Religion und Migration
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Religion und Migration
Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main – Helga Nagel Hessische Landeszentrale für politische Bildung – Mechtild M. Jansen (Hrsg.) Religion und Migration Signale der Veränderung: Rückblick — Ausblick — Perspektiven Erweiterte Dokumentation der Tagung Religion und Migration Signale der Veränderung: Rückblick – Ausblick – Perspektiven am 30. Oktober 2010 in Frankfurt am Main Herausgegeben von: Mechtild M. Jansen Hessische Landeszentrale für politische Bildung Helga Nagel Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheit Redaktion und Lektorat: Dr. Susanna Keval Satz und Gestaltung: Tilmann Gempp-Friedrich www.text-und-strich.de Titelbild: www.rixgrafix.de Druck: Dinges & Frick , Wiesbaden 1. Auflage Wiesbaden 2011 ISBN: 978-3-927127-95-1 Schriftliche Bestellungen über: HLZ – Hessische Landeszentrale für politische Bildung: Taunusstr. 4–6, 65183 Wiesbaden Telefon: 0611 32-4053 Telefax: 0611 32-4055 E-Mail: [email protected] Mechtild M. Jansen, Helga Nagel Vorwort 5 Prof. Dr. Dr. Peter Antes Hat Europa Angst vor der Religion? Religiöser Pluralismus und Säkularisierung 9 Prof. Dr. Mathias Rohe Religion und Zuwanderung: Rechtliche und gesellschaftliche Perspektiven am Beispiel des Islam in Deutschland 17 Dr. Brigitta Sassin Interreligiöse Vernetzung als Voraussetzung für die Frankfurter Imamefortbildung. Bemerkungen zur katholischen Mitarbeit 29 Vera Klinger, Magdalena Modler „Imame für Frankfurt – Würden- und Verantwortungsträger“ Die Frankfurter Imamefortbildung – ein übertragbares Modell für andere Seelsorgerinnen und Seelsorger? 32 Podiumsgespräch 1 Veränderungen auf der Gemeindeebene 39 Khushwant Singh Von Entfremdung und Orientierung. Religiöse Unterweisung in der zweiten Generation der Sikhs in Deutschland 54 Podiumsgespräch 2 Veränderungen in der pädagogischen Arbeit 64 Magdalena Modler Die Chance zwischen Tradition und Aufbruch. Potenziale und Herausforderungen außerschulischer Jugendarbeit in religiösen Gemeinden mit Migrationsgeschichte 80 Christina Bender und Vera Klinger Die Frankfurter „Juleica interkulturell“ 85 Saskia Schneider, Jörg Walther und Dietmar Will Die ökumenische Jugendleiter-Card in Frankfurt am Main – ein Zukunftsthema für die ganze Gesellschaft ... Ein Gespräch mit den „Machern“ des Projektes 89 Autorinnen und Autoren 94 Mechtild M. Jansen, Helga Nagel Mechtild M. Jansen, Helga Nagel Vorwort Religion und Migration, Signale der Veränderung: Rückblick – Ausblick – Perspektiven. Unter diesem Motto stand die sechste Fachtagung zum Thema Religion und Migration, die vom Amt für multikulturelle Angelegenheit, der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Römer9 Evangelische Stadtakademie Frankfurt am Main und der Katholischen Erwachsenbildung Bildungswerk Frankfurt am Main durchgeführt wurde. Wir freuen uns, Ihnen hier die erweiterte Dokumentation der Tagung vorlegen zu können. Als wir mit dem Tagungszyklus 2002 begannen, ahnten wir nicht, dass die Aktualität des Themas uns so lange begleiten würde, denn wenn man Feuilletons, Nachrichten und Polittalk im Fernsehen betrachtet und die allgemeine gesellschaftliche Debatte, auch nur am Rande verfolgt, wird Eines deutlich: Die Themen Migration und Integration, Religion und reli- giöse Institutionen scheinen nicht an Popularität zu verlieren. Im Gegenteil: Immer wieder sind sie Anlass für hitzige, mehr oder weniger sachlich geführte Debatten und Emotionalität scheint diesen Themen auf besondere Weise innezuwohnen. Sei es die Volksabstimmung zu den Minaretten in der Schweiz, der Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche, die überwiegend affektbetonte, auf allen Ebenen geführte Diskussion über Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, die Debatte über Deutschenfeindlichkeit auf den Schulhöfen der Republik oder die kurz vor der Tagung im Oktober 2010 erfolgten Statements von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Seehofer: „Multikulti ist absolut gescheitert.“ (suedeutsche.de/politik 16.10.2010) oder die Rede des Bundespräsidenten Wulff zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2010: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Als wir vor einen Jahr begannen, diese Tagung zu planen, waren die 5 Religion und Migration: Signale der Veränderung Aktualität der Debatten noch nicht abzusehen und trotz immer wiederkehrender Nachrichten über Schulen in sozialen Brennpunkten und die fallenden Zahlen deutscher Schülerinnen und Schüler in Schulen dieser Stadtteile, waren wir der Meinung, dass die Integrationsbemühungen und die Integrationspolitik vieler Kommunen und Bundesländer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und vor allem an der Basis recht gut und ohne viel Reibungsverluste funktionieren. Umso besser, dass wir gerade in einer Zeit, in der die Diskussion wieder einmal so hohe Wellen schlägt, hier eine Veröffentlichung vorlegen können. Unsere Veranstaltung, wie schon die fünf vorangehenden Veranstaltungen, die wir seit 2002 durchgeführt haben, unterscheidet sich in einigen Punkten von den allgemeinen Diskussionen: Es ist ein anderer Grundtenor, der unsere Veranstaltungen prägt. Er ist sachlich und informierend, was nicht bedeuten muss, dass es kühl und emotionslos zugeht. Gerade eine starke Ausrichtung auf einzelne Fallbeispiele und konkrete Projekte weiß dies zu verhindern. 6 Zwei Dinge sind uns wichtig: Zum einen geht es uns darum die beiden Begriffe „Religion und Migration“ sowie die beiden Diskussionen zusammenzudenken, Wechselwirkungen und Bedingungen der beiden Themen zueinander stärker aufzudecken, zu betonen und zu untersuchen. Wie beeinflusst Religion die Migration? Hilft sie bei einer Neuorientierung oder ist sie eher behindernd oder kommt es zu Adaptierungen? Auch gilt es zu fragen, wie sich die Religion und der Glauben in ihrer Ausübung verändern, sich verändern in einer globalisierten, vernetzten Welt, als deren deutliches Kennzeichen die Migration zu sehen und aufzufassen ist. Weltumspannende, schnelle Kommunikation wird immer einfacher, was zu einer Annäherung und größeren Abstimmung in den auch früher schon Kontinente umspannenden Institutionen der einzelnen Glaubensrichtungen führt oder führen kann. Gleichzeitig ist dieser Prozess der Verbreitung natürlich nicht abgeschlossen und ist nach wie vor diversen Veränderungen unterworfen. Dies bedeutet, dass sich Gläubige, Gemeinden und Institutionen immer auch neuen spezifischen, individuellen Anforderungen in den jeweiligen Gesellschaften stellen müssen. Eine Isolation scheint immer weniger möglich und sicherlich nicht wün- Mechtild M. Jansen, Helga Nagel schenswert. Wir sind überzeugt, dass sich so zu einer Versachlichung der Debatte beitragen lässt. Zweitens wollen wir betonen, dass sich unsere Fachtagungen zu Religion und Migration natürlich auch mit dem Verhältnis Islam und Christentum beschäftigen, sich aber ganz bestimmt nicht darauf beschränken. Die Fortbildungsreihe „Imame für Frankfurt“ kann mittlerweile in einem größeren gesellschaftlichen Kontext eingeordnet werden, seit die Bundesregierung beschlossen hat, Zentren für Islam-Studien an den Universitäten Tübingen und Münster/Osnabrück sowie seit neuestem auch in Frankfurt am Main finanziell zu fördern und zu unterstützen. Weiterhin war uns bei dieser Tagung auch das Gespräch untereinander wichtig. Das Podium „Veränderungen auf der Gemeindeebene“ setzt sich mit den Problemen der muttersprachlich-christlichen Gemeinden im Spannungsfeld zwischen kirchlichem Meltingpot oder „Heimatgefühl“ auch noch für die zum Teil schon vierte Generation auseinander. Dieses Podium machte deutlich, wie viele Facetten das Thema Religion und Migration enthält und weit über den allzu oft zitierten Islam hinausweist. Welchen Stellenwert die Jugendarbeit in und mit den Migrantengemeinden als auch für die kommunale Jugendarbeit hat, spiegelte sich im zweiten Podium „Veränderungen in der pädagogischen Arbeit“ wider. Es ging um die Auseinandersetzung, Einbindung und Akzeptanz der religiös orientierten migrantischen Jugendlichen. Hier wurde die Jugendarbeit der Sikh ebenso wie die jüdische, die christliche und die muslimische Jugendarbeit näher beleuchtet. So wurde z.B. deutlich, dass auch die kommunale Jugendarbeit erkannt hat, dass sowohl interreligiöse wie auch interkulturelle Aspekte ein integraler Bestandteil jeder Fortbildung für Jugendleiter und Leiterinnen sein muss. Signale der Veränderung haben sich auf dieser Tagung in vielfältiger Weise gezeigt. Trotz der heftig und kontrovers geführten Debatten: die Vielfalt der Religionen ist in unsrer Stadt nicht nur schon lange angekommen, sondern wird auch immer sichtbarer - nicht nur der Islam gehört inzwischen zu Deutschland. Unsere Gesellschaft ist in mehrerer Hinsicht differenzierter und vielfältiger geworden und wir müssen lernen, mit dieser Vielfalt zu leben. Es ist ein Lernprozess auf 7 Religion und Migration: Signale der Veränderung allen Seiten. Die Ambivalenz der Moderne und des Menschlichen ist nicht zurück zu drehen. Brücken sind gebaut worden und wir hoffen, dass die Fundamente stabil sind und viele Bewegungen über die Brücken statt finden. In Frankfurt sind annähernd 190 Gemeinden und Zentren der unterschiedlichsten Glaubens- und Religionsgemeinschaften vertreten. In Frankfurt haben fast 40% der Einwohner einen Migrationshintergrund, daher ist hier auch der ideale Ort für Begegnung mit der Vielfalt! Mechtild M. Jansen Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 8 Die Tagung wurde konzipiert und durchgeführt von: Mechtild M. Jansen, Dr. Susanna Keval, Vera Klinger, Ute Knie und Dr. Kornelia Siedlaczek. Hinweisen möchten wir an dieser Stelle auch noch auf die vorhergegangenen Veröffentlichungen: „Religion und Migration“ (2007) sowie „Religion, Migration und Gesellschaft“ (2010), beide herausgegeben von Mechtild M. Jansen und Helga Nagel und beide im VAS-Verlag Frankfurt erschienen. Wir wünschen Ihnen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre. Helga Nagel Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurt am Main Prof. Dr. Dr. Peter Antes Prof. Dr. Dr. Peter Antes Hat Europa Angst vor der Religion? Religiöser Pluralismus und Säkularisierung Im Jahre 1950 war – statistisch gesehen – die Religionszugehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland so, dass 50,6 % der Bevölkerung evangelisch, 45,8 % römischkatholisch und 3,6 % Sonstige waren. Im Jahre 2008 waren 29,9 % evangelisch (Freikirchen nicht mitgerechnet), 30,0 % römisch-katholisch und 34,1 % konfessionsfrei. Die restlichen 6 % verteilen sich auf die Muslime und die Sonstigen, wobei der tatsächliche Anteil der Muslime umstritten ist.1 Fowid tendiert dazu, den Prozentanteil eher niedriger anzusetzen, während die Veröffentlichung der Deutschen Islam Konferenz2 die Zahl nach oben korrigiert. Wie immer dies auch sei, der prozentuale Anteil liegt zwischen 2 % und 4 %, auf jeden Fall unter 5 %. Damit ist die gesellschaftliche Veränderung in Deutschland innerhalb der letzten sechzig Jahre klar: Es gab eine gewisse Zunahme hinsichtlich des religiösen Pluralismus, vornehmlich durch Einwanderung von Muslimen und es gab eine drastische Zunahme bei den konfessionsfrei- en Deutschen, d.h. ein beträchtliches Voranschreiten der Säkularisierung in unserem Lande. Ähnlich verlief die Entwicklung in anderen westeuropäischen Ländern. Im Vergleich dazu sieht die öffentliche Debatte ganz anders aus. Was die meisten Deutschen fürchten, hat Thilo Sarrazin im August 2010 so formuliert: „Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird.“3 Die Angst vor einer Islamisierung Europas ist in vielen westeuropäischen Ländern verbreitet. Sie ist verbunden mit der Sorge, Muslime seien nicht integrationsfähig bzw. nicht integrationswillig, ja sie wollten in Westeuropa die Scharia, das Gesetz Allahs einführen. José Casanova hat dieser Angst ein kleines Buch gewidmet. Er zeigt darin, dass der heutige Diskurs in der europäischen Debatte über Vgl. dazu http://www.fowid.de Vgl. dazu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Muslimisches Leben in Deutschland im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009 S. 59ff (Forschungsbericht 6) 3 Zitiert aus ZEIT-Magazin Nr. 38 vom 16.9.2010 S. 19 1 2 9 Religion und Migration: Signale der Veränderung den Islam erstaunliche Parallelen zum protestantischen Diskurs über den Katholizismus vor einhundert Jahren aufweist. Und er zeigt, dass die Angst vor der Religion von einem bestimmten, für Europäer typischen Verständnis von Religion und Säkularisierung herrührt, das sich durch die real existierenden Fakten in unserer Gesellschaft in Frage gestellt sieht. Beide Argumentationsstränge werden im Folgenden nachgezeichnet und am Schluss in einer Synthese als Fazit zusammengefasst. Religion, Politik und Geschlecht im Katholizismus und im Islam4 Eine erste bedeutsame Parallele zwischen dem antikatholischen Diskurs in protestantischen Ländern im 19. Jahrhundert und dem antiislamischen Diskurs in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts sieht Casanova in dem Vorwurf an beide Religionen, ein „Haupthindernis für Reformen“5 zu sein. In den USA führte die Ablehnung des Katholizismus unter progressiven Protestanten zu einem massiven Kulturkampf, der es bis zur Wahl von John F. Kennedy zum Präsidenten der USA im Jahre 1960 für undenkbar erscheinen ließ, dass ein Katholik das höchste Staatsamt in den Vereinigten Staaten von Amerika übernehmen könne. Ähnliche Kulturkämpfe – wenn auch weniger virulent – gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den protestantischen Ländern Europas, in England, den Niederlanden und Deutschland. „Alle zeigten die gleiche Kombination von protestantisch-konfessionellen, modern-liberalen und nationalistischen Vorurteilen gegenüber dem Katholizismus als eine rückschrittliche, fundamentalistische, fremde und ultramontanistische Religion. Ähnliche anti-katholische Karikaturen erschienen regelmäßig in den populären Zeitungen in allen vier Ländern, die oft katholische religiöse Praktiken neben magischen und abergläubischen Praktiken »orientalischer« oder »primitiver« Völker abbildeten. Der Katholizismus wurde offensichtlich als der innere Orient, als ein primitives und atavistisches Überbleibsel innerhalb der westlichen Zivilisation angesehen.“6 Einen kleinen Nachgeschmack von dieser Art Kulturkampf konnte man in der englischen Presse im Zusammenhang mit dem Besuch von Papst Benedikt XVI. im Vereinigten Königreich im September 2010 finden, obwohl die in diesen Vorurteilen bedienten Klischees durch Vgl. dazu José Casanova: Europas Angst vor der Religion. Berlin: Berlin University Press 2009 S. 31–81; eine ähnliche Studie hat Samuel-Martin Behloul an der Universität Luzern 2009 in seiner Habilitationsschrift vorgelegt, in der er u. a. den heutigen Islam-Diskurs in der Schweiz mit den Katholizismus-Diskursen des 19. Jahrhunderts in den USA und im deutschen Kaiserreich vergleicht. 5 Casanova, a.a.O. S. 42 6 Casanova, a.a.O. S. 43f 4 10 Prof. Dr. Dr. Peter Antes die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gegenstandslos geworden sind. Zu Recht weist Casanova darauf hin, dass der Kalte Krieg und das Militärbündnis der NATO zu einer Aussöhnung zwischen Washington und Rom geführt haben, dass der Prozess der europäischen Einigung die Kluft zwischen katholischen und protestantischen Ländern überbrücken half und dass schließlich auch innerhalb der katholischen Kirche bedeutsame Veränderungen (Aggiornamenti) im Zuge der Erneuerung durch das Zweite Vatikanische Konzil stattgefunden haben, die durch neuere Tendenzen restaurativer Politik im Umkreis des Papstes7 sicher nicht mehr ganz zurückgenommen werden können. Solche Aggiornamenti sind nach Casanova auch im Islam der Gegenwart, vor allem unter den Muslimen in der europäischen Diaspora, aber nicht nur dort zu verzeichnen. Casanova sieht sie vor allem in den internen und externen Debatten über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie: „1) In den Debatten über »Islamismus«, die transnationale Struktur der islamischen Welt und den vermeintlichen Kampf der Kulturen zwischen dem Islam und dem Westen auf geopolitischer Ebene, mit offensichtlichen Parallelen zu früheren Debatten über den Kampf zwischen »Republikanismus« und »Romanismus«; 2) in den Debatten über den politischen Islam und die demokratische Legitimität muslimischer Parteien in der Türkei und anderswo, die – wie ihre anfangs ähnlich verdächtigen katholischen Gegenstücke – neue Formen muslimischer Demokratie, ähnlich der Christdemokratie, etablieren könnten, und 3) in den Debatten über die angemessene Artikulation einer muslimischen ummah in Einwanderungszusammenhängen außerhalb des Dar el Islam.