Krieg zurückzukehren. Zu der Zeit, als Generalsekretär Breschnew 1980 in Neu-Delhi zu Besuch weilte, sagte die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi zu mir, daß ihr die chinesischen Gebietsansprüche in Asien fortgesetzt Sorgen bereiten. Das ist gut zu verstehen. Im Laufe der Jahre erlebte Indien wiederholte Male chinesische Invasionen, auch befleißigte sich China ausgedehnter umstürzlerischer Tätigkeiten bzw. anderer Arten der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Indiens. Ich vermute, daß das Motiv für die Feindseligkeit Chinas gegenüber Indien nicht ausschließlich territoriale Ansprüche sind. Besonders lästig muß es für Peking sein, daß Indien seit langen Jahren standhaft für den Frieden und die Sicherheit in Asien eintritt, wodurch sich dieses Land in der ganzen Welt einen hervorragenden Ruf erwarb. Diese Politik Indiens, die auf Jawaharlal Nehru zurückgeht, wurde von der Sowjetunion immer voll unterstützt. China sieht in Indien und dessen Außenpoltik auch das Haupthindernis für seine ehrgeizigen Ziele in Asien. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 262 Was ist zum realpolitischen Aspekt der neuen Haltung des Western gegenüber China zu sagen? Chinas gegenwärtige Popularität im Westen ist - wie ich schon festgestellt habe - in erster Linie durch die antisowjetische Haltung Pekings zu erklären. Tatsächlich ist das einzige Produkt, das die Chinesen auf dem Weltmarkt anzubieten haben, ihr antisowjetischer Standpunkt. Können Sie sich vorstellen, daß Peking Kredite oder der Meistbegünstigtenstatus im Außenhandel eingeräumt werden würden, daß es militärische Ausrüstung erhielte und ihm allgemein die außerordentlich freundliche Behandlung durch die Vereinigten Staaten und die Nato-Länder zuteil werden würde - ganz zu schweigen von der ungewöhnlichen Freundschaft solcher Leute wie Senator Jackson, James Schlesinger und Zbigniew Brzezinski aus den USA oder Franz Josef Strauß aus der Bundesrepublik Deutschland -, wenn China normale Beziehungen zur Sowjetunion hätte? Ich will damit nicht sagen, daß das Fehlen von Beziehungen zwischen dem Westen und China nicht anomal gewesen sei. Seit der Gründung der Volksrepublik China 1949 taten wir unser möglichstes, um die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder dazu zu überreden, die neue Regierung Chinas anzuerkennen, normale diplomatische Beziehungen mit ihr aufzunehmen und der VR China in der UNO einen Sitz einzuräumen. Aber der Westen legte sich quer. Mehr noch, viele amerikanische Sinologen und Diplomaten, die dazu aufriefen, die VR China diplomatisch anzuerkennen, wurden während der McCarthy-Ära eingeschüchtert und auf die schwarze Liste gesetzt. Wird unser Mißtrauen nicht schon durch die bloße Tatsache gerechtfertigt, daß die Annäherung zwischen China und dem Westen erst zustande kam, als die maoistische Führung aggressiv antisowjetisch wurde? Vom Standpunkt des Westens aus gesehen, insbesondere von dem der Vereinigten Staaten, mag es aber logisch gewesen sein zu versuchen, die Position gegenüber der Sowjetunion zu stärken, indem man die Beziehungen mit China verbesserte. Nun, damit haben Sie auf recht freimütige und einfache Weise genau die konzeptionellen Grundlagen dieser Politik beschrieben - nämlich das aus dem 19. Jahrhundert stammende Spiel des Gleichtgewichts der Mächte. Dessen wesentlicher Kern besteht darin, daß man seine eigene Macht dadurch erhöht, indem man ein zusätzliches Gewicht in die Waagschale wirft. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 263 Meinen Sie damit die Art von Ansichten, wie sie Henry Kissinger vertritt? Ja, Kissinger, aber nicht nur er. Die Vorstellung eines ‘multipolaren Gleichgewichts der Kräfte’ ist in den USA besonders populär geworden, als westliche Politologen anfingen, vom Ende der ‘bipolaren Welt’ und der an ihre Stelle tretenden ‘multipolaren Welt’ zu sprechen. Zu dieser Zeit begann man, sich sowohl in der Theorie wie auch in der praktischen Politik mit den Möglichkeiten zu befassen, die eigene politische Position dadurch zu stärken, daß man verschiedene ‘Machtzentren’ gegeneinander ausbalancierte. Aber ist das nicht logisch? Da habe ich sehr ernste Zweifel. Jedenfalls, wenn man das Ziel hat, eine atomare Vernichtung zu vermeiden und in den internationalen Beziehungen für Stabilität Sorge zu tragen. Dieses Konzept geht von einem ‘freien Spiel der Kräfte’ aus. Und jeder Teilnehmer wird natürlich auf eigenes Risiko ‘spielen’, und zwar ganz nach Laune, wobei er nur seine eigenen Regeln in Betracht zieht. Die historische Erfahrung zeigt, daß bei solchen Spielen nie etwas Gutes herauskommt. Metternich, Talleyrand und Castlereagh wirken hier nach. Esscheint, daß eben solche Prinzipien auf dem Wiener Kongreß von 1815 kodifiziert wurden, ja sogar eine weihevolle Würdigung erfuhren. Es gibt eine deutliche und bewußt angelegte Parallele. Aber genau diese Parallele hilft auch zu verstehen, warum das alte Konzept im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht anwendbar ist. Die Welt hat sich zu sehr verändert. Nehmen Sie nur einen Unterschied. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts bedeutete eine Fehlkalkulation, die zur Störung des Gleichgewichts führte, schlimmstenfalls eine weitere Umgestaltung europäischer Grenzen oder die Ersetzung einer Dynastie durch eine andere. Alles das war seinem Umfang nach ziemlich begrenzt und öfters reversibel. Der Lauf der Geschichte konnte auf lange Sicht die ‘Realpolitiker’ des 19. Jahrhunderts zügeln und korrigieren. So konnten die Beschlüsse des Wiener Kongresses - wenn sie Europa schon keine nennenswerte Stabilität bescherten - wenigstens nicht die Vernichtung der europäischen Zivilisation herbeiführen. Heute führt das Konzept eines solchen Kräftegleichgewichts unausweichlich zu einer Situation, in der ein Teilnehmer dieses Balanceaktes über ein ausreichendes Potential an Nuklearwaffen und Raketen verfü- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 264 gen würde, um einen oder mehrere seiner Gegner zu vernichten, und eine Fehlkalkulation könnte leicht zu einem irreversiblen Ergebnis führen. Im Rahmen einer solchen Konstellation an Stabilität zu denken, ist Unsinn. Man kann sich schwer vorstellen, wie jemand in solch einer pseudorealistischen Welt irgendeinen Vorteil daraus ziehen könnte, China beizustehen, es sei denn, man geht bis an die Grenze eines echten Krieges. Nebenbei gesagt könnte das einer der Gründe sein, warum Kissinger seine Vorstellungen darüber, wie China in seine Neo-Mettemich'sche Formel einzufügen sei, modifiziert zu haben scheint. Hat er sie modifiziert? Nun, hierzu ein Zitat aus seiner jüngsten Rede, die er anläßlich des 30. Jahrestages der Gründung der Nato in Brüssel gehalten hat: ‘Nach meiner Ansicht haben die Chinesen während 3000 Jahren überlebt, weil sie am wenigsten sentimental vorgingen, wenn es galt, die Strategie des Gleichgewichts der Kräfte in die Praxis umzusetzen, weil sie sich darin am geschicktesten erwiesen, und weil sie diejenigen waren, die am we- nigsten Illussionen hatten. China wird für uns nur in die Breche springen, wenn wir selbst das Notwendige tun. China wird nicht das Opferlamm spielen und - wenn wir uns weigern, es selbst zu tun - an unserer Stelle auf die Barrikaden steigen, um sich Kräften entgegenzustellen, die wir selbst entfesselt haben. Deshalb steht fest, daß mit China Zusammenarbeit nur dann möglich ist, wenn wir ein Gleichgewicht der Kräfte schaffen.’2 Mit anderen Worten, Amerika muß seine Streitkräfte ausbauen und auch tatsächlich selbst kämpfen, wenn es will, daß China im Kampf gegen die Sowjetunion auf seiner Seite steht, sind doch die Chinesen nicht bereit, Risiken auf sich zu nehmen, auf die die Amerikaner nicht vorbereitet sind. Das Ergebnis davon ist eine starke Aufrüstung auf seiten Amerikas, mit der wiederum eine starke chinesische Aufrüstung bezweckt werden soll, die angeblich im Interesse Amerikas liegt. Ist es das, was sich die Amerikaner erhofft haben? Und welchen Nutzen werden die Vereinigten Staaten von solch einem System haben? Die Rand Corporation hat bereits eine sehr umfangreiche Studie über die militärischen Verbindungen mit China in den achtziger Jahren ausgearbeitet. Wir haben die Tendenz zur Schaffung einer Art amerikanisch-chinesischer Militärallianz aufmerksam verfolgt, seitdem wir erste entspre- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 265 chende Anzeichen beobachteten. Es handelt sich dabei um eine sehr gefährliche Tendenz - gefährlich nicht nur für uns, sondern gleichermaßen für die Vereinigten Staaten. Sehen Sie, das China von heute wäre in einem Krieg gegen die Sowjetunion möghcherweise ein sehr wertvoller Verbündeter für Amerika, würde es sich dabei um eine Wiederholung des Ersten oder Zweiten Weltkriegs handeln. Ich bin jedoch der Meinung, daß es sich im Atomzeitalter als mindestens ebenso gefährlich erweisen kônnte, mit China verbündet zu sein, wie China zum Gegner zu haben. Wie das? Ganz einfach. Ein Bündnis mit einem anderen Land zu schließen, bedeutet nicht nur, daß einem vom jeweiligen Partner Versprechungen gemacht werden, sondem heißt gleichermaßen, daß man selbst Verpflichtungen eingeht und damit seine eigene Politik an die des Partners bindet. Die VR China aber - der Partner in diesem Fall stellt, wie wir schon erörtert haben, territoriale Ansprüche an all seine Nachbarn und verfolgt ganz allgemein eine Außenpolitik, die sich aus der Anmaßung ableitet, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Je enger die Verbindungen Amerikas und der Nato mit China sind, desto abhängiger werden diese von den Zielen, die von der chinesischen Außenpolitik gesetzt werden. Man könnte vielleicht noch weitere wohlbekannte und in diesem Zusammenhang angebrachte Bemerkungen hinzufügen. Die Chinesen haben wohl kaum vor, gegen eine große und Starke Nuklearmacht einen Krieg zu führen, wissen sie doch ganz genau, mit welchem Ergebnis sie dabei zu rechnen hätten. Sie würden lieber, wie Mao es ausgedrückt hat, ‘auf sicherer Anhöhe sitzen und zusehen, wie sich die beiden Tiger in Stücke reißen’. Das Motto des chinesischen Spiels ist es, zwischen der UdSSR und dem Westen einen Konflikt zu provozieren, möghcherweise sogar einen Krieg. Jedes Bündnis zwischen China und dem Westen wird unweigerlich diesem Zweck dienen, ganz gleich, welche Absichten der Westen dabei haben mag. Um ein Wort aus dem Neuen Testament abzuwandeln: ‘Manipuliert nicht, auf daß ihr nicht manipuliert werdet.’ Wenn wir jedoch das Problem unter dem Aspekteiner Politik des Gleichgewichts der Kräfte betrachten, ging dann die Rechnung des Westens nicht auf, als China Vietnam angriff und damit seine Bereitschaft demonstrierte, gegen einen anderen kommunistischen Staat zu kämpfen? Ich glaube nicht, daß Amerikaner, die auch nur mit den wichtigsten Feinheiten außenpolitischer Fragen vertraut sind, diese Entwicklung le- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 266 diglich unter dem Aspekt betrachten konnten, daß hier Kommunisten gegen Kommunisten kämpften. Ich habe den Eindruck, daß sie den Krieg Chinas gegen Vietnam möglicherweise ganz anders beurteilt haben. In diesem Fall haben die Chinesen die Welt glauben gemacht, sie hätten den Angriff auf Vietnam irgendwie mit den USA und Japan abgesprochen, ja womöglich gar deren Segen dazu erhalten. Liegt das im Interesse der USA? Und was wäre gewesen, wenn es zu einer Eskalation des Krieges gekommen wäre? Hätte das nicht die Gefahr einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion heraufbeschworen? Diese Oder ahnliche Überlegungen sind in jenen Tagen zweifellos vielen in den Sinn gekommen. Wie beurteilen Sie generell die Möglichkeit, daß es zwischen der Sowjetunion und China zu einem Krieg kommt? Wir wünschen einen solchen Krieg nicht und sind bereit, unser möglichstes zu tun, um ihn zu vermeiden. Mehr noch, wir möchten unsere Beziehungen mit China normalisieren. Bekanntermaßen haben wir die Verhandlungen mit Peking fortgeführt, wann immer dies möglich war. Diese Verhandlungen wurden jüngst von Peking ausgesetzt, aber ich glaube, sie werden früher oder später wieder aufgenommen werden. Alle westlichen Besucher, die aus China zurückkommen, berichten jedoch, daß Vertreter aller politischen Ebenen von einer bevorstehenden sowjetischen Aggression sprechen. Die Chinesen sagen das. Aber ich möchte ernsthaft bezweifeln, daß die chinesische Führung wirklich eine sowjetische ‘Invasion’ so sehr befürchtet, wie sie vorgibt, oder daß sie uns wirklich verdächtigt, einen Krieg gegen China zu planen. Selbst wenn man das Problem aus der Sicht eines traditionellen Geopolitikers betrachtet, wäre ein sowjetischer Angriff auf China ein unerhört dummes Unternehmen. Warum verbreitet dann die chinesische Führung diese Ängste? Erstens, so glaube ich, besteht ein enger Zusammenhang zwischen dieser Kriegshysterie und einer sehr instabilen und unsicheren innenpolitischen Lage in China. In einer ‘äußeren Bedrohung’ kann demnach ein absolut unverzichtbarer Faktor gesehen werden, um das Land und die herrschende Partei zusammenzuhalten und die unzufriedene und murrende Bevölkerung zu disziplinieren. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 267 Einen weiteren Grand habe ich schon erwähnt: Der Antisowjetismus ist die wertvollste Ware, über die die Chinesen verfügen und die sie dem Westen anbieten können. Es läßt sich leicht denken, daß der Antisowjetismus in China zu Maos Zeiten stark von Fanatismus gefärbt war. Die Situation verschlimmerte sich noch durch die ganze Persönlichkeit Maos, der sich mittlerweile als Reinkamation Gottes betrachtete. Er war alt und senil geworden, und vielleicht ist das eine Erklärung für den verblüffenden Irrationahsmus, von dem das gesamte politische Leben des Landes während der letzten Jahrzehnte seiner Herrschaft durchdrungen war. In dieser Hinsicht muß die Situation in China heute ganz anders sein. Die neue chinesische Führung macht den Eindruck, als sei sie sehr pragmatisch, zynisch und verschlagen. Und ich vermute, daß ihr Antisowjetismus von ganz anderer Art ist. Es handelt sich hier um eine durchdachte Politik, die nicht deshalb von der Führung verfolgt wird, weil diese daran glaubt, sondern weil sie ihren Interessen dient und von den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern großzügig belohnt wird. Aber auch hier in der Sowjetunion habe ich ernste Besorgnis über einen möglichen Krieg mit China festgestellt. Ich habe unsere Position bereits dargelegt. Was China anbelangt, so glaube ich nicht, daß seine Führer einfältig genug waren, um sich eine Chance auf den Sieg in einem Krieg mit uns auszurechnen. Nichtsdestoweniger geht von Chinas Politik derzeit eine sehr ernste Kriegsgefahr aus, ebenso wie die Gefahr von Konflikten besteht und China somit den Weltfrieden und die Stabilität bedroht. Die Hauptziele der Außenpoltik des Maoismus wurden von Maos Nachfolgern nicht verworfen, und eines dieser Ziele ist es, einen Konflikt, möglicherweise auch einen Krieg, zwischen den beiden Supermächten zu provozieren. China setzt heute den Weltfrieden und die Stabilität ebenso in anderer Hinsicht aufs Spiel. Die chinesische Politik stellt eine sehr konkrete und unmittelbare Bedrohung für die übrigen Nachbarn dar. Die Angriffe auf Indien und Vietnam sowie Ansprüche auf beträchtliche Teile Indochinas und anderer Länder sind ein erschreckender Beweis dafür. Außerdem trägt China nach Kräften zu einer Verschärfung regionaler Konflikte bei. Mich hat die Bemerkung Generalsekretär Breschnews gegenüber Redakteuren des Magazins Time, er habe es ‘endgültig sait, über China zu reden’, sehr erstaunt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 268 Soweit ich mich erinnere, sagte er dies in Zusammenhang mit einer Diskussion über Chinas bösartigen Propagandafeldzug gegen Vietnam. Henry Kissinger hat in seinen Meoiren unter anderem geschrieben: ‘Die Feindschaft zwischen China und der Sowjetunion folgte ihrer eigenen Dynamik. Wir hatten sie nicht erzeugt, sondern waren uns vielmehr während des größten Teils dieses Jahrzehnts ihrer Intensität gar nicht bewußt gewesen.’3 Ich glaube nicht, daß Kissinger hier ein zutreffendes Bild gibt. Der Westen beobachtete, meines Wissens nach, die negativen Entwicklungen in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen sehr aufmerksam. Bleiben wir noch einen Moment bei Kissinger, war er doch schließlich derjenige, der unter Nixon im Weißen Haus die Fäden in der Hand hatte, derjenige, der hauptsächlich die Verhandlungen führte, die die Anerkennung Pekings durch die USA zur Folge hatte. Kissinger behauptet auch, daß die amerikanische Politik gegenüber China darauf abzielte, der UdSSR zu zeigen, daß sie nicht für alle kommunistischen Parteien in der Welt sprechen kann. Hier ist vorauszuschicken, daß wir nicht den Anspruch erheben, für alle kommunistischen Parteien zu sprechen. Wir halten uns an die Regeln, die innerhalb der kommunistischen Bewegung seit vielen Jahren gelten und die auf der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen und auf der Unabhängigkeit der einzelnen Parteien beruhen. Aber selbst wenn man davon absieht - klingt es nicht recht sonderbar, daß sich ausgerechnet die Vereinigten Staaten um die Aufrechterhaltung fairer, demokratischer Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien sorgen, während der Antikommunismus gleichzeitig eine der Hauptsäulen amerikanischer Außenpolitik darstellt? Es ist allerdings wahr, daß Washington es nicht gänzlich uninteressant findet, daß China den Anspruch erhebt, ein revolutionäres Land zu sein. Ein Aspekt, der hier eine Rolle spielt, wurde von dem einflußreichen amerikanischen Sinologen Michael Pilsbury sehr deutlich ausgesprochen: ‘Es ware für die USA von Nutzen, von den Chinesen zu erfahren, wer welche Position innerhalb der revolutionaren Bewegung in den verschiedenen Teilen der Welt vertritt. Fällt es doch offiziellen amerikanischen Kreisen schwer, die Unterschiede zwischen revolutionaren Führern wahrzunehmen. Das ist Chinas Spezialität, und es könnte uns hierin ein Führer sein.’4 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 269 Kissinger schrieb unumwunden: ‘Nixon und ich waren davon überzeugt, daß die USA einen militärischen Angriff der Sowjetunion gegen China nicht hinnehmen durften.’ Ich denke, daß Kissinger eine recht seltsame Vorstellung von der amerikanischen Position hat. Vor einiger Zeit noch erklärten die USA, ‘China sei der Feind Nummer eins’ und schienen durchaus geneigt zu sein, die UdSSR zu einem Krieg gegen dieses Land anzutreiben. Später entschlossen sich die USA zu dem Versuch, Pekings Sympathien dadurch zu gewinnen, daß sie verkündeten, sie würden einen militärischen Angriff der Sowjetunion auf China nicht hinnehmen. Dabei handelt es sich um eine reine Pose, die mit keinerlei Risiko verbunden ist, denn die Sowjetunion hat nie beabsichtigt, China anzugreifen, und beabsichtigt das auch heute nicht. Es ist sehr bequem, solche außenpolitischen Ziele zu proklamieren. Da ohnehin nichts passiert, kann man sich zugute halten, verhindert zu haben, daß etwas derartiges eingetreten ist. Trotzdem sagten mir verschiedene amerikanische Geopolitiker immer wieder, daß die UdSSR als Supermacht, die im Zentrum Eurasiens liegt, nicht nur die Randgebiete kontrolliert, sondern auch eine ideale Lage hat, um die ganze Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese Leute scheinen ernsthaft solche Ängste zu hegen. Wenn sie sich in unserer Lage befänden, würden manche amerikanische Geopolitiker vielleicht derartige außenpolitische Ziele aufstellen. Wir jedoch tun das nicht. Es erscheint mir absurd, wenn jemand sein Verständnis von der Außenpolitik eines Landes, ja sogar von dessen politischen Absichten, hauptsächlich mit der geographischen Lage begründet. Unsere Außenpolitik steht auf einer anderen Grundlage. Natürlich werden unsere geographische Lage wie auch die militärische und politische Situation jenseits unserer Grenzen in Betracht gezogen. Es besteht wohl ein Zusammenhang zwischen der geographischen Lage und den politischen Mitteln, nicht aber zwischen der Lage und den politischen Zielen. Um expansionistisch zu sein, muß ein Land ein starkes, in der inneren Situation begründetes Bedürfnis nach Ausdehnung und Eroberung aufweisen, ein Bedürfnis, das in erster Linie wirtschaftlicher und sozialer Natur ist. Die geopolitische Situation Amerikas nach dem Zweiten Weltkrieg erforderte keineswegs den Aufbau eines Weltreichs, aber das Weltreich wurde trotzdem errichtet, weil Amerika an einer weltweiten Expansion interessiert war. Dieses Ziel wurde in erster Linie durch die Situation in Amerika selbst hervorgerufen. In dieser Hinsicht besteht für Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 270 die Sowjetunion keinerlei Notwendigkeit, die Welt oder die eurasische Landmasse unter ihre Kontrolle zu bringen. Außerdem sollte man immer daran denken, daß wir den Krieg viel zu ernst nehmen, als daß es uns in den Sinn käme, ihn zu beginnen. Und überhaupt - während uns diese amerikanischen Geopolitiker beneiden, wäre ich froh, wenn wir, was die geographische Lage anbetrifft, mit ihnen tauschen könnten. Zbigniew Brzezinski hat einmal geschrieben, daß seiner Ansicht nach Peking einen bedeutenden Beitrag zur Schaffung stabilerer amerikanisch-sowjetischer Beziehungen leisten könnte. Ja, das hat er geschrieben. Aber genau das Gegenteil ist eingetreten. Gewisse Illusionen, denen die Vorstellung zugrunde lag, man könne möglicherweise die Drohung mit den Chinesen dazu benutzen, die Sowjetunion einzuschüchtern, waren nach meiner Ansicht ein wichtiger Grund dafür, warum Washington 1979/80 den Kurs der Entspannung verließ und den holprigen und gefährlichen Weg der Konfrontation einschlug. Wissen Sie, ich glaube nicht, daß Brzezinski jemals wirklich aufrichtig stabile und normale Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA gewollt hat. Wenn er davon sprach, auf die ‘chinesische Karte’ zu setzen, um diese Beziehungen zu ‘stabilisieren’, so meinte er damit eine Art von ‘Stabilität’, mit der sich die Sowjetunion nie einverstanden erklären könnte. Die Absicht, die man tatsächlich verfolgt mit der ‘chinesischen Karte’, hat mit Entspannung nichts zu tun - im übrigen verrat ein in diesem Begriff enthaltener Anklang an das Pokerspiel die dahinterliegende zynische, betrügerische und abenteuerliche Haltung. In Wirklichkeit soll damit bezweckt werden, aus der gegenwärtigen Einstellung der chinesischen Führung möglichst rasch Gewinn zu schlagen. Dieses Bestreben läßt langfristige Ziele und Interessen völlig außer acht sogar die der Vereinigten Staaten selbst. Washington scheint bemüht zu sein, in einer Periode ernsthafter Schwierigkeiten zwischen der Sowjetunion und China auf schnellem Weg politische Vorteile zu erzielen, ohne dabei ernste langfristige Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Die Politik der USA gegenüber China hat bereits die politische Instabilität erhöht und die Entspannung untergraben, ganz zu schweigen von der damit verbundenen Verschlechterung der politischen Lage in Asien. Aber zeichnet sich nicht das ‘Spiel’ der internationalen Beziehungen genau dadurch aus? Spielt nicht Peking gleichermaßen die ‘amerikanische Karte’? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 271 Ja, das tut Peking sehr wohl, und nach meiner Einschätzung hat es sich als ein besserer Spieler erwiesen als umgekehrt Washington mit seiner ‘chinesischen Karte’. Beispielsweise verstand es die chinesische Führung bei ihrem Angriff auf Vietnam im Jahre 1979, die Vereinigten Staaten, wenn schon nicht zur direkten Komplizenschaft, so doch wenigstens zur passiven Hinnahme zu veranlassen. Es erstaunt manche Beobachter noch heute, daß Peking so lange Zeit, nämlich von 1961, dem Zeitpunkt, als die Sowjetunion ihre Spezialisten abzog (wobei diese auch ihre Pläne mitnahmen), bis 1972 brauchte, um dem Westen seine Türen zu öffnen. Der sowjetische Abzug vermochte zwar vorübergehend, aber doch gewiß nicht für immer die Entwicklung Chinas zu verlangsamen? Sie greifen mit Ihrer Frage eine Darstellung der Entwicklung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen auf, wie sie im Westen weit verbreitet ist, obwohl diese Version im Widerspruch zu den Tatsachen steht. Die Abberufung der sowjetischen Fachleute, die in China arbeiteten, war nicht die Ursache, sondern die Folge der Verschlechterung der Beziehungen, die durch das Vorgehen der Regierung Maos hervorgerufen wurde. Weiterhin war weder beabsichtigt, durch die Abberufung die Entwicklung des Landes zu verzögern, noch ist darin der tatsächliche Grund für eine solche Verzögerung zu sehen. Damais schon war der Wirtschaft des Landes durch den ‘Großen Sprung nach vorn’ unerhörter Schaden zugefügt worden, ja sie wurde durch die Politik Maos beinahe völlig ruiniert. China wurde dadurch wirtschaftlich zurückgeworfen. Peking hat mittlerweile selbst offiziell eingestanden, daß diese Politik verheerende Konsequenzen hatte. Unsere Experten und unsere Techniker wollten nicht an der gedankenlosen Zerstörung der chinesischen Wirtschaft mitwirken und haben das auch nicht getan. Auch wurden sie für den ‘Großen Sprung’ nicht benötigt, was ein Hauptgrund dafür war, daß die undankbaren Gastgeber für diese Leute unerträgliche Arbeitsbedingungen schufen. Der chinesisch-amerikanische Handel ist bereits auf das doppelte Volumen angewachsen und wird sich in den achtziger Jahren womöglich verdreifachen. Eine Verdoppelung oder sogar eine Verdreifachung des Handelsvolumens ist angesichts des niedrigen Niveaus, von dem diese Steigerung ihren Ausgang nahm, nicht von allzu großer Bedeutung. In amerikanischen Wirtschaftskreisen brach eine Art Euphorie aus, als die Nachrich- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 272 ten von den chinesischen Modernisierungsprogrammen in den USA bekannt und normale diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden. China erlebte eine wahre Flut von Delegationen aus Wirtschaftskreisen der USA, Japans und anderer westlicher Länder. Viele Verträge wurden unterzeichnet. Inzwischen herrscht jedoch in den Chefetagen der westlichen Konzerne eine nüchteme Stimmung vor. Der Grand dafür sind die einschneidenden Kürzungen bei den Modernisierungsplänen, die Tatsache, daß viele Verträge nicht eingehalten und Kredite in erheblichem Umfang nicht ausgeschöpft wurden. Die Chinesen selbst sehen der Zukunft etwas zurückhaltender entgegen. Es ist einfach eine Tatsache, daß China über sehr wenige Dinge verfügt, mit denen es westliche Waren bezahlen könnte. Außerdem stellt das Auftreten Chinas auf den Weltmärkten auf längere Sicht eine Gefahr für die wirtschaftlichen Interessen Amerikas dar. Japan befindet sich in einer besseren Lage als die USA, wenn es gilt, die in riesigem Ausmaß vorhandene überschüssige billige Arbeitskraft Chinas zu nutzen, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der Japaner gegenüber der amerikanischen Industrie weiter gestärkt wird. Was geschieht, falls die USA und eventuell auch europäische Länder damit beginnen, Peking moderne Waffensysteme zu liefern? Es steht fest, daß die westlichen Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten, ihre militärische Zusammenarbeit mit China verstärken. Sie gehen nur schrittweise in diese Richtung und verfallen dabei auf Tarnungen und Ausflüchte, aber sie gehen in diese Richtung. Einer der ersten Schritte wurde während des Besuchs von Verteidigungsminister Harold Brown in Peking im Dezember 1979 getan - ein Vorgang, für den es, nebenbei gesagt, in der Geschichte der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen keine Parallele gibt. Der Besuch des stellvertretenden chinesischen Ministerpräsidenten Geng Biao in Washington im Mai 1980 endete mit dem Ergebnis, daß die USA zustimmten, militärische Ausrüstungsgegenstände - Waffen ausgenommen - an China zu liefern, was ebenso einen Schritt in die genannte Richtung darstellt wie die spätere Pekingreise des führenden amerikanischen Spezialisten für Waffenentwicklung, des Unterstaatssekretärs im Verteidigungsministerium, William Perry. Was die Konsequenzen anbelangt, so kann ich mir nicht vorstellen, wie die Entspannung eine solche Entwicklung überleben könnte. Wie könnten wir uns bemühen, die Spannungen zu vermindem und im Verhältnis mit den westlichen Ländern das gegenseitige Vertrauen zu fördern, wenn diese Länder gleichzeitig China aufrüsten? Wie könnten wir für ei- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 273 nen Rüstungs- und Truppenabbau in Europa eintreten, wenn wir von vomherein wissen, daß die Waffen, die die Nato möglicherweise aus Europa abziehen würde, an unserer Hintertür, der Grenze im Fernen Osten, wieder installiert werden würden? Ganz allgemein gilt, daß man bei uns in Waffenlieferungen an China nur eines sehen würde - nämlich die Errichtung einer Allianz, die gegen die Sowjetunion gerichtet ist. Unsere Haltung zu dieser Art von feindseliger Politik dürfte wohl jedermann klar sein. Aber von Washington aus betrachtet, gibt es nun einmalgemeinsame strategische Interessen zwischen den USA und China. Ob es solche Interessen gibt oder ob es sie nicht gibt, hängt davon ab, was nun genau die Ziele sind, die die USA verfolgen. Falls die Vereinigten Staaten mit den Mitteln der Gewalt und der Einschüchterung gegen die Sowjetunion vorgehen wollen, einen Kalten Krieg führen wollen - von einem tatsächlichen Krieg einmal ganz abgesehen -, dann gibt es einige gemeinsame strategische Interessen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was durch solch eine Politik gewonnen wird, ganz gleich, welche Verbündeten auch immer für solche Eskapaden gewonnen werden können. Andererseits aber - wenn das Ziel der USA Stabilität und ein dauerhafter Frieden ist -, welche strategischen Interessen könnten sie dann mit der gegenwärtigen chinesischen Politik gemein haben? Mit einer Politik, die die Entspannung für unmöglich, den Frieden für unerreichbar und den Krieg für unausweichlich hält? Mit einer Politik, die gegenüber allen Nachbarn Chinas Forderungen erhebt? Präsident Reagan scheint der Idee einer amerikanisch-chenesischen Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet etwas distanzierter gegenüberzustehen als sein Vorgänger. Was ist Ihre Einschätzung dazu? Präsident Reagans Chinapolitik ist noch nicht festgelegt worden, und es gibt verschiedene Ansätze, die zur Auswahl stehen und die darum wetteifern, die offizielle amerikanische Politik unter Reagan zu werden. Es ist möglich, daß die Reagan-Administration weitgehend die Politik ihrer Vorgängerin fortführt. Falls sie jedoch dieser Politik Einhalt gebietet, so könnte das Ausdruck dafür sein, daß man erkannt hat, daß ausgedehnte militärische Verbindungen mit Peking sehr wohl Pekings Zielen dienen könnten, ohne daß gleichzeitig für die USA greifbarer Nutzen daraus erwächst - wohl aber in der Zukunft dadurch neue Probleme entstehen werden. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 274 Was Sie gesagt haben, läßt nur wenig Hoffnung, daß es zu ernsthaften Veränderungen in der Außenpolitik Chinas und in den Beziehungen mit der UdSSR kommt. Ich wollte damit nicht sagen, daß China für alle Zeiten an seinem Kurs festhalten muß. Wir hoffen aufrichtig, daß es früher oder später wieder zu einer realistischeren Haltung gegenüber der Welt zurückkehren und in der Völkerfamilie einen Platz einnehmen wird, der seiner wirklichen Größe angemessen ist. Die Normalisierung unserer Beziehungen mit China bleibt eines der Hauptziele der sowjetischen Außenpolitik. Aber haben Sie nicht selbst darauf hingewiesen, daß der Antisowjetismus der gegenwärtigen chinesischen Führung deren Interessen sehr wohl dient? Ja, und zwar solange, wie sie die nationalen Interessen Chinas in einer totalen Mobilisierung des Landes zum Zwecke einer abenteuerlichen Außenpolitik sieht. Aber diese sehr begrenzte Vorstellung von nationalen Interessen hat nichts mit der wirklichen Situation und den Problemen Chinas gemein. Und dabei handelt es sich in der Tat um enorme Probleme. Allein schon die Ernährung eines Volkes mit einer Milliarde Menschen sicherzustellen, ist eine ungeheure Herausforderung, und es wird die Zeit kommen, in der diese Menschen nicht mehr länger mit einer Handvoll Reis zufriedenzustellen sind, in der sie ganz zu Recht danach streben werden, der materiellen und kulturellen Errungenschaften der modernen Zivilisation teilhaftig zu werden. Das allein schon würde genügen, um Chinas Interesse an einer friedlichen internationalen Lage und einer Zusammenarbeit aller Länder zu begründen, könnten dadurch doch die gesamten Ressourcen zur Lösung der Probleme des Landes eingesetzt werden. Auch bin ich überzeugt, daß, anders als dies bei den gegenwärtigen, hegemonistischen Bestrebungen der Fall ist, solche Anstrengungen nicht zurückgewiesen werden würden, sondern daß man ihnen auf der ganzen Welt mit Verständnis und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit begegnen würde. Wir glauben, daß China früher oder später diese existentiellen Notwendigkeiten begreifen und damit den Boden für eine wirkliche Verbesserung unserer Beziehungen bereiten wird. Wenden wir uns Japan zu. Welche Position vertritt die Sowjetunion gegenüber Ansprüchen Japans auf die sogenannten ‘Nordterritorien’? Die japanische Regierung hat auf verschiedene Inseln, die zur Sowjet- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 275 union gehören, Ansprüche erhoben. Diese Insein wurden uns gemäß den Beschlüssen der Konferenzen von Jalta und Potsdam nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgegeben, und Japan erkannte 1951 auf der Konferenz von San Francisco selbst unsere diesbezüglichen Rechte an. Nach unserer Auffassung besteht hier weder in rechtlicher, noch in praktischer Hinsicht ein Problem. Aber gerade das ist der entscheidende Punkt: Selbst wenn das Recht auf Ihrer Seite ist, warum sind Sie nicht in der Frage einiger kleiner Inseln zu Zugeständnissen bereit, um damit mit diesem Land zu besseren Beziehungen zu gelangen, kommt diesen doch sowohl heute wie auch in der Zukunft große Bedeutung zu? Das entscheidende dabei ist, daß wir in diesen zwei, bzw. vier Insein mehr sehen als nur ein kleines Stück Land. Wir glauben, daß territoriale Probleme, ganz gleich, wie klein auch das in Frage kommende Stück Land oder das Gewässer sein mag, eine besonders behutsame Behandlung verlangen. In der Vergangenheit haben solche Probleme oft genug internationale Konflikte und sogar Kriege verursacht. Wir haben viel Mühe darauf verwandt, die Anerkennung und die Unverletzbarkeit der bestellenden Grenzen zu einer Regel der heutigen internationalen Beziehungen und zu einem grundlegenden Prinzip der internationalen Entspannung zu machen. Wir halten an unserer Auffassung fest, daß die Stärkung dieses Prinzips hilft, wichtige Gefahrenmomente, die den Weltfrieden bedrohen, zu beseitigen. Einer Ausnahme von dieser Norm an irgendeiner Stelle zuzustimmen, und sei es auch nur in einem winzigen Punkt, könnte sehr wohl die Schleusen für eine wahrhaftige Flut von Problemen öffnen: Viele weitere alte Territorialzwistigkeiten würden wahrscheinlich wieder ausbrechen und neue hmzukommen. Die internationale Stabilität würde weiter untergraben werden. Es ist nicht bloßer Zufall, daß gerade China, das ganz erhebliche territoriale Ansprüche gegenüber den meisten seiner Nachbarn erhebt, solch großes Interesse zeigt, die Japaner anzustacheln, Territorialansprüche zu erheben. Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt, welche Gefühle viele Japaner mit dieser Frage verbinden, aber die japanischen Politiker haben sich die Probleme, die sie in diesem Zusammenhang haben, selbst zuzuschreiben, weil es vor allem durch ihre Politik dazu kam, daß solche Gefühle erweckt wurden. Ich hoffe, daß diese Frage im Laufe der Zeit einiges von ihrer gegenwärtigen Schärfe verlieren wird und damit aufhört, ein Hindernis auf dem Weg zu einer positiven Entwicklung der sowjetisch-japanischen Beziehungen zu sein. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 276 Aber werden die Japaner bereit sein, diesen Weg einzuschlagen, falls das Problem der Inseln ungelöst bleibt? Ich weiß nicht, wann sie emotional dazu bereit sein werden. Geht man das Problem rational an, so sieht es ganz anders aus. Wissen Sie, ich glaube nicht, daß dieser Frage im Hinblick auf die Interessen Japans irgendwelche ernstzunehmende Bedeutung zukommt. Japans Hauptinteressen liegen darin, daß seine Sicherheit und sein wirtschaftliches Wohl gewährleistet sind. Diese Interessen haben in keiner Weise etwas mit den Inseln zu tun. Wohl aber hängen diese Interessen weitgehend davon ab, welcher Natur die Beziehungen zwischen Japan und der UdSSR insgesamt sind. Und mir scheint, daß der Sicherung dieser überaus vitalen Interessen weit mehr Bedeutung zukommt als dem Schicksal von ein paar Inseln. Dies trifft um so mehr zu, wenn man die gesamte wirtschaftliche Lage in der Welt, die zunehmende Knappheit der Rohstoffe, die Probleme im Welthandel und die protektionistischen Tendenzen der westlichen Länder in Betracht zieht. Rechnen Sie damit, daß die Japaner in den achtziger Jahren jene politische Linie verfolgen werden, die Sie als ‘rationales Verhalten’ bezeichnet haben? Ich hoffe, daß sie das tun werden. Im Moment sieht es jedoch nicht so aus. Ganz im Gegenteil. In Japan scheint sich eine wachsende Feindseligkeit gegenüber der UdSSR breit zu machen, wie auch ein allgemeiner Unmut über das Auftauchen neuer sowjetischer Streitkräfte und Mittelstreckenraketen in den fernöstlichen Teilen der Sowjetunion. Ich bin mir dieser Gefühle sehr wohl bewußt, ebenso aber der Gelüste einiger Japaner, sich aktiv am Wettrüsten zu beteiligen. Man sollte hinzufügen, daß der wahre Grund für die jüngste Verschlechterung der sowjetisch-japanischen Beziehungen (einschließlich der Beziehungen auf wirtschaftlichem Gebiet) nicht die Frage der Nordterritorien war, sondern der Druck von seiten der USA, d.h., deren beharrliche Bemühungen, die Japaner dazu zu bewegen, der politischen Linie Amerikas zu folgen. In Japan selbst werden starke Zweifel an dieser Politik laut. Viele Japaner erkennen, daß die Sowjetunion im Kontext wachsender Spannungen auf der gesamten Welt wie auch in Ostasien nicht umhin kann, angemessene Maßnahmen zu treffen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Die Kritiker sollten sich in erster Linie bei den USA für diese Rake- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 277 ten bedanken, aber auch bei China. Es war der erklärte Wunsch der Sowjetunion gewesen, ein System der kollektiven Sicherheit und der Rüstungskontrolle auf der ganzen Welt, einschließlich dem Fernen Osten, zu errichten. Trotz allem bin ich mir ganz sicher, daß der Anreiz für Japan, zu einer engeren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu gelangen, in den achtziger Jahren zunehmen wird. Es ist zutiefst meine Überzeugung, daß die Sowjetunion und Japan umfassende gemeinsame Interessen haben. Sie meinen wirtschaftliche Interessen? Nicht ausschließlich. Ich würde sogar die Betonung auf die Sicherheitsinteressen legen. Sowohl die Sowjetunion wie auch Japan sind daran interessiert, den Frieden zu bewahren und den Grad der militärischen Konfrontation in der gesamten Region zu verringem. Es ist ganz offensichtlich, daß Japan aufgrund seiner geographischen Lage und seiner Bevölkerungsdichte im Falle eines Konflikts in höchstem Maße verwundbar ist. Und diese Verwundbarkeit kann nicht mit Hilfe von Aufrüstung und Militärallianzen aufgehoben werden. Der einzige Weg für Japan, seine eigene Sicherheit zu gewährleisten, besteht darin, in der gesamten Region den Frieden und die Entspannung zu festigen, was vielleicht auf längere Sicht zu einem System der kollektiven Sicherheit und Zusammenarbeit führen wird. Was den wirtschaftlichen Aspekt anbelangt, so bietet die Region des nördlichen Pazifiks außerordentlich günstige Möglichkeiten für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit. Diese Region, die die westlichen Teile der USA und Kanadas, die fernöstlichen Gebiete der Sowjetunion sowie Japan und andere Lander umfaßt, verfügt zusammengenommen über ein ungeheures wirtschaftliches Potential. Eine allseitige Entwicklung des Handels und der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bindungen ist möglich und sollte angestrebt werden. Die sowjetisch-japanische Zusammenarbeit kann zu dieser Entwicklung in ganz wesentlichem Maße beitragen. Jimmy Carter, den man als ein Produkt von David Rockefellers ‘Trilateral Commission’ bezeichnen könnte, hatte ein Netz enger Zusammenarbeit zwischen Japan, Westeuropa und den Vereinigten Staaten zum Ziel. Ruft diese gezielte ‘Dreieckspolitik’ in Moskau das Gefühl der Einkreisung hervor? An und für sich weckt die Zusammenarbeit zwischen Japan, Westeuropa und den Vereinigten Staaten keine solchen Gefühle in Moskau. Es hängt Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 278 alles von dem politischen Kontext ab, in dem eine solche Stärkung der Bindungen stattfindet. Sollten sie sich in einer allgemeinen Situation der Entspannung entwickeln und Hand in Hand einhergehen sowohl mit einer wachsenden Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Ländern und den Staaten, die dieses kapitalistische Dreieck bilden, wie auch zwischen all diesen Ländern und der Dritten Welt, so wäre daran nichts auszusetzen. Wenn jedoch diese verstärkte Zusammenarbeit zwischen den drei kapitalistischen Zentren in Verbindung mit einer Neubelebung des Kalten Krieges stattfindet und eine Stärkung der militärischen Bindungen bedeutet sowie die Anhäufung eines noch größeren militärischen Potentials, das sich gegen die Sowjetunion oder irgend ein anderes Land richtet, dessen Politik dem Westen vielleicht im Moment nicht genehm ist; wenn die Koordinierung auf wirtschaftlichem Gebiet die Teilnahme aller Länder des Dreiecks an von Washington angeführten Boykottmaßnahmen, Blockaden oder Empbargos bedeutet, dann sind wir ganz entschieden gegen diese Art der Dreiecksbeziehungen. Aber selbst wenn es zu einem derartigen Zusammenschluß des Westens auf antisowjetischer Basis kommen sollte, was ich sehr bezweifle, glaube ich nicht, daß das bei uns ein ‘Einkreisungs-Syndrom’ hervorrufen wird. Wir waren vor dem Zweiten Weltkrieg wahrhaftig eingekreist, und doch haben wir seither viel erreicht. Inzwischen gibt es andere sozialistische Länder, und ein Großteil der Entwicklungsländer ist an guten Beziehungen zur Sowjetunion interessiert. Es besteht auch wenig Aussicht, daß der Westen - einerlei wie sich die Dinge entwickeln mögen - eine derartig monolitische antisowjetische Haltung einnehmen wird, wie das vor einiger Zeit der Fall war. Eine ganz andere Sache ist, daß solch ein Zusammenschluß auf antisowjetischer Basis die Gefahr einer militärischen Konfrontation um ein Vielfaches erhöht. Aber das sollte nicht nur uns Anlaß zur Besorgnis geben, sondern auch Japan, Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Offensichtlich platzt die japanische Wirtschaft aus allen Nähten. Es erscheint als eine natürliche Entwicklung, daß Japan mit aller Kraft versuchen dürfte, in den chinesischen Markt einzudringen. Natürlich, Japan würde gerne den chinesischen Markt für sich gewinnen. Dieses Verlangen hat tiefe historische Wurzeln. Aber wir haben ja bereits über die Grenzen gesprochen, die einem Handel mit den Chinesen gezogen sind. Handel ist kein Akt der Mildtätigkeit, und ich glaube nicht, daß die japanischen Geschäftsleute einen Markt suchen, auf dem sie ihre Waren praktisch verschenken müßten. Natürlich, das Potential Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 279 für einen japanisch-chinesischen Handel würde zunehmen, könnte Japan, das selbst fast keine Rohstoffe besitzt, diese aus China beziehen. Aber bislang gibt es keine wirklichen Beweise dafür, daß China in beträchtlichem Umfang über Rohstoffe verfügt. Sollten in der Zukunft größere Funde gemacht werden, so werden riesige Investitionen und viel Zeit erforderlich sein, um sie zu erschließen. Solche Pläne sind jedoch nicht unbedenklich angesichts der labilen Situation in China. 1973 führte ich mit dem damaligen japanischen Premierminister Kakuei Tanaka ein Gespräch. Damals hegte man hohe Erwartungen sowohl hinsichtlich einer raschen Entwicklung der Freundschaft mit den Chinesen, wie auch hinsichtlich einer raschen Expansion der Investitionen und der Wirtschaftsbeziehungen. Vor kurzem nun traf ich mit dem ehemaligen Außenminister Saburo Okita zusammen, der manchmal auch wegen seiner Wirtschaftskenntnisse der Robert McNamara Japans genannt wird. Er war von der derzeitigen Führung in Peking in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des japanischen Wirtschaftsforschungszentrums eingeladen und um seinen Rat zu Finanz- und Wirtschaftsfragen gebeten worden. Was rasche Geschäftsabschlüsse und eine rapide Entwicklung des Handels betrifft, so schien Saburo Okita vor allzu übertriebenem Optimismus zu warnen. Genau davon spreche ich. Die Euphorie ist vorbei. Es ist Zeit für eine nüchteme und realistischere Einschätzung. Takashi Watanabe, Vorsitzender der Trilateralen Kommission in Japan und ehemaliger Präsident der asiatischen Entwicklungsbank in Manila, versicherte mir, daß historisch und kulturell gesehen die Japaner den Chinesen natürlicherweise näher stünden. Er fügte hinzu: ‘Die sowjetische Diplomatie uns gegenüber ist oftmals “ungeschickt”.’ Ich weiß nicht, was er mit ‘ungeschickt’ meinte. Vielleicht die Tatsache, daß wir gegenüber den territorialen Ansprüchen nicht nachgegeben haben, aber nachzugeben wäre noch viel ‘ungeschickter’, fürchte ich. Was uns angeht, so gibt es ebenfalls manche Aspekte der japanischen Außenpolitik, die wir nicht schätzen, aber ich würde sagen, daß wir und die Japaner nicht jene Dinge betonen sollten, die wir an der jeweiligen Politik des anderen nicht mögen, sondern mehr über Wege nachdenken sollten, die der Entwicklung wahrhaft konstruktiver Beziehungen auf der Basis gegenseitigen Nutzens dienen, liegen doch solche Beziehungen im objektiven Interesse beider Länder. Was die ‘natürliche Nähe’ zwischen Japan und China betrifft - nun, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 280 zieht man in Betracht, wie oft und über welche Zeiträume hinweg die beiden Länder gegeneinander gekämpft haben, so könnte man diese ‘Nähe’ wohl auch ein wenig anders interpretieren, als Takashi Watanabe dies tut. In vielen Fällen tragen die Japaner die Verantwortung für diese Zusammenstöße, in anderen trifft die Chinesen die Schuld. Es wird erzählt, daß Japan einmal durch ‘Kamikaze’, den heiligen Wind, gerettet wurde, der die feindliche Flotte, die sich vom chinesischen Festland her näherte, zerstreute. Heutzutage ist es schwierig, sich auf heilige Winde zu verlassen. Viel wichtiger ist es, eine kluge, umsichtige Außenpolitik zu betreiben. Im übrigen bin ich sicher, daß die Beziehungen zwischen Japan und China von sehr viel komplizierteren Dingen bestimmt werden als lediglich von historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten oder ethnischen Ähnlichkeiten. Ich möchte an dieser Stelle eine allgemeine Bemerkung machen. Wir in der Sowjetunion sind selbstverständlich darüber besorgt, daß die USA, Westeuropa und Japan zusammen mit China im Antisowjetismus eine gemeinsame Grundlage finden. Wir sehen darin eine Gefahr für die ganze Welt. Wir sind jedoch weit davon entfemt, uns der Entwicklung normaler Beziehungen zwischen China und anderen Ländern zu widersetzen. Es ist nicht unser Ziel, die Isolation Chinas zu verewigen oder diesem großen Land auf der internationalen Ebene in irgendeiner Weise die Rolle eines Ausgestoßenen zuzuweisen. Mehr noch, wir hoffen, daß sich China früher oder später (vorzugsweise früher) als emsthafter und konstruktiver Partner an den Bemühungen um eine Stärkung des Friedens, an einer Begrenzung und Verminderung der Rüstung und an der Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit beteiligt. Dies wäre von großer Bedeutung sowohl für die Sache des Friedens wie auch für das leidgeprüfte chinesische Volk selbst. Die Sowjetunion ist bereit, zu solch einer Entwicklung beizutragen. Wenden wir uns Europa zu, wo der italienische Diplomat Graf Carlo Sforza 1936 schrieb: ‘Entweder werden wir dem europäischen Ideal dienen, oder wir werden untergehen.’ Wie kam es ursprünglich zu den Planen der Sowjets für eine gesamteuropäische Konferenz, die dann für lange Zeit ein immer wiederkehrendes Thema der sowjetischen Diplomatie waren? Wir ergriffen bereits 1955 zum ersten Mal eine entsprechende Initiative. Später schlugen wir dann die Unterzeichnung eines gesamteuropäischen Vertrags zur kollektiven Sicherheit vor, der eine Laufzeit von 50 Jahren haben sollte. Danach forderten wir die Einberufung einer Ost-West- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 281 Gipfelkonferenz, auf der die grundlegenden Prinzipien der Ost-West-Beziehungen erarbeitet werden sollten. Die Vorstellungen von einer gesamteuropäischen Konferenz wurden in ihrer jetzigen Form 1966 auf dem Bukarester Treffen des Politischen Beratenden Ausschusses der Warschauer Pakt-Staaten vorgelegt. 