“8 Die zweite Parallele zwischen den Debatten über den Katholizismus in den protestantischen Ländern im 19. Jahrhundert und über den Islam in Europa heute, die hier erwähnt werden soll, betrifft das Bild der Frau. Festzuhalten ist dabei, dass Christentum und Islam Männern wie Frauen den Zugang zum Heil (Himmel, Paradies) ohne Unterscheidung zwischen den Geschlechtern anbieten, dass es somit in den Augen Gottes eigentlich keine Geschlechterunterschiede gibt. Doch diese theologische Grundwahrheit entspricht nicht der Rangordnung innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Hier ist die patriarchalische Hierarchie bestimmend und über Jahrhunderte verinnerlicht worden. Im Katholizismus wird dies vor allem bei Vgl. dazu z.B. Hanspeter Oschwald: Im Namen des heiligen Vaters. Wie fundamentalistische Kräfte den Vatikan steuern. München: Heyne 2010 8 Casanova, a.a.O. S. 48 7 11 Religion und Migration: Signale der Veränderung der kirchlichen Hierarchie deutlich. Das Priesteramt ist den Männern vorbehalten. Durch die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien wird dieser Unterschied zur unüberbrückbaren Kluft, an der auch die Vielzahl von männlichen und weiblichen Orden und die große Zahl männlicher wie weiblicher Heiliger nichts ändert. Tatsächlich war der männliche Charakter des Priestertums in der Geschichte der Kirche eine für so selbstverständlich gehaltene kulturelle Prämisse, dass es unnötig schien, eine ernsthafte theologische Rechtfertigung dafür anzubieten. Erst als die moderne demokratische Revolution jede Art der Geschlechterdiskriminierung in Frage stellte, war eine theologische Rechtfertigung vonnöten, und es wurde klar, dass die Grundlage für eine diskursive theologische Argumentation in der katholischen Kirche sehr dünn ist.9 Was für den Zugang zum Priesteramt für die katholische Kirche festgestellt wurde, gilt in ähnlicher Weise auch für die Ämter innerhalb des Islam, obwohl die fehlende sakramentale Struktur sowie die eigentlich eher egalitär organisierte islamische Gemeinde den Konflikt weniger zutage treten lässt als in der katholischen Kirche. Dennoch wird heute auch im Islam über den Zugang von Frauen zu Ämtern wie dem des Mufti oder des Vorbeters in der Moschee beim Freitaggebet diskutiert, möglicherweise sogar noch schärfer innerhalb des schiitischen Islam, wo es ein stärker hierarchisch ausgeprägtes Amtsverständnis bezüglich der Führungsriege der Mullahs und Ayatollahs als bei den Sunniten gibt. Dank feministischer Forschung besteht heute weitestgehend Konsens darüber, dass Jesus ebenso wie die prophetische Offenbarung und die Sunna des Propheten Mohammed eine Verbesserung der Lage der Frauen begründeten, obwohl diese schon recht schnell wieder durch stark frauenfeindliche Züge in der jeweiligen Tradition überlagert wurde. Daher gilt für die islamische Tradition insgesamt, wie Angelika Neuwirth in einem Interview feststellt: „Im Zeitvergleich war sie über weite Strecken nicht puritanischer oder frauenfeindlicher als die westliche Kultur. Allerdings wurde mit der Öffnung des öffentlichen Raumes für die Frau, die in Europa im 17./18. Jahrhundert stattfand, im Nahen Osten bis ins 19. Jahrhundert gewartet. Auch setzte sie sich nicht überall durch, und vor allem kam es Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer fundamentalistischen Gegenbewegung, die einen gravierenden Rückschritt gegenüber den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts markierte.“10 Heute erleben wir eine lebhafte Casanova, a.a.O. S. 73 Angelika Neuwirth: Ein europäischer Islam ist möglich. Interview in Hannoversche Allgemeine Zeitung Nr. 236 vom 9. Oktober 2010, S. 9 9 10 12 Prof. Dr. Dr. Peter Antes Diskussion unter Musliminnen sowie zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Frauen in Europa, in der es um ein neues Verständnis der Rolle der Frau in der Gesellschaft geht, wobei sich traditionelle religiöse Vorstellungen und moderne Interpretationen gegenüberstehen. Die Parallele von Katholizismus und Islam in Auseinandersetzung mit der Moderne kann sogar noch um eine weitere Facette angereichert werden, wenn wir die Entstehung des modernen Judentums in Europa hinzunehmen. Dann ergibt sich ungefähr dieses Bild: alle hundert Jahre geht es um die Modernisierung einer anderen Religion in Europa: Im 18./19. Jahrhundert geht es um die Modernisierung des Judentums, woraus das moderne, liberale europäische Judentum hervorgeht11; im 19./20. Jahrhundert geht es um die Modernisierung des Katholizismus, woraus das Aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils und der heutige Katholizismus in Europa hervorgehen; und im 20./21. Jahrhundert geht es um die Modernisierung des Islam, aus der möglicherweise ein europäischer Islam hervorgehen wird. Westliche christliche Säkularisierung und Globalisierung12 In der gängigen fachwissenschaftlichen Literatur wird Säkularisierung als eine einheitliche Theorie verstanden, die nach Meinung von Casanova „analytisch in drei verschiedene und nicht notwendigerweise in Wechselbeziehung stehende Komponenten zu unterteilen [ist], nämlich a) die Theorie der institutionellen Differenzierung der sogenannten säkularen Sphären wie Staat, Wirtschaft und Wissenschaft von religiösen Institutionen und Normen, b) die Theorie eines fortschreitenden Niedergangs religiöser Überzeugungen und Praktiken in Übereinstimmung mit dem Grad der Modernisierung, und c) die Theorie der Privatisierung der Religion als einer Voraussetzung für moderne, säkulare und demokratische Politik.“13 Herzstück der These ist dabei „das Verständnis von Säkularisierung als einem einzigen Prozess der funktionalen Differenzierung der vielfältigen säkularen institutionellen Sphären“.14 Casanova fragt dazu, ob es angemessen ist, die mannigfachen und sehr unterschiedlichen historischen Modelle von Differenzierung „unter einen einzigen teleologischen Prozess der modernen funktionalen Differenzierung zu subsumieren.“15 An- Vgl. auch dazu das zitierte Interview mit Angelika Neuwirth Vgl. dazu Casanova, a.a.O. S. 83–119 13 Casanova, a.a.O. S. 83 14 Casanova, a.a.O. S. 84 15 Casanova, a.a.O. S. 84 11 12 13 Religion und Migration: Signale der Veränderung gesichts der säkularen Realität der „real existierenden“ europäischen Demokratien und mit Blick auf die USA fällt seine Antwort negativ aus.16 Er sieht weder diese Einheitlichkeit noch einen einzigen teleologischen Prozess, von dem das europäische Denken ausgeht. Mehr noch, „Tatsache ist, dass sich in den meisten kontinental-europäischen Gesellschaften zu dem einen oder anderen Zeitpunkt konfessionelle Parteien herausbildeten, die eine entscheidende Rolle für die Demokratisierung ihrer Gesellschaften spielten. Selbst diejenigen konfessionellen Parteien, die sich ursprünglich als anti-liberale und zumindest weltanschaulich als anti-demokratische entwickelten – wie es der Fall bei den meisten katholischen Parteien im neunzehnten Jahrhundert war –, spielten letzten Endes eine sehr wichtige Rolle für die Demokratisierung ihrer Gesellschaften.“17 Mit Blick auf die Frage einer vermeintlichen Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie und der angeblich anti-demokratischen Natur muslimischer Parteien zitiert Casanova folgende Schlussfolgerung aus einer Studie von Stathis Kavyvas über die Christdemokraten: „Christlich-demokratische und sozialdemokratische Parteien [...] waren ursprünglich gebildet worden, um die liberalen Demokratien Casanova, a.a.O. S. 16ff Casanova, a.a.O. S. 20 18 Casanova, a.a.O. S. 21f 16 17 14 zu untergraben; beide entwickelten sich zu Volksparteien und entschieden sich nach schmerzhaften und entzweienden Debatten, am Wahlprozess teilzunehmen. Ihre Entscheidung hatte enorme Konsequenzen: beide Parteien integrierten Massen von neuen Wählern [sic!] in die bestehenden liberalen parlamentarischen Regierungsformen, und beide wurden durch den Prozess entradikalisiert, ein Teil genau jener Institutionen zu werden, die sie ursprünglich abgelehnt hatten. [...] Die Demokratie in Europa wurde oft von ihren Feinden ausgeweitet und konsolidiert. Diese Lektion sollte nicht vergessen werden, vor allem nicht von jenen, die die Herausforderungen studieren, vor denen der demokratische Wandel und seine Konsolidierung in der heutigen Welt stehen.“18 Der Vergleich ist mit Bedacht gewählt und brisant seit dem überwältigenden Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogans AKP im November 2002. Wer europäische Moderne mit Säkularisierung gleichzusetzen gewohnt ist, muss mit Blick auf die heutige Türkei in Verwirrung geraten. „Je »moderner«, oder zumindest demokratischer, die türkische Politik wird, desto öffentlich muslimischer und weniger säkular scheint sie zu werden. In ihrem Willen der EU beizutreten, verteidigt die Türkei eisern Prof. Dr. Dr. Peter Antes ihren Anspruch, ein ökonomisch und politisch voll anerkanntes Land zu sein, oder ihr Recht es zu werden, während sie gleichzeitig ihr eigenes Modell einer muslimischen kulturellen Moderne gestaltet. Es ist genau dieser Anspruch, gleichzeitig ein modernes europäisches und ein kulturell muslimisches Land zu sein, der die europäischen bürgerlichen Identitäten verblüfft, die säkularen genauso wie christlichen. Dieser Anspruch widerspricht sowohl der Definition eines christlichen wie auch der Definition eines säkularen Europas.“19 Im Zuge der Globalisierung spielen die Weltreligionen als „global players“ eine besondere Rolle. Sie sind durch Migration und Mission entterritorialisiert und zugleich im steten Austausch mit den unterschiedlichen kulturellen Milieus, in denen ihre Anhänger leben. Vielfach findet ein kultureller Austausch statt und hat schon früher zu regionalen Ausformungen der jeweiligen Religion geführt, weshalb wir im Falle des Islam zu Recht von einem türkischen, einem indischen, einem indonesischen oder einem subsaharischen Islam sprechen. Es ist von daher nur recht und billig, in Zukunft auch von einem europäischen Islam diesbezüglich zu sprechen. Zu diesen Formen von kulturellem Austausch gehört auch die politische Ausrichtung einzelner Grup19 20 pen innerhalb eines jeden Typs von Islam. Und so unterschiedlich wie die Kulturen sind auch die Säkularisierungstypen, die jeweils praktiziert werden. Konkret heißt dies: „Eine muslimische Demokratie ist heute genauso gut möglich und auch lebensfähig, wie es eine christliche Demokratie vor einem halben Jahrhundert in Westeuropa war. Säkulare Europäer, die muslimischen politischen Parteien, oder auch jeder anderen religiösen politischen Partei skeptisch gegenüber stehen, scheinen vergessen zu haben, dass das anfängliche Projekt einer europäischen Union eigentlich ein christlichdemokratisches war, das vom Vatikan gebilligt wurde, in einer Zeit allgemeiner religiöser Wiederbelebung im Nachkriegseuropa, im geopolitischen Kontext des Kalten Krieges, als »die freie Welt« und »christliche Zivilisation« Synonyme geworden waren. Aber das ist eine vergessene Geschichte, an die säkulare Europäer, die stolz darauf sind, aus ihrer religiösen Vergangenheit herausgewachsen zu sein und von der sie sich befreit fühlen, sich lieber nicht erinnern.20 Fazit Die hier vorgetragenen Überlegungen haben gezeigt, dass durch den Islam in Europa der religiöse Pluralismus so sehr zugenommen hat, dass die gefühlte is- Casanova, a.a.O. S. 60 Casanova, a.a.O. S. 57 15 Religion und Migration: Signale der Veränderung lamische Präsenz weit höher ist als die reale, ja dass sie als Gefühl zur Bedrohung für die Säkularisierung geworden ist. Besonders bedrohlich und störend ist dabei, dass die Muslime, je moderner sie werden, sie desto religiöser zu werden scheinen, so dass das Religiöse den säkularen Diskurs maßgeblich mit beeinflusst und ernsthaft damit zu rechnen ist, dass ähnlich wie in der Nachkriegszeit christliche Parteien die Demokratie in Europa geprägt haben, in Zukunft vielleicht auch muslimische Parteien zur Stärkung der Demokratie beitragen werden. José Casanova jedenfalls schließt diese Möglichkeit nicht aus und verweist auf das US-amerikanische Beispiel, wo freie Religionsausübung, Gleichberechtigung der Religionen und Gleichberechtigung aller Bürger miteinander vereinbar sind21, so dass religiöser Pluralismus und Säkularisierung koexistieren und dadurch die Angst vor der Religion als unbegründet erscheinen lassen. Diesbezüglich kann und muss Europa noch viel von Amerika lernen. 21 16 Vgl. Casanova, a.a.O. S. 17f Prof. Dr. Mathias Rohe Prof. Dr. Mathias Rohe Religion und Zuwanderung: Rechtliche und gesellschaftliche Perspektiven am Beispiel des Islam in Deutschland Rahmenbedingungen Bei einer Meinungsumfrage nach der „fremdesten“ Religion in Deutschland hätte der Islam angesichts der öffentlichen Debatte gewiss beste Chancen auf Platz eins. Das gilt ungeachtet des Umstandes, dass Muslime in Deutschland nach den Christen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden. Vorbei sind die Zeiten, in denen islamische Religion und Kultur als exotisches Accessoire geschätzt wurden – Bauten wie die barocke Schwetzinger Moschee, die Berliner Moschee am Columbiadamm und moscheeähnliche Gebäude von einer früheren Tabakfabrik in Dresden bis zum Kraftwerk in Potsdam künden davon. Muslime sind nicht mehr wie im späten 17. Jahrhundert als Sklaven eingeführte „Beutetürken“ oder vereinzelte Gäste, sondern seit einigen wenigen Jahrzehnten ein nach Millionen zählender Teil der deutschen Gesellschaft. Vielleicht zählt zur Normalität eines weitgehend von Migration verursachten und noch stark da- von geprägten Zusammenlebens in Deutschland der Umstand, dass erst jetzt auch gesellschaftlich relevante Besonderheiten und Unterschiede deutlich werden, die „Fremdheit“ hervorrufen. Das gilt für alle Beteiligten. Auch noch zur Normalität mag es zählen, dass bestehende Unterschiede gegenüber vielerlei menschlichen Gemeinsamkeiten eher überbetont werden – Selbstdefinition gelingt ja meist am einfachsten durch Abgrenzung. Problematisch ist die Debatte über das Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland vor allem in der Folge der Attentate vom 11.9.2001 und den späteren in Madrid, London und andernorts geworden. Seither hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung europäischer Staaten eine abstrakte Angst vor „dem Islam“ entwickelt, einhergehend mit einer breiten medialen Aufmerksamkeit, in welcher schlechte Nachrichten die Tagesordnung bestimmen. Korrespondierend hierzu finden sich unter Muslimen verbreitete Vorurteile gegenüber einer angeblich moralisch orientierungslos gewordenen westlichen Gesellschaft, für 17 Religion und Migration: Signale der Veränderung die nur noch materielle Werte zählten, und eine ebenso verbreitete Opferhaltung mit pauschaler Verurteilung westlicher Politik und geringer Bereitschaft zu selbstkritischer Reflexion. Dennoch darf nicht übersehen werden, wie viel nicht von Problemen beherrschtes Miteinander oder doch freundlichdistanziertes Nebeneinander bereits Alltag geworden ist. „NichtProbleme“ – also doch: ein guter Umgang miteinander – sind die Regel und nicht die Ausnahme. Nur wer den Blick vor solcher Normalität nicht verschließt, wird in der Lage sein, die möglicherweise bestehenden Spannungen auf gesellschaftlicher wie auf rechtlicher Ebene in einer Weise anzugehen, welche den Beteiligten gerecht wird. Wo Probleme tatsächlich bestehen, sind sie vor allem in spezifischen Migrationsfragen wie mangelnder Sprachbeherrschung und entsprechenden Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung und Arbeit, aber auch in korrespondierenden Diskriminierungen zu suchen. Dies alles kann sachlich beschrieben und mit passgenauen Lösungen angegangen werden, und das geschieht auch seit Jahren in erheblichem Umfang und mit einigem Erfolg. Deshalb erstaunt der faktenarme Alarmismus kleinstbürgerlicher Angstphantasien, wie er in dem wissenschaftlich in den wenigen „neuen“ Teilen weitgehend unseriösen Werk 18 eines Erfolgsautors unserer Tage zelebriert wird (Sarrazin: „Deutschland schafft sich ab“, Berlin 2010). Nur beispielhaft sei darauf hingewiesen, dass der Autor in abenteuerlicher Weise mit Zahlenangaben zu Muslimen in Deutschland jongliert und die Angst vor der (angeblich) großen Zahl mobilisiert. Die bislang verlässlichsten Angaben aus der Publikation im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, 57 ff. ignoriert er souverän. Stattdessen unternimmt er höchst angreifbare Rechenübungen auf Grundlage des für Religionsfragen sehr unpräzisen Mikrozensus von 2007, aus dem er eine Zahl von 4,0 auf 5,7 Millionen hochrechnet (S. 261). Auf wundersame Weise („sehr hohe Kinderzahl“) erhöht sich diese Zahl dann durch Umblättern auf S. 262 auf 6–7 Millionen – weit entfernt von den 3,8 bis 4,3 Millionen, die in der erstgenannten Studie belegt sind. Falls der Autor als Berliner Finanzsenator in vergleichbarer Weise mit Zahlen umgegangen sein sollte, erklärt sich die desolate Berliner Finanzlage unschwer. In der Aufregung unserer Tage ist es nicht immer leicht, die Sachanalyse in den Vordergrund zu stellen. Symptomatisch sind einige Reaktionen auf die im Grunde selbstverständliche und begrüßenswerte Feststellung des Bundespräsidenten Christian Wulff, wonach auch der Islam mittler- Prof. Dr. Mathias Rohe weile zu Deutschland gehört. Alles andere wäre ein Schlag in das Gesicht der übergroßen Mehrheit von Musliminnen und Muslimen, die sich längst und zu Recht als Teil der deutschen Gesellschaft sehen. Den Fragen sozialer und wirtschaftlicher Integration kann hier nicht weiter nachgegangen werden, auch wenn sie für das Zusammenleben wohl weitgehend die prägenden Umstände darstellen. Vielmehr werde ich mich nun den rechtlichen Fragen zuwenden, die mit der Präsenz von Muslimen in Deutschland und nicht zuletzt in Großstädten wie Frankfurt verbunden sind. Kann es aus der Sicht einer säkularen Rechtsordnung „fremde“ Religionen geben, die anderen rechtlichen Maßstäben unterliegen könnten als die Mehrheitsreligion? Hiervon ist zunächst der kulturelle Aspekt der Religion abzuschichten: Dass beispielsweise dem Christentum im Geschichtsunterricht vergleichsweise breiter Raum gegeben wird, reflektiert schlicht die historischen Fakten. Anders verhält es sich im Hinblick auf den Geltungsanspruch als Religion. Deutschland kennt aus guten Gründen kein Staatskirchensystem. Der Anspruch einer säkularen Rechtsordnung wird nur dann eingelöst, wenn alle Religionen gleich behandelt werden, wie es der deutschen Verfassungslage entspricht. Das gilt auch für den Islam. Umfang und Grenzen rechtlichen Wirksamwerdens religiöser Überzeugungen 1. Rechtliche Grundlagen Jede geltende Rechtsordnung beansprucht einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang in ihrem Zuständigkeitsbereich und bestimmt autonom darüber, ob und in welchem Umfang „fremde“ Normen Anwendung finden können. Auf der Ebene des Geltungsanspruchs herrscht kein Normenpluralismus im Sinne rechtlicher Multikulturalität.Vielmehr entscheidet alleine die territorial geltende und mit staatlichen Mitteln durchgesetzte Rechtsordnung darüber, inwieweit sie im Einzelfall Normenvielfalt zulässt. Wer also eine Parallel- oder Gegenrechtsordnung einrichten wollte, würde mit den Worten von Heiner Bielefeldt ein verfassungsfeindliches Projekt verfolgen, das der säkulare Rechtsstaat nicht dulden kann. Die Rechtsordnung eines demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsstaats muss stabile und im Kern unveränderliche Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander bereithalten und diese nötigenfalls auch mit staatlichen Sanktionen durchsetzen. 19 Religion und Migration: Signale der Veränderung Andererseits kann sie als Freiheitsordnung nicht dazu dienen, ohne weiteres alles zu verbieten, was einzelnen oder vielen nicht gefällt, was sie moralisch oder gesellschaftspolitisch ablehnen und was deshalb einem gesellschaftlichen Diskurs unterzogen werden sollte. Zudem ist immer zu beachten, inwieweit die „außerrechtliche“ – z.B. religiöse – Begründung von Normen sich gegen das geltende Recht stellt oder aber sich innerhalb dieses bestehenden Rechtskontexts positioniert, also gerade keinen Gegensatz dazu bildet. Das gilt auch für weite Teile islamischer Normen. Zunächst sind religiöse und rechtliche Normen systematisch zu trennen; die Überlegungen zur Anwendung und ihrer Begrenzung lassen sich indes auf gemeinsame Grundgedanken zurückführen. Die Anwendung religiöser Normen – z.B. Gebets- oder Fastenvorschriften – genießt den Schutz der Religionsfreiheit, welche auch die aktive, in der Öffentlichkeit sichtbare religiöse Betätigung einschließt. Dasselbe gilt für die im Grundsatz völlig normale Errichtung einer religiösen Infrastruktur (Moscheebau etc.). Aus solcher Sicht sind auch Normen aus anderen als den seit langem etablierten jüdisch-christlichen und a(nti)religiösen Normenkomplexen nicht „fremd“, sondern genießen gleichberechtigten Schutz durch die Verfassung. In abgeschwächter Form 20 gilt solcher Schutz auch in privaten Rechtsbeziehungen, z.B. im Arbeitsrecht. Begrenzt wird diese Freiheit durch andere kollidierende Grundrechte einschließlich des in Art. 1 GG verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes der Menschenwürde. Hier besteht ein mögliches Konfliktpotential zwischen (manchen) muslimischen Vorstellungen insbesondere im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis und den Umgang mit Nicht-Muslimen einschließlich des Abfalls vom Islam. Auch das Verhältnis zur demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung kann im Einzelfall klärungsbedürftig werden. Eine Anwendung fremder rechtlicher Normen – auch solcher mit religiöser Selbstlegitimation – kommt nach deutschem Recht in zwei Erscheinungsformen in Betracht. Zum einen findet im Rahmen des Internationalen Privatrechts (IPR), also aufgrund eines im deutschen Recht verankerten Rechtsanwendungsbefehls, eine echte „Fremdrechtsanwendung“ statt. Zum anderen können solche Normen im Rahmen der Anwendung deutschen Bürgerlichen Sachrechts erfolgen, soweit dieses inhaltliche Gestaltungsfreiheit eröffnet (sog. „dispositives Sachrecht“). Grenzen für die direkte Anwendung fremder Normen im Rahmen des IPR als auch für die „indirekte“ Anwendung durch Privatrechtsgestaltung im Rahmen des deutschen Sachrechts zieht Prof. Dr. Mathias Rohe der sog. „ordre public“, welcher der Wahrung fundamentaler inländischer Rechtsüberzeugungen gegen jede sie angreifende Normenanwendung dient. Generell gilt sowohl für Reichweite und Grenzen der Religionsfreiheit als auch der Anwendung fremden Rechts, dass umso mehr einheitliche Rechtsanwendung auch in Sachnormen notwendig wird, je mehr das öffentliche Interesse bzw. das Interesse Dritter tangiert wird und je weniger gewichtig das individuelle Anliegen zu bewerten ist, welches auf einer religiösen oder anderen Sondernorm beruht. Umgekehrt kommt individuellen, auf solchen Sondernormen beruhenden Anliegen umso größeres Gewicht zu, je gewichtiger sie sind und je weniger öffentliche Interessen oder solche Dritter davon betroffen werden. Eine äußere Grenze der Anwendung fremder Normen auch bei hoher individueller Dringlichkeit wird durch den ordre public im weiteren Sinne gezogen. Die Grenzziehung erfolgt durch den Gesetzgeber nach Maßgabe einer Abwägung zwischen dem Interesse an Einheitlichkeit der Rechtsanwendung/Sicherung allgemeinen Rechtsfriedens einerseits und dem Interesse an privatautonomer Freiheit und Vielfalt. Diese Grenzziehung muss und wird in einem rechtsstaatlichen, den Menschenrechten verpflichteten Gemein- wesen im Kernbereich statisch bleiben. An den Rändern, also bei weniger gewichtigen Anliegen, mögen außerrechtliche Erwägungen und Vorverständnisse im Laufe der Zeiten zu unterschiedlichen Akzentsetzungen gelangen. Ein Beispiel hierfür kann die in den vergangenen fünfzehn Jahren geführte Debatte um die Befreiung von Schülerinnen und Schülern von Teilen des Schulunterrichts aus religiösen Gründen sein, oder auch das zweifellos zulässige Verbot einer Gesichtsverhüllung (sog. Niqab oder Burka), dort – und nur dort – wo Sicherheitsbelange oder Kommunikationsbedürfnisse dies erfordern. 2. Umsetzung Zunächst ist zu beachten, dass es „den Islam“ als empirische Erscheinung sowenig gibt wie „das Christentum“. Unter Muslimen finden sich alle Schattierungen unterschiedlicher religiöser Prägung, Sunniten, Schiiten, Aleviten und Ahmadis, Fromme und weniger Fromme, Schriftgläubige, eher mystisch Orientierte oder einem starken Volksglauben Verhaftete, Menschen unterschiedlichster Bildungsniveaus, kultureller Prägungen und individueller Überzeugungen. Dieser Vielfalt steht ein gelegentlich eher einförmiges Bild in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland gegenüber, das im Wesentlichen den eher traditionell ausgerichteten sunnitischen 21 Religion und Migration: Signale der Veränderung Islam vieler türkischer oder arabischstämmiger Zuwanderer im Blick hat. Die säkulare Ausrichtung vieler Muslime, gerade solcher iranischer und türkischer Herkunft oder vom Balkan und insbesondere die der Aleviten, wird vielleicht gerade wegen ihrer Unauffälligkeit im normalen täglichen Leben oft übersehen. Zudem werden Muslime zusehends nur noch aus dem religiösen Blickwinkel wahrgenommen, obgleich auch sie sich wie alle anderen Menschen von unterschiedlichsten Erfahrungen und Überzeugungen leiten lassen. Dialog und Kooperation setzen einen vorurteilsfreien Blick auf die konkret Beteiligten voraus. Gerade in dieser Hinsicht hat die kommunale Ebene große Vorteile und Zugangsmöglichkeiten: menschliches Zusammenleben ist in aller Regel eine lokale, auf persönlicher Kenntnis beruhende Angelegenheit. Kooperationsprojekte setzen Kenntnisse von typischerweise zu erwartenden Vorverständnissen und Interessen des Kooperationspartners voraus. Hier ist nochmals zu betonen, dass Religion – die ihrerseits sehr unterschiedliche Ausprägungen hat – in wichtigen Fragen eine eher untergeordnete Rolle spielt. Hier sind insbesondere allgemeine kulturelle Rahmenbedingungen zu nennen, die aus den Herkunftsländern mitgenommen wurden. 22 Sehr verbreitet ist beispielsweise das Phänomen, dass Vertrauen und Loyalität nicht gegenüber Ämtern und Institutionen besteht, sondern nur gegenüber konkreten Personen, und dass dieses Vertrauen nur in längerem kontinuierlichem Kontakt aufgebaut werden kann. Häufige und womöglich noch unvorbereitete Personalwechsel auf Staatsseite wirken kontraproduktiv. Gerade in schwierigen Situationen – z.B. den Tagen nach dem 11.9.2001 – konnte dort besonders gut eine entspannte Atmosphäre geschaffen werden, wo Sicherheitsbehörden und andere staatliche Stellen, gesellschaftliche Gruppen, muslimische Organisationen und Einzelpersonen einander kannten und wussten, wen man zu kontaktieren hat, um etwa öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zu entwickeln oder Sicherheitsmaßnahmen ohne Aufregung durchzuführen. Im Hinblick auf den Migrationshintergrund ist mit besonderen „Aufsteigerinteressen“ zu rechnen, die bei entsprechender Eignung und Befähigung sehr positiv wirken können. „Vermittler“ können aufgrund ihrer Kenntnis von Sprache und Sitten Zugänge gewinnen, die auch gutwilligen Alteingesessenen verschlossen bleiben. Andererseits ist sicherzustellen, dass der Einsatz solcher Mittler in einem klaren institutionellen Rahmen mit ebenso klarer Aufgabenstellung erfolgt, welche die Verfolgung Prof. Dr. Mathias Rohe persönlicher Interessen bei der Arbeit ausschließt. Zu den Bedingungen für gelingende Kooperation zählen schließlich auch Kenntnisse über unterschiedliche Kommunikationsstile. Orientalische Kommunikation ist indirekt, meidet offene sachliche Kritik zur „Gesichtswahrung“ und kann auf Europäer und insbesondere auf Deutsche, die sich an z.T. drastisch direkte Konfrontation in der Sache gewöhnt haben, unaufrichtig wirken. Andererseits wird eben diese Direktheit vielfach als verletzend empfunden. Zudem zeichnen sich Menschen orientalischer Prägung häufig durch eine recht offene Herzlichkeit im zwischenmenschlichen Umgang aus, solange die vertrauten Formen (insbesondere im Geschlechterverhältnis) gewahrt bleiben. Ablehnung führt zu Verletzungen. Die mittlerweile z.B. unter manchen jungen Türken oder Albanern herausgebildete, teils betont aggressive Jugendkultur findet hier eine (nicht die einzige) Ursache. Minderwertigkeitsgefühle, Machobewusstsein und übersteigerter Nationalismus gehen dabei ineinander über. Muslime sollten ihrerseits in Rechnung stellen, dass auf staatlicher Seite bestimmte Interessen und Rahmenbedingungen bestehen, die entweder unverzichtbar sind oder doch nur langsam geändert werden können. Insbesondere im Sicherheitsbereich dürfte ein Präventi- onsdenken unvermeidbar sein, das dazu führen kann, dass eine übersehene Gefahrensituation negativer bewertet wird als die Gefahr unzutreffenden Verdachts. Hier dürfte es oft schon helfen, die damit verbundenen Anliegen transparent zu machen und erforderliche Sicherheitsmaßnahmen mit der jeweils größtmöglichen Sensibilität auszuführen. Die Notwendigkeit, einem Anfangsverdacht nachzugehen bzw. einen Gefahrerforschungseingriff vorzunehmen ist auch den meisten Muslimen unschwer verständlich zu machen. Vertrauen kann dann gestärkt werden, wenn nach Abschluss entsprechender Ermittlungen dann, wenn kein Verdacht zurückbleibt, dies auch den Betroffenen deutlich und im Falle von Medienwirksamkeit auch angemessen publik gemacht wird. Im Umgang mit den Bürgern wird das Handeln staatlicher Stellen von dem weitestgehend zutreffenden Vorverständnis einer Kooperation zwischen Bürger und Staat in einem positiv aufeinander bezogenen Verhältnis geprägt, bei aller Kritik in Einzelheiten. Strukturelles Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen (vielleicht von der Finanzverwaltung abgesehen) dürfte eher selten sein. Bei Migranten nicht zuletzt aus vielen Regionen am Rande oder außerhalb Europas verhält es sich anders: Sie haben den jeweiligen Herkunftsstaat als korrupte Maschinerie der 23 Religion und Migration: Signale der Veränderung Unterdrückung erlebt, zu der man – einschließlich ihrer Repräsentanten – aus guten Gründen möglichste Distanz hält. Hierzulande übertrieben wirkende Angstreaktionen lassen sich teilweise hieraus erklären. Integrationsförderlich wird dann schlichte Aufklärung über Struktur und Wirkungsweise rechtsstaatlicher Institutionen wirken. Beispielsweise gibt es erfolgversprechende erste Projekte auch hier in Frankfurt, Imame als gerade in der Diaspora besonders wichtige Ansprechpartner entsprechend zu schulen. Unter Muslimen mit Migrationshintergrund wird man häufig mit besonderen Loyalitäten innerhalb von Großfamilien und gegenüber Menschen aus der gleichen Herkunftsregion rechnen müssen. Auch die Mitwirkung in Organisationen ist hiervon gelegentlich stärker geprägt als von inhaltlichen Ausrichtungen. Besondere Sympathie für Schicksale anderer Migranten und ihrer Angehörigen ist verbreitet. Dies kann dazu führen, dass die Kooperation mit staatlichen Stellen in Zweifelsfragen erschwert wird, wenn bei Weitergabe von Informationen die Befürchtung vorhanden ist, dass darunter auch nicht verantwortliche Angehörige des Betreffenden zu leiden hätten, etwa aufgrund ausländerrechtlicher Konsequenzen. Der Migrationshintergrund kann schließlich auch zu einem stark kulturell geprägten Religionsverständnis führen, das wohl erst in ein bis zwei Generationen 24 einem von deutschen Muslimen und Muslimen in Deutschland geprägten Verständnis breitflächig abgelöst werden wird. Es wäre deshalb verfehlt, die bestehenden Ausprägungen muslimischer Religiosität als für den Islam wesensmäßig und unveränderlich anzusehen. Besonders heikel kann sich das Problem des Antisemitismus unter manchen Muslimen auswirken. Es wäre realitätsfremd, dieses Phänomen mit dem Satz abzutun, dass (arabische) Muslime als Semiten nicht antisemitisch sein könnten. Im Umgang mit Äußerungen wird sorgfältig danach zu unterscheiden sein, ob es etwa um im Rahmen des geltenden Rechts zulässige Kritik an Maßnahmen israelischer Institutionen zu Lasten von Palästinensern und anderen geht, mit denen Muslime möglicherweise eine besonders enge innere Verbindung empfinden – so wie sich Christen besonders für die Lage ihrer Glaubensgeschwister in der islamischen Welt interessieren (sollten) – oder ob nicht hinzunehmende anti-jüdische Ressentiments gepflegt werden, bis hin zu offener Gewalt gegen Juden. Zugewanderte Muslime müssen erkennen, dass angesichts des Holocaust die Rahmenbedingungen für derartige Debatten andere sind als in vielen anderen Staaten. Andererseits ist darauf zu achten, dass die rechtlichen Grenzen zulässiger Äußerungen deutlich ge- Prof. Dr. Mathias Rohe macht und auch unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit respektiert werden. Dies ist schon deshalb bedeutsam, weil islamischer Extremismus einen Teil seines Rekrutierungspotentials auf Grundlage anti-jüdischer Ressentiments und Verschwörungstheorienbezieht.Besonders hilfreich für die Gegensteuerung mögen Projekte unter Einbeziehung jüdischer Organisationen oder Einzelpersonen sein. Gerade orthodoxes Judentum und traditioneller Islam haben ja z.B. in religionspraktischen Fragen einige gemeinsame Anknüpfungspunkte und Interessen. So sollte man sich auch davor hüten, die Abneigung gegen den Antisemitismus alleine auf Muslime zu projizieren: Der Skandal, dass jüdische Einrichtungen in diesem Land immer noch besonderer Sicherungsmaßnahmen bedürfen, ist ja erheblich älter als die Zuwanderung von Muslimen. Schluss Zusammenleben vollzieht sich lokal, es gelingt oder scheitert also auch lokal. Die „Großwetterlage“ kann durch Initiativen wie die Deutsche Islam Konferenz beeinflusst werden, letztlich geht es aber um konkrete Menschen in konkreten Lebenszusammenhängen meist lokalen Zuschnitts. Die These vom „clash of civilizations“ ist schlichter Unfug. Zu tun haben wir es – über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg – mit einem „clash of minds“. Nur mit dieser Erkenntnis wird es gelingen, die Unterstützer gemeinsamer Werte zusammenzubringen und damit Integration zu befördern und zugleich reale Gefahren für den nötigen gesellschaftlichen Zusammenhalt abzuwehren. Hier sind unter anderem noch einige Bildungsdefizite (Grundlagen des religionsoffenen säkularen Rechtsstaats) sowohl im Hinblick auf Muslime als auch im Hinblick auf die „Mehrheitsgesellschaft“ (Stichwort Religionsfreiheit und Moscheebau) aufzuarbeiten. Ideologisierte Krisengewinnler auf allen Seiten dürfen nicht das letzte Wort behalten. Im Hinblick auf Sicherheitsfragen gilt: Angesichts eines zahlenmäßig marginalen, aber erwiesenermaßen gefährlichen religiös begründeten Extremismus unter Muslimen und einem nicht restlos geklärten Umfeld muss es ein Anliegen der gesamten Gesellschaft sein, Sicherheitsfragen realistisch zu erörtern und zu lösen. Andererseits muss die notwendige Integration scheitern, wenn die übergroße Mehrheit friedliebender und verständigungsbereiter Muslime unter Sicherheitsaspekten gesehen wird. Staat und Muslime sind gleichermaßen aufgerufen, aufeinander zuzugehen und auf gesicherter inhaltlicher Grundlage im Rahmen unseres freiheitlichen Gemeinwesens auszuloten, wo Kooperation sinnvoll oder schlicht notwendig ist. 25 Religion und Migration: Signale der Veränderung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine angemessene Abwägung zwischen Religionsfreiheit einerseits und Schutz Dritter sowie der Grundlagen der demokratischen rechtstaatlichen Ordnung andererseits in Deutschland günstig sind. Weder „laissez faire“ noch übergroße Uniformität und Religionsferne gibt die Rahmenbedingungen ab, sondern eine religionsoffene säkulare Verfassung. Die Verfassungsordnung des demokratischen Rechtsstaats wird indes auf Dauer nur Bestand haben, wenn sie von wichtigen Teilen der Bevölkerung auch aus innerer Überzeugung mitgetragen wird. Im Hinblick auf religiöse Minderheiten ergibt sich daraus die besondere Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, der auch real erfahrbar sein muss. Etwas anderes gilt nur dort, wo beispielsweise Mindestzahlen aus Zumutbarkeitsgründen erforderlich sind (Schulunterricht, Militärseelsorge), oder wo sich ursprüngliche Privilegien mit anderen, die Allgemeinheit betreffenden Erwägungen auf eben diese Allgemeinheit erstrecken lassen (z.B. Feiertagsregelungen). Zu beachten ist die in der Verfassung selbst angelegte Dynamik, die es alleine ermöglicht, in verlässlicher Weise auf geänderte Tatsachen zu reagieren, ohne die Grundlagen der bestehenden Ordnung anzutasten. 26 Zwischen der inländischen Situation und Entwicklungen weltweit muss unterschieden werden. Das Retorsionsargument – etwa Aufrechnung von Moschee-Bauten gegen Kirchen im Orient – mag zwar psychologisch naheliegen, kann jedoch keinesfalls einen rechtlichen Maßstab abgeben. Dies ist zum einen deshalb zurückzuweisen, weil demokratische Rechtsstaaten sich nicht die Maßstäbe von Diktaturen zu Eigen machen dürfen. Zum anderen wäre es verfehlt, die hier lebenden Muslime auf solche Weise in Sippenhaft zu nehmen und damit zwangsweise in eine künstliche, monistische muslimische Gesamtidentität zu treiben. Ebenso ist wissenschaftlich nicht seriös belegten Behauptungen entgegenzutreten, im Islam gebe es eine Theorie der „taqiya“ im Sinne einer generellen Erlaubnis zur Unaufrichtigkeit gegenüber Andersgläubigem zum Nutzen der eigenen Religion. Nachweisbar gibt es eine solche Theorie vor allem im schiitischen Islam, allerdings mit völlig anderem Inhalt, nämlich der Befugnis, die eigene spezifische religiöse Ausrichtung bei Lebensgefahr verbergen zu dürfen. Auch äußern sich einzelne Muslime , auch Vertreter von Organisationen in hohem Maße intransparent – man könnte gelegentlich auch von schlichten Lügen sprechen. Dies gibt allen Anlass zum Misstrauen gegenüber den Betref- Prof. Dr. Mathias Rohe fenden, darf aber nicht grundlos verallgemeinert werden. Auf dem Feld plumper Islam-Feindschaft tummelt sich eine merkwürdige Koalition rechtspopulistischer bis rechtsradikaler Initiativen und unseriöser Autoren, angereichert um sich christlich gebende Splittergrüppchen und einzelne gewendete Alt-Linke und ideologisierte Feministinnen. Gewisse religiöse Riten etwa bei Speise- oder Kleidungsvorschriften, wie sie manche Muslime, aber auch Juden pflegen, mögen auf andere befremdlich wirken und müssen sich selbstverständlich auch der Kritik im gesellschaftlichen Diskurs stellen. Es wäre aber verantwortungslos, sie schlechthin aus einem zivilisatorischen Standard hinauszudefinieren, und nachgerade menschenrechtsfeindlich, ihre Ausübung einer Mehrheitsentscheidung unterwerfen zu wollen. Die verbreiteten Ängste vor der Präsenz des Islam in Deutschland finden teilweise ihre Ursache auch in einer pessimistischen Einschätzung der Kraft des Christentums. Seine Musealisierung mit Hilfe rechtlicher Privilegien ist aber weder rechtlich zulässig noch aus christlicher Sicht selbst zu wünschen. Auch das Überleben des Christentums hängt davon ab, eine hinreichende Zahl von Menschen von seiner Richtigkeit stets neu zu überzeugen. Für westliche Gesellschaften ist die sichtbare Präsenz von Muslimen offenbar auch Anlass für eine neue Positionsbestimmung: Welche gemeinsamen „Normen und Werte“ halten uns im Innersten zusammen? Kann, ja muss Religionsverschiedenheit zu Inkompatibilität führen? Wie positionieren sich Musliminnen und Muslime selbst in ihrer eigenen Religion und in der Gesellschaft? Weder Angstnoch Beschwichtigungsdebatten führen hier weiter. Profilbildung mag darüber hinaus auch die schlichte Begegnung mit „dem anderen“ erzeugen: Im Spiegel des anderen kann auch das eigene Bild deutlicher werden. Bei alledem ist zu beachten, dass Religionszugehörigkeit auch bei Muslimen nur einen Teil ihrer Identität ausmacht. Abgesehen vom Religionsunterricht dürften religiöse Fragestellungen im wichtigen Bereich von Bildung und Arbeit nur eine geringe Rolle spielen. Ähnliches gilt für Fragen alltäglichen Zusammenlebens. Positiv oder auch negativ können religiöse Überzeugungen aber dort wirken, wo es um die Selbstpositionierung gegenüber den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens, dem säkularen demokratischen Rechtsstaat geht. Hieran zeigt sich, dass eine Verengung auf religiöse Problemstellungen ebenso unangebracht wäre wie deren Ausblendung. 27 Religion und Migration: Signale der Veränderung Weniger bloßes Nebeneinander und mehr Miteinander mag aber dann entstehen, wenn „wechselnde Identitäten“ je nach Lebensbereich den Blick auf das Individuum lenken, das in der einen Frage zum Mitstreiter werden und in der anderen Frage ablehnend reagieren kann. Je weniger Bevölkerungsgruppen homogene, abgrenzende Identitäten entwickeln, desto geringer dürfte die Bereitschaft ausfallen, in schwierigen Zeiten übereinander herzufallen, wie wir es in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und anderen Teilen der Welt sattsam erlebt haben. So sehr es zur westlichen Normalität gehört oder gehören sollte, dass Religionsgruppen sich eine Infrastruktur geben, die Handlungsfähigkeit innerhalb der Gruppe und in der Gesamtgesellschaft erzeugt, so sehr ist es wünschenswert, dass im Hinblick auf gesamtgesellschaftlich bedeutsame Entwicklungen gemeinsame Initiativen ergriffen werden, die nicht an den vermeintlichen Religionsgrenzen Halt machen. Das Potential hierfür ist vorhanden. Abschließend sei festgehalten, dass muslimische Präsenz in westlichen Staaten und Gesellschaften auch eine Fülle von Chancen mit sich bringt: Muslime können anders als in weiten Teilen der sogenannten islamischen Welt frei über ihren Glauben debattieren, auch Konzepte eines freiheitlichen Islam im Rahmen demokratischer 28 rechtsstaatlicher Ordnung entwickeln und sein positives Potential in die gesellschaftliche Entwicklung einbringen. Europäische Staaten werden neu ausloten müssen, wie Religionsfreiheit gleichberechtigt mit anderen Religionen und Weltanschauungen auch für Muslime durchgesetzt werden kann. Die einschlägigen Regelungen unterscheiden zwar grundsätzlich nicht zwischen den Religionen; sie weisen jedoch eine spezifische, an der Struktur christlicher Institutionen orientierte Ausprägung auf. Für die Rechtsordnung ist deshalb ein Wandel vom „Staatskirchenrecht“ zum „Religionsverfassungrecht“ unabdingbar. Der demokratische Rechtsstaat kann seine Überzeugungskraft auf Dauer nur aus einer gelebten Praxis gewinnen. Weiterführende Literatur des Verfassers: Rohe, Mathias, Islamisches Recht: Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. München 2011 Rohe, Mathias, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, 2. Aufl. Freiburg/Br. 2001 Weiterführende Hinweise finden sich auf der Website des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa EZIRE (www.ezire.unierlangen.de) und des Lehrstuhls des Verfassers (www.zr2.jura.unierlangen.de) Dr. Brigitta Sassin Dr. Brigitta Sassin Interreligiöse Vernetzung als Voraussetzung für die Frankfurter Imamefortbildung. Bemerkungen zur katholischen Mitarbeit* Im Juni 2010 ist die erste Frankfurter Imamefortbildung zu Ende gegangen, ein in vieler Hinsicht beachtenswertes Projekt, für das der Stadt Frankfurt als Träger und vor allem dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten viel Lob gebührt. Mit der Auswertung des Projekts sind die begleitende Rolle der Projektgruppe und die Vorarbeit darzustellen, die die besondere Frankfurter Situation charakterisiert. Anders als in anderen deutschen Städten ging der Impuls zu dieser Fortbildung von einer interreligiösen Dialoggruppe aus, die bereits andere Projekte durchgeführt hatte. dert Prozent Stellenumfang, Dialog mit anderen Religionen und Geschäftsführung des Rates der Religionen, die katholische Kirche eine fünfzig Prozent Referentin für den christlich-islamischen Dialog mit pastoraler Ausrichtung. Auf muslimischer Seite gibt es zwei Männer, einen Schiiten und einen Sunniten, die persönliche Autorität in ihren Gemeinschaften haben. Diese Kerngruppe aus vier Personen hat seit 2005 viele Dialogprojekte initiiert und durchgeführt, von denen einige als Vorbereitungsschritte für die Imamefortbildung im Folgenden skizziert werden. Frankfurt ist eine bunte Stadt, in der die Vielzahl der Religionen nicht zu übersehen ist. Neben den vielen evangelischen, orthodoxen und katholischen Gemeinden gibt es mittlerweile vierzig muslimische Gemeinden. Die christlich-muslimische Dialogarbeit ist in den letzten Jahren intensiviert worden. Die evangelische Seite stellt dafür eine Pfarrerin für den interreligiösen Dialog zur Verfügung mit hun- Seit 2005 führen wir alle zwei Jahre eine Christlich-Islamische Woche der Begegnung durch, die in einem Frankfurter Stadtteil muslimische, evangelische und katholische Gemeinden miteinander in Kontakt bringt. Die Woche der Begegnung wird knapp ein Jahr lang durch monatliche Treffen einer größeren Arbeitsgruppe vorbereitet, zu denen alle Gemeinden einen Delegierten entsenden. * Der vorliegende Text wurde bereits veröffentlicht in: CIBEDO-Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen 4/2010, 194f. 29 Religion und Migration: Signale der Veränderung Damit wächst ein Miteinander im Stadtteil, in dem Arbeitsabläufe und Kommunikationswege neu ausprobiert werden. Bewährt hat sich hierbei die Projektleitung durch die evangelische Pfarrerin für den interreligiösen Dialog. Im Blick auf die muslimischen, evangelischen und katholischen Theologen der Frankfurter Gemeinden entstanden Begegnungen speziell für diese Personengruppe. Erstmals fand im Mai 2008 eine Domführung statt, zu der fünfzig Imame und Moscheevorstände kamen und von katholischen und evangelischen Theologen begleitet wurden. Beim anschließenden festlichen Abendessen wurde deutlich, wie wichtig solche Räume des Kennenlernens sind. Daran schlossen sich zwei weitere Abende an: die Muslime waren Gastgeber für ein gemeinsames Fastenbrechen aller Frankfurter Moscheegemeinden anlässlich des Ramadans im Jahr 2008 und die evangelische Stadtakademie war der Ort für einen Abend der Begegnung zum Thema „Was ist Seelsorge?“ im März 2009. Neben diesen offiziellen Veranstaltungen gab es eine Vielzahl von informellen Begegnungen mit den Imamen, besonders zwei Ausflüge, bei denen deutlich wurde, dass „etwas fehlt“. Ein neu angekommener Imam zeigte Interesse – und es ergab sich im Sommer 2008 eine Stadtführung, kurz dar30 auf ein Ausflug in den Hessenpark im kleinen Kreis von drei Muslimen und zwei Christen. Wie können muslimische Verantwortungsträger, die im Ausland ausgebildet wurden und neu nach Deutschland kommen, für ihren Beruf spezifische Hintergründe Deutschlands lernen, „Ein-Sichten“ sammeln und zu „Brückenbauern“ werden? Im Kontext dieser Frankfurter Dialogerfahrungen bekam die Autorin im Oktober 2007 Kenntnis von der neuen Pariser Imamefortbildung, die seitdem als einjährige akademische Einführung in Staat, Gesellschaft und Geschichte Frankreichs am Institut Catholique durchgeführt wird. Anfang 2009 bildete die Autorin daher eine Projektgruppe, die aus den vier Personen der oben beschriebenen Kerngruppe und einer Vertreterin des Kompetenzzentrums muslimischer Frauen bestand. In mehreren Treffen wurde die Idee einer möglichen Frankfurter Imamefortbildung diskutiert. Informationen über bereits angelaufene Fortbildungen (München, Berlin, Paris) wurden eingeholt, für Frankfurt angepasst und die Frage nach einem möglichen Träger diskutiert. Die langjährige, sehr gute Zusammenarbeit und Vernetzung vieler Aktivitäten zwischen der Kerngruppe und der zuständigen Referentin im Amt für multikulturelle Angelegenheiten legten es nahe, mit der Stadt Frankfurt auch diese Idee zu besprechen. Im Spätsommer Dr. Brigitta Sassin 2009 stellte die Projektgruppe der Amtsleiterin des AmkA das bisher erarbeitete Konzept einer Imamefortbildung vor und bat sie, dass die Stadt Frankfurt die Trägerschaft übernehmen möge. Dieser Bitte wurde positiv entsprochen. Von da an hatte die Stadt die Verantwortung für das gesamte Projekt und die Projektgruppe eine diskrete, dennoch wichtige Rolle im Hintergrund. Bei den beiden Treffen vor Beginn der Fortbildung, sowohl dem ersten Treffen mit einer kleinen Gruppe von Imamen und Vorstandsmitgliedern repräsentativ aus verschiedenen Sprachgruppen und Richtungen als auch dem Informationsabend im Dezember 2009 traten Stadt und Projektgruppe gemeinsam auf, um das Projekt allen Imamen und Moscheevorständen vorzustellen. In dieser Phase vor Beginn der eigentlichen Imamefortbildung hat sich gezeigt, dass die guten Kontakte zum AmkA eine entscheidende Rolle zum Gelingen des Projektes beigetragen haben. Begegnung braucht Beziehung. Das über Jahre gewachsene Vertrauen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Stadt und den Religionen hat den Erfolg der Imamefortbildung in Frankfurt ermöglicht. Die Stadt hat in Zusammenarbeit mit der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung die Verantwortung für die Fortbildung übernommen und Räume des Lernens und der Begegnung mit Ämtern und Institutionen eröffnet. Die Projektgruppe hat begleitet und reflektiert und manchen religiösen Aspekt ergänzt, insbesondere das Modul „Was ist Seelsorge?“ mit dem Besuch einer Synagoge. Was bleibt nach dem Abschluss der Fortbildung? Die Erfahrungen der Imamefortbildung erlauben einen neuen Blick auf andere ethnische und religiöse Multiplikatoren: Was ist mit einem Hindu Pandit, einem orthodoxen Pfarrer aus Eritrea, einem evangelischen Gemeindeleiter aus Korea und einem katholischen Priester aus Lateinamerika? Wo erhalten diese eine Einführung in deutsche Geschichte und Politik, in Strukturen der Beratung und des Rechtssystems, um für ihre Gemeinden Agenten der Vernetzung zu werden, damit ihre Gemeindemitglieder zu mehr Integration begleitet sind? Dies sind spannende Fragen über das Ende der ersten Imamefortbildung hinaus. 31 Religion und Migration: Signale der Veränderung Vera Klinger, Magdalena Modler „Imame für Frankfurt – Würden- und Verantwortungsträger“ Die Frankfurter Imamefortbildung – ein übertragbares Modell für andere Seelsorgerinnen und Seelsorger? Vorlauf und Durchführung der Imamefortbildung Die Frankfurter Imamefortbildung fand von Dezember 2009 bis Juni 2010 statt. Projektträger waren die Stadt Frankfurt am Main, Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung und der „Projektgruppe Imamefortbildung Frankfurt“. Letztere setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der Evangelischen Pfarrstelle für den interreligiösen Dialog, des IIS – Islamische Informations- und Serviceleistungen e.V., der IRH – Islamische Religionsgemeinschaft Hessen, der Katholischen Stadtkirche Frankfurt, Referat Christlich-Islamischer Dialog und des Kompetenzzentrums muslimischer Frauen. Gefördert wurde die Fortbildungsreihe als flankierende Maßnahme der Deutschen Islamkonferenz durch das Bundesministerium des Innern. sich Anfang 2009 eine interreligiöse „Projektgruppe Imamefortbildung“ gebildet die von Anfang an in Kontakt zum AmkA stand. Mitte 2009 wurde die Stadt Frankfurt – das AmkA – offiziell von der Projektgruppe angefragt, eine Fortbildung für die Frankfurter Imame zu konzipieren und durchzuführen. Das AmkA selbst verfügte über langjährig aufgebaute Kontakte mit den Frankfurter Moscheegemeinden, wobei aber bis zu diesem Zeitpunkt immer die Vorstände und weniger die Imame im Fokus standen. Das Amt sah den Bedarf, sagte die Durchführung zu, entwickelte das Curriculum und übernahm die inhaltliche sowie organisatorische Projektleitung und die Antragstellung gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bedingung für die Realisierungsmöglichkeit war aufgrund des zusätzlichen hohen Arbeitsaufkommens die Finanzierung einer projektbezogenen Koordinationsstelle. Durch die langjährige interreligiöse Vernetzung in Frankfurt hatte So wurde – u.a. auf der Grundlage der Vorarbeiten der Projektgrup- 32 Vera Klinger, Magdalena Modler pe und der bereits durchgeführten Maßnahmen in München und Berlin – ein an den Bedingungen in Frankfurt angepasstes Konzept entwickelt. Das Frankfurter Projekt ist durch eine im Vergleich besonders gute Vernetzung der Gemeinden vor allem im interreligiösen Dialog und im Bereich der Jugendarbeit gekennzeichnet. Diese Vernetzung in der Stadtgesellschaft wurde als Nachhaltigkeitskriterium in der Förderung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) besonders hervorgehoben. Folgende Projektziele wurden entwickelt: •Vertiefung von Kenntnissen über Deutschland und Frankfurt als Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. (Die Imame und SeelsorgerInnen entdecken Frankfurt als „ihre Stadt“) •Vermittlung von Kontakten (z.B. Ämter und weitere stadtweit tätige Institutionen), die für eine Beratungsarbeit in den Gemeinden wichtig sind •Unterstützung bei der Aneignung und Erweiterung von Vermittlungs- und Beratungskompetenzen für die Gemeindearbeit •Sensibilisierung für Fragen der außerschulischen Jugendarbeit •Vermittlung von Informationen zur religiösen Struktur Frankfurts und zur Förderung des interreligiösen Dialogs •Beidseitiger Multiplikatoren-Effekt: Über die Fortbildung sollten sowohl die interkulturelle Öffnung auf Seiten der Gemeinden als auch der in das Projekt eingebundenen Institutionen gefördert werden. •Als mittelbarer Effekt (z.B. über Presseberichterstattung) war die Information der Öffentlichkeit über die Rolle von Imamen und die Situation in den Gemeinden angestrebt. Ab Januar 2010 fanden elf Fortbildungs-Module statt, davon neun Ganztags- und zwei Halbtagsangebote – nach Möglichkeit in einer Mischung aus Theorie und Praxis: Vormittags „Theorie“ in Form von Vorträgen und Präsentationen, nachmittags „Praxis“ in Form von Exkursionen und Gesprächsterminen mit Kontaktpartnern und/oder VertreterInnen wichtiger Institutionen. Den Abschluss bildete eine feierliche Abendveranstaltung mit Überreichung der Teilnahmebescheinigungen durch die Dezernentin für Integration. Während der Fortbildung wurde mit Übersetzung (simultan und schriftliche Vorlagen in Türkisch und Arabisch) gearbeitet, da diesbezüglich bei einem Großteil der Teilnehmenden ein Bedarf bestand. Von Anfang an stieß das Weiterbildungsangebot auf große Resonanz. Die Gruppe der Teilnehmenden pendelte sich nach einiger Zeit auf schließlich zwanzig 33 Religion und Migration: Signale der Veränderung Männer und sechs Frauen ein. Von den vierzig bekannten Frankfurter Moscheevereinen, deckte die Fortbildung neunzehn Moscheen ab. Folgende Herkunftsländer waren dadurch vertreten: Albanien, Afghanistan, Ägypten, Bosnien, Marokko, Montenegro, Pakistan und die Türkei. Zudem gibt es Gemeinden mit einem hohen Anteil an deutschen Konvertiten. Die in der Fortbildung behandelten Themenschwerpunkte: – Deutschland als Arbeits- und Lebensmittelpunkt Die Entstehung der Bundesrepublik/das politische und das Rechtssystem/Verhältnis Staat – Kirche/Religion in der säkularen Gesellschaft – Grundgesetz und Menschenrechte Grundgesetz, Menschenrechte, Gleichheit von Mann und Frau, Religions- und Meinungsfreiheit, Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland – Ankommen in Frankfurt Strukturdaten, Strukturen von Politik und Verwaltung, Stadtgeschichte – auch als Geschichte von Migrationsprozessen/strukturelle Entwicklung des Islam in Frankfurt/u.a. christliche-islamische Dialoginitiativen – Bildung und Arbeitsmarkt Bildungssystem, Angebote und Bedeutung der frühen Förderung/Schulsystem und Fragen der Übergänge/Rolle der Eltern 34 im Schul- und Ausbildungssystem/Arbeitsmarktstrukturen und Berufsberatung/Rhein-MainJobcentren/Fragen der Grundsicherung/Deutschkurse – Beratung und Begleitung wichtige Ämter der stadtverwaltung/Beratungsstellen/Formen der Seelsorge/Unterstützung bei Notfällen – Zusammenleben im Stadtteil Stadtteilstrukturen und wichtige Ansprechpartner/Nachbarschaftspflege/Möglichkeiten der Vernetzung und Kooperation – Interreligiöser und interkultureller Dialog Religionen in Frankfurt/interreligiöser Dialog auf Stadt und Stadtteilebene/der Frankfurter Rat der Religionen/Kennenlernen der jüdischen Gemeinde – Synagogenbesuch – Jugendarbeit u.a. die Bedeutung der Pubertät und die Herausforderungen an das soziale Umfeld/Sensibilisierung für die eigene Schlüsselrolle in der Jugendarbeit Aspekte der Auswertung und Perspektiven Neben Auswertungen zu den einzelnen Veranstaltungen wurde mit der Gruppe am Ende eine Gesamtauswertung gemacht. Dabei sind folgende Punkte festzuhalten: • Alle Themen wurden von den Teilnehmenden für wichtig befunden Vera Klinger, Magdalena Modler • Als besonders bereichernd wurden die Einheiten zum politischen System, Grundgesetz, Menschenrechten, Schulsystem sowie den Ausbildungsstrukturen genannt • Der Wunsch nach Unterstützung beim Deutschlernen wurde thematisiert • Insgesamt wünschte man sich für zukünftige Veranstaltungen noch mehr Zeit zum Verstehen und Diskutieren und eher Halbtagesveranstaltungen in größeren Abständen. Das Projektteam hatte während der Veranstaltungsreihe den Eindruck, dass die Curriculumsinhalte den Imamen und SeelsorgerInnen halfen, mit den politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Strukturen in Deutschland vertrauter zu werden. Ihr Repertoire an Basisinformationen und Handlungsoptionen für Beratung und Begleitung wurde merklich erweitert. Insgesamt können Männer und Frauen, die der Gemeinde als seelsorgerische Ansprechpartner gelten, nun die Lebenssituation, die Lebensbedingungen und die Anforderungen der Gemeindemitglieder besser einschätzen und ihre Arbeit verstärkt danach ausrichten. Mehr Wissen über die Strukturen und das Leben in Deutschland können ebenfalls helfen, selbst besser in Deutschland und Frankfurt anzukommen und somit auch der Gemeinde ein „inneres Ankommen“ zu erleichtern und dieses positiv zu begleiten. Nicht zuletzt war die bessere Vernetzung untereinander, speziell unter den Imamen, aber auch mit Vertretern und Vertreterinnen anderer Religionen ein weiterer Schritt hin zu einer tragfähigen, nachhaltigen Zusammenarbeit, mehr Dialoginteresse und einem gelungenen Miteinander im Stadtteil/der Stadtgesellschaft. Als besonders wichtig wurde die Sensibilisierung der Imame wie auch der SeelsorgerInnen für die eigene Rolle und Verantwortung im Feld der Jugendarbeit (Demokratiebildung oder Präventionsarbeit mit Jugendlichen, Entwicklung neuer Formen der Jugendarbeit) empfunden. Aufgrund der Entwicklung in der Gruppe wurde ein Block zum Thema „Entwicklung in der Pubertät“ zusätzlich einbezogen, um diese spezifische Entwicklungsphase für Jugendliche, die „zwischen zwei Kulturen“ sozialisiert werden, zu verdeutlichen. An diesem Thema weiterzuarbeiten ist aus Sicht der Veranstalter sehr wichtig. Es wurde deutlich, dass die Motivation, Deutsch zu lernen, im Laufe der Fortbildung zunahm. Auch der Symbolwert, der mit der Durchführung der Veranstaltungsreihe für die „communities“ verbunden war, darf nicht unterschätzt werden. Die Teilnehmenden äußerten sich sehr positiv über das Angebot und verbanden damit ein Gefühl erhöhter Akzeptanz und Wertschätzung. 35 Religion und Migration: Signale der Veränderung Verschiedene Frankfurter Institutionen und Gruppen beteiligten sich am curricularen Ablauf. Für die ReferentInnen der Behörden oder im Stadtteil vorhandener Gremien wie z.B. die Ortsbeiräte war dies oftmals der erste Kontakt mit muslimischen Vertretern. Die Aufnahme der weiblichen Teilnehmenden und die gemeinsame Arbeit in der Gruppe war für die Männer und Frauen ein anfangs ungewohntes Setting, hat sich aber schnell eingespielt und unseres Erachtens bewährt. Die verstärkte Bemühung um weibliche Teilnehmende ist unbedingt notwendig, da die Kommunikationswege in diesen Teilen der Moscheevereine teilweise anders strukturiert sind (viel stärker über mündliche Verbreitung und Bekanntmachung als über informelle Kanäle). Die Arbeit mit Frauen- und Mädchengruppen ist ein wichtiger Bereich, der für Multiplikatorinnen in die Familienstrukturen hinein sorgen und damit eine nachhaltige Wirkung der Weiterbildung und ihrer Themen innerhalb der Zielgruppe begünstigen kann. Der im Laufe der Fortbildung immer wieder formulierte Wunsch, die Möglichkeit zu haben, sich gesellschaftlich einzubringen, mit zu gestalten und Deutsch zu lernen, ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass von den ReferentInnen dazu ganz konkrete und daher direkt in die Praxis umsetzbare 36 Anregungen gegeben wurden. So wurden eigene Kooperationsund Partizipationsmöglichkeiten angesprochen und dabei vermittelt, dass eben diese den Vereinen Möglichkeiten eröffnen können, sich konstruktiv und selbstbewusst in gesellschaftliche Prozesse einzubringen. „Die Fortbildung hat uns eine weitere Tür in diese Gesellschaft geöffnet“ sagte ein Teilnehmer – diese Botschaft gilt es lebendig zu halten für die bereits Beteiligten, aber ebenso für mögliche Folgeveranstaltungen. Denn: für Seelsorger und Seelsorgerinnen aus Gemeinden anderer Bekenntnisse, die ebenfalls eine Zuwanderungsgeschichte aufweisen, gelten oftmals vergleichbare Ausgangsbedingungen. Rahmung einer Fortbildung für Seelsorger und Seelsorgerinnen anderer Bekenntnisse Die Ausgangsbedingungen für SeelsorgerInnen beispielsweise aus dem christlichen Spektrum oder auch in buddhistischen Gemeinden können ähnlich sein: in vielen Fällen kommen sie aus Ländern mit völlig anderen kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen, verfügen in manchen Fällen über keine klar formalisierte Ausbildung, wissen wenig über das Leben in Deutschland und ebenso wenig über die Bedingungen, unter denen ihre Gemeindemitglie- Vera Klinger, Magdalena Modler der in Deutschland leben. Soweit man sich als Verein organisiert, muss vieles ähnlich wie in den muslimischen Gemeinden ehrenamtlich geleistet werden – oftmals sind SeelsorgerInnen die einzigen Angestellten eines Vereins, der sich vorwiegend aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanziert. Eine weitere Ähnlichkeit ist häufig ein vergleichbar hohes Maß an Einfluss und Autorität, das die SeelsorgerInnen in ihren Gemeinden und bei den Gläubigen genießen. Durch die Eingebundenheit in kirchliche Strukturen oder durch deren Unterstützung können SeelsorgerInnen aus evangelisch/freikirchlichen, katholischen und orthodoxen Gemeinden teilweise zwar auf schnellere strukturelle und praktische Hilfestellungen (Wohnung, Sprachkurs, etc.) gerade in der Anfangsphase zurückgreifen. Jedoch wird trotzdem ein ähnlicher Bedarf für folgende Bereiche von ihnen selbst formuliert: • Vertrauter werden mit gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Strukturen • Erweiterung des Repertoires an Basisinformationen und Handlungsoptionen für Beratung und Begleitung • Fähigkeit zu einer besseren Einschätzung der Lebenssituation, der Lebensbedingungen und -anforderungen der Gemeindemitglieder, bzw. eine verstärkte Ausrichtung der seelsorgerischen Arbeit danach •Das eigene Ankommen im deutschen Leben und deutschen Strukturen, um seelsorgerisch adäquat begleiten zu können. Im Rahmen der Abschlussevaluation der Imamefortbildung wurden von den Teilnehmenden folgende Themen formuliert, die für weitere Fortbildungsmodule interessant sein könnten: •Konkrete Vereinsprobleme/ Konfliktmanagement •Pädagogische Fragen •Interkulturelle Kommunikation/ „deutsche Kultur“ •Jugend und Sport •Interreligiöser Dialog in Deutschland •Presselandschaft und Umgang mit den Medien •Deutschkurse •Seelsorge/Kontakt zu SeelsorgerInnen aus anderen Gemeinden Die hier genanntenThemen könnten allesamt ebenfalls für den Alltag, die Weiterbildung und Orientierung von SeelsorgerInnen auch anderer Bekenntnisse von Nutzen und Interesse sein. Fazit Das Projektteam empfiehlt die Sondierung von Möglichkeiten für die Weiterbildung auch nichtmuslimischer SeelsorgerInnen, die Zuwanderergemeinden betreuen. Gerade in Großstädten wie Frank37 Religion und Migration: Signale der Veränderung furt scheint es einen Mangel an Bedarf nicht zu geben: Dies hat auch die Diskussion während der hier dokumentierten Tagung deutlich gemacht. Für ein solches Fortsetzungsprojekt könnte auf Bausteine des bereits erarbeiteten und evaluierten Curriculums zurückgegriffen, manches auch ohne Veränderung übernommen werden. In verschiedenen Unterpunkten wäre es sinnvoll Themen für eine neue Zielgruppe spezifisch anzupassen und erweitert aufzubereiten. Dies wäre eine zukunftsweisende Perspektive, da sich die Imamefortbildung in vielerlei Hinsicht als „Zweibahn-Straße“ erwiesen hat: nicht nur für die Teilnehmenden und die von ihnen betreuten Gemeinden, sondern auch für die ReferentInnen und die beteiligten Institutionen ergab sich ein breites Feld von Lern-, Begegnungs- und Öffnungseffekten. 38 Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene Podiumsgespräch 1 Veränderungen auf der Gemeindeebene In dieser Podiumsdiskussion wollten wir der Frage nach der Pluralität innerhalb der Religionen nachgehen und zwar nicht, wie es derzeit vorwiegend geschieht, innerhalb des Islam, sondern innerhalb des Christentums, als der bei uns etablierten kulturbildenden Religion. Auch hier gibt es Pluralitäten, die in unsere Kultur und Geschichte eingegangen sind, die uns aber oft gar nicht mehr bewusst sind. Es gibt den Katholizismus, den Protestantismus, die Christen in ihren muttersprachlichen Gemeinden, ob portugiesisch oder afrikanisch und es gibt die Orthodoxie mit ihren jeweils nationalen Ausprägungen, ob russisch, rumänisch oder griechisch. Die Fragen, die sich dabei stellen, betreffen die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, wie sie sich in den letzten Jahren in den verschiedenen Gemeinden in Frankfurt entwickelt haben. Wo sind die Schnittmengen, in denen sich die Religion und die Kultur in den Gemeinden näher kommen können und wo sind die Grenzen, in denen die Gemeinden für sich selbst bestehen bleiben wollen? Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer: Dietmar Will Pfarrer für Ökumene in Frankfurt/M bei den Dekanaten Mitte-Ost und Süd Brigitta Sassin Referentin für die Katholiken anderer Muttersprache und für Christlich-Islamischen Dialog für das Bistum Limburg in Frankfurt/M Paulo Caldeira Pereira Pastoralreferent der portugiesischsprachigen Gemeinde Frankfurt/M und Wiesbaden Karl Schermuly Pfarrerbeauftragter der Gemeinde St. Lioba auf dem Ben-Gurion-Ring in Frankfurt/M - Bonames Athenagoras Ziliaskopoulos Archimandrit des Ökumenischen Patriarchats, Pfarrer der Kirchengemeinde Prophet Elias in Frankfurt/M (Griechisch-orthodoxe Metropolie von Deutschland), Vorsitzender im Rat der Religionen Moderation: Karin Fuhrmann Hessischer Rundfunk 39 Religion und Migration: Signale der Veränderung Herr Caldeira Pereira, erzählen Sie uns doch, warum es eine eigene portugiesischsprachige Gemeinde gibt und Sie ihren portugiesischsprachigen Gottesdienst in einer befreundeten Kirche abhalten? Paulo Caldeira Pereira: Weil mein Glaube und meine Identität, meine Gefühle und Wurzeln in der portugiesischsprachigen Gemeinde sind. Wir sind nicht mehr eine traditionell portugiesische Gemeinde, wir sind eine portugiesischsprachige Gemeinde. Was uns verbindet, ist die Sprache. Natürlich ist es auch die Religion und der Glaube, es ist aber vor allem die portugiesische Sprache, über die wir versuchen, auch zu anderen portugiesischsprachigen Gemeinden, wie den Angolanern oder Brasilianern Brücken zu bauen. Ich will das an meinem Beispiel illustrieren. Ich bin 1991 als Aufbaustudent und Gastarbeiter nach Frankfurt gekommen. Als ich mit meinem Studium in Lissabon fertig war, brauchte man hier jemanden, der die portugiesisch-katholische Gemeinde und die Mission betreute. Das heißt, am Anfang war ich selber ein Ausländer und Gastarbeiter. Jetzt bin ich zu fünfzig Prozent Portugiese und der Rest ist ein bisschen offen. Ich kann auf Deutsch, aber auch auf brasilianisch und italienisch träumen und fühlen. Ich spreche Deutsch mit portugiesischem Akzent und 40 vielen Fehlern, aber das gehört zu meiner bikulturellen oder multikulturellen Identität, zu meiner Persönlichkeit. Das sehe ich als eine Bereicherung und hoffe, dass es auch für die Menschen, die ich betreue, eine Bereicherung ist. Die ersten Jahre hier waren schwierig. Sich an die deutsche Sprache und Kultur anzupassen und eine ganz fremde Welt zu erleben, war nicht einfach. Ich hatte aber das Glück, eine große Unterstützung zu bekommen, und wenn ich an meine Geschichte denke, ist das auch die Geschichte meiner Gemeinde. Mitte der sechziger Jahre sind die Gastarbeiter, die Portugiesen, die Italiener, auch die Griechen hierher gekommen und haben gedacht, sie werden nur ein paar Jahre bleiben. Die ersten Jahre waren auch sie hier noch nicht angekommen. Sie gehörten noch zu Portugal, zu Spanien oder zu Griechenland. Inzwischen gehören wir alle zu dieser Gesellschaft. Aber in einer eigenen Gemeinde? Paulo Caldeira Pereira: Ein Drittel meiner Arbeit ist, Menschen zu betreuen, die noch auf dem Weg der Integration sind, ob in der Kirche, oder in der Gesellschaft. Leute, die erst vor zehn, fünfzehn Jahren nach Deutschland gekommen sind. Vor allem die brauchen unsere Begleitung, denn sie kommen in dieser Gesellschaft noch nicht zurecht. Das betrifft auch die zweite und die dritte Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene Generation. Auch wenn diese Jugendlichen bereits hier geboren und aufgewachsen sind und hier in die Schule gehen, wenn man sie fragt, was für ein Landsmann bist du, dann sagen sie: ich bin ein Portugiese. Um diese Identität zu stärken, brauchen wir unsere portugiesischsprachige Gemeinde. Die katholische Lehre sagt zwar, dass wir alle gleich sind, dass jeder Mensch das Ebenbild Gottes ist, egal ob er gläubig ist oder nicht, ob er muslimisch, jüdisch oder evangelisch ist. Diese Universalitätslehre bzw. dieser Einheitsanspruch der katholischen Kirche ist mir aber zu allgemein und geht mir zu weit, denn wir sind doch alle auch sehr verschieden – aber darüber vielleicht später mehr. Wie öffnen Sie sich, Herr Schermuly, als Gemeinde den Nationalitäten oder vielleicht auch den unterschiedlichen christlichen Ausprägungen in der Gemeinde St. Lioba auf dem Ben-Gurion-Ring? Karl Schermuly: Das ist schwierig zu sagen. Ich bin 1989 in die Gemeinde gekommen und wurde gleich gefragt: „Schermuly ist aber nicht unbedingt ein deutscher Name?“ Das war mein Einstieg. Da habe ich gesagt, natürlich ist das kein deutscher Name, der kommt aus dem Französischen. Also väterlicherseits komme ich vor vierhundert Jahren aus Frankreich und mütterlicherseits vor fünfzig Jahren aus dem Sudetenland. Ich bin also auch Immigrant. Das ist zwar schon ein bisschen länger her, aber das gehört auch zu meiner Geschichte. Wenn ich mir heute meine Gemeinde anschaue, dann ist das immer die Frage, wer öffnet sich heute den anderssprachigen Gemeindemitgliedern. Dann habe ich das Gefühl, ich bin einer der wenigen Deutschen, die überhaupt noch in unserer Gemeinde sind. Wenn ich durch die Reihen schaue, dann sind das zu achtzig bis neunzig Prozent Leute, die einen Migrationshintergrund haben, die sich in unserer Gemeinde sonntäglich treffen und miteinander eine Gemeinde sind. So ist das heute, es war nicht immer so. Noch 1989 war St. Lioba eine Gemeinde, die aus dem mittelständischen Bereich kam und man spürte, dass wir zunehmend Migranten auch in solche problematischen Siedlungen bekamen. Ich habe damals gesagt, wenn es irgendwo in der Welt rappelt, dann hören wir es drei, vier Jahre später am BenGurion-Ring. Als es also in Chile problematisch war, kamen die Chilenen, dann kamen die Eritreer, dann gingen die Grenzen zum Ostblock auf und es kamen die Einwanderer aus Osteuropa und die vietnamesischen Boat-People, also in gewisser Weise wurde es auf dem Ben-Gurion-Ring immer mehr ein kirchlicher Melting-Pot, der die Aufgabe hatte, ankommende Leute zu integrieren, oder ich sage es ein bisschen vorsich41 Religion und Migration: Signale der Veränderung tiger, ihnen wieder ein Stückchen Heimat zu bieten. Ich denke, dass es vor allem darum geht, den Menschen, die aus irgendwelchen Gründen irgendwo aus dieser Welt in diese Gemeinde an diesen Ort kommen, ein Stückchen Heimat zu bieten. Dabei spielt das Andocken an Sprache eine sehr wichtige Rolle, dass nämlich Menschen da sind, die die gleiche Sprache sprechen. Das ist ein wichtiger Punkt in der Gemeinde. Aber ich denke, die Tatsache, dass wir alle Katholiken sind und ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Liturgie haben, die sich in irgendeiner Form für alle ganz leicht beten und feiern lässt, das ist ein ganz wichtiger Integrationsfaktor. Eine heilige Messe ist für die Vietnamesen genauso bedeutsam wie für die Chilenen, für die Eritreer genauso wie für die Italiener, denn man kommt irgendwie mit. Wenn ich im Ausland bin, gehe ich ebenfalls gern in einen katholischen Gottesdienst, weil ich weiß, ich komme da mit und ich habe da ein Stück Heimat. Das ist für mich ein wichtiger Punkt, Wege zu finden, dass Menschen an einem Ort an Menschen andocken und dort ein Stückchen Heimat finden können. Hier haben wir also doch eher das Bild „ein Dach für alle“. Frau Sassin, wenn man das jetzt im Blick auf ganz Frankfurt ausweitet, über 42 die portugiesischsprachige Gemeinde und St. Lioba hinaus, wie weit bewegen sich da die muttersprachlichen Gemeinden aufeinander zu und wie weit ist der Gedanke der Integration unter einem Dach, wie Herr Schermuly es geschildert hat, in den anderen Gemeinden präsent? Brigitta Sassin: Wir haben in Frankfurt ungefähr 140.000 Katholiken, davon sind ein Drittel Katholiken anderer Muttersprache, das heißt, Katholiken, die irgendwie eine Migrationsgeschichte oder eine Migrationsidentität haben. 40.000, das ist ein Drittel. Wir haben schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs angefangen, hier im Bistum Limburg für sie Orte des Glaubens zu schaffen, um ihnen Heimat zu geben. Das fing nach dem Zweiten Weltkrieg an mit der ukrainischen Gemeinde, die ein Ort für die ehemaligen Zwangsarbeiter aus der Ukraine wurde, die hier geblieben sind, und ging dann weiter mit der Gründung der Gastarbeitergemeinden, wie der spanischen und der portugiesischen Missionen und weiteren Gemeinden, wie der Kroatischen, die die neuen Migranten aufgenommen haben. Wir haben heute 23 Gemeinden mit Katholiken anderer Muttersprache plus drei weitere Gottesdienstgruppen, die sich neu gebildet, bzw. die sich zusammengeschlossen haben und auf dem Weg zu einer Anerkennung als Gemeinde sind. Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene Diese 23 Gemeinden sind sehr unterschiedlich. Es sind zum Teil sehr große Gemeinden, wie die schon erwähnte portugiesischsprachige oder die kroatische Gemeinde, mit bis zu fünfzehntausend Katholiken, wie bei den Kroaten oder den Polen, und es sind ganz kleine Gemeinden, wie die Vietnamesen, die Tamilen oder die Ukrainer. Es sind Orte, die Heimat bieten, ich würde sogar sagen, Orte der Heilung sind, wo Menschen mit zum Teil traumatischen Erfahrungen in ihrer Biografie da sein dürfen, ohne aufpassen zu müssen, wie sie sprechen, wie sie sich verhalten, einfach da sein dürfen und Kontakte finden. Zu dem, was Herr Schermuly sagte, will ich ergänzen, dass die katholische Vielfalt weit größer ist, als sie im Bewusstsein von uns deutschen Katholiken verankert ist. Wir haben auch unterschiedliche Riten, wir kennen nicht nur die lateinische Messe, die römische Messe, sondern wir haben hier in Frankfurt auch die Maroniten, die arabisch feiern, wir haben den Gheez-Ritus aus Eritrea, Ukrainer mit dem griechisch-katholischen Ritus, die Rumänen, die Syro-Malabaren und die Syro-Malankaren – also eine große Bandbreite an unterschiedlicher Weise im Ritus katholisch zu sein. Teilhabe, Teil werden ist für uns Katholiken eigentlich klar, aber dann doch nicht im Bistum, wenn es um dieses Miteinander in der Frankfurter Stadtkirche geht. Wie können solche Migrantengemeinden und gleichzeitig die Realität der Gemeinden vor Ort, die ja auch multikulturell zusammengesetzt sind, wie kann das funktionieren? Ich begleite auf meiner Stelle seit fünf Jahren die Katholiken anderer Muttersprache und erlebe hier diese große Vielfalt. Auf die Wege, die jetzt vor uns liegen, wo mehr Gespräch, mehr Teilhabe auch in den Strukturen stattfinden wird, bin ich sehr gespannt. Es gibt auch verschiedene orthodoxe Gemeinden in Frankfurt. Herr Ziliaskopoulos, worin liegen die Gemeinsamkeiten und gleichzeitig die Unterschiede innerhalb der Orthodoxie? Athenagoras Ziliaskopoulos: Die Orthodoxe Kirche ist von Natur aus vielfältig, das heißt, sie war nie eine „Großmacht“, wenn ich das so sagen darf. Wir haben keinen Papst, wie die RömischKatholische Kirche, der über der ganzen Kirche steht und das ist auch der Weg, wie die Orthodoxen denken. Wir haben Ehrfurcht vor der Katholischen Kirche und vor ihrer Macht. Da sind in der Vergangenheit tiefe Wunden entstanden. Die Orthodoxe Kirche besteht aus vielen Nationalkirchen oder Lokalkirchen. Es gab und gibt es immer noch, die vier alten Patriarchate Konstantinopel, heute Istanbul, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem. Dann haben sich im Zuge der Bildung von National43 Religion und Migration: Signale der Veränderung staaten neue Patriarchate gegründet, meistens im 19. Jahrhundert nach der Befreiung vom Osmanischen Reich, und so haben wir die neueren Patriarchate, Moskau, Belgrad, Rumänien, Bulgarien und so weiter. Dann gibt es noch die Erzbistümer Zypern und Griechenland, kleine autokephale oder autonome Kirchen, wie in Albanien, Polen, Finnland, Tschechien, in der Slowakei und in Estland. Das Problem war, dass nach den Migrationswellen in die USA, nach Deutschland oder nach Schweden sich anfangs kleine Gemeinden gegründet haben, aus denen dann größere Gemeinden entstanden sind, die national geprägt waren. Sie unterstehen dann den jeweiligen Jurisdiktionen des Herkunftslandes, die sie annahmen. Alle diese nationalen und autokephalen Kirchen, diese Patriarchate und Erzbistümer und so weiter bilden weltweit die eine Orthodoxe Kirche. Diese Kirchen sind aber selbständig und haben ein eigenes Oberhaupt und eine eigene Synode. Wenn es der Fall sein sollte und ein pan-orthodoxes Problem auftaucht, gibt es ein Treffen der Oberhäupter dieser Kirchen. Alle orthodoxen Kirchen, unabhängig davon, wie sehr national sie geprägt sind, haben dieselben Dogmen, dieselbe Struktur, denselben Ritus, dieselbe Liturgie, nur die Sprache ist anders. Aufgrund der Herkunft und der Sprache haben sich auch hier in Deutschland orthodoxe Gemeinden gegründet, 44 die national geprägt sind. Nicht nur der Sprache wegen, sondern auch des Zusammenkommens, auch der kleinen, feinen Unterschiede im Ritus oder in den Gebräuchen und Traditionen und wie auch schon meine Vorredner gesagt haben, weil man mit der Gründung einer Kirchengemeinde auch ein Stück Heimat gewinnen wollte. Immer noch kommen sehr viele Pfarrer, die hier in Deutschland tätig sind, aus den Herkunftsländern für zwei, fünf oder mehrere Jahre, und die meisten von ihnen sprechen kaum deutsch. Es gibt wenige, die hier geboren und aufgewachsen sind. Das ist natürlich ein Problem. Sie kennen nur das Eigene und können nicht nach außen auftreten. Auch die Kommunikation innerhalb der Orthodoxen ist meistens schwierig, weil man die gemeinsame Sprache Deutsch nicht benutzen kann. Die meisten Pfarrer sprechen nur ihre eigene Sprache und wie bei vielen Muslimen ist es auch bei uns keine Pflicht, dass die Pfarrer auch Theologen sind. Es gibt Pfarrer in Deutschland, die Automechaniker, Bäcker oder andere Berufe haben. Das macht natürlich die Kommunikation untereinander sehr schwer. 1994 wurde die Kommission der Orthodoxen Kirche in Deutschland gegründet. Das war die Initiative einiger Laien und Geistlichen, aber die Bischöfe haben das begrüßt, und es ist so weit gekommen, dass im Februar Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene 2010 in Deutschland eine Orthodoxe Bischofskonferenz gegründet wurde. Jetzt wird angestrebt, dass man auch lokale Verbände oder Arbeitsgemeinschaften der Orthodoxen bildet, wenn es auch recht schwierig ist. Ich komme zu Frankfurt. Ich bin einer der wenigen orthodoxen Pfarrer in Frankfurt, der einigermaßen gut deutsch spricht, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin. Es gibt zwei russische Gemeinden und einer der russischen Kollegen spricht kaum deutsch. Es gibt andere, die etwas deutsch sprechen. Das erschwert die Kommunikation natürlich sehr. Wir sind jetzt dabei, in Frankfurt einen Verband oder eine Arbeitsgemeinschaft der orthodoxen Gemeinden zu gründen, denn in Frankfurt leben ungefähr dreißigtausend orthodoxe Christen. Das ist eine enorme Zahl, die täglich durch die Einwanderung aus Rumänien, Russland, der Ukraine und auch aus Georgien wächst. Was die eigenen Gemeinden angeht: Jeder hat die eigene Sprache mitgebracht. Bei den Griechen ist es besonders schwierig, weil wir eine sehr alte Sprache benutzen, die Koine, das ist die Sprache, in der das Neue Testament geschrieben worden ist, das ist unsere BibelSprache. Wenn ein Grieche in einen russischen Gottesdienst geht, dann fühlt er sich nicht wohl, genauso wie ein Portugiese, der zu einem deutschen katholischen Gottesdienst geht, weil der Got- tesdienst anders ist. Man versucht deswegen das Eigene zu bewahren und nach außen zu zeigen, dass man sich hier integrieren und hier bleiben, dass man hier Wurzeln schlagen möchte. Ein Aspekt noch: Die Jugend ist diejenige, die am meisten heute die Traditionen neu entdeckt und an die alten Bräuche und Traditionen und auch an der alten Sprache festhält. Bei dem Gesamtbild, das sich hier abzeichnet, möchte ich Herrn Will in die Diskussion einbeziehen. Wir haben gehört, es gibt viele Unterschiede, die mit den Herkunftsländern zu tun haben, aber teilweise auch mit den Riten. Die Gottesdienste zum Beispiel werden oft unterschiedlich gefeiert. Inzwischen haben wir es längst nicht mehr mit der zweiten Generation der Einwanderer zu tun, sondern oft schon mit der dritten oder der vierten Generation. Kann man denn jetzt in der Gesamtsicht sagen, bei allem, was man an Unterschieden erkennen oder benennen kann, wir müssen uns nun noch viel stärker auf den Weg zu gemeinsamen Gemeinden begeben? Dietmar Will: Als Pfarrer für Ökumene der Evangelischen Kirche in Frankfurt bin ich abgeordnet, den Internationalen Konvent christlicher Gemeinden Rhein-Main e.V. mit zu betreuen. Ich denke, wir müssen hier prozesshaft denken, also sehen 45 Religion und Migration: Signale der Veränderung und akzeptieren, dass es ein allmähliches Hineinwachsen in eine Gesellschaft gibt. Ein kleines Beispiel in der Frankfurter Stadtgeschichte zeigt das ganz gut. Die Französisch-reformierte Gemeinde, ist eine Flüchtlingsgemeinde, die sich aus Glaubensflüchtlingen zusammensetzt, die aus Belgien und Holland hierher gekommen sind. Sie haben bis in die letzten Jahre hinein einmal im Monat einen französischsprachigen Gottesdienst gefeiert. Sie mussten dafür sogar einen Prediger aus Straßburg einfliegen lassen. An der Stelle denke ich, ist es ganz gut, nicht in Entweder-Oder-Kategorien zu denken, sondern diese Berechtigungen, wie sie hier formuliert wurden zu akzeptieren. Sprache ist ein wichtiger Faktor der Beheimatung. Deshalb ist es wichtig, die Herkunftssprache und die Zweisprachigkeit zuzulassen. Ich kenne viele Gemeinden in Frankfurt, da wachsen in der zweiten und in der dritten Generation Menschen heran, die neugierig sind auf das, was die Elterngeneration mitbringt, und da gehört die Sprache dazu. Das ist ein Stück ihrer Identität. Ein Beispiel ist die Griechisch-orthodoxe Gemeinde, dass jetzt auch dort denkbar wird, dass auch deutschsprachige Elemente in die Liturgie integriert werden. Dieses Allmählichhineinwachsen, diese Geduld und diese Zeit müssen wir uns nehmen. Deswegen denke ich, wir haben da als Stadtgesellschaft, aber auch 46 als Kirche, als protestantische Kirche an der Stelle ein Stück weit zu lernen, was es heißt, Teil einer Einwanderungsgesellschaft zu sein, also das je Eigene zu sehen und zu akzeptieren und auch dazuzustehen, aber dann auch das andere wahrzunehmen. Wie wir heute Morgen gehört haben, ist ja das Ganze auch sehr viel mit Angst besetzt, das heißt doch auch, mit Emotionalität verbunden. Emotionalität und Angst und was auch immer noch dazu kommt, kann man nicht wegrationalisieren. Dem kann ich nicht argumentativ begegnen, sondern muss Zwischenräume bzw. geschützte Räume des Sich-begegnens und des Sich-aufeinander neugierig machens schaffen. Stehen Sie da als Protestant vor einer anderen Herausforderung als die Katholische Kirche? Dietmar Will: Wir stehen da an der Stelle ganz klar als Evangelische Kirche. Wir sind eine territorial verfasste Kirche und für uns ist diese Frage anders als bei der Katholischen Kirche noch lange nicht institutionell oder von der Verfasstheit her geklärt. Ein kleines Beispiel: Wir als Evangelische Kirche Hessen-Nassau, diese Territorialkirche die wir sind, hat 2001 eine koreanische Gemeinde und 2005 eine indonesische Gemeinde aufgenommen. Das heißt, wir selbst müssen für uns als Landeskirche definieren, was es denn Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene heißt, Teil einer Einwanderungsgesellschaft zu sein. Ich begleite diesen Prozess und merke auf einmal, wie wichtig Sprache ist, aber auch, wie wichtig es ist, die Menschen auf diese Reise mitzunehmen. Wir können nicht meinen, dass das, was in Prozessen von zwei- oder dreihundert Jahren geschehen ist, in einem Schnelldurchlauf von zehn oder fünfzehn Jahren getan ist. Wir müssen die Geduld aufbringen und das Ganze entschleunigen. Das ist gewissermaßen meine Aufgabe: Brücken zu bauen, neugierig zu machen, immer wieder zu sagen, was ist uns gemeinsam, sich dabei aber auf keinen Schmusekurs begeben, sondern auch zu sagen: was trennt uns. Zu erkennen, wo auch harte Diskurse zu führen sind und die dann produktiv nicht in den Medien, sondern unter vier Augen in den kleinen, geschützten Gruppen führen. Ich habe ähnlich wie Magdalena Modler in ihrem Beitrag zur Islamfortbildung berichtet hat, bereits 2004 eine Fortbildung für Gemeindeleiter in den Migrationsgemeinden, die im Großen und Ganzen überwiegend Laien sind, die das nebenamtlich machen, angeboten. Da haben wir zum Beispiel im ersten Durchgang das Thema Homosexualität diskutiert. Das ist innerhalb der Christen auch immer noch ein umstrittenes Thema. Da war es dann produktiv, auch für das je Eigene zu stehen, aber auch den Anderen so zu sehen, wie er/sie ist und das akzeptieren zu lernen. Ab einem bestimmten Punkt gibt es dabei nur noch das Aushalten. Das ist ein Punkt, wo es an die Schmerzgrenze geht, aber das auch gegenseitig aushalten und klar zu definieren, was unser Common Sense ist, also auf welchem Boden wir stehen, ist wichtig. Das sind die eigentlichen Lernprozesse auch in der Ökumene, zu sagen bzw. zu definieren, was uns gemeinsam ist, was uns verbindet. An den Rändern gibt es natürlich auch Gruppen, von denen wir uns abgrenzen müssen. Das ist mein Plädoyer für die Kirchen und da könnten wir auch ein produktives Beispiel für die Gesellschaft sein. Ich würde hier gern die Frage nach der seelsorgerische Tätigkeit mit einschließen. Wie ist da die Rolle der Kirche? Paulo Caldeira Pereira: Auch hier ist die Rolle der Kirche sehr vielfältig. Wir haben Konflikte und Probleme wie jede Gemeinde, aber wir sind nicht uniform, da stimme ich mit Ihnen voll überein. In der katholischen Lehre ist die Universalität ein wichtiges Thema. Der Papst muss Pontifex sein, er sollte aber auch ein Brückenbauer, der erste Brückenbauer überhaupt sein. Zur Lehre der Katholischen Kirche gehört, dass die Kirche universal ist, aber neben der Universalität gibt es auch den Pluralismus und das ist etwas Gesundes und Gutes. Es funktioniert nicht so, wie Sie das, mein 47 Religion und Migration: Signale der Veränderung evangelischer Mitbruder, gesagt haben, nach in diesen EntwederOder oder Weder-Noch Mustern. Wir können unseren Kindern, die hier geboren sind, sagen, was für einer bist du, du bist weder Türke noch Deutscher, also was für einer bist du. Das ist eine Abwertung von Jemandem, denn es ist gut, vieles zu sein. Wir haben nichts dagegen, wenn einer aus England kommt und mehrere Sprachen spricht und wir sagen toll, er kann mehrere Sprachen. Aber einer, der hier lebt und mehrere Sprachen spricht und in mehreren Kulturen lebt, dem machen wir Schwierigkeiten und sagen, du bist „weder/ noch“. Das finde ich schlimm. Ich glaube, dieses „Inter“, die Begegnung zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen, zwischen verschiedenen Religionen ist eine sehr wertvolle Sache. Deshalb soll man dem Raum geben und es pflegen. Ich kann meine Geschichte und meine Wurzeln nicht verstecken oder verbergen. Wenn ich das nicht tue, fühle ich mich in dieser großen Gesellschaft verloren. Wenn ich meine Geschichte, Identität und Sprache nicht pflege und akzeptiere, dann bin ich ein Nichts. Ich will noch einmal die Rolle der Muttersprache näher betrachten. Herr Ziliaskopoulos, Sie haben gesagt, dass es innerhalb der Orthodoxie sehr viele Verständnisprobleme gibt. Man ist oft in einer anderen Sprache zu Hause. Wenn 48 jetzt darüber gesprochen wird, dass man sich im Gottesdienst ohne jedes Wort zu verstehen, aufgehoben fühlen kann. Wie ist das mit den anderen Aufgaben der Gemeinden, zum Beispiel mit der Seelsorge? Wie wichtig ist da eine muttersprachliche Betreuung und wie wichtig ist dabei die integrative Arbeit? Die Frage geht aber auch an die anderen Podiumsteilnehmer. Athenagoras Ziliaskopoulos: Das ist auf jeden Fall sehr wichtig und es ist von Familie zu Familie unterschiedlich. Es gibt Familien, in denen hauptsächlich Deutsch gesprochen wird oder vielleicht eine andere Sprache. Es gibt Familien, in denen nur Griechisch oder Russisch gesprochen wird. Es ist von Situation zu Situation verschieden. Bei der pastoralen Tätigkeit ist der Pfarrer nicht nur für den Gottesdienst zuständig, er muss ein ganzes Spektrum von Aufgaben bedienen können. Das fängt mit der Krankenhausseelsorge an, geht von Übersetzer und Dolmetscher bis hin zu Problemen in der Familie, wenn Konflikte da sind. Der Priester wird auch oft in Häuser und Familien eingeladen, um ein Gebet zu sprechen oder ein Haus zu segnen. Was die Seelsorge in Bezug auf die Sprache betrifft, ist es so, dass, obwohl man im sonntäglichen Gottesdienst die eigene Sprache hören möchte, es zum Beispiel bei Hochzeiten oder Taufen anders ist. Da wünschen Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene sich die Eltern oder die Paare, dass auch etwas auf Deutsch oder überwiegend auf Deutsch gesagt wird, damit die deutschen Gäste das verstehen. Hier sieht man, dass es den Wunsch gibt, den eigenen Glauben und die Riten zu zeigen, aber der Mehrheitsgesellschaft oder den Freunden gegenüber auch gastfreundlich zu sein. Ein Problem, das ich bei vielen Orthodoxen kenne, ist, man sucht natürlich die Integration, man fühlt sich hier wohl und integriert, aber man möchte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, denn man verbindet den Pass mit einem gewissen nationalen Stolz. Das ist ein großes Thema. Brigitta Sassin: Ich glaube, die Kunst liegt in der Begrenzung. Unser Thema ist Religion und Integration auf die christlichen Zuwanderergemeinden hin und auf die Mischung in den ehemals deutschsprachigen Gemeinden. Daran haben wir uns bisher gehalten. Sprache ist mehr als nur das gesprochene Wort. Meine Erfahrung ist, dass auch das Nonverbale dazu gehört. Dazu gehört das Gesprochene, das Unausgesprochene und das Unaussprechbare, nämlich auch die Tiefendimension, die Werte hervorbringt und der Bedeutungshorizont. Das alles gehört dazu. Deshalb ist es für unsere katholischen muttersprachlichen Gemeinden wichtig, dass sie beides reflektieren, die Herkunftskultur und die deutsche Umgebung zum Beispiel im Umgang mit Konflikten. Wir haben mit Seelsorgern und Seelsorgerinnen darüber nachgedacht, mit welchen Fragen die Paare oder Ehepaare zu uns kommen. Welchen Umgang mit Krisen sie aus ihrer Herkunftskultur kennen, mit welchen Modellen werden sie hier konfrontiert, um dann kulturspezifisch etwas Neues zu entwickeln. Was könnten gute Antworten sein und auch eine Vernetzung zu unserem Beratungsangebot. Karl Schermuly: Man muss dennoch fragen, ob man für jedes seelsorgerische Einzelgespräch das in der Muttersprache anders zu handhaben ist als in der deutschen Sprache, weil man die Feinheiten der Gefühle und Emotionen anders gewichtet, eine muttersprachliche Gemeinde braucht. Das würde ich bezweifeln. Meine Position ist, wir sollen als Katholische Kirche überlegen, ob wir nicht für Kinder und Jugendliche der zweiten und dritten Generation unter Umständen damit Strukturen aufrecht erhalten, die wieder einer Trennung Vorschub leisten. Ich habe da große Sorge, dass Jugendliche auf ihre Herkunft, z. B. auf ihr Portugiesisch- oder Griechischsein, festgelegt werden. Genau das wollen wir ja nicht mehr. Ich habe in der zwölften Klasse dreißig Schüler, davon sind zwölf Muslime, alle anderen kommen aus allen möglichen Religionen. Wenn ich sage: „Jasmin vom Na49 Religion und Migration: Signale der Veränderung men her sind Sie Portugiesin“, dann antwortet sie: „Nein, ich bin Deutsche und gehe in Ober-Eschbach in die Katholische Kirche“. Die Jugendlichen wollen nicht mehr darauf festgelegt werden. Ich denke, es gibt Ungleichzeitigkeiten von Integration, denen müssen wir gerecht werden. Wir müssen diese Ungleichzeitigkeiten benennen und nicht meinen, wir hätten das gleiche Konzept für die portugiesische Großmutter und für die Abiturientin, die deren Enkelin ist. Es gibt nicht nur muttersprachliche orthodoxe Gottesdienste in Frankfurt. Bei uns in der Gemeinde läuft derzeit ein deutschsprachiger eritreischer Gottesdienst. Es ist ein interessantes Projekt der Eritreischen Orthodoxen Kirche, die für Jugendliche in unseren Gemeindehäusern einen Gottesdienst macht, der sehr gut besucht ist und der in Deutsch stattfindet. Pater Paulus sagt, ich mache das bewusst auf Deutsch, weil das die Sprache ist, die uns hier verbindet und die die Jugendlichen sprechen. Paulo Caldeira Pereira: Mein Bischof ist der Nachfolger von Franz Kamphaus und ich bin ein Teil dieser Gesellschaft und ein Teil dieser Kirche. Als ich hier hergekommen bin, hat mir einer gesagt, Paulo, in der Kirche brauchst du keinen Pass, du bist hier ein Christ, und ich wurde aufgenommen als einer, der hier gleichberechtigt ist. Wo ich mich ausge50 schlossen fühle als Portugiese nach fast zwanzig Jahren, ist von der Politik, weil ich hier nicht wählen darf. Ich könnte Deutscher sein, aber ich kann nicht ein Deutscher sein, weil ich zuerst ein Portugiese bin. Da fühle ich mich mit acht Millionen Menschen in Deutschland ausgeschlossen. Das ist die Grenze der Integration. Da kommen wir im Moment leider nicht weiter und das wäre auch eine andere, eine politische Diskussion. Die Religion bzw. die Gemeinden helfen auf jeden Fall auf dem Weg der Integration. Deswegen sind mir meine Gemeinde und die Gemeinden von meinen Mitbrüdern wichtig, weil ohne diese Gemeinden 10.000 oder 15.000 Portugiesen in dieser Gesellschaft verloren wären. Sie würden nicht zu Herrn Schermuly gehen. Meine portugiesischen Jugendlichen sind jetzt dreißig Jahre alt, ihre Muttersprache ist Deutsch, aber sie brauchen die Gemeinde noch. Wenn ich sagen würde, „Abschaffen, braucht man nicht, alle sollten jetzt deutsch sprechen und zu dem deutschsprachigen Gottesdienst gehen“, das würden sie nicht machen. Deswegen sind wir als Vermittlungsgemeinde wichtig, denn fünfzig Prozent unserer Arbeit ist die Betreuung und die Pflege der Wurzeln dieser Leute. Die anderen fünfzig Prozent sind zu sagen, du hast das Recht, hier zu sein, versuche hier gut zu leben. Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene Athenagoras Ziliaskopoulos: Natürlich ist Religion ein wichtiger Faktor für Integration. Ich spreche jetzt nur für das Christentum und wie wir es als christliche Migranten kennen. Unsere Eltern kamen hierher als Gastarbeiter. Das einzige was sie mitbrachten, waren die Sprache und die Religion und sie haben Kirchengemeinden gegründet, weil das für sie wichtig war. Sie haben dieses Land mit aufgebaut. Bis heute gibt es parallel zu den Kirchengemeinschaften bzw. zu den Kirchengemeinden auch säkulare Gemeinden von vielen Nationalitäten oder Heimatvereine. Aber da gehen immer weniger Menschen hin als in die Kirchengemeinden. Die Kirchengemeinden verbindet mehr als nur die Nationalität und sie sind gerade deshalb ein wichtiger Faktor für die Integration. Das Problem ist, das die Mehrheitsgesellschaft oft erwartet, dass wir unsere Sprache, vielleicht auch unsere Sitten und Kultur ändern und dass wir ein deutsches Denken, eine andere Leitkultur annehmen. Das ist natürlich sehr schwierig, das können wir nicht so schnell und das wollen wir auch nicht. Ich habe da als Vorbild die Jüdischen Gemeinden. Deren Mitglieder sind Deutsche, aber sie haben sich ihre Sprache, ihre Bräuche, ihre Sitten seit Jahrhunderten bewahrt. Und ich glaube, das ist ein sehr gutes Bild oder Symbol, woran man sich orientieren kann. Damit wären wir ganz nah an dem Thema der Integration dran. Wenn wir über Religion sprechen, dann höre ich ganz klar heraus, dass wenn es diese Gemeinden nicht gäbe, diese Menschen für die Kirche oder für die Religion verloren wären, abgesehen davon, dass sie sich vielleicht bei bestimmten Fragen an die Gemeinden wenden würden. Ist das so, Frau Sassin? Brigitta Sassin: Ja, ich sage immer, Gott spricht zu jedem in seiner Muttersprache und Gott spricht im Herzen. Diese Vielfalt müssen wir zulassen, wir müssen nicht so uniform sein. Wir dürfen sie zulassen und uns daran sogar freuen. Wir sind auf dem Weg dies als Katholisches Bistum deutlicher wahrzunehmen und auch deutlicher miteinander darüber ins Gespräch zu kommen, welche unterschiedlichen Modelle es gibt, damit die Territorialgemeinden für viele ein Ort der Heimat werden können. Wir sind aber auch auf dem Weg, die Wertschätzung von gewachsenen Strukturen mehr zu verbreiten. Damit das klar ist: Diese Strukturen sind ein Schatz für unsere Kirche. Ist es wirklich so, dass wenn das nicht alles unter einem Dach ist, die Leute der Kirche verloren gehen? Karl Schermuly: Ich denke, die Fragestellung ist verkehrt. Diese Leute, mit denen 51 Religion und Migration: Signale der Veränderung wir es zu tun haben, die gehen nicht in irgendeine imaginäre Kirche, diese Leute sind die Kirche. Sie sind Subjekte des Glaubens, um die es uns gehen muss. Das Evangelium sagt, die Sorgen und die Nöte der Menschen sind die Sorgen und die Nöte der Gemeinde Christi. Also die Sorgen und Nöte sind nicht irgendein Potential, das ich bearbeiten muss, sondern sie sind ein Wert an sich. Zwei biblische Impulse sind mir dabei wichtig. Das Volk Israel ist vierzig Jahre durch die Wüste gewandert, bis es ankam und eine neue Heimat hatte. Das ist für mich ein wichtiger biblischer Impuls: Menschen brauchen Zeit, um anzukommen, und sie brauchen Begleitung durch viele Wüsten hindurch. Das ist ein Wert an sich. Aber irgendwann ist es wichtig, dass die Menschen ankommen und dass sie ein Zuhause haben. Ein biblisches Bild von Paulus illustriert die Frage, ob es um Gott oder nur um Integration geht, sehr gut. Er sagt: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie sondern ihr seid einer in Christus“. Den Menschen, die zu uns kommen, dieses Bewusstsein zu geben, das ist mir wichtig. Zum Schluss noch ein aktueller Satz einer vietnamesischen Frau, die bemerkte, als ich bei einem Gemeindefest sagte: „Diesen Teil übernehmen die Vietnamesen“, da bemerkte sie: „Stopp, Herr Schermuly, wir sind der vietnamesische Teil der Gemeinde St. Lioba“. Das ist das, was mir gefällt. 52 Wir haben jetzt an vielen Punkten gehört, dass es Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt. Kann man abschließend sagen, dass die Gemeinschaft auf dem Weg ist? Können Sie, Herr Will, einen Blick in die Zukunft wagen? Können Sie uns eine Perspektive zeichnen, wo wir in zehn Jahren stehen werden? Dietmar Will: Das kann ich gerne tun, kann dabei allerdings nur für die Evangelische Kirche sprechen. Ich hoffe, dass es ein Stück selbstverständlicher geworden ist, dass sich Christen und Christinnen aus anderen Ländern in der Evangelischen Kirche beheimatet fühlen aus sprachlichen oder aus anderen Gründen heraus. Ich denke, viele Christen, die aus anderen Ländern kommen, suchen zuerst eine Heimat über die Sprache, und ich glaube, das ist nach wie vor ein wichtiger Faktor, den man auch so stehen lassen sollte. Für die Kirche würde ich mir wünschen, dass sie sich mehr interkulturalisiert. So wie es jetzt eine indonesische, eine koreanische oder eine Franzöischreformierte Gemeinde gibt, die im übrigen auch frankophone Afrikaner integriert hat, dass wir lernen, auch verschiedene Modelle zu leben und auszuprobieren und dass wir es als Kirchen, und da würde ich auch die Katholische Kirche mit einbeziehen, dass wir es lernen, den Migranten und Migrantinnen ein Stück Eigenständigkeit und Selbständigkeit zu lassen und sie Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene selbst formulieren zu lassen, was sie brauchen und was sie wollen. Der Internationale Konvent Christlicher Gemeinden ist so ein Organ, wo Migranten und Migrantinnen für sich selbst sprechen sollen. Ich glaube, dass es auch wichtig ist, Organe aus den Strukturen heraus zu bilden, dass dieser Dialog jeweils in die eigenen Gemeinden, in die eigenen religiösen Gruppen hinein möglich wird, um das konstruktiv steuern zu können. Ich denke, Religion und Migration, das ist immer nur ein Faktor bei der Integration. Denn über Schule, über Arbeitsplatz, über die Viertel oder Stadtteile da passiert auch sehr viel. Interessant ist zu sehen, dass Religion, ob islamisch, ob Sikh oder ob christlich, eine ähnliche Funktion hat. Das zu sehen und zu stützen und auch an der Stelle als Stadtgesellschaft wahrzunehmen und zu helfen, das finde ich wichtig. Hier würde ich mir wünschen, die Debatte über Integration nicht nur aus einem Defizit heraus zu betrachten, sondern aus einer Ressourcendebatte heraus. Wir verlieren mit den Menschen, die wir nicht für uns gewinnen, große Ressourcen. Mir geht es darum, das nicht nur unter einem negativen Vorbehalt zu diskutieren, sondern zu sagen, dass gerade die Frankfurter Stadtgesellschaft es gelernt hat, dass Zweisprachigkeit und Interkulturalität ganz großartige Ressourcen für eine Gesellschaft bieten. Diese Schätze muss man heben, und dazu braucht man Instrumentarien wir es z. B. die Kirchen, aber auch die Stadtgesellschaft sein können. Darin läge dann der Beitrag der religiösen Gruppen und zwar aller religiöser Gruppen in einer Gesellschaft. Eines ist wohl in diesem, Podiumsgespräch klar geworden: Es gibt viele Brückenbauer, die am Werk sind, aber, wenn man aus zwei Richtungen eine Brücke baut, muss das gut koordiniert und kommuniziert sein, sonst stimmt es in der Mitte nicht. 53 Religion und Migration: Signale der Veränderung Khushwant Singh Von Entfremdung und Orientierung. Religiöse Unterweisung in der zweiten Generation der Sikhs in Deutschland „Sikhi ist ja cooler als ich dachte!“ „In der Schule sagen sie, ich hätte einen Döner auf dem Kopf.“ (Zitate von Schülerinnen und Schülern des SikhReligionsunterrichts im Frankfurter Gurdwara) Religiöse Unterweisung spielt in allen bedeutenden Religionen eine zentrale Rolle. Sie besteht aus dem Vorleben bestimmter Haltungen sowie der schriftlichen und mündlichen Weitergabe religiöser Einsichten und Praktiken. Das Leben vieler Menschen verändert sich jedoch stetig durch technische Entwicklungen, Migration und Globalisierungsprozesse. Indem der Grad an Individualität und Pluralismus wächst, verändert sich auch das Verhältnis zur Religion sowie ihrer Tradierung. Am Beispiel der Sikh-Religion, im Original als „Sikhi“ bekannt, wird exemplarisch gezeigt, welchen Herausforderungen vor allem Sikhs der zweiten Generation in Deutschland beim Erwerb religiöser Inhalte begegnen. Dabei werden historische Aspekte religiöser Tradierung sowie gesellschaftliche Herausforderungen der Sikh-Gemeinschaft beleuchtet. 54 Entstehung religiöser Überlieferungen In den verschiedenen Religionen haben sich unterschiedliche Unterweisungsstile und Tradierungsverständnisse entwickelt. In der Regel spielen Schriften und religiöse Lehrer eine entscheidende Rolle, da ihnen eine herausgehobene Autorität zuerkannt wird. Sie vermitteln Inhalte und Praktiken, die auf einen oder auf mehrere religiöse Verkünder und deren Anhänger zurück gehen. Zugleich sind Lehrer Wächter und (Neu-) Interpreten der Überlieferungen in einem spezifischen historischen Kontext. Je nach kulturellen, sprachlichen, geographischen, wirtschaftlichen und technischen Einflüssen sowie Interessen der Religionsbewahrer und -anhänger entwickelten sich die Religionen und ihre Tradierungsformen auf je charakteristische Weise. Auch Kriege und Missionierung spielen bei der Verbreitung und Entwicklung von Religionen und religiösen Tradierungsformen bis heute eine Be- Khushwant Singh deutung. Da in vielen Fällen die Einsichten der Religionsbegründer nicht persönlich niedergeschrieben, sondern überwiegend mündlich weiter gegeben wurden, entstanden erst im Laufe der Zeit durch Verschriftlichung, Kommentierung sowie Kanonisierung kodifizierte Doktrinen. Es entwickelten sich unterschiedliche, teilweise auch konkurrierende religiöse Interpretationen und Schulen – auch dort, wo die Begründer mit Bedacht auf dogmatische Auffassungen und Abgrenzungstendenzen verzichteten. In einigen wenigen Fällen, wie bei dem Meister Nanak und seinen neun Nachfolgern, den Stiftern der Sikh-Religion, hielten die Begründer bereits zu Lebzeiten ihre Einsichten schriftlich fest. Religionsunterricht durch Lehrer Im Allgemeinen ist intellektuell geprägter Religionsunterricht in institutionalisierter Form von vorgelebter Unterweisung durch einen Meister zu unterscheiden. Beim Unterricht ist die Person des Lehrers eher sekundär. Das Wissen und das Studium des Stoffes dominieren. Grundlage des teilweise verpflichtenden Unterrichtes ist ein auf der Theorie des Lehrens und des Lernens aufgebauter Lehrplan mit Lernzielvorgaben. Bisweilen wird diese Form politisch privilegiert. Ein Beispiel ist der christliche Religionsunterricht an deutschen Schulen, der auf die Katechese zurückgeht. In allen Bundesländern mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ist Religionsunterricht nach dem Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3, ordentliches Lehrfach. Unterweisung durch Meister Die Unterweisung durch einen Meister nimmt einen besonderen Platz in den antiken mystischen Traditionen ein. Auch in den bis heute einflussreichen Weltreligionen wie dem Buddhismus oder der Sikh-Religion spielt das Meister-Schüler-Verhältnis eine zentrale und jeweils spezifische Rolle. Bei der Unterweisung ist neben der Vermittlung religiöser Einsichten der Vorbildcharakter des Meisters bedeutsam. Hier stehen Schüler und Meister in einem engen Verhältnis. Die Schüler sind neben der Erlangung von umfassendem religiösem Wissen vor allem bestrebt, die vorgelebte Lebensweise ihres Meisters zu verinnerlichen. Anders als beim Lehrer-Schüler-Verhältnis steht beim persönlich geprägten Meister-Schüler-Verhältnis Weisheit im Fokus. Während ein Lehrer eher versucht Fakten und Werte zu vermitteln, geht es einem Meister darum, die Schüler so individuell anzuleiten, dass diese durch praktische Erfahrungen selbstständig zu inneren Einsichten gelangen. Ausgangspunkt ist nicht ein vorher gesetztes Lernziel oder Glaubenskodex, sondern der Entwicklungsstand der Schüler. Dabei wird davon ausgegangen, dass 55 Religion und Migration: Signale der Veränderung die Weisheiten, die der Meister in sich trägt, nicht ohne weiteres weitergegeben werden können. Der Meister spielt eher die Rolle eines ermöglichenden Helfers. Entsprechend finden sich kaum curricular aufbereitete Inhalte bei der Unterweisung, sondern es dominieren Metaphern, Gleichnisse und Dialoge, die zeitlos wirken. Der Meister Nanak und die Sikh-Religion Ein bedeutenderVertreter der Meister-Schüler-Beziehung war Guru Nanak (1469–1539). Die auf ihn zurückgehende Sikh-Religion gilt heute mit über 20 Millionen Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen, als fünftgrößte Weltreligion. Der Religion liegt eine religionsübergreifende, Einheit stiftende und zugleich Pluralität wahrende spirituelle Lebensweise zu Grunde. Die Inhalte zeugen von einer intensiven Beschäftigung mit den unterschiedlichsten religiösen Traditionen. Unter anderem finden sich Bezüge zu Überlieferungen, die dem Brahmanismus, Vaisnavismus, Saivismus, Yoga, Siddhismus, Jinismus, Sufismus und Islam zugeordnet werden. Dabei werden die Vorstellungen dieser Traditionen aber immer im Lichte der Einsichten der Gurus spirituell reinterpretiert. Das Leben sowie die bis heute erhaltenen Originalkompositionen von Nanak, der von seinen Schü56 lerinnen und Schülern, den Sikhs, respektvoll „Guru“ (Meister der inneren Erkenntnis) genannt wird, legt Zeugnis von einem besonderen Meister-Schüler-Verständnis ab. Dabei stehen Guru Nanak und seine neun Nachfolger ursprünglich für eine weisheits- und sozialorientierte Tradition, bei der das Verhältnis zwischen der Weisheit in Schriftform, und dem Schüler eine herausragende Bedeutung erhält. Die zehn Meister sehen sich dabei nicht als Gurus, sondern als Diener der Schöpfung, durch die die Weisheit des einen allumfassenden und unbegreiflichen Schöpferwesens in poetischer Form spricht. Heute dominiert allerdings oft ein eher dogmatisches und ritualisiertes Religionsverständnis, auch in deutschsprachigen Ländern. Dies hat komplexe Gründe. Religiöse Entfremdung durch Invasion und Kolonisierung Die Sikhs blicken auf eine äußerst ereignisreiche und mitunter sehr gewalttätige Geschichte zurück. Die junge Religion konnte sich im 15. Jahrhundert zu Zeiten der ersten Gurus unter weitgehend friedlichen Bedingungen entwickeln. Die nachfolgenden zwei Jahrhunderte wurden jedoch von zunehmender Diskriminierung durch brahmanisch dominierte lokale Eliten sowie Verfolgung durch muslimische Invasoren geprägt. Nicht nur das ausgesprochen eigen- Khushwant Singh ständige Selbstverständnis der Sikhs stieß auf Misstrauen. Vor allem die scharfe Kritik am Kastensystem, an der Vormachtstellung brahmanischer Priester und Unterdrückung von Frauen sowie an den extremistischen Tendenzen der islamischen Eroberer schürten die Feindseligkeiten gegenüber der Minderheit der Sikhs. In Verteidigungsschlachten, in welche die späteren Gurus verwickelt waren, starben nicht nur viele tausend Sikhs. Es gingen auch bedeutsame Originalmanuskripte verloren. Der fünfte und neunte Guru wurden auf Befehl der Mogulherrscher Jahangir und Aurangzeb ermordet. Der zehnte Guru verlor alle vier Söhne und starb im Jahr 1708 an den Folgen eines Attentates. Während der Kriegswirren, bei denen die Sikhs sich immer wieder in den Untergrund begeben und ihre Gemeindezentren verlassen mussten, stockte auch die Tradierung religiöser Inhalte. Da die junge Religion ihrem Wesen gemäß einen qualitativen Ansatz verfolgte, dem Missionierung fremd war, traf sie die Verfolgung zahlenmäßig besonders hart. Bereits nach dem Tode des zehnten und letzten Meisters und insbesondere im Zuge der Gründung des vermeintlichen Sikh-Reiches im Gebiet des Panjab durch Ranjit Singh im Jahr 1799 war eine erhebliche Entfremdung von den ursprünglichen religiösen Einsichten zu beobachten. Diese verstärkte sich zusehends nach dem Verfall des Reiches. Im Jahr 1849 wurde der Panjab durch die britischen Kolonisatoren annektiert. Inzwischen hatten die Sikhs weitgehend die Kontrolle über ihre religiösen Schulstätten (Gurdwara) verloren. So wurden beispielsweise hinduistische Götterstatuen in die Gurdwara gebracht und verehrt sowie Verse gegen Bezahlung rezitiert. Diese Praxis sowie andere ritualisierte und professionalisierte Formen der Religionsausübung standen und stehen im deutlichen Gegensatz zu den Einsichten der Begründer. Obwohl die Religionsstifter ihre originären Einsichten sowie die anderer Heiliger (Bhagat und Bhatt) in dem 1430seitigem Werk (Adi) „Guru Granth Sahib“ zusammen fassten, fehlte es an frommen und gelehrten Sikhs, die die Inhalte hätten angemessen verstehen, einordnen und weitergeben können. Erst gegen 1873 nahmen Sikhs wieder den Versuch auf, sich auf ihre Ursprünge zu besinnen. Allerdings führten komplexe koloniale Interdependenzen zu weiteren Verwerfungen. Diese mündeten einerseits in einem mitunter einseitigen Tradierungsverständnis, welches zunehmend von festgelegten Curricula und einem fixierten Verhaltenskodex geprägt wurde. Zudem entstanden bis heute einflussreiche Kommentierungen und englische Übersetzungen des „Guru Granth Sahib“, mit hinduistischen und christlichen Konnotationen. Andererseits bildeten 57 Religion und Migration: Signale der Veränderung sich gegenläufige Gruppen, die die enge Beziehung zwischen der Schrift und den Schülern sowie das Gebot der Schlichtheit weiter zugunsten eines pompösen Personenkultes und profitorientierten ritualisierten Religionsverständnisses umdeuteten. Sikhs in Deutschland – Desillusionierung in der ersten Generation Seit der Teilung Indiens im Jahr 1947 und später in den 1980er Jahren verließen viele Sikhs aufgrund politischer Unruhen ihre Heimatregion und wanderten aus. In Großbritannien, Nordamerika und Australien leben heute insgesamt über zwei Millionen Sikhs. Sie verfügen dort in bestimmten Metropolen über eine sichtbare religiöse und politische Lobby. In Deutschland, ähnlich wie auf dem restlichen Festland Europas, ist die Sikh-Religion kaum bekannt. Nur wenige Menschen wissen einen Mann, der einen wallenden, ungeschnittenen Bart und einen kunstvoll gebundenen Turban trägt, als Sikh einzuordnen. Zum einen liegt es an der relativ geringen Zahl der Sikhs, zum anderen kommen die Sikhs erst in den letzten Jahren verstärkt in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft an und sind allmählich in der Lage, sich entsprechend zu artikulieren. Viele Sikhs, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland 58 immigriert sind, haben Asylverfahren durchlaufen. Waren es in den 1970er Jahren nur einige hundert Sikhs, leben heute schätzungsweise zehntausend Sikhs in Deutschland. Wie auch in anderen deutschen Ballungszentren verfügt die erste Generation der Sikhs im Rhein-Main Gebiet über ein geringes Bildungsniveau und stammt vornehmlich aus ländlichen Gebieten im Panjab. Viele von ihnen haben sich aufgrund der instabilen rechtlichen Perspektive, fehlender legaler Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen weder sprachlich noch gesellschaftlich wunschgemäß integrieren können. Die inzwischen über 60-Jährigen der ersten Generation sind zum Teil gekennzeichnet durch Frustration und dem Gefühl der Ausgrenzung. Damit einher geht ein Autoritätsverfall dieser Elterngeneration, die es gewohnt war, ein Familienleben entsprechend der patriarchalisch dominierenden Vorstellungen im ländlichen Panjab zu führen. Ihre in der Regel sehr gut integrierten und fließend Deutsch sprechenden Kinder hinterfragen die althergebrachten Einstellungen, die ihnen teilweise überholt erscheinen. Eltern, die die Möglichkeit hatten zu arbeiten, waren wiederum oft so mit existenzsichernden Aktivitäten befasst, dass sie nur wenig Zeit für die schulische und religiöse Bildung ihrer Kinder aufbrin- Khushwant Singh gen konnten. Die Kinder haben sich dann entsprechend wenig mit ihren religiösen und kulturellen Wurzeln befasst und sich in Richtungen entwickelt, die die Eltern als „enttäuschende Fehlentwicklung“ ansehen. Desorientierung in der zweiten Generation Weltweit ist vor allem in der zweiten Generation vielen Sikhs eine religiöse Verunsicherung gemeinsam. Auch im Rhein-Main Gebiet sind Sikhs mit internen und externen Herausforderungen im Hinblick auf ihre Religion konfrontiert. Allmählich sind aber Sikh-Jugendliche, insbesondere junge Mädchen, hervorragend in der Lage, die verschiedenen Lebenswelten in Einklang zu bringen. Auffällig ist, dass sie sich nur dann nicht heimisch fühlen, wenn sie Ausgrenzung in der Schule oder bei der Arbeitssuche erfahren. Gleichwohl hat sich eine hohe Frustrationsgrenze gegen Diskriminierungen entwickelt. Viele Schüler zeigen überdurchschnittlich gute Schulleistungen. Der religiöse Bildungsstand ist allerdings gering ausgeprägt. Ein Grund sind mangelnde institutionalisierte Formen des Religionsunterrichts über „Sikhi“. Zudem gibt es kaum jugendgerechte religiöse Literatur in deutscher Sprache. Junge Sikhs berichten durchgängig, dass sie nur schwer in der Lage sind, Mitschüler und Lehrer fundiert über ihre Religion zu informieren. Fragt man manche Sikhs der Oberstufe, warum sie ihr Haar ungeschnitten lassen und einen Turban tragen, kommt oft nicht die Erklärung, dass sie dadurch der Tradition entsprechend ihre natürliche und würdevolle Lebensweise und ihren Respekt für die Schöpfung ausdrücken. Stattdessen werden einsilbige Sätze wie „Das ist wegen der Religion“ oder „Das muss ein Sikh machen“ vorgetragen. Aufgrund fehlender Kenntnisse fühlen sich die Jugendlichen auch kaum in der Lage, falsche Informationen über die Sikh-Religion, auf die sich Lehrer oder Mitschüler aus Unwissenheit berufen, zu korrigieren. Umso rhetorisch hilfloser stehen männliche Sikhs da, wenn sie wegen ihrem Dutt und der Kopfbedeckung mit Sprüchen wie „Der hat einen Döner auf dem Kopf!“ oder „In Deckung! Da kommt Osama“ beleidigt werden. Gründe für die Desorientierung Die Elterngeneration bemüht sich zum Teil trotz der vielfältigen Herausforderungen, die Migration mit sich bringt, bestmöglich um die schulische und religiöse Ausbildung ihrer Kinder. Gleichwohl wissen sie selbst nur wenig über deutsche Institutionen und ihre Religion. Und das obwohl viele Sikhs seit Jahrzehnten regelmäßig in den Gurdwara gehen und diese durch Spenden finanzieren. Enga59 Religion und Migration: Signale der Veränderung gierte Sikhs der zweiten und inzwischen dritten Generation sind daher mit dem Problem konfrontiert, dass sie widersprüchliche Erklärungen zu religiösen Fragen bekommen. Dies betrifft nicht nur Inhalte, die im Gurdwara – oft auch durch aus Indien angereiste Sprecher – vermittelt werden. Auch die Antworten, die junge Sikhs in ihren Familien, im Internet und über Sikh-Fernsehsender bekommen, erscheinen ihnen oft unbefriedigend und inkonsistent. Hier spielen auch die Langzeitwirkungen der bereits dargestellten historischen Gründe der religiösen Entfremdung eine Rolle. Vor allem interessierte Jugendliche beklagen die mangelhafte Vermittlungsleistung religiöser Inhalte und Werte in