1967 wurden sie schlieβlich auf einem Treffen der Kommunistischen Parteien Europas in Karlovy Vary noch einmal bekräftigt. Der norwegische Professor Johan Galtung schlägt eine gesamteuropäische Symbiose von Ost und West vor, aus der heraus ein politischer und wirtschaftlicher Koloß entstünde, der sich durch eine verflochtene Zusammenarbeit und gemeinsames Handeln auszeichnen würde. Es sollte festgehalten werden, daβ diese Idee nicht neu ist. Vor achtzig Jahren hat man in diesem Zusammenhang für gewöhnlich von den ‘Vereinigten Staaten von Europa’ gesprochen. Diese Idee wurde von W.I. Lenin aufs schärfste kritisiert, der davon ausging, daβ eine solche Symbiose unter den damais herrschenden Bedingungen entweder gänzlich unmöglich sei oder einen reaktionären Charakter haben würde, sich also in letzterem Fall als eine Allianz imperialistischer Staaten erweisen würde, die sich vereinigen, um das System der kolonialen Ausbeutung zu konsolidieren. Aber welche Haltung nimmt die Sowjetunion heute gegenüber einem Vereinigten Europa ein? Die Frage ist, in welchem Umfang vereinigt? Falls man dabei an das Entstehen einer neuen Supermacht denkt, so scheint es sich um eine recht utopische Perspektive zu handeln. Wir sehen objektive Tendenzen, die die wirtschaftliche Integration in Europa wie auch ganz allgemein auf der Welt begünstigen, obwohl wir gleichzeitig die Schwierigkeiten erkennen, die diesem Prozeβ entgegenstehen, wie auch dessen widersprüchlichen Charakter. Es genügt, auf die bestehenden Ungleichheiten und die für den Kapitalismus so typische Vorherrschaft der reicheren und mächtigeren Staaten hinzuweisen. Es ist kaum zu erwarten, daβ dieser Prozeβ in naher Zukunft in irgendeiner Form zur Vereinigung der europäischen - oder auch nur der westeuropäischen - Volkswirtschaften führt. Die übrigen Aspekte des Problems, die nicht wirtschaftlicher Natur sind, sind sogar noch komplizierter. Denken Sie nur an das anwachsende ethnische Bewuβtsein, wie es besonders in jüngster Zeit in einigen unerwarteten Fällen in ziemlich scharfer Form zutage tritt: bei den Wallonen in Belgien, den Schotten und Walisern in Groβbritannien, den Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 282 Korsen in Frankreich; ganz zu schweigen von den Ländern, in denen die ethnischen Probleme den Charakter offener bewaffneter Konflikte angenommen haben, wie in Nordirland oder dem Baskenland. Wie kann man eine Verschmelzung zur Supermacht erwarten, wo die europäischen Nationen sich in wichtigen Wesenszügen so sehr unterscheiden? Ich habe bis jetzt über historische Tendenzen gesprochen. Was nun die politischen Vorhaben anbelangt, die mit solchen Plänen der ‘Vereinigung’ verbunden sind, so machen sie auf uns einen ziemlich unheilvollen Eindruck. Warum? In aller erster Linie deshalb, weil diese Vorhaben nur eine Vereinigung des kapitalistischen Europas enthalten, weshalb wir nicht umhin können, in diesen Plänen einen Versuch zu sehen, die Teilung Europas in zwei sich feindselig gegenüberstehende militärisch-politische Blöcke zu festigen und zu verewigen. Wir vertreten, wie Sie sicher wissen, eine Position, die darauf abzielt, diese abnormale Situation zu beenden und schlieβlich sogar zur völligen Auflösung der beiden Blöcke oder zumindest ihrer militärischen Organisationen führen soil. Faβt man eine Vereinigung ganz Europas ins Auge, so erhebt sich sofort die Frage - auf welcher Grundlage? Die sozialistischen Länder haben nicht vor, kapitalistisch zu werden, und, soweit uns jedenfalls bekannt, hegt der Westen keine Plane, in allernächster Zeit sozialistisch zu werden. Wollte man versuchen, der anderen Seite sein eigenes System aufzuzwingen, so würde das Krieg bedeuten. Sie sehen also letzten Endes auch für die nächsten Jahre eine Teilung Europas vorher. Wenn Sie dabei an die Existenz sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaften in Europa denken - ja. Aber dies bedeutet nicht, daβ feindselige Beziehungen und Spannungen in Europa unvermeidlich sind. Ich habe ja, was unsere Einstellung zur Blockbildung betrifft, schon ausführlich dazu Stellung genommen. Wir treten für eine weitere Entwicklung der politischen Zusammenarbeit ein, mit dem Ziel, die Rüstungskontrolle und die Abrüstung voranzutreiben und zu gröβerem gegenseitigen Vertrauen zu gelangen. Wir befürworten auch eine umfassende Entwicklung der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit innerhalb Europas, der kulturellen Bindungen, des Tourismus und anderer Arten von Kontakten. Wir sind davon überzeugt, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 283 daβ die beiden Teile Europas miteinander in einem Zustand der Sicherheit, der engen Zsuammenarbeit und, wenn man so will, der Harmonie leben können, ungeachtet ihrer unterschiedlichen sozio-ökonomischen Systeme. Wie würden Sie unter dem Aspekt politischer Konzeptionen die Sicherheitsprobleme in Europa bewerten? In erster Linie besteht das Problem darin, daβ das ganze System der internationalen Beziehungen in dieser Region ziemlich radikale Veränderungen erfahren muβ. In Europa treffen Länder, die den beiden verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen angehören, unmittelbar aufeinander. Und dieses Aufeinandertreffen gilt nicht nur für den politischen Bereich, sondem gleichermaβen für den militärischen. Es gibt keine andere Region auf dieser Welt, in der die verheerendsten Waffen, die denkbar sind, in solchem Ausmaβ angehäuft wurden, und auch keine andere Region, die ein vergleichbares Pulverfβb geworden ist, ein Pulverfβb, das im Falle eines Konflikts sehr leicht explodieren kann. Hier stellt sich uns die wichtigste, ja ich würde sagen, die alles entscheidende Frage ganz besonders deutlich, namlich die Frage, ob friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit überhaupt möglich sind. In gewisser Hinsicht ist Europa zum Prüfstand für die Lösung der wesentlichsten Probleme unserer Zeit geworden. Die ersten eineinhalb Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gaben in dieser Hinsicht allen Anlaβ zu Pessimismus. Die Situation begann sich jedoch in den sechziger Jahren zu ändern, als es zu einer bedeutenden Verbesserung der sowjetisch-französischen Beziehungen kam. Dieser Entwicklung folgten bald weitere ähnliche Ereignisse, unter anderem auch die bedeutsame Verbesserung der Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland. All das stellte, im Hinblick auf die beiderseitige Sicherheit und die friedliche Koexistenz, einen wichtigen Durchbruch dar. Der Prozeβ der Normalisierung der Beziehungen erfaβte den gesamten europäischen Kontinent und sogar Kanada und die Vereinigten Staaten. Das war in der Tat eine Entwicklung von groβer Bedeutung. Willy Brandt hinterlieβ bei mir den Eindruck, daβ er seine Ostpolitik weder als vollkommen gescheitert, noch als besonders erfolgreich ansieht. Gibt es denn wirklich viele Beispiele dafür, daβ menschlichem Bemühen uneingeschränkter Erfolg beschieden war? Insgesamt gesehen hat Brandts Ostpolitik ohne Zweifel zu bedeutenden Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 284 Ergebnissen geführt. Ich glaube, daβ Willy Brandt und seine Mitarbeiter auf das, was sie geleistet haben, stolz sein können, haben sie doch dazu beigetragen, die Entspannung in der potentiell explosivsten Region in die Wege zu leiten, in einer Region, in der dem Ost-West-Konflikt eher zentrale denn periphäre Bedeutung zukommt. Es ist ganz wesentlich, daβ diese Entwicklung beibehalten und weiter vorangetrieben wird. Die bestehenden Probleme und Schwierigkeiten zeigen, daβ die politischen Beziehungen in Europa nicht in wünschenswertem Maβe umgestaltet wurden, und daβ, zu welchen Veränderungen es auch immer gekommen sein mag, man noch nicht davon ausgehen kann, daβ diese Entwicklungen nicht wieder rückgängig gemacht werden könnten. Diese Tatsache mindert jedoch keineswegs die Bedeutung der positiven Veränderungen in Europa, zu denen die Ostpolitik einen sehr wichtigen Beitrag geleistet hat. Zum Abschluβ des Besuchs von Generalsekretär Breschnew 1978 in Bonn wurden die gemeinsame Erklärung und das Abkommen über die Entwicklung und Vertiefung der langfristigen Zusammenarbeit im wirtschaftlichen und industriellen Bereich unterzeichnet. Der Moskaubesuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt im Juli 1980 führte zu einer Reihe von spezifischen Maβnahmen, die der Durchführung dieses Abkommens dienen. Das ist eine für Europa ungeheuer wichtige Tendenz. Ja, das kann für Europa eine sehr wichtige Rolle spielen. Wir streben eine langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den einzelnen westeuropäischen Ländern an, wobei wir gleichzeitig auf eine breite, gesamteuropäische Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet hinarbeiten. Leonid Breschnew hat dazu verschiedene Vorschläge auf dem Energiesektor, beim Umweltschutz und in anderen Bereichen gemacht. Ohne Zweifel erfordert eine langfristige Zusammenarbeit Stabilität und Vertrauen zu den jeweiligen Partnern. Andererseits kann eine solche Zusammenarbeit ein wichtiger Faktor der Stabilität und des gegenseitigen Vertrauens werden. Trotz dieser positiven Entwicklungen hält der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans Apel, daran fest, die Gespräche zwischen Ost und West würden zu nichts führen, wenn sie nicht von militärischen Vorbereitungen begleitet würden. Das ist wohl genau die Auffassung, die man von einem westdeutschen Verteidigungsminister erwarten würde, obwohl damit nur dem Wettrü- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 285 sten und einer Verstärkung der Spannungen Vorschub geleistet wird. Gerade die militärischen Vorbereitungen sind es, die heutzutage zu nichts führen. Hinter uns liegen drei Jahrzehnte, die von solchen Anstrengungen bestimmt waren. Haben sie uns bei den Verhandlungen geholfen oder haben sie auch nur ein einziges Mal zu einem Ûbereinkommen oder zur Zusammenarbeit geführt? ‘Si vis pacem para bellum’ - dieses ewig gleiche Lied vom ‘Frieden durch Krieg’ hort die Menschheit schon seit Jahrhunderten. Aber hier und heute hat dieser Aphorismus keine Gültigkeit mehr. Denkt man zurück an die Schluβakte von Helsinki von 1975, so erscheint das Bild vom Europa der achtziger Jahre wirklich düster. Nun, nach meiner Auffassung hatte die Entspannung die spektakulärsten Erfolge in Europa erzielt, und zwar vor allem in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Nach 1975 wurde die ganze Sache komplizierter und widersprüchlicher - vor allem aufgrund der amerikanischen Haltung. Das wurde schon auf der Belgrader Konferenz von 1977 deutlich. Wie schätzen Sie diese Konferenz ein? Kein völliges Desaster, aber dennoch in vieler Hinsicht ein enttäuschendes Ereignis. Und die Madrider Konferenz? Mein Eindruck war, daβ es ganz einfach Washingtons Absicht war, sie zu sabotieren. Es mag genügen zu erwähnen, daβ einer der Führer der amerikanischen Delegation früher ein Mitglied des ‘Committee on the Present Danger’ war. Im übrigen war es die erklärte Absicht der USA, die Sowjetunion auf der Konferenz anzuklagen. All das erweckte den Eindruck, die Carter-Administration handle, was die europäische Sicherheit betrifft, in beispiellos fahrlässiger Weise. Ich habe den Verdacht, daβ es in Wirklichkeit ihr Ziel war, die Unzufriedenheit der Europäer mit Amerikas Neuauflage der Politik des Kalten Krieges zu beschwichtigen und Entschuldigungen dafür zu konstruieren. Es bleibt abzuwarten, ob die Europaer ihrerseits bereit sind, in diesem Spiel des Weiβen Hauses die Rolle des Betrogenen zu übernehmen. Madrid spiegelt also eine Verschlechterung dergesamten Situation in Europa wider? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 286 In dem Augenblick, in dem dieses Buch in Druck geht, dauert die Konferenz immer noch an. Und ich habe durchaus Hoffnung, daβ es zu Verbesserungen kommt. Wenn Sie mich nach einer Einschätzung der ersten Phase der Madrider Konferenz fragen, so würde ich sagen, daβ die allgemeine Situation in Europa besser ist als die Situation der Konferenz. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa wurden weiterentwickelt. Gleichzeitig gab es auch einige negativ zu bewertende Tatsachen. Am meisten beunruhigt dabei, daβ bei der Rüstungsbegrenzung keine positiven Resultate erzielt wurden. Ganz im Gegenteil, die Nato hat 1978 und 1979 verschiedene Entscheidungen getroffen, durch die sich die militärische Rivalität noch zuspitze. Aber ich möchte noch einmal betonen, daβ sich nicht nur ein ausschlieβlich negatives Bild ergibt, wenn man die Zeit seit den frühen siebziger Jahren oder selbst nur die Zeit seit Helsinki in Betracht zieht und die Entwicklungen bewertet, zu denen es seither in Europa kam. Ich glaube, daβ die Grundlagen der Entspannung in Europa intakt geblieben sind, was man von unseren Beziehungen mit den USA nicht unbedingt sagen kann. Zur Frage der Abneigung Europas, sich Washingtons neuem Feldzug des Kalten Krieges anzuschlieften, stellte Kissinger zusammenfassend fest: ‘Es geht nicht an, daβ die Europäer ein Monopol darauf haben, maβigend zu wirken, wahrend die USA das Monopol darauf haben, Druck auszuüben.’ In der Tat ist solch eine Rollenverteilung nicht die beste Lösung. Wir würden es sehr viel üeber sehen, wenn sowohl Westeuropa wie auch die USA mit uns Beziehungen unterhielten, die eher auf Müβigung denn auf Druck und eher auf Zusammenarbeit denn auf Konfrontation beruhen. Wenn es dazu nicht kommt, so solite Kissinger nicht den Europäern die Schuld dafür geben. Die Differenzen zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa haben ihre Wurzeln in der amerikanischen Politik, in dem Kurswechsel, bei dem die Entspannung durch eine Steigerung der Spannungen abgelöst wurde. Mit anderen Worten, und darauf habe ich bereits hingewiesen: Die Europäer nehmen die Entspannung ernster als die Amerikaner. Sie haben zwar darauf an früherer Stelle hingewiesen, ich möchte Sie aber noch um eine detailliertere Analyse bitten. In erster Linie sind die Europaer sensibler, was die Kriegsgefahr anbe- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 287 langt. Wie der berühmte amerikanische Historiker Charles Beard sagte, sind die Problème Europas ‘überzogen von einer Blutkruste, die fünfzig mit Kriegen angefüllte Jahrhunderte hinterlassen haben’.5 Und schlieβlich sind es auch nicht die Amerikaner, sondern die Europäer, die in unmittelbarer Nähe jener sowjetischer Panzer und SS 20-Raketen leben müssen, derentwegen die Nato soviel Aufhebens macht. Ein Krieg in Europa mag sich für die USA wie ein ‘lokaler’ Konflikt ausnehmen, aber dieser Kriegsschauplatz ist, wie weit er auch von Washington entfernt sein mag, für die Europäer der einzige Lebensraum, über den sie verfügen. Deshalb ist für sie solch ein - aus amerikanischer Sicht - ‘lokaler’ Krieg eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Zweitens ware zu erwahnen, daβ im Zusammenhang mit der Entspannung für die Europäer ein sehr viel gröβerer wirtschaftlicher Einsatz auf dem Spiel steht. Und schlieβlich gibt es noch die menschlichen Kontakte, das Gefühl, durch ein gemeinsames Schicksal verbunden zu sein, das gemeinsame kulturelle Erbe, in das sich alle Völker Europas, Ost und West, teilen. Es gibt viele starke historische Bande, unser gemeinsamer Kampf gegen Hitler, an dem auch die USA teilnahmen, war eine Erfahrung, die die Europäer einander besonders nahebrachte. Sowjetbürger, die den Konzentrationslagern in Westeuropa entfliehen konnten, beteiligten sich am Kampf der Widerstandsbewegungen Frankreichs, Italiens, Belgierts und vieler andere Länder. Franzôsische Offiziere kämpften in unserer Luftwaffe. Die sowjetische Armee spielte eine entscheidende Rolle bei der Befreiung Europas - das haben die Europäer besser begriffen als die Amerikaner. Die Gräber sowjetischer Soldaten, die ihr Leben dafür gaben, daβ die Nazis besiegt wurden, liegen über den ganzen Kontinent verstreut. Alles in allem wird dem Frieden und der Entspannung in Westeuropa eine sehr viel höhere Priorität eingeräumt als in den Vereinigten Staaten. In gewisser Hinsicht geriet Amerika bei der Entspannung manchmal richtiggehend in den Sog, der von Westeuropa ausging, und heute leistet Europa, wenn auch vielleicht mitunter nur zôgernd und widersprüchlich, Widerstand gegen die Versuche der Amerikaner, den Kalten Krieg aufs neue zu beleben. Ich will damit nicht sagen, daβ die ½berbleibsel des Kalten Krieges schon aus den Kôpfen aller Europäer verbannt wären. Es gibt in Westeuropa Kräfte, die die Entspannung fürchten und einer angespannteren Atmosphäre im Ost-West-Verhältnis den Vorzug geben würden. An welche Kräfte denken Sie dabei? 5 Ronald Radosh, Prophets on the Right, New York, 1977, S. 32 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 288 Nun, zum einen hat jedes westeuropäische Land sein eigenes militärisch-industrielles Macht- und Interessenkartell, das zur Entspannung so ziemhch die gleiche Haltung einnimmt wie das amerikanische. Es gibt Leute, die iiber die ‘innenpolitische Instabilität’ in ihren Ländern besorgt sind und auf der Suche nach einem Sändenbock die Entspannung als einen Hauptgrund für diese ‘Instabilität’ hinstellen. In ihren Augen stellt ein von neuerlichen Ost-West-Feindseligkeiten und einer neuerlichen Polarisierung geprägtes Klima ein wirksames Mittel dar, um jene zu disziplinieren, die für gesellschaftliche Veränderungen in Westeuropa kämpfen. Zugleich stellt es auch ein Mittel dar, um unter dem Motto der äuβeren Bedrohung die ‘nationale Einheit’ herzustellen, gleichgültig, ob es eine solche Bedrohung nun gibt oder nicht. Man sollte auch den Antikommunismus nicht unerwähnt lassen. In Westeuropa, vor allem in jenen Ländern, in denen die Kommunisten eine ernstzunehmende politische Kraft darstellen, nimmt der Antikommunismus andere Formen an als in den Vereinigten Staaten. Dennoch gibt es ihn, und er trägt nicht unerheblich zu den verstärkten internationalen Spannungen bei. Schlieβlich spielt, was die Spannungen in Europa anbelangt, solch ein traditioneller Faktor wie die imperialen Bestrebungen der Deutschen eine Rolle. Selbstverständlich sind diese Bestrebungen heute schwächer als vor 40 oder 70 Jahren, aber es gibt in der Bundesrepublik Deutschland immer noch Leute, darunter sehr einfluβreiche Teile der Machtelite, die glauben, Deutschland sollte ein weiteres Mal versuchen, die Hegemonie über Europa und andere Teile der Welt zu erlangen. Ihnen sind die bestehenden Beschränkungen, die den Deutschen im militärischen Bereich auferlegt sind, ein Dorn im Auge. Die Bundeswehr hat bereits Zugang zu Nuklearwaffen. In gewisser Hinsicht. Die mit Nuklearsprengköpfen bestückten amerikanischen Raketen, die in Europa stationiert sind, werden mit Hilfe von zwei Schlüsseln aktiviert, davon wird einer von der Bundeswehr verwahrt. Dasselbe wird, so wie es aussieht, für die amerikanischen eurostrategischen Waffen (Pershing 2 und Marschflugkörper) gelten, die von 1983 an in erster Linie in der Bundesrepublik stationiert werden sollen. ½berdies wird die Möglichkeit diskutiert, ein gemeinsames französich-deutsches Arsenal von Nuklearraketen aufzubauen. Solange aber 300 000 amerikanische Soldaten in Westeuropa stationiert sind, wird wahrscheinlich der amerikanische Atomschirm aufrechterhalten werden. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 289 In der Theorie ist vorgesehen, daβ im Rahmen der Nato-Verpflichtungen der USA der Atomschirm, von dem Sie sprechen, Europa abdeckt. Was die 300 000 amerikanischen Soldaten anbelangt, so stellen sie einerseits Amerikas Beitrag zu den regulären Streitkräften des Bündnisses dar, während man in ihnen andererseits auch eine Art von Geiseln sehen kann. Denn die Vereinigten Staaten müβten dann im Falle eines Krieges auch tatsächlich kämpfen, und sei es nur deshalb, um diese Soldaten nicht im Stich zu lassen. Dies entspricht der traditionellen Denkweise, die davon ausgeht, daβ allein durch militärische Mittel die Sicherheit gewβhrleistet werden kann. Nebenbei gesagt, führt das in diesem Fall zu einigen unlösbaren Problemen spezifischer Art. Unter den gegenwärtigen Umstanden schüren manche Amerikaner genauso wie gelegentlich auch jene Europäer, die das Wettrüsten unterstützen, künstliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Granatien, für die sich Amerika mit seiner Nuklearstreitkraft verbürgt. Diese Leute weisen auf das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR hin, sowie darauf, daβ die USA im Falle eines gröβeren Konflikts in Europa die Europäer ihrem Schicksal überlassen würden, da ein Atomkrieg für die Vereinigten Staaten mittlerweile einem Selbstmord gleichkäme. Diese Ängste und Zweifel haben bei der Debatte, die der jüngsten Entscheidung der Nato zu den Pershing II-Raketen und den Marschflugkörpern vorausging, eine gewisse Rolle gespielt. Aber wie wir im Laufe unserer Diskussion schon an anderer Stelle festgestellt haben, löst diese Entscheidung das ‘Problem’, das es zu lösen vorgibt, nicht. Was sollen die angstlichen Europäer also tun? Das gleiche wie die angstlichen Russen und die angstlichen Amerikaner. Sie sollten begreifen, daβ militärische Stärke allein keine Gewähr für Sicherheit bietet, und daβ für einen dauerhaften Frieden Entspannung und Rüstungsbegrenzung sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Ost und West erforderlich sind. Auβerdem sollten die Europäer nicht den Ängsten Raum geben, die die Verfechter eines fortgesetzten Wettrüstens verbreiten, indem sie eine angebliche ‘Wehrlosigkeit’ der Europäer an die Wand malen. Alles, was durch die Abschreckung überhaupt erreicht werden kann, kommt auch den Europäem zugute. Denn ein Krieg in Europa ist zugleich ein Weltkrieg, und zwar ein Atomkrieg. Das ist die politische Realität der Welt von heute. Ich bin überzeugt, daβ man das in der Sowjetunion ganz genau begriffen hat. Es wäre nur zu wünschen, daβ man das im Westen ebenfalls begreift. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 290 Kennedy lieβ es sich nicht nehmen, bei seinem Berlin-Besuch der Bevölkerung wenn auch mit ausländischem Akzent - zuzurufen: ‘Ich bin ein Berliner!’ Ähnlich später Jimmy Carter. Er betonte, er würde Westdeutschland verteidigen, ‘als sei es unser eigenes Land’. In solcher Rhetorik kommen ganz deutliche antisowjetische Tendenzen zum Ausdruck. Sie zielt darauf ab, antisowjetische Gefühle zu schüren. Gegen wen sollte Carter Westdeutschland eigentlich verteidigen? Wir haben nicht die Absicht anzugreifen. Un die meisten Westeuropäer wissen das. Die Ängste aus der Zeit des Kalten Krieges, wonach die Russen versuchen würden, Westeurpa zu erobern, haben viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Heute scheinen sich die Amerikaner wegen dieser gar nicht bestehenden ‘Gefahr’ vielmehr Sorgen zu machen als die Völker in Westeuropa - was die tatsächliche Situation auf dem Kontinent ziemlich genau kennzeichnet. Auch wenn man zugeben muβ, daβ sich das 1949er Modell der sowjetischen Bedrohung Westeuropas heute recht sonderbar ausnimmt, so bestehen doch noch immer Ängste, die Sowjets könnten militarisch vorgehen - sagen wir als Antwort auf eine Krise in Osteuropa. Ja, die gegenwärtigen Überlegungen innerhalb der Nato gehen in diese Richtung. Man muβ ein glaubhaftes Feindbild vorweisen können, um die vernünftigen Zweifel, die in der Öffentlichkeit auftreten, im Zaum halten zu können. Ich bezweifle aber, ob die Leute dieses neueste Produkt, das sich die Nato ausgedacht hat, glaubhaft finden werden. Überlegen Sie sich das einmal. Man behauptet, man müsse Westeuropa gegen einen denkbaren sowjetischen Angriff verteidigen, zu dem es infolge von Ereignissen in Osteuropa, die der Sowjetunion möglicherweise miβfallen, kommen könnte. Falls hier überhaupt ein logischer Zusammenhang besteht, dann doch nur unter der Annahme, daβ Westeuropa mit solchen Ereignissen in Osteuropa sehr viel zu tun hat; stellt sich doch andernfalls die Frage, warum man von der Sowjetunion irgendwelche feindseligen Reaktionen gegenüber dem Westen erwartet. Um es einfacher auszudrücken: Es könnte sein, daβ die Nato versucht, die Absicht zu verteidigen, sich in die inneren Angelegenheiten der osteuropäischen Staaten einzumischen. Hat solch eine Absicht irgend etwas mit den wahren Interessen Westeuropas zu tun, mit den Interessen ganz Europas? Der Westen muβ die Tatsache akzeptieren, daβ der Sozialismus in Osteuropa von Bestand sein wird. Was würden Sie unter diesem Aspekt zu Polen sagen? Sind nicht die jüng- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 291 sten Ereignisse dort Ausdruck einer ernstzunehmenden Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen? Ja, es gab Unzufriedenheit. Sie richtete sich jedoch nicht gegen das Gesellschaftssystem. Sie hängt vielmehr mit Dingen zusammen, die mit dem System als solchem nichts zu tun haben, Dingen, vor denen niemand sicher ist - den Fehlern einiger Leute aus der Führung, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Korruption und anderer Vergehen einiger Beamter. Dieses Land erlebt gegenwärtig schwere Zeiten. Aber das kann nicht über die offenkundige Tatsache hinwegtäuschen, daβ Polen, einst eines der ärmsten Länder Europas, unter dem Sozialismus sehr viel erreicht hat. Und dieses Land wird auch einen Ausweg aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten finden. Betrachtet die UdSSR die polnischen Ereignisse als eine Bedrohung? Das hängt davon ab, an welche Ereignisse Sie denken. Wir unterstützen vorbehaltlos die Beschlüsse, die das Zentralkomitee der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei auf seinen jüngsten Plenarsitzungen gefaβt hat und die besagen, daβ in der Wirtschaft ein effektivererer Führungsstil erforderlich ist, daβ die Politik der Auslandsverschuldung, die in den letzten Jahren betrieben wurde, nicht fortgeführt werden kann, daβ Korruption und Bürokratismus bekämpft werden müssen und den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung gröβere Aufmerksamkeit geschenkt werden muβ. Dieses und vieles andere betrachten wir keineswegs als bedrohlich. Wir hoffen, daβ der politische Kurs, den die polnische Führung eingeschlagen hat, für das Land von Nutzen sein wird. Aber es gibt auch noch andere Dinge - wie z. B. eine anarchistische Haltung gegenüber staatsbürgerlichen Pflichten, fehlende Bereitschaft, den Ernst der wirtschaftlichen Lage zu begreifen, offen antisozialistische Erklärungen und Aktivitäten, die vom Ausland her von antipolnischen und antikommunistischen Elementen unterstüzt werden. Diese schädlichen Tendenzen können gefahrlich sein, wenn ihnen nicht entschlossen begegnet wird; wir hoffen jedoch, daβ die polnischen Genossen imstande sind, der Lage Herr zu werden. Die Sowjetunion ist von der Prämisse ausgegangen, daβ es sich dabei um eine innerpolnische Angelegenheit handelt. Wenn wir darum gebeten wurden, haben wir bei der Lösung der Krise mitgeholfen, indem wir der polnischen Wirtschaft finanzielle Unterstüzung gewährten. In allen Phasen der Krise haben wir die polnische Regierung unterstüzt. Andere sozialistische Nachbarn Polens haben sich ebenso verhalten. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 292 Andererseits jedoch betrachteten manche westliche Kreise die polnische Krise als eine günstige Gelegenheit, um sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen und zu versuchen, das sozialistische System Polens zu untergraben. Könnten Sie das näher ausführen? Auβer zu wütenden Propagandaausfällen kam es auch zu Erklärungen von Franz Josef Strauβ und anderen konservativen westlichen Politikern, die den Zweck hatten, die Emotionen anzuheizen. An solchen Versuchen beteiligten sich auch einige westliche Gewerkschaftsführer, Industriebosse und Stiftungen. Des weiteren erhielt die neue Gewerkschaft aus der Bundesrepublik, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern finanzielle Unterstützung. Offensichtlich sind Sie nicht bereit einzugestehen, daβ der sowjetische Kommunismus, der in Polen nach 1944 eingeführt wurde, aufgrund seines Versagens und des Widerstands, der ihm von den Arbeitermassen entgegengebracht wird, an einem Scheideweg angekommen ist. Einer solchen Auffassung kann ich keineswegs zustimmen. Und ich bin fest überzeugt, daβ die Mehrheit der Polen dem genausowenig zustimmen würde. Sie werden sicher verstehen, daβ es nicht einfach ist, auf die polnischen Ereignisse genauer einzugehen, da die Lage im Moment noch zu veränderlich ist. Zu viele Dinge sind noch nicht abgeschlossen: Die neue Wirtschaftspolitik ist noch nicht vollständig ausgearbeitet, die Partei bereitet sich auf ihren nächsten Kongreβ vor, und was die Beziehungen zwischen den neuen Gewerkschaften und dem Staat betrifft, so muβ erst noch ein angemessener Modus gefunden werden. Aber ich möchte noch einmal wiederholen: Wir hoffen, daβ die polnische Führung der Situation Herr werden wird. Sie haben gesagt, Washington versuche, unter Ausnutzung der verstärkten internationalen Spannungen, seine Beziehungen zu den Verbündeten zu stärken. Ja, das versucht Washington. Man kann sogar unterstellen, daβ genau aus diesem Grund nicht wenigen amerikanischen Politikem die Entspannung miβfiel und sie ein Klima der Spannungen bevorzugten, helfen doch Spannungen, die Zügel zu straffen und die Verbündeten, wie auch die eigenen Leute, zu ‘disziplinieren’. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 293 Was die Wirksamkeit dieser Taktik angeht, so bin ich der Meinung, daβ sie in begrenztem Maβe und auf kurze Sicht zum gewünschten Ergebnis führt, während sich gleichzeitig die langfristigen Problème, die zwischen Westeuropa und Amerika bestehen, zuspitzen und sowohl offene wie auch verborgene Spannungen in diesen Beziehungen verstärkt bzw. neu geschaffen werden. Tatsache ist, daβ wir heute schon Zeugen einer solchen Entwicklung sind. Heiβt das Ihrer Meinung nach, daβ ein Kalter Krieg, dem keine ‘echten’ Motive zugrunde liegen, auch zu keiner ‘echten’ Einheit im Westen führen kann? Ja, die Welt hat sich seit den fünfziger Jahren verandert, und gleichgültig, wie sehr man sich auch in Washington nach diesen Zeiten zurücksehnt - sie lassen sich nicht zurückholen. Nun, da die westeuropäischen Verbündeten wirtschaftlich sehr viel starker und in politischer Hinsicht von den USA unabhängiger geworden sind, fordern sie, daβ ihre Interessen Berücksichtigung finden. Einige der auβenpolitischen Eskapaden der Amerikaner haben unter den Verbündeten emsthafte Besorgnis hervorgerufen. Sicherlich, Washington ist immer noch in der Lage, den Partnern seinen Willen aufzunötigen. Jedoch wird mit jedem derartigen Vorgehen die Bereitschaft der Westeuropäer, in Amerikas Fuβstapfen zu treten, geringer. Dieses Verhältnis kann nicht endlos so weitergehen, ‘es gibt eine Grenze, jenseits derer Geduld aufhört, eine Tugend zu sein’. Wenn man in den Niederlanden in den sechziger Jahren Lyndon B. Johnson wegen der Ereignisse in Vietnam öffentlich einen Mörder nannte, wurde man gerichtlich verurteilt. Heute stellen immer mehr Europäer Washingtons Vorgehen in Frage. Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, daβ das Vertrauen der westlichen Verbündeten in die amerikanische Führung erschüttert ist. Man vertraut Washington nicht mehr in dem Maβ, wie das vielleicht früher einmal der Fall war. Es ist nicht nur so, daβ es für die Vereinigten Staaten schwieriger geworden ist, Westeuropa dazu zu zwingen, sich den amerikanischen Wünschen zu beugen, sondern es hat umgekehrt der Einfluβ der Verbündeten auf Washington in beachtlichem Maβe zugenommen. Der Standpunkt und das Urteil Westeuropas hat heute gröβere Bedeutung für den Entscheidungsprozeβ in der amerikanischen Auβenpolitik. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 294 Helmut Schmidt, Giscard d'Estaing und möglicherweise auch der spanische Premierminister Adolfo Suarez scheinen 1980 nach den Ereignissen in Afghanistan mäβigenden Einfluβ auf Washington ausgeübt zu haben. Das mag der Fall sein, doch muβ erst noch abgewartet werden, wie nachhaltig diese Einfluβnahme war und welche Bedeutung ihr zukommt. Die Versuche der USA, die Spannungen in der Welt und insbesondere auch in Europa zu erhöhen, könnten die Besorgnis und die Ängste der Europäer für eine Weile verstärken und dazu führen, daβ Washington sein Ziel, Europa zu gröβerer Gefolgschaft zu verpflichten, zum Teil erreicht. Wie lange dieser Zustand andauem wird und ob nicht dadurch sogar noch stärkere Gegentendenzen verursacht werden, ist eine andere Frage. In gewisser Hinsicht ist eine solche Entwicklung bereits eingetreten. Denken Sie an die Reaktion Amerikas auf das Treffen Giscard d'Estaing und L.I. Breschnew oder an die Weigerung der meisten west-europäischen Länder, sich dem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau anzuschlieβen, oder an die Wirtschaftssanktionen, die gegen den Iran verhängt wurden. Die meisten Europäer fühlen sich vielleicht belästigt und gelangweilt oder gar völlig verwirrt, angesichts des endlosen Geredes von den unvorstellbaren Gefahren und von Raketen, die ihre unheilvolle, zerstörerische Last mit Schallgeschwindigkeit ‘durch die Lüfte tragen’. Die Europäer geben ihren Widerwillen klar zu erkennen, aber man kann das Problem des Überlebens nicht einfach beiseite schieben. Widerwillen hilft nicht weiter, wenn es um das Problem des Überlebens geht. Wenn Sie mir eine allgemeinere Bemerkung gestatten - ich möchte nicht den falschen Eindruck erwecken, ich sei eine Art Eurozentrist, aber uns allen liegt dieser Kontinent sehr am Herzen. Mit ‘uns allen’ sind nicht nur die Sowjetbürger diesseits, sondem auch jenseits des Urals gemeint und auch die Amerikaner, von denen die meisten europäischer Abstammung sind. Es ist ungeheuer wichtig, diesen Kontinent zu erhalten und günstige Bedingungen für seine Zukunft zu schaffen. Es liegt in erster Linie an den Europäem selbst, dafür Sorge zu tragen. Aber das gleiche Anliegen sollte auch bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eine Rolle spielen, ist es doch eines der wichtigsten Problème. Diese Beziehungen können nicht losgelöst von Europa betrachtet werden. Europa war sowohl die Brutstätte des Kalten Krieges wie auch der Ge- burtsord der Entspannung. Bei dem Thema Europa handelt es sich nicht nur um das selbstlose Ein- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 295 treten zweier Supermächte für die Europäer. Es handelt sich um die Frage der Selbsterhaltung - das gilt sowohl für die UdSSR wie auch für die USA. Hieraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit, ein hohes Maβ an Verantwortungsgefühl an den Tag zu legen. Wenn ich das sage, denke ich in erster Linie an die Amerikaner, aber auch die Westeuropäer haben in dieser Hinsicht ein Wort mitzureden. Sie meinen, was ihre Verantwortung anbelangt? Ja. Und ich meine nicht nur Verantwortung für das, was sich in Europa ereignet, sondern auch Verantwortung für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Mir scheint, daβ manche Europäer die entscheidende Bedeutung, die diese Beziehungen für ihren Kontinent haben, nur dann anerkennen, wenn es zwischen den beiden Giganten nicht rei bungslos läuft und sich Problème ankündigen. Sobald sich jedoch die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bessern, bekommen es dieselben Europäer mit der Angst zu tun, diese Beziehungen kônnten ‘zu gut’ werden. Diese Gefahr besteht freilich im Moment nicht. Was ware Ihrer Ansicht nach die für Europa erstrebenswerteste Situation im Hinblick auf die internationalen Beziehungen? Ich würde sagen: Sicherheit von gröβtmöglicher Dauer und Zusammenarbeit in höchstmöglichem Maβe. Um das zu erreichen, ist es notwendig, Schluβ zu machen mit der anomalen Situation, daβ der Kontinent in zwei feindliche Lager gespalten ist, die mit mächtigen nuklearen und konventionellen Waffen ausgerüstet sind und Milliarden und Abermilliarden für militärische Zwecke ausgeben. Deshalb befürworten wir die Auflösung der Militärblöcke oder, als einen ersten Schritt, den Abbau der jeweiligen militärischen Organisationen. Die Charta des Warschauer Paktes enthält einen besonderen Artikel, demzufolge sich der Pakt auflöst, wenn die Nato nicht mehr besteht. Indem Sie dieses Ziel anstreben, möchten Sie auch erreichen, daβ die USA aus Europa abziehen. Wie kommen Sie darauf? Wir sind Realisten und stellen uns keine unlösbaren Aufgaben. Auβerdem ist es undenkbar, daβ wir das Ziel, von dem ich sprach, ohne die Zustimmung der Amerikaner erreichen, ja mehr noch, ohne ihre aktive Teilnahme am Prozeβ der Entspannung und Abrüstung. Schlieβlich wünschen wir nicht nur, daβ es in Europa zu Ent- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 296 spannung, Sicherheit und Zusammenarbeit kommt, sondem daβ dies überall auf der Welt geschehe, wovon selbstverständlich auch das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und Amerika betroffen ist. Es liegt auf der Hand: wenn sich die Vereinigten Staaten die Intensivierung der Spannungen und die Beschleunigung der militarischen Vorbereitungen der Nato zum Ziel setzen, wenn sie ihren Einfluβ auf die Verbündeten dazu benutzen, die politische Atmosphäre in Europa zu vergiften, dann können wir nur entschiedene Gegner dieses destruktiven Einflusses der Amerikaner auf die europäischen Angelegenheiten sein. Wir setzen es uns jedoch nicht zum Ziel, im Kontext der Entspannung einen Keil zwischen Westeuropa und Amerika zu treiben. Meiner Ansicht nach fällt es schwer, sich ein stabiles System der internationalen Beziehungen vorzustellen, wenn nicht gleichzeitig stabile, ausgeglichene und gleichberechtigte Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa bestehen. Und auβerdem - solange viele westeuropäische Staaten sich ihre Sicherheit nicht ohne die Grande der Atommacht USA vorstellen können, könnte der Abzug der Amerikaner aus Europa - es sei denn, er geschieht im Rahmen einer allgemeinen Abrüstung - der Weiterverbreitung von Atomwaffen Vorschub leisten und einem neuen Wettrüsten Tür und Tor öffnen. Ich möchte noch einmal feststellen: Unser Ziel sind gute Beziehungen mit Westeuropa, gute Beziehungen mit den Vereinigten Staaten und gute Beziehungen mit allen anderen Ländern. In Europa wird jedoch vor allem seit Afghanistan der politische Kurs der Sowjets als ziemlich antiamerikanisch empfunden. Das ist eine unmittelbare Konsequenz der Politik, die die Vereinigten Staaten heute betreiben, eine sehr natürliche Reaktion auf diese antisowjetische Politik. Aber dieses Thema haben wir schon erörtert. Wenn ich unser Gescpräch über die europäischen Belange zusammenfassen soil, so würde ich betonen, daβ Europa letztlich zu klein wird und zu stark bevölkert ist, als daβ Raum bleibt für das Wettrüsten und für Feindseligkeiten und Konfrontationen, die ihm von auβen aufgenötigt werden. China, Japan, Indien und Europa haben für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zweifellos groβe Bedeutung. Aber in Zusammenhang mit den Prüfungen und Enttäuschungen, mit denen die Entspannung während der letzten fünf Jahre verknüpft war, denkt man an verschiedene Ereignisse - an Angola, an das Horn von Afrika, an Afghanistan und selbstverständlich an den Nahen Osten. Die Ereignisse in der Dritten Welt, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 297 die immer mehr Dynamik entwickeln, schaffen für eine Annäherung zwischen den USA und der UdSSR Probleme. Umgekehrt komplizieren die erhöhten Spannungen zwischen den beiden Supermachten die Lösung der drängenden Probleme der Entwicklungsländer. Die Welt hat sich in der Tat rasch verändert, und die Industrieländer kommen damit unterschiedlich gut zurecht. Ich glaube jedoch nicht, daβ es gerechtfertigt ist, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten über den gleichen Kamm zu scheren, was ihre Politik gegenüber den Entwicklungsländern betrifft. Werfen wir einen Blick auf einige grundlegende Tatsachen, die die Dritte Welt betreffen. Während vieler Generationen war dieser Teil der Welt der koloniale bzw. halbkoloniale Hinterhof des kapitalistischen Westens. Sucht man nach Kräften, die von auβen einwirken und für die schreckliche Lage von Hunderten von Millionen Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika verantwortlich sind, so trägt eindeutig der Westen die Verantwortung. Und Ruβland... Ruβland ist 1917 aus dem Kreis der Kolonialmächte ausgeschieden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Ruβland Teile des eigenen Landes in einem kolonialen Zustand gehalten und sie unbarmherzig unterdrückt und ausgebeutet. Es war eine der Hauptaufgaben unserer Revolution, für eine politische Befreiung und ein wirtschaftliches und kulturelles Wiedererstehen dieser Gebiete zu sorgen. Es ist ganz offensichtlich - die zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion haben seit 1917 sehr groβe Fortschritte gemacht. Ja, die Menschen dort haben in einer sehr kurzen Zeitspanne den Schritt von der mittelalterlichen Rückständigkeit in die moderne Zivilisation getan. Was ganauso wichtig ist -ihr volkstümliches Erbe wurde nicht nur bewahrt, sondem ist neu aufgeblüht. Wir glauben also, daβ wir, soweit wir für das traurige Los dieser Kolonialvölker direkt verantwortlich sind, das Notwendige getan haben, um die begangenen Fehler wiedergutzumachen. Bedeutet das, daβ Sie den Entwicklungsländern keine weitere Hilfe mehr gewähren werden? Nein. Wir leisten heute Hilfe, und wir werden das in der Zukunft tun, so Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 298 gut wir können. Aber wir glauben auch, daβ die Lander, die Kolonialreiche besaβen und diese ausbeuteten sowie deren Reichtum und Rohstoffe veruntreuten, eine besondere Verantwortung tragen. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, daβ Privatunternehmen aus den Ländern, die einst die Kolonialmacht waren, weiterhin in den Entwicklungsländern investieren, um dort Riesengewinne herauszuziehen. Bemühen sich denn nicht viele Entwicklungsländer nach Kräften um ausländisches Kapital - sei es nun in Form privater oder öffentlicher Investitionen? Sie haben recht, diese Länder haben einen ganz erheblichen Bedarf an Investitionen, Kapital, Technologie, Know-how, qualifizierten Arbeitskräften etc. Und die multinationalen Konzerne verfügen über enorme Ressourcen, die der Dritten Welt zugute kommen könnten. Die groβe Frage ist nur - unter welchen Bedingungen und in wessen Interesse? Wenn ein Privatunternehmen in einem Land der Dritten Welt investiert, so ist das Hauptziel dabei, dort eine Profitrate zu erzielen, die in einem Industrieland aufgrund der viel höheren Lohnkosten nicht möglich ist. Das bedeutet im wesentlichen die ‘Über-Ausbeutung’ der Entwicklungsländer. Hierin liegt eine der Ursachen für Konflikte zwischen diesen Ländern und dem Westen. Was die multinationalen Konzerne anbelangt, nehmen die verschiedenen Entwicklungsländer offensichtlich eine unterschiedliche Haltung ein. Das stimmt. Einige Regime in der Dritten Welt sind den multinationalen Konzernen vollständig oder nahezu vollständig ergeben, sie gewähren diesen freie Hand und lassen sich dafür bezahlen. Das Ergebnis ist für gewöhnlich immer das gleiche - das Land blutet aus, es entsteht eine allgemeine Unzufriedenheit, die früher oder später zum Staatsstreich oder gar zur Revolution führt, und das neue Regime versucht dann, mit den Multis bessere Bedingungen auszuhandeln. Über ein bereits abgeschlossenes Geschäft noch einmal zu verhandeln, ist jedoch immer ein äuβerst mühevoller Prozeβ. In vielen Fällen versuchen die Multis, unterstützt von den Regierungen ihrer Länder, die ihnen Schutz gewähren, das neue Regime zu destabilieren oder zu bestechen. So kommt es, daβ die Entwicklungsländer lernen, auf der Hut zu sein und nach anderen Auswegen zu suchen. Sich also beispielsweise der Sowjetunion zuzuwenden? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 299 Für viele Entwicklungsländer stellen die Beziehungen zur Sowjetunion ein wichtiges Gegengewicht dar, das bei Verhandlungen mit dem Westen ihre Position stärkt und ihnen ermöglicht, den Multis bessere Bedingungen abzuhandeln. Hätte es nicht die Sowjetunion und andere sozialistische Länder als Alternative zum Kapitalismus gegeben, würde ein ganz erheblicher Teil der Weltbevölkerung noch heute in Kolonien leben. Kann es denn je zu einer wirksamen Entspannung kommen, wenn die Haltung zum Nationalismus in der Dritten Welt von Konkurrenzdenken bestimmt ist? Nichts von dem, was wir in der Dritten Welt tun, ist mit dem Völkerrecht, der Charta der Vereinten Nationen oder den UN-Resolutionen und -Deklarationen unvereinbar. Übrigens hat mittlerweile sogar der Westen begriffen, daβ das Schema, nach dem die Beziehungen zu den Entwicklungsländem bislang abliefen, hoffnungslos veraltet ist. Zu wiederholten Malen hat die Völkergemeinschaft ausdrücklich anerkannt, daβ die Entwicklungsländer Anspruch haben auf einen gerechten Anteil an den Ressourcen der Erde. Es Uegt im vitalen Interesse aller Industrienationen, dieses weltweite Problem zu lösen - das ist der Kern der Bemühungen um eine neue Weltwirtschaftsordnung. Das Ziel der sowjetischen Politik gegenüber der Dritten Welt ist es mitzuhelfen, diese Probleme zu lösen. Warum das mit der Entspannung unvereinbar sein sollte, kann ich nicht einsehen. Selbstverständlich kann man die Dritte Welt in eine Arena des Machtkampfes zwischen Ost und West verwandeln, man kann aber in den Problemen der Entwicklungsländer auch einen zusätzlichen Ansporn zu weltweiter Zusammenarbeit sehen. Den zuletzt genannten Weg würden wir vorziehen. Was ist zu Angola zu sagen? Gut, beginnen wir mit diesem Land. Die Krise in und um Angola brach 1975 aus. Die stärkste politische Kraft war damals wie heute die MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola). Seit den frühen sechziger Jahren führte sie einen Befreiungskampf gegen die portugiesische Herrschaft. Die Vollversammlung der UNO unterstützte diesen Kampf durch die Annahme einer Reihe von Resolutionen und die Aufforderung an alle Staaten, die Befreiungsbewegungen in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus mit allen Mitteln zu unterstützen. Die MPLA ersuchte Washington um Hilfe, jedoch zeigte man ihr dort die kalte Schul- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 300 ter. So wandte sie sich an die Sowjetunion, und wir gewährten beträchtliche materielle Hilfe, von unserer moralischen und politischen Unterstützung ganz zu schweigen. All das geschah in voller Übereinstimmung mit den Beschlüssen der UNO. Tatsache ist, daβ auch andere Länder, darunter Schweden, die MPLA unterstützten. 1974 fand in Portugal eine Revolution statt. Die neue Lissaboner Regierung verkündete ihre Absicht, sich aus allen Koloniën, einschlieβlich Angola, zurückzuziehen. Die MPLA wurde von den meisten Angolanern, wie auch von Portugal, als die führende politische Kraft des neu entstehenden Staates anerkannt. Die Vereinigten Staaten, China, Südafrika und Zaire jedoch mischten sich in die inneren Angelegenheiten ein, indem sie die beiden rivalisierenden Bewegungen FLNA und UNITA unterstützten. Der CIA pumpte Geld und Waffen in diese beiden politischen Gruppierungen, die selbst während der Kolonialzeit nahezu all ihre Energie darauf verwendet hatten, die MPLA zu bekämpfen und darüber den Kampf gegen die portugiesische Fremdherrschaft hintanstellten. Die Südafrikaner fielen in angolanisches Territorium ein und stieäen dabei nahezu bis zur Hauptstadt des Landes vor. Mit dieser ausländischen Aggression konfrontiert, bat die angolanische Regierung die UdSSR, Kuba und eine Reihe afrikanischer Staaten um Hilfe. Diese Hilfe wurde gewährt. Kuba entstandte sogar Militär. Entgegen westüchen Vorhersagen wurde Angola aber weder in eine sowjetische Kolonie noch in einen sowjetischen Militärstützpunkt verwandelt. Es scheint angebracht, an dieser Stelle zu erwähnen, daβ der Groβteil des angolanischen Erdöls von der in Pittsburgh (Pennsylvania) ansässigen Gulf Oil Company gefördert wird. Äthiopien? In Äthiopien bestand insofern eine ähnliche Situation, als sich ohne die ausländische Aggression gegen das Land die sowjetische Militärhilfe Oder die Entsendung kubanischer Truppen von Anfang an erübrigt hätte. Die Somalis waren es, die den Krieg gegen Äthiopien begannen. Ich persönlich bin überzeugt, daβ sie ihren Nachbarn nie angegriffen hätten, wären sie nicht zu dem Glauben verleitet worden, sie würden die Unterstützung der USA und einiger anderer Lander genieβen. Nebenbei gesagt, haben die Somalis in der Zeit, als wir noch freundschaftliche Beziehungen mit ihnen unterhielten, nie gewagt, sich in die äthiopischen Angelegenheiten einzumischen, geschweige denn territoriale Ansprüche gegenüber Äthiopien zu erheben. Wir haben den Somalis nie Grund zu der Annahme gegeben, sie könnten auf unsere Unterstützung oder Hilfe Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 301 reduien, sollten sie sich zu einem Angriff entschlieβen. Und das, obwohl Äthiopien zu dieser Zeit noch eine pro-westliche Monarchie war. Ohne die Hilfe Kubas wäre Äthiopien, dieser älteste unabhângige Staat des afrikanischen Kontinents, wahrscheinlich zerstückelt worden, was zu ungeheuren Verlusten unter der Zivilbevölkerung geführt hätte. Aber warum wurden die Somalis zu der Annahme verleitet, sie könnten auf Unterstützung rechnen? Weil Washington darauf aus war, unsere Freundschaft mit Somalia zu zerstören und das Land zu seinem Satelliten zu machen, was seinen Grund darin hatte, daβ man der strategischen Lage dieses Landes, insbesondere der des Hafens Berbera am Indischen Ozean, groβe Bedeutung beimaβ. Man hat aber der Sowjetunion vorgeworfen, sie habe in Berbera einen Flottenstützpunkt errichten wollen. Genau in der Zeit, als man uns solche Pläne vorwarf, stimmten wir zu, mit den USA über ein Abkommen zu verhandeln, das die Errichtung ausländischer Militârstützpunkte im Indischen Ozean verbieten sollte. Aber diese Gespräche wurden von den USA abgebrochen, und Berbera ist heute ein amerikanischer Flottenstützpunkt. Der stellvertretende kubanische Ministerpräsident, Dr. Carlos Raphael Rodriguez, hat mir in aller Ausführlichkeit die Beweggründe der kubanischen Regierung für ihr Vorgehen in Afrika dargelegt. Mich mag er damit überzeugt haben, aber Washington denkt ganz anders darüber. Gewiβ denken die USA ganz anders darüber. Ich glaube, sie hätten heber südafrikanische Truppen in Angola gesehen oder die Zerstückelung Äthiopiens allein um jeglichen sozialistischen Einfluβ fernzuhalten. Ich möchte mit Nachdruck betonen, daβ der Beistand, den Kuba verschiedenen afrikanischen Staaten gewährt, die Normen des Völkerrechts in keiner Weise verletzt. Sowohl die MPLA wie auch der Revolutionsrat in Addis Abeba hatten nicht nur das volle Recht, um Hilfe zu bitten, sondern auch alien Grund dazu. Ebenso war es das Recht der Kubaner, diese dringenden Bitten zu erfüllen. Am meisten nahm Washington daran Anstoβ, daβ die Kubaner anscheinend im Auftrag und im Namen des Kremls gehandelt haben. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 302 Kuba ist ein unabhängiger, souveräner Staat, der nicht willens ist, sich zu einem bestimmten Handeln drängen zu lassen oder blindlings dem Willen anderer zu folgen. Es war die Entscheidung der Kubaner, den Angolanern zu helfen. Und wir haben ihr Vorgehen unterstützt, weil wir den Zielen, für die die MPLA kämpft, wohlgesonnen sind, nämlich dem Ziel der vollständigen Unabhängigkeit und der territorialen Integrität Angolas, ein Ziel, das durch die militärische Intervention Südafrikas, durch weiβe Söldner und den CIA bedroht ist. Die Amerikaner empfinden es als ein permanentes Ärgernis, daβ mit Kuba ein Verbündeter der Sowjetunion vor ihrer Haustür lebt. Das ist auch eine neue Erfahrung in der amerikanischen Geschichte. Ja, sie ist neu, genauso wie viele andere Dinge, mit denen die Vereinigten Staaten in Zukunft leben müssen. Eine wachsende Zahl von Ländern im näheren Umkreis der USA verfolgen heute eine unabhängige Politik. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum ein unabhängiges Land unbedingt ein Ärgernis darstellen sollte. In dem Gespräch mit Dr. Carlos Raphael Rodriguez ist mir klar geworden, daβ die kubanische Regierung bereit wäre, wieder normale Beziehungen aufzunehmen, sobald Washington seine Blockade aufhebt. Wir glauben, daβ solch eine Normalisierung möglich und längst überfällig ist. Wir sind voll und ganz dafür. Nichts anderes als die seit langem bestellenden Hemmungen vor diesem Schritt hindem Washington daran, Vernunft anzunehmen und seine feindseligen Tätigkeiten gegen Kuba einzustellen. Provokationen wie das groβe Flottenmanöver der USA im Mai 1980 in der Karibischen See sind ebenfalls völlig sinnlos. Was will man damit bezwecken? Die jüngst zu beobachtende Zunahme der militärischen Aktivitäten der USA in der Karibik ergibt in der Tat keinen Sinn. Welche Entwicklung ist Ihrer Meinung nach in nächster Zeit in Lateinamerika zu erwarten, wenn man in Betracht zieht, daβ es dort in den vergangenen Jahren zu einer Reihe von Revolutionen kam, wobei Nicaragua den Höhepunkt darstellte? In Lateinamerika haben die USA mit mehr Sprengstoff ihre Politik ge- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 303 fährdet als irgendwo sonst auf der Welt. Seit den frühen Tagen des 19. Jahrhunderts, als die Monroe-Doktrin verkündet wurde, haben die Amerikaner Lateinamerika als ihre ureigenste Plantage betrachtet. (Nebenbei gesagt wird sehr oft vergessen, daβ Präsident Monroe, als er den Anspruch auf eine Hegemonie Amerikas in der westlichen Hemisphäre erhob, gleichzeitig auch gelobte, Amerika werde sich ansonsten jeder Einmischung enthalten.) In keiner anderen Region können die USA so ungehindert schalten und walten wie in Lateinamerika. Hier wird die Ausbeutung durch die US-Konzeme am deutlichsten, hier geschieht die Einmischung der USA in die Politik anderer Länder auf denkbar plumpe Weise, und hier ist auch die Haltung der Amerikaner insgesamt so kurzsichtig wie nirgends sonst. Andererseits versuchte Franklin D. Roosevelt, eine Politik der guten Nachbarschaft zu betreiben, und John F. Kennedy rief die Allianz für den Fortschritt ins Leben. Der harte Kurs, der für gewöhnlich die US-Politik gegenüber Lateinamerika auszeichnet, erzeugt dort ganz offensichtlich Unzufriedenheit und Widerstand und führt zu einer Radikalisierung. Hin und wieder versucht es Washington mit einer reformistischen, versöhnlichen Haltung, gibt in Kleinigkeiten nach. Aber diese neuen Methoden haben das Wesen der amerikanischen Politik nicht verändert, deren Ziel es ist, Lateinamerikas Rolle als Objekt der neokolonialen Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund führen die Reformversuche auch nie zu einem Ergebnis, das den Wünschen der Lateinamerikaner entspricht, worauf Washington wieder zum harten Kurs zurückkehrt und dabei militärische Stärke anwendet und pro-amerikanische Junten installiert. Ich würde nicht ausschlieβen, daβ wir gegenwärtig in der ganzen Region eine Rückkehr zu einer Politik der harten Linie erleben. Der unmittelbare Anlaβ könnten die Revolutionen in der Karibik und in Mittelamerika sein. Genauso, wie man 1965 die Dominikanische Republik überfiel, um ein ‘zweites Kuba’ zu verhindern, sind die USA dabei, sich in El Salvador militärisch zu engagieren, um ein ‘zweites Nicaragua’ zu verhindern. Der CIA hat seine subversiven Maβnahmen gegen jene Regierungen in der Region verstärkt, die nach Ansicht Washingtons gefährlich sind. Die Pseudokrise um Kuba vom September 1979 wurde wirkungsvoll dazu benutzt, eine neue Einschüchterungskampagne gegen dieses Land einzuleiten und die militärische Präsenz der USA in der Karibik zu erhöhen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 304 Besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, daβ es hier zu internationalen Komplikationen kommt? Ja, und ich denke dabei nicht einmal an historische Parallelen, wie die unbestrittene Tatsache, daβ wir dem Krieg nie näher waren als 1962 während der Raketenkrise um Kuba. Die achtziger und neunziger Jahre könnten für die westliche Hemisphäre zu einer recht stürmischen Zeit werden, falls die USA bei ihrer derzeitigen Politik bleiben. Daraus folgt nicht, daβ Lateinamerika im Hinblick auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen ein Krisenfaktor ist, insbesondere daim nicht, wenn die Abkommen, denen beide Länder zugestimmt haben, beachtet werden. Hier handelt es sich vielmehr um einen Krisenfaktor, der die Beziehungen der USA mit den Ländern dieser Region betrifft, und eine Krise, die hier ihren Ausgang nimmt, wird möglicherweise für die internationale Situation insgesamt sehr gefährlich sein. Um auf Afrika zurückzukommen - Sie bedauern also nicht, Angola und Äthiopien geholfen zu haben? Nein. Natürlich hätten sowohl die Kubaner wie wir selbst eine andere Situation sehr viel lieber gesehen, eine Situation, in der die Notwendigkeit, diesen beiden Ländern Militärhilfe zu gewähren, nicht bestanden hätte. Aber nach unserer Einschätzung lieβ die Entwicklung der dortigen Ereignisse eine solche Zurückhaltung einfach nicht zu. Tatsächlich ist es so, daβ heute nicht wenige Amerikaner, die der Sache der Befreiung Afrikas wohlwollend gegenüberstehen, anerkennen, daβ diese Hilfe eine konstruktive Rolle in Afrika gespielt hat. Ich glaube z. B., daβ unsere Hilfe für Angola und Äthiopien ein wichtiger Faktor war, der zu einer friedlichen Regelung in Zimbabwe beitrug. Ich bezweifle, ob Zimbabwe 1980 ein freies Land gewesen ware, hatte der Westen nicht früher schon die Erfahrung gemacht, daβ die afrikanischen Befreiungsbewegungen nicht hilflos sind. Es vergingen Jahrzehnte, in denen der Westen nur Heuchelei und Lippenbekenntnisse für die Sache der Entkolonialisierung übrig hatte. Um den Westen dazu zu bringen, seine Haltung zu ändem, bedurfte es einiger starker Mittel. Mit anderen Worten, die ‘sowjetische Bedrohung’ stellte sich in Wirklichkeit als segensreich heraus? Ich bin mit Ihrer Wortwahl ganz und gar nicht einverstanden. Es ist wichtig, die Sache der Völker, die gegen den Kolonialismus kämpfen, ernstzunehmen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 305 Lassen Sie uns davon ausgehen, daβ die sowjetische und kubanische Unterstützung den Völkern Afrikas half; gleichzeitig hat sie aber der Entspannung geschadet, und wenn es nur dadurch war, daβ es nun zusätzliche Gründe gab, die sowjetischen Absichten in Zweifel zu ziehen und der Sowjetunion Expansionismus vorzuwerfen. Unsere Hilfe für Angola und Äthiopien wurde tatsächlich zum Anlaβ genommen, um solche Anschuldigungen zu erheben. Wäre die Entspannung stark genug, so kônnte sie dazu beitragen, Probleme zu vermeiden, die militärischen Beistand erforderlich machen, wie das in Äthiopien und Angola der Fall ist. Was wäre bei einer ernsthafter betriebenen Entspannung anders gewesen? Hätte 1974/75 in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Amerika gröβeres Vertrauen geherrscht, und hätte die Frage der Militärbasen und der militärischen Präsenz fremder Mächte im Indischen Ozean damals durch ein entsprechendes friedliches Übereinkommen ihre Bedeutung verloren, so hätten es die USA möglicherweise nicht nur unterlassen, bei den Somalis falsche Illusionen zu wecken, sondern wahrscheinlich sogar einen mäβigenden Einfluβ ausgeübt. Auf diese Weise hätte es keinen Konflikt gegeben. Auch in Angola hätten viele Probleme durch Konsultation und Verhandlungen gelöst werden können. Die Entspannung kann die Völker in den ehemaligen Koloniën nicht des Rechts berauben, für ihre Befreiung zu kämpfen - und zwar auch mit Waffengewalt, wenn dies erforderlich ist. Entspannung, eine ruhige internationale Lage und eine Stärkung des Vertrauens zwischen den Ländern - all das kann von Nutzen sein, um Situationen zu vermeiden, in denen sich Befreiungskämpfe zu internationalen Konflikten, ja sogar zu einer Konfrontation zwischen Groβmächten ausweiten. Ohne Zweifel war die Befreiung Zimbabwes ein Ereignis von historischer Bedeutung. Aber dieses Ereignis wurde überschattet von den Entwicklungen im Nahen Osten, am Persischen Golf und in Südwestasien. Seit mehr als einem Jahr ist die ganze Aufmerksamkeit vor allem auf den von Brzezinski so genannten ‘Bogen der Instabilität’ gerichtet. In der Sowjetunion verwenden wir oft den Ausdruck vom ‘Nahost-Knoten’, wenn wir über diese Probleme sprechen. Tatsächlich sind die dort anstehenden Fragen auf vielschichtige Weise miteinander verknüpft und berühren viele widerstreitende Interessen. Soil ein den Weltfrieden bedrohender Gefahrenherd beseitigt werden, so muβ dieser Knoten aufge- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 306 löst werden. Unglücklicherweise war in den letzten ein, zwei Jahren genau die gegenteilige Tendenz zu beobachten. Neue Probleme, durch die die Situation sogar noch komplizierter und explosiver wird, sind entstanden; u.a. ist hier die gestiegene Abhängigkeit Amerikas vom Erdöl aus dem Nahen Osten zu nennen; die USA benötigen heute mehr Öl aus dem Ausland denn je. Aber die Zeiten, da Erdöl billig war, sind vorbei, und die ölproduzierenden Staaten möchten ihre Ressourcen in einer Weise ausbeuten, die in erster Linie ihren eigenen Interessen dient. Hier besteht ein sehr tiefgehender Widerspruch, doch Washington scheint offenbar zu glauben, es kônne das Problem mit den Mitteln der Stärke zu seinen Gunsten lösen. Anscheinend miβbilligen Sie die mit Camp David verbundenen Vorstellungen zum Nahost-Problem? Wir sehen darin eine gefährliche Abweichung von den Bemühungen, zu einer umfassenden, friedlichen Regelung in dieser Region zu gelangen; ein erneutes Streben nach amerikanischer Hegemonie im Nahen Osten, einen Versuch, das zentrale Problem, nämlich die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser, auszuklammem. Trotz all der Enttäuschung darüber, daβ die USA ihre früheren Zusagen nicht einhielten, glauben wir auch weiterhin, daβ eine Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und den USA, wie auch anderen Ländem, von vitaler Bedeutung ist, um diese sehr komplizierten und wichtigen Probleme zu lösen. Dies läge nicht nur im Interesse der beiden Groβmächte und des Friedens allgemein, sondern auch in Interesse von ölimportierenden und ölexportierenden Staaten sowie im Interesse der Völker Palästinas und Israels. Was Camp David anbelangt, so wird mehr und mehr deutlich, daβ diese Vereinbarungen nicht dazu taugen, dieses Problem zu lösen. Offensichtlich lag dem Übereinkommen die Überlegung zugrunde, daβ die USA nichts zu verlieren hatten, sollten andere Länder diese separaten Vereinbarungen unterstützen. Würde diese Unterstützung ausbleiben, so wäre die Achse USA-Israel-Ägypten-Iran stark genug, um das amerikanische Interesse vertreten zu können, auch ohne die Bestätigung durch die Genfer Konferenz oder ein anderes Gremium. Doch dann fiel der Iran bei diesem Spiel aus. Richtig, und die erwartete Unterstützung für die Camp-David-Vereinbarungen von seiten konservativer arabischer Regierungen wie der von Saudi-Arabien und der von Jordanien, blieb aus. Der ganze Handel Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 307 stimmte hinten und vorne nicht mehr und der laut hinausposaunte ‘Triumph’ der Carter-Administration erwies sich als ein Reinfall. Aber die Carter-Administration tat ihr bestes, um das durch und durch gescheiterte Unternehmen zu retten. Einerseits bemühte sie sich durch Kunststückchen, wie z. B. bei der Abstimmung des UN-Sicherheitsrats im März 1980, die Weltöffentlichkeit über die wahre Natur der Camp David Vereinbarungen hinters Licht zu führen.6 Zur gleichen Zeit bauten die USA unter allen möglichen Vorwänden ihre militärische Position im Nahen Osten, im Persischen Golf und im Indischen Ozean aus. Wir erlebten ein Erstarken der militärischen Komponente in der amerikanischen Politik in diesen Regionen. Glauben Sie, daβ die USA Erfolg haben werden und ihren Willen auf diese Weise durchsetzen können? Das bezweifle ich sehr stark. Warum? Die Grenze solchen Unterfangens hat ein führender Politiker des Nahen Ostens einmal so beschrieben: ‘Öl brennt’. Noch ehe Washington auch nur in die Nähe seines Ziels der Hegemonie gelangt, werden wahrscheinlich die Spannungen und Konflikte, die sich aus einer solchen Politik unausweichlich ergeben, die Energieversorgung der Weltwirtschaft zum Erliegen bringen. ‘Öl brennt’ könnte auch das Motto des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak sein. Ja, was das Öl betrifft. Aber dieser Krieg weist auf viele weitere Aspekte hin. In erster Linie zeigt er die Gefahren auf, die aus der allgemeinen Instabilität dieser Region erwachsen, und die auch darin lauern, daβ neue Konflikte sich zu ernsten Krisen auswachsen können. Dies insbesondere, solange alte Konflikte in nächster Nähe weiterschwelen. Unter diesen Umständen erweist sich die Taktik, die Camp David zugrunde liegt, sogar als noch gefährlicher? Ohne Zweifel. Hätte all das vermieden werden können? 6 Die USA stimmten damals einer Resolution des Sicherheitsrats zu, in der die Siedlungspolitik Israels verurteilt wurde. (Anm. d. Übers.) Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 308 All das hätte vermieden werden können, wenn 1977/78 eine vernünftige, flexible und realistische Haltung in Washington vorgeherrscht hätte. Ist es Ihrer Meinung nach immer noch möglich, zu jenem gemeinsamen amerikanisch-sowjetischen Ansatz zurückzukehren, der eine umfassende Regelung vorsah? Nicht zurück, sondern vorwärts müssen wir gehen. Soweit das an uns liegt, ist der Weg dazu frei. Ich glaube, daβ der Meinungsumschwung zur Palästinafrage, der in Westeuropa in jüngster Zeit zu beobachten ist, dazu beiträgt, daβ es zu einer umfassenden Lösung kommt. Andererseits bleibt abzuwarten, welchen Standpunkt die neue Administration in Washington einnehmen wird. Einige der Männer in der Umgebung des neuen Präsidenten geben zu erkennen, daβ sie weiter eine separate Lösung betreiben wollen. Warum bestehen keine diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und Israel? Haben Sie die Absicht, diese wieder aufzunehmen? Die diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und Israel wurden 1967 während des Sechs-Tage-Krieges abgebrochen. Damit reagierten wir auf die Aggression Israels und seine Weigerung, seine territorialen Gewinne wieder abzutreten. Die diplomatischen Beziehungen können wieder aufgenommen werden, wenn die Krise im Nahen Osten in Übereinstimmung mit den allgemein bekannten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats beigelegt wird. Sie stellen das Existenzrecht des Staates Israel dabei nicht in Frage? Nein, wir haben wiederholte Male in offiziellen Verlautbarungen erklärt, daβ die Garantie des Existenzrechts und der Sicherheit für alle Staaten der Region, einschlieβlich Israels, ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil jeder Lösung des Nahost-Problems sein sollte. Im Westen werden Spekulationen darüber angestellt, welche Haltung die Sowjetunion in der Frage des Terrorismus einnimmt, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen im Nahen Osten. Wir sind gegen den Terrorismus. Sie unterhalten aber freundschaftliche Beziehungen zu Arafat, obwohl die PLO oftmals mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht wird. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 309 Wir haben die Palâstinenser und ihren Kampf seit jeher untersützt. Das heißt nicht, daß wir jeden Schritt oder jede Aktion der verschiedenen extremistischen Splittergruppen billigen, zu denen diese sich in ihrer Verzweiflung getrieben fühlen. Was Yassir Arafat anbelangt, so halten wir ihn für den prominentesten und einflußreichsten Führer der Palästinenser. Und diese Ansicht wird von einer immer größeren Zahl führender Politiker, einschließlich solcher aus dem Westen, geteilt. Wenn wir vom Terrorismus in seiner ausgeprägtesten Form sprechen, so sollten wir auch daran erinnern, daß Begin friiher selbst ein Terrorist war, was aber den Westen nicht daran hindert, ihn zu akzeptieren. Die UdSSR wird beschuldigt, sie sei bestrebt, im Nahen Osten einen Zustand zu erhalten, den man als ‘weder Krieg, noch Frieden’ bezeichnen kann. Wir treten für die Entspannung in diesem Gebiet genauso ein wie für die Entspannung in allen anderen Teilen der Welt. Selbst wenn wir davon ausgegangen waren, daß eine Situation der ‘kontrollierten Spannungen’ - und das ist gewöhnlich mit dem Wort ‘weder Krieg, noch Frieden’ gemeint - unseren Interessen entsprechen würde, hätten wir sie nicht gewollt. Wir sind uns nämlich dessen vollkommen bewußt, daß eine Spannungssituation in einer derartig explosiven Region wie dem Nahen Osten nicht unbegrenzt lange unter Kontrolle gehalten werden kann. Deshalb käme eine Politik des ‘weder Krieg, noch Frieden’ einer Politik gleich, die den Krieg akzeptiert. Einerlei, ob das beabsichtigt ist oder nicht - es ist Tatsache, daß die Politik von Camp David voller solcher Gefahren steekt. Wie beurteilen Sie den Aufschwung, den der orthodoxe Islam in jüngster Zeit in Asien genommen hat? Ich würde die Rolle, die die Religion als eine unabhängige Kraft im gesellschaftlichen und politischen Leben einnimmt, nicht überschätzen. Die Neubelebung des Islam ist Ausdruck der wachsenden gesellschaftlichen Spannungen und der politischen Unruhen in Asien. Die Religion ganz allgemein und der Islam im besonderen kann beachtliche ideologische und manchmal auch politische Kräfte entfalten. Aber ich glaube, daß die ‘islamische Welt’ ungefähr die gleiche Abstraktion darstellt wie die ‘christliche Welt’. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Länder in Asien verwenden religiöse Slogans, um damit verschiedene, manchmal sich sogar gegenseitg ausschlieBende Ziele zu verfolgen. Der Aufbruch der breiten Massen in Asien zu politischer Aktivität verleiht Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 310 der islamischen Religion ganz offensichtlich einen neuen Inhalt; ein Zeichen dafür, daß sich diese Religion - wie jede andere auch - an die sich verändemden Umstände permanent anpassen muß, um zu überleben. Ihnen ist bestimmt bekannt, welche Verwirrung in unserem Teil der Welt die Tatsache auslöste, daß Moskau so viele Sympathien, vor allem bei islamischen Ländern und Ländern der Dritten Welt aufs Spiel setzte, indem es das gegenwärtige Regime in Afghanistan mit militärischen Mitteln im Sattel hält. Da Sie noch einmal die Rede auf Afghanistan gebracht haben, möchte ich eine allgemeine Bemerkung machen. Ich rechne nicht damit, amerikanische oder westliche Leser dazu überzeugen zu können, dem sowjetischen Standpunkt in Zusammenhang mit den Ereignissen in Afghanistan zuzustimmen. Auch rechne ich nicht damit, jemand dazu zu bekehren, daß er die dortige Revolution vom April 1978 unterstützt oder auf Babrak Karmals Seite steht, oder die sowjetische Entscheidung gutheißt, der Kabuler Regierung militärische Unterstützung zu gewähren. Sehen Sie, es handelt sich hier nicht nur um die bloße Kenntnis von Fakten, sondem um die Haltung, die man zu diesen einnimmt. Und diese Haltungen werden nicht allein durch die Informationen, sondern auch durch die Klassenzugehörigkeit und die ideologischen und politischen Sympathien und Interessen bestimmt. Hat es dann überhaupt einen Sinn, diese Themen zu diskutieren? Mir scheint, daß es dennoch von Nutzen sein könnte, weil dadurch amerikanische und andere westliche Leser eine klarere Vorstellung von dem sowjetischen Standpunkt gewinnen können. Das gilt um so mehr, als im Westen so viele Lügen über den wirklichen Sachverhalt verbreitet wurden. Warum hat sich dann die Sowjetunion entschlossen, durch die militärische Intervention in Afghanistan ein so hohes Risiko einzugehen? Wir haben aus zwei eng miteinander verknüpften Grimden Trappen dorthin entsandt: um der nach dem Umsturz in Afghanistan gebildeten Regierung dabei zu helfen, Angriffe von auBen abzuwehren, und zu verhindem, daß Afghanistan zu einem anti-sowjetischen Stützpunkt an den Südgrenzen unseres Landes wird. Diese Trappen wurden erst auf wiederholtes Ersuchen der Kabuler Regierung nach Afghanistan entsandt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 311 Darüber hinaus gibt es einen wichtigen rechtlichen Aspekt: Unser Beistand wurde auf der Grundlage des im Jahre 1978 zwischen der UdSSR und Afghanistan unterzeichneten Vertrages gewährt. Wir haben nicht die Absicht, für immer in Afghanistan zu bleiben oder dieses Land in ein Sprungbrett für Aktionen gegen andere Länder zu verwandeln. Unsere Truppen werden abgezogen, sobald die Gründe entfallen, die für ihre Stationierung verantwortlich waren. Sie sagten, das Ziel der sowjetischen Truppenentsendung ware es gewesen, dem Revolutionsregime zu helfen. Dieses Regime wurde aber von Hafizullah Amin angeführt, der beim Eintreffen der sowjetischen Truppen ermordet und von Babrak Karmal ersetzt wurde. Karmal brandmarkte Amin und änderte jäh den Kurs der Kabuler Politik. Dies nimmt sich doch seltsam und widersprüchlich aus. Vergessen Sie bitte nicht, daß wir von einer Revolution sprechen. Jede Revolution mit ihren raschen Veränderungen, jähen und unerwarteten Wendungen ist ein höchst komplexes Ereignis, ein beständig wechselndes Spiel der Kräfte, wobei Leute über Nacht die Seite wechseln. Ich habe bereits über die Ursachen gesprochen, die im April 1978 zur Revolution in Afghanistan führten. Die unmittelbar nach dem Umsturz gebildete und von Noor Muhammad Taraki geführte Regierung erhielt eine breite Unterstützung. Babrak Karmal, wie auch Hafizullah Amin, gehürte zu den führenden Personen. Die Revolutionsregierung rief ein umfangreiches Programm sozialer Veränderungen ins Leben; ein Programm, das sich auf die Landreform, auf Entwicklungsprojekte zugunsten ethnischer Minderheiten, auf die Rechte der Frauen und auf das Bildungswesen konzentrierte. Soviel ich weiß, wird dieser Politik Widerstand entgegengebracht. Wie kommt das? Dadurch, daß er sich gegen die Interessen der ehemals herrschenden und 1978 abgesetzten Klassen richtet, wie etwa gegen jene 40 000 feudalen Großgrundbesitzer, die das Land an die Bauem zurückgeben mußten. (Vor der Revolution gehörten 70 Prozent des gesamten Landes diesen Leuten.) Dieser Widerstand ist bei jeder Revolution ganz normal - keiner möchte auf seine Macht und seine Privilegiën verzichten, und es wird mit allen Mitteln versucht, den Status quo ante wiederherzustellen. Die ihrer Privilegien beraubten Personengruppen bildeten das Rückgrat der Konterrevolution in Afghanistan. Sie hätten allerdings keine so große Gefahr dargestellt, waren sie nicht von außen unterstützt worden. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 312 Einmischung von außen kommt überall vor. Leider. Jede Revolution muß mit Opposition rechnen, jedoch wäre diese für die neue Regierung gewiß nicht zu einer ernsthaften Bedrohung geworden, haften nicht einige Aspekte der Regierungspolitik zu verbreiteter Unzufriedenheit geführt. Sicher, die neue Regierung beging Fehler; diese sind nun einmal bei jeder Revolution unvermeidlich und besonders verstandlich im Falle eines so rückständigen Landes. Der größte Fehler bestand meiner Ansicht nach darin, daß man versuchte, zu vieles in zu kurzer Zeit zu tun - eine typisch linke Abweichung nach marxistischer Sprachregelung. Schwerwiegende Fehler wurden auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen dem Staat und der moslemischen Geistlichkeit begangen. Der größte Teil dieser Geistlichkeit wurde als konterrevolutionäre Kraft abgetan; manche der Mullahs wurden verfolgt, Moscheen geschlossen. Und, nicht zu vergessen, die Lage wurde von Hafizullah Amin und seiner Grappe nachhaltig verschlechtert. Sie nannten ihn als einen der Führer der afghanischen Revolutionsregierung? Ja. Eine von Babrak Karmal angefiihrte Fraktion innerhalb der Regierung versuchte, diese Fehler zu vermeiden, und drängte auf eine realistischere und demokratischere Politik, wurde aber hauptsächlich aufgrand von Intrigen aus dem Lande vertrieben oder verhaftet. Dies erleichterte es Amin, einen harten Kurs zu steuern und das Land mit einer von Gewalt und Repression geprägten Politik zu überziehen. Es steht fest, daß die Schwierigkeiten der afghanischen Revolution in engem Zusammenhang mit der Persönlichkeit Amins zu sehen sind; war er doch ein machthungriger Verschwörer, ein skrupelloser Intrigant, der den revolutionären Aufschwung dazu benutzte, an die Spitze zu gelangen und zum Alleinherrscher zu werden. In der Geschichte trifft man mehr als einmal auf solche Gestalten. Amin fiihrte im September 1979 einen Staatsstreich aus und tötete Präsident Taraki. Später wurde er von der Regierung des Hochverrats beschuldigt. Wenn die UdSSR schon nicht einverstanden war mit Amin, warum hat sie dann seinem Hilfeersuchen entsprochen? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 313 Dies geschah ja nicht Amins wegen, sondern in der Absicht, die afghanische Revolution zu retten. Darüber hinaus erhielten wir bereits früher ähnliche Hilfeersuchen von Taraki. Das klingt eher wie eine Ausrede. Zu diesem Zeitpunkt war doch Amin der Führer Afghanistans. Er ergriff widerrechtlich diese Position. Trotz all seiner Repressionen und Intrigen gab es aber in der Partei, ja selbst in der Regierung, noch viele Leute, die sich seiner Politik widersetzten und nach Kräften darum bemühten, das Erbe der April-Revolution von 1978 zu retten. Diese Leute entmachteten ihn am Vorabend des Tages, an dem die Gruppe run Amin eine große Anzahl gefangener Revolutionsführer hinrichten lassen wollte. Warum aber hat die Sowjetunion zugelassen, daß Karmal außer Landes geschickt wurde und daß Amin seine Verbrechen beging? Was heißt hier ‘zugelassen’? Wir haben der afghanischen Regierung geholfen, haben sie beraten, aber wir konnten doch nicht den Verlauf der Revolution diktieren. Es war dies kein von der Sowjetunion gesteuerter Prozeß, hätte dies auch nicht sein können. Und was das von Ihnen berührte Problem anbelangt, so kann ich sagen, daß wir die afghanischen Führer warnten, schließlich war es ihre Revolution und sie mußten die Entscheidungen treffen. Ist es der Regierung Babrak Karmal gelungen, die Position der Revolutionsregierung zu stärken? Karmal und seine Mitarbeiter machten sich rasch daran, die Regierungspolitik wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Man befreite 15 000 politische Häftlinge, die unter Amin eingesperrt worden waren, bestrafte die für die Repressionen Verantwortlichen und erließ eine Generalamnestie für alle die jenigen, die aus dem Lande geflohen waren. Man stellte die Religionsfreiheit wieder her und ergriff vernünftige wirtschaftspolitische Maßnahmen. Auf außenpolitischem Gebiet bemüht man sich, die Beziehungen zu den Nachbarn, insbesondere die zu Pakistan, zu normalisieren. Dies bringt uns zum zweiten Motiv, der sowjetischen Truppenentsendung nach Afghanistan. Glaubte man in Moskau, daß ein Scheitern der afghanischen Revolution eine Gefahr für die Sowjetunion darstellen könnte? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 314 Um diese Frage beantworten zu können, muß man eine Gegenfrage stellen. Warum hatten China und die USA so großes Interesse am Scheitern der afghanischen Revolution? Wir hatten Grund zu der Annahme, daß dieses Interesse hauptsächlich deswegen bestand, weil beide Länder die Absicht hatten, Afghanistan als Basis für Aktionen gegen die Sowjetunion zu benutzen. Unsere Grenze mit Afghanistan ist 2500 Kilometer lang, und jahrzehntelang war dies eine sehr friedliche und ruhige Grenze. Was glauben Sie, wäre in Afghanistan geschehen, hätte die Sowjetunion nicht Truppen dorthin entsandt? Denken Sie bitte nicht, die Entscheidung dafür wäre der Sowjetunion leicht gefallen und alle möglichen negativen Reaktionen darauf wären nicht bereits vorher bedacht worden. Die sowjetische Regierung kam zu der Schlußfolgerung, daß die afghanische Regierung nicht in der Lage sein würde, die Revolution zu retten sowie die von außen kommenden Angriffe abzuwehren, und daß die weitere Entwicklung der Dinge in dieser Region die Sicherheit der Sowjetunion bedrohen könnte. Für Afghanistan selbst hätte dies den Triumph der Konterrevolution mit all seinen zwangsläufigen Begleiterscheinungen bedeutet - Terror, Blutvergießen, wütende Rache der Reaktion. Welche spezielle Bedrohung ihrer Sicherheit befürchtete die Sowjetunion? Afghanistan hätte in eine antisowjetische Basis verwandelt werden können, eine Basis, die von China und/oder den Vereinigten Staaten sogar zur Errichtung von Militärstützpunkten an unserer Grenze benutzt werden könnte. Militärbasen? Warum nicht? Es gab früher US-Militärstützpunkte im Iran, und die USA suchen nun in der ganzen Region nach einem Ersatz dafür. Wieso also nicht in Afghanistan? Nach einer im Westen weitverbreiteten Meinung entsandte die Sowjetunion deshalb Truppen nach Afghanistan, um einen direkten Zugung zu den warmen Meeren und zum Öl des Nahen Ostens zu erlangen. Selbst vom rein militärischen Standpunkt aus betrachtet, ist dies Nonsens. Die Sowjetunion befindet sich bereits nahe genug sowohl am Persi- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 315 schen Golf als auch am Indischen Ozean. Hätten wir beabsichtigt, einen direkten Zugang zu erreichen, so hätten wir niemals Afghanistan mit seinem unwegsamen Terrain als Sprungbrett dafür gewählt. Wie ein amerikanischer Freund von mir sagte, wäre dies genauso, als würden die Kalifomier bei einem Angriff auf Oregon erst Nevada durchqueren. Das wichtigste Argument gegen den uns unterstellten Vorstoß zu den warmen Meeren ist aber, daß solch ein Schritt den Dritten Weltkrieg herbeiführen würde. Anders als die amerikanische Propaganda behauptet, wird man sowjetische Panzer oder sowjetische Soldaten weder an den Küsten des Persischen Golfs, noch an den Küsten der anderen warmen Meere zu Gesicht bekommen. Wie werden sich nun die Dinge um Afghanistan entwickeln? Wir halten eine politische Lösung für möglich und unterstützen deshalb ohne Einschränkung den von der afghanischen Regierung am 14. Mai 1980 eingebrachten Vorschlag, der eine Normalisierung der Lage in dieser Region zum Ziel hat. Kabul ist dazu bereit, mit seinen Nachbarn über eine Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zu sprechen. Mit Beginn des Jahres 1981 konnte man einige ermutigende Signale feststellen, die einen Fortschritt in der Verständigung zwischen der afghanischen und der pakistanischen Regierung andeuteten. Der Weg für eine friedliche Regelung steht offen, und ich bin sicher, daß es möglich sein wird, zu einer Vereinbarung zu gelangen. Falls Afghanistans Nachbarn und die USA eine konstruktive Haltung einnehmen, würde dies dann auch den Abzug sowjetischer Trappen beinhalten. Afghanistan war blockfrei und wird es auch bleiben. Was wir nicht wollen, ist ein uns feindlich gesonnenes Afghanistan - und dieser Wunsch ist meines Erachtens gerechtfertigt. Im Westen wird behauptet, die Sowjetunion wäre darüber besorgt, daß die Errichtung eines militanten Moslemregimes in Kabul Unruhe unter die Moslems im zentralasiatischen Teil der UdSSR tragen könnte. Das ist wirklich unglaublich. Vergleichen Sie doch einmal das arme, analphabetische, rückständige Afghanistan mit den zentralasiatischen Gebieten der Sowjetunion, Aserbeidschan und anderen ehemals islamischen Teilen der UdSSR. Diese sind wohlhabend, stabil und zufrieden. Kann denn wirklich jemand allen Ernstes glauben, daß eine rückständige, repressive Theokratie, wie sie die Konterrevolution in Afghanistan einsetzen wollte, eine ideologische Herausforderung an die Sowjetunion darstellen könnte? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 316 Ich bin von der Republik Aserbeidschan mit ihrer großen islamischen Bevölkerung in den Obersten Sowjet der UdSSR gewahlt worden. Ich vertrete dort seit einigen Jahren einen Bezirk dieser Republik und kann Ihnen aus erster Hand sagen, daß der Islam für die Sowjetunion kein politisches Problem bedeutet. Diejenigen, die an Allah glauben, können zu ihm beten; es gibt Moscheen, und die islamische Geistlichkeit wird respektiert. Sind Sie aber nicht rückblickend der Meinung, daß die UdSSR die Reaktionen des Westens auf die Ereignisse in Afghanistan im allgemeinen falsch einschätzte? Nun, die Reaktionen anderer Staaten auf ein bestimmtes Ereignis lassen sich niemals in allen Einzelheiten vorhersehen. Es gibt dabei immer sowohl erfreuliche als auch unerfreuliche Überraschungen. Im großen und ganzen jedoch haben wir die Lage meiner Meinung nach richtig beurteilt. Sehen Sie, wir gingen davon aus, daß die amerikanische Politik ihren Kurs geändert hatte. Diese Ansicht vertraten wir bereits vor Afghanistan. Ich glaube, man konnte in Moskau wohl erwarten, daß die USA und einige andere westliche Länder die Ereignisse in Afghanistan als Vorwand für eine antisowjetische Kampagne benutzen würden. Indem es diese Kampagne startete, hat Washington, wie ich meine, extrem überreagiert und nicht nur seinen, sondern auch den Interessen aller anderen Länder geschadet. Diese Überreaktion kann bis zu einem gewissen Grad mit den fieberhaften Bemühungen der Carter-Administration erklärt werden, einen Ausweg zu finden aus den innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten - wie etwa im Iran oder dem Nahen Osten. In diesem Zusammenhang schienen die Vorgänge in Afghanistan eine günstige Gelegenheit zu bieten (die sich jedoch nicht erfüllt hat), die USA als eine für die islamische Welt möglicherweise nützliche Kraft darzustellen. In gewisser Weise handelte es sich um einen Gefühlsausbrauch, den einige Leute in der Carter-Regierung nicht zu kontrollieren wußten. Sie bestreiten aber nicht, daß auch ehrliche Emotionen und aufrichtige Empörung darüber im Spiel waren, daß eine Großmacht sich mit Waffengewalt in die Angelegenheiten eines kleinen Staates einmischte? Ich kann mir vorstellen, daß Teile der Öffentlichkeit, die nur sehr unklare Vorstellungen über die Lage hatten, solche Empfindungen hegten. Es fällt jedoch schwer zu glauben, solche Emotionen hätten das Vorgehen der westlichen Regierungen, insbesondere die Schritte der Vereinig- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 317 ten Staaten, beeinflußt. Es gibt einen weiteren Grund dafür, warum es uns schwerfällt, in diesen Aktionen einen Ausdruck politischer Moral zu sehen. Afghanistan zählte nämlich zu den Staaten, in denen die USA einen blutrünstigen Diktator unterstützten - in diesem Fall Amin. Hier sehen wir uns erneut einer doppelten Moral gegenüber. Betrachten wir doch einmal drei in diesem Punkt sehr ähnliche Fälle: Hafizullah Amin in Afghanistan, Idi Amin in Uganda und Pol Pot in Kamputschea. In jedem dieser Fälle wurde ein blutrünstiger Diktator mit Hilfe militärischer Unterstützung aus dem Ausland von den vereinten Kräften der nationalen Opposition - innerhalb und außerhalb des Landes - gestürzt. Was Afghanistan und Kamputschea betrifft, so haben die Umstürze in diesen Ländern im Westen eine unglaubliche Empörung hervorgerufen. Haben wir aber je auch nur ein einziges Wort der Entrüstung darüber gehört, was in Uganda geschah? Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um eine Frage des Prinzips, sondern um politische Zweckmäßigkeit. Wenn dem tatsächlich so ist, so sollte man nicht als strenger Moralist auftreten. Ich möchte unser Gespräch zum Thema Afghanistan noch einmal zusammenfassen: Ich hoffe, daß sich die Voraussetzungen für eine nüchterne Betrachtungsweise einstellen, sobald sich der Staub der antisowjetischen Kampagne legt. Unter solchen Voraussetzungen wird es weitaus leichter fallen, die Vorgänge in den entsprechenden Proportionen und in der richtigen Perspektive zu sehen, sie in angemessener Weise zu bewerten und zu entscheiden, ob diese Ereignisse es wert sind, deshalb all das zu zerstören, was lebenswichtig ist - in erster Linie die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden und die Einstellung des Wettrüstens. Aber meinen Sie nicht, daß die Betrachtung anderer, vielleicht viel wichtigerer Themen nachhaltig verhindert wird, solange die Ereignisse in Afghanistan sich in der jetzt eingeschlagenen Richtung fortentwickeln? Zunächst einmal hoffe ich, daß es schon in nächster Zukunft zu einer politischen Lösung kommen wird. Und ich glaube, es liegt im Interesse des Westens, seine Haltung zu den Problemen in dieser Region zu überdenken. Auf lange Sicht gesehen ist der Westen nämlich nicht an einer weiteren Destabilisierung der Situation in Südwestasien interessiert. Falls dies zutrifft, kann ihm auch nicht an einer Destabilisierung der Lage in Afghanistan und an einer Ausweitung der Konfrontation gelegen sein. Im Gegenteil, je schneller sich die Lage hier normalisiert, desto besser ist dies für die Menschen in dieser Region, für den Westen und für die gesamte Welt. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 318 Ich möchte noch einmal auf die Frage zurückkommen, inwieweit Vorgänge in der Dritten Welt die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen beeinflussen. Immer öfter hört man heute im Westen, daß die Zusammenstöße in der Dritten Welt zum hauptsächlichen Störfaktor der Entspannung geworden sind. Ja, diese Meinung ist weit verbreitet. Ob sie aber richtig ist, bezweifle ich sehr. Es ist enorm wichtig zu prüfen, warum diese Ansicht eine so weite Verbreiding finden konnte. Der erste Grund dafür dürfte sein, daß die Großmächte eingesehen haben, daß eine direkte Konfrontation zwischen ihnen extrem gefährlich, ja sogar selbstmörderisch ist. Sie vermeiden direkte Zusammenstöße, die ihre Beziehungen zentral betreffen. Dies erweckt den Eindruck, als wäre die Dritte Welt jetzt die wesentlichste Gefahrenquelle. Der zweite Grund ist wohl die große, nicht zu bestreitende Unbeständigkeit der Situation in der Dritten Welt. Bei einer ganzen Reihe in jüngster Zeit unabhängig gewordener Staaten kann sich die Lage jederzeit verändern, gibt es doch dort die verschiedensten Gruppierungen nationaler Befreiungsbewegungen. Der dritte Grund ist, daß einige Großmächte - und ich muß hier wiederum auf die USA verweisen - aus strategischen Gründen ein ungewöhnlich starkes Interesse an der Dritten Welt zeigen. Für den Fall eines Konflikts mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern möchte der Westen in der Dritten Welt Stützpunkte und gut gesicherte Verbindungslinien haben. Als vierter Grund wäre die große Bedeutung zu nennen, die die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten den Entwicklungsländern als Lieferanten für Rohstoffe besonders Erdöl - beimessen. Mit anderen Worten, Sie bestätigen, daß die Dritte Welt zur größten Gefahrenquelle für den Frieden geworden ist. Keineswegs. Weit davon entfernt, die Bedeutung der Entwicklungsländer zu unterschätzen, möchte ich betonen, daß der Gang der Dinge in diesen Ländern, insbesondere was die Schwere eines Konflikts und dessen Auswirkung auf die internationale Lage betrifft, weitgehend vom Stand der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen abhängt. Nehmen Sie beispielsweise den Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973. Im Kontext der Entspannung war es möglich, eine Ausweitung dieses Konflikts zu verhindern, und es konnte sogar ein erster Rahmen für eine umfassende Regelung der Probleme in dieser Region ausgearbeitet werden. Mich schaudert allein schon bei dem Gedanken, daß dieser Krieg auch in Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 319 einem Klima der Spannungen - auch von der Art, wie sie jetzt bestehen - hätte stattfinden können. Nein. Was ich gesagt habe, führt zu einer anderen Schlußfolgerung; nämlich zu der, daß hierbei sehr viel von der politischen Lage in den Ost-West-Beziehungen abhängt, also von den Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern, zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Werden diese Beziehungen durch den Kalten Krieg bestimmt, so wird die Dritte Welt zu einem seiner gefährlichsten Schauplätze, auf dem die einander feindlichen Kräfte ihre Rivalität austragen. Sollte sich jedoch die Idee der Entspannung durchsetzen, so könnte die Dritte Welt eine wesentliche Sphäre der Zusammenarbeit aller wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten werden. Diese könnten dann gemeinsam dazu beitragen, die Entwicklung der Länder der Dritten Welt zu beschleunigen, brauchbare Sicherheitssysteme in den verschiedenen Regionen zu schaffen sowie die Ressourcen dieser Länder wohlüberlegt und unter angemessener Berücksichtigung der Interessen und Bestrebungen der jeweiligen Bevölkerung zu nutzen. Selbstverständlich müssen wir uns der Widersprüche und Spannungen bewußt sein, die der Befreiungsprozeß in der Dritten Welt mit sich bringt. Für den Westen bedeutet dies ein schmerzliches Umdenken. Doch diese Prozesse sind ‘so natürlich wie das Wachsen eines Baumes’ - ein Wort, mit dem Richter Oliver Wendell Holmes Revolutionen einmal beschrieb. Die Dritte Welt wird weder den USA noch der UdSSR, weder dem Westen noch dem Osten zuliebe ihren geschichtlichen Weg gehen, wird nicht derentwillen Fortschritte machen und Rückschläge erleiden. Sie wird für sich selbst da sein und sich um ihretwillen entwickeln. Der größte Teil der Weltbevölkerung lebt in den Staaten der Dritten Welt, und die Menschen in diesen Ländern haben den gleichen Anspruch auf das Recht und auf die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, wie sie die Europäer und Amerikaner haben. Mehr noch, sie wissen dies und sie sind entschlossen, für eine bessere Existenz zu kämpfen. Viele Experten im Westen betonen, daß es keine Hoffnung auf Entspannung gibt, wenn für die Supermächte nicht bestimmte Regeln im Umgang mit der Dritten Welt gelten sollen oder wenn nicht sogar ein Mechanismus des Krisenmanagements entwickelt wird. Der Gedanke einer bilateralen Zusammenarbeit bei der Beilegung von Krisen und bei ihrer Verhütung gehörte von Anfang an zum Konzept der Entspannung. Was den Nahen Osten beispielsweise angeht, so entstand in Form der Genfer Konferenz fast ein Mechanismus des Krisenmana- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 320 gements. Daß dieser Weg nicht weiter verfolgt wurde, war nicht unsere Schuld. Die gleiche Idee liegt dem umfassenden, von Generalsekretär L.I. Breschnew im Dezember 1980 vorgebrachten Plan zur Entmilitarisierung der Region am Persischen Golf zugrunde. Dieser Plan kann als Grundlage dienen für eine Stabilisierung dieser so äußerst kritischen Region der heutigen Welt. Eine weitere, seit langem bestehende sowjetische Initiative, die die Ächtung der Anwendung militärischer Gewalt vorsieht, könnte sehr wohl Grundlage dieser neuen Verhaltensregeln werden. Wir denken nicht an ein Kondominium der Supermächte, die den Weltpolizisten spielen, sondern wir sind der festen Überzeugung, daß die Entspannung eine Menge von dem Zündstoff, der die Krisen nährt, aus dem Wege räumen könnte, und daß gemeinsame Anstrengungen der Supermächte zur Beilegung und Verhütung von Krisen ein wesentlicher Bestandteil der Entspannung werden könnte. Glauben Sie, daß die beiden Giganten, Amerika und Rußland, am Ende des Jahrhunderts eine größere oder eine weniger gewichtige Rolle in der Welt spielen werden? Falls die Entwicklungsländer Erfolg haben in ihren wirtschaftlichen Angelegenheiten, dann dürfte sich der Anteil aller Industrienationen am Bruttosozialprodukt der gesamten Welt verringern. Generell gesagt, die Weltbühne wird gegen Ende des Jahrhunderts abwechslungsreicher werden - politisch, kulturell und philosophisch. Dies würde nur eine angemessene und gesunde Entwicklung darstellen. In der vorhersehbaren Zukunft jedoch werden die beiden Großmächte weiterhin eine Hauptrolle spielen, und sei es nur der Dimensionen ihrer äußeren Macht wegen. Wichtig ist dabei, daß ihr militärisches und wirtschaftliches Potential ihnen nicht etwa besondere Rechte und Privilegiën verleiht, sondern ihnen einzig und allein besondere Verantwortung auferlegt. Sie schulden der ganzen Menschheit dafür Verantwortung, daß sie normale und friedliche Beziehungen zueinander unterhalten und eine konstruktive Rolle spielen bei der Lösung jener Probleme, denen sich die ganze Welt gegenübersieht. Eindnoten: 1 2 3 4 The Washington Post, 1. September 1980, S. A-10 Washington Quarterly, Herbst 1979 Henry A. Kissinger, Memoiren 1968-1973, München 1979, S. 812 Newsweek, 21. April 1980, S. 56 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 321 VII) Einige Worte zur Zukunft Nachdem wir viele Stunden mit Diskussionen zugebracht haben und zahlreiche Wochen der Aufarbeitung folgten, möchte ich die eingangs gestellte Frage noch einmal an Sie richten: Werden die achtziger Jahre das Jahrzehnt des zweiten Kalten Krieges werden? Ich würde nicht ein einziges Wort von dem zurücknehmen, was ich am Anfang zu dieser Frage gesagt habe. Aber ich könnte noch ein paar Worte hinzufügen. Genau deshalb habe ich diese Frage noch einmal gestellt. Zu dem bereits Gesagten wäre noch hinzuzufügen, daß ein zweiter Kalter Krieg sich auch in dieser Hinsicht vom ersten unterscheiden würde, daß er ein unechter Kalter Krieg wäre, ein ‘drôle de guerre froide’, wie die Franzosen sagen würden. Er wäre deshalb unecht, weil anders als beim ersten Kalten Krieg kaum echte Überzeugung hinter ihm stünde. Die Überzeugung, die dem ersten Kalten Krieg zugrunde lag, war falsch, ging von unangebrachten Ängsten aus, von Vorurteilen und Unwissenheit trotzdem gab es sie, und sie war ein wichtiger psychologischer Faktor. Dieses Mal muß man schon eine sehr geringe Meinung von den geistigen Fähigkeiten der Leute haben, Herr Oltmans, wenn man von den Europäern erwartet, sie sollten in den achtziger Jahren noch all das glauben, was etwa Ihre Familie in den vierziger Jahren dazu bewogen hat, nach Südafrika auszuwandern. Ja selbst die Amerikaner scheinen mir etwas zu aufgeklärt zu sein, als daß man sie so ohne weiteres in jenen Zustand versetzen könnte, der für sie in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren bezeichnend war. Es fällt schwer zu glauben, daß ihre Propheten abermals Leute werden könnten wie Senator Joseph McCarthy oder der Kongreßabgeordnete Parnell Thomas - diese Hohepriester des ersten Kalten Krieges, die, wie sich später herausstellte, simple Betrüger waren (oder Betrüger, denen der Kalte Krieg half, Hohepriester zu werden - wie man's nimmt). Tatsächlich würde es sich um einen künstlichen Kalten Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 322 Krieg handeln, in dem nur wenige Sinn und Zweck sehen könnten. Wesentlicher noch: Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Entspannung würden nicht viele in einem solchen Krieg die einzige Alternative zum heißen Krieg sehen. Auch wäre es ein künstlicher Kalter Krieg in dem Sinn, daß die Vereinigten Staaten versuchen würden, ihn anzuzetteln, ohne über die notwendigen Mittel zu verfügen, um ihn zu gewinnen Sie konnten den ersten Kalten Krieg nicht gewinnen, als ihre Position gegenüber der Welt ungleich stärker war als heute. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daß die USA solch einen Krieg im letzten Viertel dieses Jahrhunderts gewinnen. Die Tatsache jedoch, daß es sich bei denen, die ihn trotzdem zu entfachen versuchen, um Amerikaner handelt, deutet auf eine starke Gefährdung des Weltfriedens und der Stabilität hin. Wie stellen Sie sich die Zukunft der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen vor? Ob es überhaupt eine Zukunft geben wird, hängt davon ab, ob es wenigstens ein bescheidenes Minimum an Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA gibt. Wenn es um die wünschenswerteste Zukunft geht, so würde ich ohne Zögern sagen, daß sie von friedlicher Koexistenz, Entspannung, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sowie von einer breiten Zusammenarbeit und wachsendem gegenseitigem Vertrauen geprägt sein müßte. Aber leider muß ich sagen, daß es in diesem Moment nicht den Anschein hat, als gingen wir solchen Beziehungen entgegen. Es macht sich - auch bei manchen Amerikanern - Besorgnis darüber breit, daß die Vereinigten Staaten einen Kurs eingeschlagen haben, der verstärktes Wettrüsten, Anstrengungen zur Stärkung ihrer militärischen Allianzen - diesmal nicht nur des Trilaterialen Blocks, sondern auch Chinas - und im Bedarfsfall eine größere Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt vorsieht. Wenn es dazu kommt, dann wird sich die Situation wahrscheinlich erst einmal verschlechtern, ehe sie wieder besser wird. Kann sie sich denn überhaupt noch verschlechtern? Unglücklicherweise ja. Ohne Zweifel hat Washington 1980 alles unternommen - von direkten militärischen Feindseligkeiten abgesehen -, um die politische Atmosphäre zu verderben, die verbale Auseinandersetzung aufzuheizen und wirtschaftliche, kulturelle und andere Beziehungen abzubrechen und die Gespräche einzufrieren. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 323 Am Schluß der Amtszeit hat die Carter-Administration Schritte unternommen, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen in nahezu allen Bereichen sogar noch weiter zu verschlechtern. Es ist denkbar, daß das gemacht wurde, um den Nachfolgern ein möglichst schweres Erbe zu hinterlassen. Dennoch, es kann noch schlimmer werden. Und zwar insofern, als das Einfrieren der Beziehungen auf einem so niedrigen Niveau zusätzliche Schwierigkeiten schafft und den Preis, der für die angespannte Lage zu entrichten ist, erhöht. Ich spreche vor allem von den Gefahren, die aus einem verstärkten Wettrüsten, aus weiteren Verzögerungen beim Abschluß von Vereinbarungen zu den drängendsten Fragen der Rüstungskontrolle und aus einer Eskalation der Konflikte in den verschiedenen Regionen der Welt erwachsen. Bestehen die Spannungen auf dem gegenwärtigen Niveau weiter, so werden dadurch die feindseligen und negativen Gefühle verstärkt und weiter gefestigt, wodurch es immer schwieriger wird, zu normalen Beziehungen zurückzukehren. Die Kontakte auf den verschiedenen Ebenen werden dabei geschwächt und zerstört, wobei man die ungeheuren Anstrengungen, die unternommen wurden, um sie zustande zu bringen, vergeudet. Was den Handel anbelangt, so werden unsere entsprechenden Stellen daraufhin zu anderen Partnern überwechseln, und zwar auf langfristiger Basis. Würden Sie ausschließen, daß es zu irgendwelchen mutigen neuen Initiativen oder zu unerwarteten Maßnahmen kommt bzw. daß die Ereignisse eine unerwartete Kehrtwendung nehmen, wodurch es, was die Weltlage einschließlich der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft, zu bedeutsamen Verbesserungen kommen könnte? Natürlich, solche Initiativen, Maßnahmen oder Kehrtwendungen können nicht ausgeschlossen werden. Mehr noch, ich bin sogar sicher, daß die Sowjetunion solche Initiativen ergreifen wird, wie sie das auch in der Vergangenheit getan hat. Aber eine Verbesserung der Beziehungen erfordert auf beiden Seiten guten Willen, und ich bin mir keineswegs sicher, ob wir von der anderen Seite solche Initiativen erwarten können. Nun sicher, Ihre Frage gait unerwarteten Ereignissen - jenen, die gegenwärtig nicht vorherzusehen sind. Wenn es angenehme Überraschungen gibt, würden wir das natürlich begrüßen. Aber man sollte nicht vergessen, daß Überraschungen auch unangenehm sein können, und - so fürchte ich - in einer Situation zunehmender internationaler Spannungen wären unangenehme Überraschungen sehr viel wahrscheinlicher. Auf jeden Fall ist es immer sehr schwer, unerwartete Ereignisse vorherzusagen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 324 Vorhersagen werden folglich immer ungenau sein, denn das Leben ist voller Überraschungen. Sicher. Deshalb auch bewahrheiten sich Vorhersagen, die einfach darauf basieren, gegenwärtige Tendenzen in die Zukunft zu projizieren, so gut wie nie. Folgendes ist ein gutes Beispiel dafür. Mir wurde von einem der allerersten Versuche erzählt, die Entwicklung urbaner Probleme vorherzusagen, den die Pariser Behörden in der Mitte des letzten Jahrhunderts unternommen haben. Die Behörden baten die Experten, eine Prognose zu den wichtigsten Problemen abzugeben, denen die Hauptstadt Frankreichs im 20. Jahrhundert gegenüberstünde. Die Fachleute dachten darüber nach, und ihre Antwort lautete: Pferdemist. Sie sagten angesichts der damaligen Zuwachsrate bei Pferdefuhrwerken voraus, daß Paris unter ihm buchstäblich begraben werden würde. Ich glaube nicht, daß wir dem Beispiel dieser frühen Futurologen folgen sollten. Wir müssen in Betracht ziehen, daß es möglicherweise zu Überraschungen kommt, sowohl zu positiven wie auch zu negativen. Ich würde noch weiter gehen. Eines der Hauptargumente, das für die Entspannung spricht, besteht darin, daß sie zusätzliche Garantien für den Fall schafft, daß es zu bösen Überraschungen kommt und damit den Frieden wie auch die internationale Ordnung beständiger macht. Deshalb ist es auch so schlimm, daß sich mit dem Eintritt in die achtziger Jahre die internationalen Beziehungen durch den Rückfall in Feindschaft und Kalten Krieg so ernsthaft verschlechtert haben. Die Wahl 1980 muß Ihren negativen Erwartungen im Hinblick auf das kommende Jahrzehnt weitere Nahrung gegeben haben. Selbstverständlich will ich Sie nicht zu einer endgültigen Beurteilung dieses Themas drängen, denn schließlich finden diese unsere letzten Gespräche am Vorabend der Amtseinführung von Ronald Reagan statt. Dennoch die Frage: Welche Auswirkungen könnte diese Wahl auf die amerikanische Außenpolitik haben, insbesondere auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen? Der Wahlkampf hat sicherlich neue Probleme geschaffen, wie das ja auch manche Wahl in der Vergangenheit schon getan hat. Die Beziehungen zwischen unseren Ländern sind für zu viele amerikanische Politiker, die für ein Amt kandidieren, zu einer Spielwiese geworden, auf der sie sich austoben. Eine Menge guter, vernünftiger Ideen blieb während dieses Wahlkampfs auf der Strecke, genauso wie eine beträchtliche Zahl fähiger politischer Führer, die über jahrelange Erfahrung in der Außenpolitik und in Fragen der Rüstungskontrolle verfügen. Was schließlich Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 325 das Ergebnis der Wahl anbelangt, so ist es schwieriger, seine Auswirkungen auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen einzuschätzen. Schließlich waren diese unter Carter und Brzezinski schlecht genug, und wer weiß, was eine zweite Amtszeit dieser beiden alles gebracht hätte. Andererseits brachte der neue Präsident einiges an ideologischem Gepäck ins Weiße Haus mit - einschließlich der entsprechenden ideologischen Gepäckträger -, was die Aufgabe, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder ins Lot zu bringen, weiter erschweren kann. In einem Fernsehinterview haben Sie kurz nach der amerikanischen Wahl gesagt, Reagan bewege sich auf die Mitte zu. Ich glaube, die letzten Wochen des Wahlkampfs haben das sehr deutlich gezeigt, vor allem, was den Bereich der Außenpolitik und der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft. Es war z. B. offensichtlich, daß Reagan besorgt darüber war, er könnte als Kriegstreiber erscheinen, konnte das doch ihn und die GOP1 um den Sieg bringen. Tatsächlich erwuchsen aus dem Thema ‘Krieg und Frieden’ die größten Gefahren für Reagans Chancen auf einen Sieg. Reagan antwortete darauf mit dem Versuch, gemäßigtere Positionen einzunehmen, was ihm auch ohne Zweifel geholfen hat, die Wahlen zu gewinnen. Einige der Erklärungen, die er nach der Wahl abgab, ließen auch anklingen, daß er es für angebracht hielt zu zeigen, daß er sehr wohl um den Unterschied wisse, der zwischen einer Bewerbung um die republikanische Präsidentschaftskandidatur und der Ausübung der Regierungsgewalt besteht. Was das alles für die praktische Politik der neuen Regierung bedeutet, bleibt abzuwarten. Die Verfechter einer harten Linie unter den Anhängern Reagans sind aber darauf eingeschworen, jegliche Mäßigung bei den Sachaussagen zu verhindern. Was ist zu den Gruppen der ‘Neuen Rechten’ zu sagen, die, wie sich herausstellte, eine so wichtige Rolle im Wahlkampf 1980 spielte? Je näher ich die sogenannte ‘Neue Rechte’ betrachte, desto weniger neu erscheint sie mir. Sicherlich gibt es einige neue Gesichter, Organisationen und Taktiken, einige neue, sehr wesentliche Verbindungen zu jenen, die an der Spitze der amerikanischen Machtstruktur stehen, vielleicht auch eine neue Fähigkeit, aus den Ângsten und Frustrationen der amerikanischen Mittelklasse Kapital zu schlagen. Aber ihre Ziele sind die gleichen wie die der extremen Rechten vor 10, 20 oder 30 Jahren: mehr Milliarden für das Pentagon, die Vorbereitung auf einen nuklearen Entscheidungskampf mit der Sowjetunion, die Entsendung von Marine- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 326 infanteristen für den Fall, daß es zu Schwierigkeiten kommt, und schließlich das Herumstoßen der Verbündeten. Innenpolitisch treten sie für den Polizeistaat ein dieses Mal vielleicht mit einer speziellen Polizei zur Überwachung der Gesinnung - und für alles, was sonst noch das alte Programm der extremen Rechten ausmacht. Sehen Sie in der ‘Neuen Rechten’ eine ernstzunehmende, einflußreiche Kraft des politischen Lebens Amerikas? Ich glaube, daß ihr Einfluß von den amerikanischen Medien ziemlich überschätzt wird, was z. T. auch deshalb geschieht, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von weniger in Erscheinung tretenden und wichtigeren Leuten des rechten Flügels abzulenken. Dennoch ist es denkbar, daß die Neue Rechte an Einfluß gewinnt, wenn sich die vielschichtige Krise der amerikanischen Gesellschaft weiter zuspitzt. Wenn die Bürger eines Landes den Eindruck gewinnen, es gehe bergab; wenn sich Enttäuschung breit macht über die wachsende Unfähigkeit der Gesellschaft und des Staates, jene Probleme zu lösen, denen man zu Hause wie auch draußen in der Welt gegenübersteht; wenn die alten Wege nicht mehr länger akzeptabel und zugleich neue noch nicht klar zu sehen sind - dann kann es sein, daß die skrupellosen Demagogen der extremen Rechten eine Chance haben. In der Regel ist es so, daß diese Leute nicht gerade die Gescheitesten sind, wenn es gilt, die komplexen Realitàten der heutigen Welt zu begreifen, wohl aber können sie recht clever sein, wenn es darum geht, die öffentliche Unzufriedenheit so zu steuern, daß ihnen ein Vorteil erwächst. Sie sind sich ihrer Sache so absolut sicher - oder sehen wenigstens so aus, als waren sie es -, daß gar mancher hilflose Kleinbürger in Versuchung kommen kann, ihnen zu folgen. Wenn es dazu käme, wäre das für alle Menschen eine Tragödie - Amerika selbst aber würde am meisten darunter leiden. Im Moment jedoch halte ich die Neue Rechte nicht für eine so starke Kraft. Amerika mag in Schwierigkeiten stecken, aber ich glaube, in einer so tiefen Krise noch nicht. Präsident Reagan macht den Eindruck, als fühle er sich diesen Leuten zu Dank verpflichtet. Ja, sie betrieben seine Kandidatur seit langem, und er möchte auch ihre Unterstützung nicht verlieren. Aber ich glaube, er hat ziemliche Schwierigkeiten, für sie Verwendung in seinem Regierungsapparat zu finden. Sie sind Ideologen und keine Politiker der Tat, noch dazu Ideologen einer ganz besonderen Art. William F. Buckley jr., ein ‘Neuer Rechter’ Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 327 der vorhergehenden Generation, hat es einmal als die Aufgabe seiner Bewegung bezeichnet, sich dem Zug der Zeit in den Weg zu stellen und ‘Halt’ zu rufen. Erwachsene wissen, daß man mit der Eisenbahn keine solchen Spielchen treibt. Außerdem haben die ‘Neuen Rechten’ etwas an sich, das die Leute erschreckt - und zwar auch Leute aus dem Establishment. Es sieht heute so aus, als würden in der neuen Regierung nicht sehr viele wichtige Ämter an ‘Neue Rechte’ vergeben werden - vielleicht mit Ausnahme des Stabs des Nationalen Sicherheitsrates. Die Mitarbeiter der Reagan-Administration sind konservative Leute, einige davon sogar sehr konservativ, aber ich glaube, es verläuft zwischen ihnen und der Neuen Rechten eine Trennungslinie. Was ist von der Reagan-Administration hinsichtlich der sowjetisch-amerikaniscken Beziehungen zu erwarten? Ich glaube, niemand kann das heute mit Sicherheit sagen. In den Vereinigten Staaten braucht eine neue Administration für gewöhnlich mindestens ein Jahr, ehe sie mit allen Einzelheiten vertraut ist, selbst ein Regierungsapparat mit mehr Erfahrung und einer anderen ideologischen Ausgangsbasis. Was die Ideologie anbelangt, so möchte ich, nebenbei gesagt, ihre Auswirkungen auf die praktische Politik der US-Regierung nicht allzu vereinfacht darstellen. Ich erinnere mich an mehr als nur eine Administration mit liberalen Neigungen, mit der wir am Anfang große Schwierigkeiten hatten. Aber es sieht so aus, als würde es Reagan ernst meinen, wenn er von einer härteren Gangart spricht: ‘Meine Haltung der Sowjetunion gegenüber kann in einem Satz beschrieben werden. Wir erklären dem russischen Reich, daß wir keine weiteren Zugeständnisse mehr machen werden, wenn es nicht im Gegenzug ebenfalls zu Zugeständnissen kommt.’2 Falls Reagan von Gegenseitigkeit spricht, so handelt es sich dabei genau um das Prinzip, auf dem wir unsere Beziehungen zu den USA aufbauen möchten - auf gegenseitigen Zugeständnissen und Kompromissen. Schließlich haben uns die USA nie einseitige Vorteile gewährt. Nehmen Sie die Entspannung, die Abmachungen zur Rüstungskontrolle, die Verbesserung der politischen Atmosphäre - all das beruhte auf gegenseitigen und nicht auf einseitigen Zugestàndnissen. Ist damit gemeint, die Aufrechterhaltung des Friedens sei ein einseitiges Zugeständnis Amerikas gewesen? Natürlich beruhten unsere Beziehungen auf der Basis der Gegenseitigkeit, wie das ja auch zwischen gleichberechtigten Partnem der Fall sein Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 328 muß. Aber vielleicht beabsichtigte Reagan damit gar nicht, das Offenkundige erneut zum Ausdruck zu bringen? Es scheint, daß seine Feststellungen über die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen darauf abzielten, einen Schatten von Argwohn auf all jene Vereinbarungen zu werfen, die unsere beiden Staaten vor ihm getroffen haben. Falls dies mit der von Ihnen zitierten Erklärung beabsichtigt war, gibt das zur Besorgnis Anlaß, bedeutet es doch, daß - entgegen seinen eigenen Worten - von der Sowjetunion einseitige Zugeständnisse gefordert werden; darauf einzugehen, war die Sowjetunion nie bereit und wird es auch nie sein. Bei den Hearings vor dem außenpolitischen Ausschuß des Senats anläßlich seiner Nominierung für das Amt des Außenministers sagte Alexander Haig: ‘Wir müssen für unsere Ideale kämpfen.’3 Aus dem Munde eines Generals hört sich das alarmierend an. Wir erwarten von den Vereinigten Staaten nicht, daß sie ihren Idealen entsagen, genausowenig, wie wir unseren entsagen werden. Das ist ein grundlegendes Prinzip der friedlichen Koexistenz. In diesem Sinne mag an Haigs Worten nichts auszusetzen sein. Aber wenn Haig dabei von Idealen spricht, wie z. B. von gottgegebenen Notwendigkeiten und von amerikanischen Ansprüchen auf besondere Rechte und Privilegien, was internationale Angelegenheiten anbelangt, so verspricht eine solche Haltung neue Probleme in der Welt zu schaffen. Auch bin ich nicht sicher, ob Haigs Vorstellungen von dem Begriff ‘kämpfen’ hinreichend zivilisiert sind. Einige Amerikaner geben ihrer Besorgnis Ausdruck, daß die Vereinigten Staaten eine Zeitlang zwei Verteidigungsminister und keinen Außenminister haben werden. Im Rahmen dieser Anhörungen traf Haig, nebenbei gesagt, auch folgende Feststellung: ‘Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Frieden.’ Nun, das klingt reichlich ominös, und es wundert mich nicht, daß es so negative Reaktionen in Westeuropa hervorrief. Wenn sich die amerikanische Politik solche Ideen zur Leitlinie wählt, wird niemand darauf Gewinn ziehen und Amerika wird der größte Verlierer sein. Offenbar fördern solche Erklärungen nicht gerade optimistische Erwartungen. Sicher nicht. Andererseits waren auch einige andere Stellungnahmen zu hören. Während seiner Wahlkampfauseinandersetzungen mit Präsident Carter beschrieb Ronald Reagan seine Haltung gegenüber der Sowjetunion als Partner bei der Rüstungskontrolle folgendermaßen: ‘Wir werden mit ihnen Solange verhandeln, wie es sich als notwendig erweist, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 329 um eine vernünftige Reduzierung der nuklearen Waffen zu erreichen, so daß keiner von uns für den anderen eine Bedrohung darstellt.’ Falls das Präsident Reagans Standpunkt sein sollte und die Verhandlungen unvoreingenommen aufgenommen werden sollten, dann besteht Hoffnung auf eine Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Die Sowjetunion würde keine Zeit verlieren und auf eine solche Verbesserung hinarbeiten. Aber es sind so viele gegenteilige Worte gesagt worden... Wissen Sie, die Welt hat so oft erlebt, daß positive Versprechen gebrochen wurden, so daß es vielleicht an der Zeit ist, einige negative zu brechen. Wenn jedoch die negativen Versprechungen eingehalten werden, dann steht uns allen mit großer Wahrscheinlichkeit ein Wettrüsten von unverminderter Heftigkeit bevor, was zur wahrscheinlich gefährlichsten Phase der Menschheit in der Nachkriegsgeschichte führen würde. Die politischen Entwicklungen werden dann von Tendenzen verstärkt, die, einerlei wer gewählt wurde und wer welches Regierungsamt inne hat, wirksam werden. Ich denke hierbei zuallererst an die Beschleunigung der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung, die viele neue tödliche Waffenarten hervorbringen, wie auch die Gefahr der Weiterverbreitung nuklearer Waffen erhöhen kann. Richard Barnett hat darauf hingewiesen, daß im Jahr 2000 schon etwa 100 Länder in der Lage sein werden, Nuklearwaffen herzustellen. Gut möglich, und einige könnten sich tatsächlich für Nuklearwaffen entscheiden, wenn die Welt nichts unternimmt und die Zeit verstreichen läßt. Die jüngsten Entwicklungen bei der Weiterverbreitung sind in der Tat sehr alarmierend. Es gab Berichte, wonach Südafrika und Israel eine Bombe gezündet haben bzw. daß Peking Pakistan angeboten hat, seine erste Bombe auf chinesischem Territorium zu testen. Hier kommen wir auf einen weiteren sehr gewichtigen Faktor zu sprechen, den wir auch schon vorher erwähnt haben und der dazu führt, daß sich die Ereignisse der achtziger Jahre nur sehr schwer vorhersehen lassen: nämlich die zunehmende Zahl derer, die an der Weltpolitik teilhaben werden. Um auf die Vereinigten Staaten zurückzukommen, mir scheint, daß unvorhersehbare, reflexhafte Reaktionen immer typischer werden für das amerikanische Verhalten in weltpolitischen Angelegenheiten. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 330 Bisweilen ist das vielleicht absichtlich so. Richard Nixon ist ein aktiver Verfechter der ‘mad president’-Theorie, laut der Amerikas internationaler Einfluß zunimmt, wenn die andem glauben, dem Präsidenten sei alles zuzutrauen, bis hin zu einem völlig unverantwortlichen Handeln. Ich wurde daran erinnert, als ich von dem im April 1980 unternommenen Versuch hörte, die amerikanischen Geiseln im Iran zu befreien. Besteht Ihrer Meinung nach überhaupt Aussicht auf eine Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen? Auf lange Sicht ist das fast unvermeidlich, weil es im wahrsten Sinne des Wortes keine akzeptable Alternative zur Entspannung gibt. Sollte es jedoch in naher Zukunft zu einer spürbaren Verbesserung kommen, so wäre das eine angenehme Überraschung. Auch bin ich überzeugt, je später es zu solch einer Wende kommt, desto größere Anstrengungen sind erforderlich, um das wieder aufzubauen, was so übereilt zerstört wurde. Wenn wir hier die Möglichkeit, die Entspannung in naher Zukunft zurückzuerlangen, nur als eine angenehme Überraschung bezeichnen, dann sind die Aussichten für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und für die internationale Lage insgesamt sehr düster. Lassen Sie mich das näher erklären. Wir stehen bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen am Scheideweg. Es muß eine Entscheidung getroffen werden, wohin die Reise gehen soll - größeren Spannungen entgegen, in die Schützengräben eines weiteren Kalten Krieges oder in die Richtung von Verhandlungen, Entspannung und Zusammenarbeit. Sehr viel wird davon abhängen, was in allernächster Zukunft geschieht - also 1981. Unglücklicherweise hat dieses Jahr mit einer sehr schwierigen Situation begonnen. Unbestreitbare Tatsache ist nun einmal, daß die gegenwärtigen Tendenzen in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und einiger anderer Länder sehr negative Auswirkungen auf die weltpolitische Lage haben können. Man muß aber auch die gegenläufigen Tendenzen sehen, die heutzutage wirksam sind und das gewiß auch in den achtziger Jahren bleiben werden. Diese Tendenzen resultieren aus sehr konkreten, und ich möchte hinzufügen, immer zwingender werdenden Interessen der beiden Länder und der ganzen Welt, nämlich aus dem Interesse an der Sicherung des Friedens, an einem Abbau der Bürde, die das Wettrüsten darstellt, und an einer Entwicklung der Zusammenarbeit. Wenn ich die langfristigen Entwicklungen betrachte, so bin ich nach wie vor überzeugt, daß die positiven und realistischen Tendenzen wieder erheblich stärker werden Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 331 und daß sie angesichts der tatsächlichen Probleme, denen wir gegenüberstehen, noch mehr an Relevanz gewinnen. Warum sind Frieden und Koexistenz in diesem Jahrzehnt noch maßgeblicher? Ich möchte nicht behaupten, daß meine Beurteilung der Lage frei von Emotionen ist - ich möchte, daß es so ist. Und das ist nicht nur meine persönliche Haltung. Ich bin sicher, daß ich hier die allgemeine sowjetische Haltung wiedergebe. Ich glaube, die meisten Europäer und Amerikaner fühlen genauso. Aber hinter dieser Haltung steht mehr als nur Gefühle. Meine Analyse läßt mich zu dem Schluß kommen, daß eine Politik, die auf eine Rückkehr des Kalten Krieges abzielt, nicht von allzu großer Dauer sein kann, und zwar deshalb nicht, weil ihre Ziele weder mit den vitalen Interessen der Staatengemeinschaft - die Vereinigten Staaten eingeschlossen - in Einklang zu bringen, noch zu erreichen sind. Die militärische Aufrüstung und das Vorantreiben des Wettrüstens, so wird gesagt, seien für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit der USA erforderlich - tatsächlich aber ist es das Wettrüsten, das die Hauptgefahr für diese Sicherheit darstellt. Die Bemühungen um militärische Überlegenheit sind genauso verkehrt, denn es ist ausgeschlossen, daß Amerika oder irgend jemand sonst sie erlangen kann. Die Wiederbelebung der Interventionspolitik ist gleichermaßen sinnlos imd gefährlich. Ich glaube nicht, daß selbst die denkbar beste ‘mobile Eingreifreserve’ eine Situation wie die im Iran hätte verhüten können. Außerdem werden die USA kaum in der Lage sein, ein größeres oder besseres Expeditionskorps aufzustellen als das in Vietnam besiegte. Keinerlei militärische Kraft wird je in der Lage sein, einen ununterbrochenen Ölstrom aus dem Nahen Osten zu garantieren. Noch halte ich das Nato-Programm für realistisch, das eine stetige Steigerung der Rüstungsausgaben in den nächsten Jahren vorsieht. Erwarten Sie, daß der Westen wegen dieses Programms bankrott macht? Nein, aber für Kanonen und Butter zugleich zu sorgen, wird in zunehmendem Maße problematischer. Amerika stehen, wie vielen anderen Ländern, magere Jahre ins Haus. Die Unruhen von Miami Beach von 1980 waren eine unerbittliche Erinnerung daran, daß sich in den amerikanischen Städten ein Pulverfaß aus Groll und Unzufriedenheit anfüllt. Sogar für das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft zu sorgen und ihren Energie- und Rohstoffbedarf zu decken, wird immer schwieriger, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 332 was auch für die Wahrung von Amerikas Stellung auf dem Weltmarkt gilt. Unter diesen Umständen werden viele Dinge zu einem Luxus, den man sich nicht mehr länger leisten kann. An welchen Luxus denken Sie dabei? An uneingeschränktes Wettrüsten, an Spannungen und an das Fehlen von Zusammenarbeit. Wenn wir für unser Überleben und für ein leidlich gutes Leben auf diesem immer kleiner und immer komplexer werdenden Planeten Sorge tragen wollen, dann werden wir unser Verhalten ändern müssen. Ich fürchte, die Erde ist für eine gesteigerte internationale Rivalität zu zerbrechlich. Zusammenarbeit wird zum Gebot der Stunde, wenn wir überleben und ein annehmbares Dasein führen wollen. Heißt das, daß die Probleme und Schwierigkeiten, denen die beiden Länder und die Welt ganz allgemein gegenüberstehen, bei der Verbesserung der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten letztlich die treibende Kraft sein werden? Aus dem einen oder anderen Grund erweisen sich Gefahren und Schwierigkeiten als stärkerer und wirkungsvollerer Ansporn für eine Zusammenarbeit als abstrakte Erwägungen über den gegenseitigen Nutzen. Angesichts der Aggression Hitlers brauchten Amerikaner, Briten, Franzosen, Holländer und andere nicht sehr lange, um unsere Verbündeten zu werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir, sollten außerirdische Wesen in feindlicher Absicht auf unserem Planeten auftauchen, über Nacht wieder zu Verbündeten werden würden. Immer dann, wenn es einen besonders greifbaren gemeinsamen Feind gibt, insbesondere einen tödlichen Feind, wird die Zusammenarbeit sehr leicht. Unglücklicherweise ist es weitaus schwieriger zusammenzuarbeiten, wenn die Bedrohung nicht so deutlich verkörpert wird und personifiziert ist, auch wenn diese Bedrohungen genauso ernst sind wie der Kerl, der mit der Pistole auf uns zielt. Welche tödlichen Gefahren könnten letztlich Ost und West enger zusammenbringen? Nun, eine offensichtliche Gefahr ist die Kriegsgefahr, die wir schon ausführlich erörtert haben. Eine weitere ist die Verschlimmerung weltweiter Probleme wie die Ver- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 333 sorgung mit Energie und Rohstoffen, das Problem der Ernährung, des Umweltschutzes und der Armut in der Dritten Welt. Man kann über die Genauigkeit der Schätzungen des Club of Rome und anderer Experten streiten. Aber ich glaube, daß sie ein echtes Problem ansprechen. Es wird erwartet, daß die Weltbevölkerung von gegenwärtig 4,5 Milliarden Menschen auf über 6 Milliarden im Jahr 2000 anwächst, d.h., wir werden in den nächsten beiden Jahrzehnten Aufgaben bewältigen müssen, die früher in Jahrhunderten bewältigt wurden. Die Nachfrage nach Rohstoffen wird unerhört zunehmen, besonders die nach Energieträgern. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wird schwieriger zu bewerkstelligen sein. Falls die gegenwärtigen Tendenzen anhalten, wird die Zahl der Arbeitslosen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1 Milliarde anwachsen. Und Sie erwarten, daß das unabweisbare Gebot, für diese Probleme Lösungen zu finden, ein mächtiger Ansporn zur Entspannung und Zusammenarbeit sein wird? Ja. Um einen Satz von Präsident Carter aufzugreifen, diese Bedrohungen können als moralisches Äquivalent zum Krieg aufgefaßt werden, in dem Sinn, daß sie die größtmöglichen Anstrengungen erfordern und die Zusammenarbeit aller Staaten notwendig machen, in erster Linie die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Bedrohungen und Ängste bleiben starke Antriebskräfte, wenn es darum geht, vernünftig zu handeln. Nun, die Menschheit befindet sich immer noch in einer Entwicklungsphase, deshalb ist das verständlich. Außerdem gibt es die Bedrohungen tatsächlich, sie sind nicht nur ein Mythos. Was die Angst anbelangt, so bleibt sie eines der stärksten menschlichen Gefühle. Das Wichtige dabei ist, daß sie nicht mißbraucht und fehlgeleitet wird. Ich würde es sehr viel lieber sehen, wenn Barmherzigkeit und Liebe die Beweggründe der Menschen wären, aber dazu sind wir noch nicht reif genug. Sie erwarten von mir wohl nicht, daß ich glaube, Sie würden solche Gefühle für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen für wichtig erachten. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 334 Nein, und zwar nicht aus Zynismus heraus. Vielleicht kommt es hier in der Zukunft zu Veränderungen - heute jedoch sprechen wir nicht von Liebe, sondern von einer vernünftigen und genauen Wahrnehmung der eigenen Interessen. Als Russe muß ich Amerika nicht gleich lieben, um für gute sowjetisch-amerikanische Beziehungen einzutreten - es ist ausreichend, wenn ich ein zutiefst überzeugter sowjetischer Patriot bin, sind doch solche Beziehungen im Interesse meines Landes. Das gleiche gilt für jeden Amerikaner. Es ist nicht erforderlich, daß der einzelne die Russen oder die Kommunisten liebt, nicht einmal, daß er den Russen vertraut, um gute Beziehungen zur UdSSR anzustreben. Es genügt, wenn jemand ein guter amerikanischer Patriot ist und sein Land liebt. Sicherlich, falls nach einiger Zeit zu diesen rationalen Überlegungen und Eigeninteressen noch freundliche Gefühle hinzukommen, so ist das nur hilfreich. Aber in diesem Moment stellt das einen weiteren Luxus dar, auf den wir verzichten können. Aber werden die Russen, die Amerikaner und alle anderen vernünftig genug sein, um diese Bedrohungen zu vermeiden? Auf lange Sicht, glaube ich, wird das der Fall sein - vorausgesetzt, sie überleben bis dahin. Ich denke, der bekannte sowjetische Wissenschaftler und Nobelpreisträger Nikolai Semjonow hat das Problem sehr treffend formuliert. Er vertritt die Ansicht, daß die Menschheit entsprechend den Kriterien und Gesetzmäßigkeiten sowohl organischer als auch anorganischer Natur aus dem Stadium der frühen Kindheit noch nicht herausgekommen ist. Wenn sie sich weiterentwickelt und heranreift, wird es kein Problem geben, das sie nicht lösen könnte. Die Gefahr besteht darin, daß sie in der ‘Kindheit’ einige fürwahr üble, nicht mehr zu korrigierende, unwiderrufliche Fehler begeht. Semjonow denkt dabei an zwei Möglichkeiten: an einen Atomkrieg und an einen nicht mehr gutzumachenden Zusammenbruch des Gleichgewichts zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt. Welche Prognose würden Sie der Menschheit stellen: Gedeihen oder Verderben? Wissen Sie, jede Vorhersage von gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen ist unweigerlich bis zu einem gewissen Grad wertorientiert und programmatisch. Das ist anders als bei der Wetter- oder Erdbebenvorhersage. Wir nehmen an den Geschehnissen teil und wir treffen Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 335 Vorhersagen, damit wir sie besser beeinflussen können, damit wir sie nach Möglichkeit in den Griff bekommen. Der programmatische Leitfaden, der in meine Vorhersage eingeht, ist die Entspannung. Die Verbindung, die zwischen der Entspannung und der Verhütung eines Krieges besteht, liegt offen zutage. Was die weltweiten Probleme anbelangt, so werden sie durch die Entspannung an sich nicht gelöst, aber ohne Entspannung ist es zwecklos, auch nur daran zu denken, mit ihrer Lösung zu beginnen. Worauf ich hinaus will, ist dies: das Überleben, ja sogar Wohlstand, sind sehr wohl möglich, aber eine Vorbedingung dafür ist die friedliche Koexistenz und die Entspannung. Aber wie findet man auf den Weg der Entspannung zurück? Wann werden beide Seiten reif genug sein, um ihre Notwendigkeit zu begreifen? Ich kann Ihnen versichern, daß man sich in der Sowjetunion nach wie vor dessen bewußt ist, daß die Entspannung im allgemeinen und normale Beziehungen mit den Vereinigten Staaten im besonderen eine Notwendigkeit sind. Professor Dieter Senghaas von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung bemerkte kürzlich, daß niemand auf der Welt wirklich weiß, was Moskau denkt. Ich halte das für eine Feststellung, die von Unwissenheit zeugt. Es ist weithin anerkannt, daß die sowjetische Außenpolitik folgerichtiger und vorhersehbarer ist als die Politik vieler anderer Länder. Es ist keineswegs schwierig, in Erfahrung zu bringen, was man in Moskau denkt. Außerdem unterhalten wir mit praktisch allen Ländern die Art von Beziehungen, die es erlaubt, im Bedarfsfall Fragen zu stellen. Das wäre, was ich Professor Senghaas antworten könnte. Er hat möglicherweise dabei an die allerjüngste Vergangenheit gedacht, also an die Zeit seit Ende 1979, als die Verschlechterung der weltweiten Situation zu einem Zusammenbruch des Dialogs führte und zu einer allgemeinen Schwächung der Kontakte. Jede Verschlechterung dieser Art hat unausweichlich solche Folgen, und zwar nicht nur weil die Kontakte erschwert werden. Mir scheint, daß Spannungen immer nachhaltige emotionale Auswirkungen auf das Denken der Menschen haben und auf ihre Fähigkeit wahrzunehmen und zu begreifen. Jemand, der von Emotionen wie Haß und Hurrapatriotis- Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 336 mus erfüllt ist, ist ein schlechter Partner für einen Dialog, weil ihm die Fähigkeit, zu verstehen und verstanden zu werden, abhanden gekommen ist. Nein, die Umstände für eine Rückkehr zur Entspannung sind im Moment wahrhaftig nicht günstig. Die Welt wird warten müssen, bis das Pendel wieder auf die andere Seite ausschlägt, ehe sich neue Möglichkeiten ergeben werden. Herkömmliche Einsicht würde genau dies nahelegen: Wie bei einem Familienstreit sollte man sich abwartend verhalten, bis sich die Leidenschaften gelegt haben, und erst dann wieder Frieden schließen. Aber die Logik des politischen Geschehens paßt sich nicht herkömmlichen Einsichten an. Ginge es nach herkömmlichen Einsichten, hätte die Entspannung nicht einmal eingeleitet werden können. In den frühen siebziger Jahren waren nicht nur die Leidenschaften in hellem Aufruhr, sondern es gab auch einen Krieg - den Krieg in Vietnam. Junge Amerikaner starben in diesem Krieg, viele durch Waffen, die aus der Sowjetunion stammten. Junge Männer aus der Sowjetunion starben in Haiphong und Hanoi durch amerikanische Bomben und Minen. Das Verhalten Amerikas war von unserem Standpunkt aus zügellos und unglaublich: in Vietnam, im Nahen Osten und an anderen Orten. Man kann sich gut vorstellen, daß es in unserer Politik viele Dinge gab, die Washington nicht behagten. Das erste Gipfeltreffen hing an einem seidenen Faden. Und dennoch wurde die Entspannung eingeleitet. Hätten wir aber auf günstigere Umstände gewartet - was hätten wir dabei gewonnen? Glauben Sie, daß diese Frage auch heute wieder zutrifft? Ja, es wäre keineswegs sinnvoll abzuwarten, bis die Situation für eine Rückkehr zur Entspannung günstiger geworden ist. Die gegenwärtigen Tendenzen sind dergestalt, daß die Situation möglicherweise nicht von selbst zur Ruhe kommen kann. Man kann damit rechnen, daß die Spannungen weiter zunehmen, wenn wir nur warten und nichts unternehmen. Mit anderen Worten, die Zeit arbeitet nicht für uns. Gut, nur irgend jemand muß den ersten Schritt machen. Ich glaube nicht, daß wir die Situation unter diesem Blickwinkel betrachten sollten. In diesem Augenblick besteht das Problem nicht darin, daß niemand wagt, das erste Wort zu sagen, weil man nicht der sein möchte, Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 337 der die Nerven verliert, oder weil man Angst hat, zurückgewiesen zu werden, oder einfach nur aus Vorsicht. Wir haben einen Versuch unternommen und wären abermals dazu bereit, aber so, wie es von Moskau aus gesehen den Anschein hat, wollte die US-Regierung bis zum heutigen Tag (d.h. bis zum Januar 1981) einfach keine Minderung der Spannungen. Würde sich die Situation ändern, wenn die Sowjetunion den Amerikanern einen Schritt entgegenkäme und, sagen wir, mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan beginnen würde? Wenn Sie darunter auch eine politische Lösung des Afghanistanproblems verstehen, so sind wir uneingeschränkt dafür. Das ist unsere offizielle Haltung. Auch die afghanische Regierung unterstützt eine politische Lösung. Wenn Sie aber damit den Abzug unserer Militàrkontingente aus diesem Land meinen, ohne daß eine Lösung getroffen wird - was würde das schon bringen? Die Bestätigung dafür, daß die Sowjetunion nur die Sprache der Drohungen, der Erpressung und des Drucks versteht? Ich habe ganz massive Zweifel, ob dadurch irgendwelche Möglichkeiten geschaffen würden, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf den Weg der Entspannung zurückzubringen. Außerdem gibt es ja die Probleme, die zu der gegenwärtigen Situation in Afghanistan führten. Die Gründe, die uns bewogen haben, ein militärisches Kontingent dorthin zu entsenden, müssen beseitigt werden. Welche weiteren, konkreten Schritte könnten unternommen werden, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder ins Fahrwasser der Entspannung zurückzubringen? Ich glaube nicht, Herr Oltmans, daß wir - Sie und ich - so beschlagen sind, um bestimmte diplomatische Maßnahmen zu erörtern. Vorausgesetzt, daß auf beiden Seiten die Absicht besteht, zur Entspannung zurückzukehren, sollte es nicht allzu schwierig sein, eine Möglichkeit zu finden, um einen ersten Schritt in diese Richtung zu tun. Haben wir nicht schon einmal erlebt, daß ein Tischtennisturnier einen ernsthaften ersten Schritt zur Aufnahme von Beziehungen darstellte? Allerdings. Aber es gibt da noch eine andere Frage: Sollte die amerikanische Seite, die nach Ihrer Ansicht diese Beziehungen verdorben hat, auch den ersten Schritt zu deren Verbesserung tun? Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 338 Ganz allgemein gesprochen wäre es nur logisch, zumal in vielen Fragen - an erster Stelle ist hier die Ratifikation von SALTII zu nennen - die Amerikaner am Zug sind. Aber ich denke nicht, daß die Sowjetunion die Frage, wer den ersten Schritt tun sollte, zum Prinzipienstreit erheben will. Ganz im Gegenteil: Im Verlauf des Jahres 1980 hat sie bereits eine Reihe von Schritten unternommen, die man als Einladung an die amerikanische Führung betrachten kann, unsere Beziehungen zu normalisieren. Welche zum Beispiel? Beispielsweise die Unterbreitung des Vorschlags, sofort Verhandlungen über die Begrenzung der nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa aufzunehmen, und zwar in Verbindung mit dem dortigen amerikanischen System der Vorwärtsverteidigung, sowie unsere neuen Vorschläge zu den Wiener Gesprächen. Unsere Bereitschaft, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern und mit der neuen amerikanischen Regierung in einen Dialog einzutreten, wurde wiederholte Male in öffentlichen Erklàrungen unserer Führung zum Ausdruck gebracht, wie auch in Gesprächen mit Senator Charles Percy im November 1980 und bei vielen weiteren Gelegenheiten. Falls es ein zweites Mal zur Entspannung kommen sollte, in welcher Hinsicht sollte sie dann besser angelegt sein als die erste Entspannungsperiode? Zum einen ware zu sagen, daß die Rüstungsbegrenzung wàhrend der Entspannung weit hinter dem Fortschritt auf politischem Gebiet zurückblieb. Um genauer zu sein, das Wettrüsten wurde fortgesetzt und sogar noch verstärkt, obwohl es zu politischen Fortschritten, zu atmosphärischen Verbesserungen und sogar teilweise zu Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle kam. Dadurch geriet die Entspannung in große Bedrängnis, wie Leonid Breschnew bereits 1973 gewarnt hatte. Das Bestellen gegenläufiger Tendenzen zur gleichen Zeit konnte unmöglich lange andauern. Deshalb lautet die Lehre daraus; den Problemen der Rüstungsbegrenzung muß größere Aufmerksamkeit gewidmet werden, und sie müssen schneller und tiefgreifender gelöst werden. Und selbstverständlich sollten keine Versuche unternommen werden, militärische Überlegenheit zu bewahren oder wieder zu erlangen - es muß zu wesentlich stärkeren Einschränkungen bei den militärischen Programmen kommen. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 339 Eine weitere wertvolle Lehre aus der ersten Entspannungsperiode ist die, daß es sich dabei nicht um ein neues geologisches Zeitalter handelt, das Tausende, wenn nicht gar Millionen von Jahren währt, sondern um eine Situation, die einige Möglichkeiten eröffnet, die dann auch entsprechend schnell genutzt werden sollten. Es ist wichtig, daß man ständig Ergebnisse erzielt. Ich würde den Entspannungsprozeß mit dem Radfahren vergleichen: je schneller, desto sicherer - kein Stillstand. Zu einer weiteren Beobachtung. Ich habe bemerkt, daß unsere westlichen Partner, besonders die Amerikaner - und hierbei spreche ich nicht von führenden Regierungsvertretern, sondern von einigen sehr einflußreichen politischen und akademischen Kreisen-unter dem durchaus akzeptablen Vorwand, sich greifbarere Resultate zu wünschen, anfingen, wachsende Skepsis an den Tag zu legen. Nahezu von den allerersten Schritten der Entspannung an nahmen sie in gewisser Weise eine abwertende Haltung ein, was die Bedeutung der Gesamtatmosphäre der Beziehungen, der weiteren Arbeit an allgemeinen Prinzipien und anderen ähnlichen Problemen betraf. Nun, Sie haben aber selbst gesagt, daß die abwertende Haltung gegenüber mehr allgemeinen Themen von dem schlichten Verlangen motiviert gewesen sein könnte, greifbare Resultate auf bestimmten Gebieten zu erzielen. Das könnte sein. Aber unglücklicherweise fehlt solch einem Verlangen oftmals die Grundlage und läßt es sich unmöglich verwirklichen. Mir scheint, daß diese Leute tatsächlich unterschätzten, welches Maß an Arbeit geleistet werden mußte, um eine feste Grundlage für Beziehungen zu schaffen, die die Kluft, die durch die Asymmetrien im politischen Denken und in den politischen Ansätzen bedingt ist, überbrücken zu können - einfach, um zu lernen, die andere Seite, ihre Besorgnisse, ihre Ängste und ihre Enttäuschungen besser zu verstehen. Ein kluger amerikanischer Freund von mir hat das einmal so ausgedrückt: Wenn man bei der Beurteilung der anderen Seite gleich das Schlechteste annimmt und alle kleineren Übel ausschließt, könnte tatsächlich das Schlimmste heraufbeschworen werden. Ich möchte noch auf ein weiteres, sehr wesentliehes Problem hinweisen, darauf nämlich, wie wichtig es ist, an der Schaffung von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen zu arbeiten. Die Bedeutung, die dem zukommt, sollte nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Medien erkannt werden. Die Entspannung liegt im Interesse der überwiegenden Mehrheit. Aber das bedeutet, daß man für sie eine Anhängerschaft schaffen muß, die so breit wie möglich ist, sich artikuliert, sowie aufgeklärt und politisch aktiv ist. Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 340 Nichts von alledem ist leicht. Richtig. Aber nur diese Dinge können die Entspannung - die ‘zweite Entspannung’, wenn man so will - dauerhaft machen. Die Erfahrungen, die wir mit den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen gemacht haben, zeigen unmißverständlich, daß es eine quälend harte Arbeit ist, die Überbleibsel des Kalten Krieges auszuräumen, Zurückhaltung an den Tag zu legen, für das gegenseitige Verständnis zu arbeiten, Lösungen zu suchen, die für beide Seiten akzeptabel wären, Kompromisse zu schließen - kurzum all das zu tun, was für die Entspannung erforderlich ist; diese Arbeit erfordert große Anstrengungen, Geduld, Weisheit und politischen Mut. Entspannung verlangt diese Qualitäten in einem ungleich höheren Maß, als dies der Kalte Krieg tut, mit seinen gefühlsgeladenen Ausbrüchen und seiner Zurschaustellung von politischer Männlichkeit bzw. Kraftmeierei. Entspannung ist zugegebenermaßen schwer zu betreiben. Aber ich bin sicher, daß nur die Entspannung die geeignete Elle ist, um im Atomzeitalter politische Führer zu messen und auf die Probe zu stellen. Heute ist die richtige Wahl der Politik wichtiger als je zuvor. In der Tat stehen nicht mehr viele Wege offen. In letzter Konsequenz gilt die ewige Wahrheit, die vor langer Zeit Plato ausgesprochen hat: ‘Jeder muß sein Leben in Frieden leben, so lang, und so gut wie möglich.’ Darf ich eine persönliche Frage an Sie richten. Wir haben in unserer Diskussion ein breites Spektrum an Problemen erörtert. Wie betrachten Sie die Dinge persönlich, als Mensch, als Bürger Arbatow? Ich glaube, ich sollte wiederholen, was ich einmal in Newsweek geschrieben habe, denn ich bin sicher, daß dieser Gedanke in der Sowjetunion von den meisten Menschen meiner Generation geteilt wird. Mein Vater zog in den Krieg, als er 18 war. Ich zog in den Krieg, als ich 18 war. Wir hatten beide Glück - wir kamen wieder zurück nach Hause. Und ich bin sehr froh, daß mein Sohn, der jetzt 30 ist, in keinem Krieg kämpfen mußte. Denn aus dem Krieg, der die Menschheit heutzutage bedroht, wird niemand mehr heimkehren. Und es wird keine Sieger geben. Hegen Sie Sympathien für jene jungen Leute von heute, die pessimistisch in die Zukunft blicken und die Hoffnung auf eine vernünftigere und friedlichere Welt aufgegeben haben? Antonio Gramsci bezeichnete als die beste Verbindung, die Pessimismus Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 341 und Optimismus im menschlichen Gemüt eingehen können, den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus des Willens. Ich glaube, er meinte damit, daß die Menschen in der Lage sein sollten, all die Bedrohungen und widrigen Tendenzen zu sehen und zu erkennen, daß sie aber entschlossen sein sollten, diese zu überwinden und eine bessere Welt zu errichten. Unglücklicherweise erleben wir recht oft die umgekehrte Verbindung, wenn die Leute nâmlich vor einer wirklich unerbittlichen kritischen Überprüfung der Realität zurückschrecken und sich hilflos und verzagt den Krisen ausgeliefert fühlen. Mich persönlich würde es schaudern, das Schicksal der Welt einer Generation anzuvertrauen, die die Hoffnung verloren hat. Sicher, einige der gegenwärtigen Herausforderungen sind einzigartig, was das Ausmaß der Gefahr anbelangt, die sie für die Menschheit bedeuten. Aber nach all dem, was meine Generation zu meinen Lebzeiten erfahren hat, bin ich überzeugt, daß die Menschheit über die Mittel verfügt, um sich mit diesen Herausforderungen zu messen. Der entscheidende Faktor ist der Wille, diese Herausforderungen anzunehmen. Ich denke nicht, daß die gesamte Jugend von heute pessimistisch ist. Diejenigen, die es sind, kann ich in gewissem Maß verstehen. Sie stoßen auf ernste Probleme und erfahren tiefe Enttäuschungen. Und man sollte ihnen dafür nicht die Schuld geben. Nach meinem Dafürhalten trägt die ältere Generation hier eine große Verantwortung. Wir müssen der Jugend nicht nur die Hoffnung auf ein besseres Leben auf diesem Planeten erhalten, sondem auch den Planeten selbst. Eindnoten: 1 ‘Grand Old Party’, traditionell für Republikanische Partei 2 Time, 9. Januar 1981 3 International Herald Tribune, 10. Januar 1981 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 347 Namenregister Afanasew, Viktor 245 Agnew, Harold 38 Albert, Carl 247 Alford, Jonathan 18 Allison, Royal 174 Amin, Hafizullah 311 ff., 317 Apel, Hans 284 Arafat, Yassir 308f. Ash, Roy 38 Austin, Paul 38 Baker, Howard 38, 247 Barnett, Richard 329 Bartholomew, Reginald 55 Beard, Charles 287 Begin, Menachem 309 Bell, Daniel 232 Biden, Joseph 38, 247 Blumenthal, Michael 38 Bohlen, Charles 76 Brademas, John 247 Brandon, Henry 236 Brandt, Willy 59, 86, 283f. Breschnew, Leonid I. 11, 60, 99, 124f., 147, 165, 168f., 180, 212, 233, 245, 261, 267, 284, 294, 320, 338 Brooke, Alan 78 Brown, George S. 124 Brown, Harold 38, 128, 164, 272 Brzezinski, Zbigniew 13, 17, 22, 38, 42, 81, 99, 101ff., 113ff., 122, 125f., 262, 270, 305, 325 Buckley, James 38, 256 Buckley, Williamf., jr. 38, 326 Bundy, McGeorge 161 Burger, Warren 38 Burns, Arthur 38 Burns, T.S. 178 Caddell, Patrick 20f. Calvin, Melvin 241 Capote, Truman 245 Carter, Amy 100 Carter, Jimmy 12, 18, 20, 30, 42, 48, 51, 81, 86, 97 ff., 101 ff., 110, 113, 118, 126, 128, 130, 150, 163, 169, 182, 193f., 197, 203, 214, 220, 253, 277, 285, 290, 307, 316, 323, 325, 328, 333 Carter, Rosalynn 130 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Castlereagh, Robert Stewart 263 Castro, Fidel 243 Chalfont, Alun Gwynne John 131 Chruschtschow, Nikita 32, 81 Churchill, Winston 70, 76, 78, 92f. Clausen, A.W. (Tom) 38 Clausewitz, Karl von 26 Colby, Bainbridge 70f. Cooper, Hugh 72 Cox, Arthur 176 Culver, John C. 128 Davis, Angela 38 Deng Xiaoping 261 Disraeli, Benjamin 136 Dobrynin, Anatoli 81 Dostojewski, Feodor M. 245 Doty, Paul 38, 165, 176 Dreiser, Theodore 215, 245 Dulles, Allen 75 Dulles, John Foster 94 Einstein, Albert 219f. Eisenhower, Dwight D. 20, 81, 94f., 141f., 143, 175 Ellis, Richard M. 174 Ellsberg, Daniel 253 Evans, Rowland 144 Fallaci, Oriana 261 Faulkner, William 245 Feld, Bernard 176 Ford, Gerald 20, 31, 48, 97 ff., 168 Forrestal, James 76 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 348 Galbraith, John K. 38, 87, 142 Galtung, Johan 281 Garn, Edwin J. 38 Garwin, Richard L. 176 Gaulle, Charles de 59 Gavin, James 38, 174 Gazenko, Oleg G. 241 Gelb, Leslie 38, 56 Geng Biao 272 Ghandi, Indira 261 Gilpin, Robert 196 Giscard d'Estaing, Valéry 294 Goldman, Marshall 213 Goldwater, Barry 89 Gorki, Maxim 245 Gramsci, Antonio 340 Gromyko, Andrej 104, 107, 169 Groschkow, Sergej 176 Haig, Alexander 328 Hall, Gus 38 Hammer, Armand 69 Harriman, Averell 38, 70 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 116 Helms, Richard 143 Hemingway, Ernest 245 Hiss, Alger 90, 97 Hitler, Adolf 41, 139, 239, 332 Hoffman, Stanley 38, 47 Holmes, Oliver Wendell 319 Hoover, J. Edgar 236 Hough, Jerry 242 Humphrey, Hubert 90, 247 Huntington, Samuel 197, 210f. Jackson, Henry M. 58, 106, 194, 256, 262 Johnson, Lyndon B. 19, 20, 88, 154, 236, 293 Johnson, Samuel 17 Jordan, Vernon 237 Kahn, Herman 175 Kaplan, Fred 169 Karmal, Babrak 310ff. Kaufman, Henry 150 Kaufmann, William W. 176 Keegan, George 173 Keita, Modibo 110 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Kendall, Don 38 Kennan, George 38, 144, 242 Kennedy, Edward 19, 38, 248 Kennedy, John F. 82, 93f., 130, 142, 290, 303 King, Martin Luther 237 Kintner, William 38 Kirillin, Wladimir 211 Kissinger, Henry 14, 19, 81, 89, 96f., 101, 103, 108ff., 130, 135ff., 263f., 268f., 286 Kistiakowsky, George 120, 143, 176 Kolchak, Alexander W. 67 Kraft, Joseph 236 Kreisky, Bruno 23 Laird, Melvin 124 LaRocque, Gene 38, 174 Laqueur, Walter 242f. LeMay, Curtis 124 Lenin, Wladimir I. 17, 33, 68ff., 207, 281 Lincoln, Abraham 66 Litwinow, Maxim Maximowitsch 44f., 226 Lodal, Ian 176 Lodge, Henry Cabot 78 Luns, Joseph 122, 146 Mao Tse Tung 33, 265, 267, 271 Martens, L. 69 Marx, Karl 207, 215 Mathias, Charles 207, 248 McCarthy, Eugene 89, 232, 262, 321 McHenry, Donald F. 107 McNamara, Robert 128, 279 Metternich, Klemens von 263 Metzger, Robert 165 Miller George 174 Mondale, Walter 38 Monroe, James 303 Mossadegh, Mahammed 91 Muskie, Edmund 38, 169 Myrdal, Gunnar 49 Nehru, Jawaharlal 110, 261 Nitze, Paul 58, 122, 145f. Nixon, Richard 20, 36, 48, 86ff., 90, 95ff., 110ff., 137, 176, 236, 260, 268f., 329 Nkrumah, Kwame 110 Novak, Robert 144 Nunn, Sam 248 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Oates, Joyce Carol 245 Okita, Saburo 279 Orwell, George 41 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR 349 Panofsky, Wolfgang 176 Percy, Charles 338 Perry, William 144, 272 Pilsbury, Michael 268 Pipes, Richard 58, 122, 242 Plato 340 Poe, Edgar Allen 245 Pol Pot 51, 317 Ponomarew, Boris 250 Power, Jonathan 125 Powers, Gary 81 Pranger, Robert 38 Rathjens, George 176 Reagan, Ronald 31, 105, 109, 150, 155, 162f., 172, 182, 185, 198, 273, 324ff., 328 Reed, John 67 Reston, James (Scotty) 100 Reuther, Victor 72 Reuther, Walter 72 Ribicoff, Abraham 247 Robbins, Raymond 69 Rockefeller, David 38, 277 Rockefeller, Nelson 101 Rodgers, Bernard 172 Rodriguez, Carlos R. 301f. Roosevelt, Franklin D. 41, 73f., 76, 92f., 226, 303 Rosenfeld, Stephan 118 Rostow, Eugene 83f. Rusk, Dean 82 Russell, Richard 19 Sacharow, Andrej 100, 255f. Salinger, J.D. 245 Schlesinger, James 99, 128, 262 Schmidt, Helmut 164, 169, 284, 294 Schtscharanski, Anatoli 194, 198 Scott, Hugh 247 Scoville, Herbert 176 Scowcroft, Brent 174 Semjonow, Ataman 67 Semjonow, Nikolai 334 Senghaas, Dieter 335 Sforza, Carlo 280 Sheehy, Gail 130 Shulman, Marshall 38 Sihanuk, Norodom 52 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Sinclair, Upton 245 Skinner, B.F. 24 Snepp, Frank 237 Solschenizyn, Alexander 245, 255 Stalin, Josef 239, 242, 260 Stimson, Henry 76 Strauß, Franz Josef 262, 292 Suarez, Adolfo 294 Sulzberger, C.L. 74 Sukarno, Achmed 110 Symington, Stuart 207 Talleyrand, Charles Maurice 263 Tanaka, Kakuei 279 Taraki, Noor Muhammad 311ff. Taylor, Maxwell 150, 174 Teller, Edward 162f. Thomas, Parnell 321 Thornton, Tex 38 Tolstoi, Leo 245 Toon, Malcolm 26 Tower, John G. 38 Toynbee, Arnold 215 Truman, Harry S. 76, 93, 140, 187 Tschechow, Anton 245 Tschitscherin, Georgij 70 Twain, Mark 245 Ulam, Adam 242 Updike, John 245 Ustinow, Dmitri 125 Vance, Cyrus 38, 100f., 104, 107 Vandenberg, Arthur 140 Vanik, Charles 38, 106, 194 Volcker, Paul 220 Vonnegut, Kurt, jr. 245 Warnke, Paul 150 Watanabe, Takashi 279 Watson, Thomas J., jr. 144 Wiesner, Jerome 18, 131, 176 Williams, Tennessee 245 Winston, Henry 38 Wise, David 236 Wohlstetter, Albert 169 York, Herbert 130, 176 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Zumwalt, Elmo R., jr. 176, 178 Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR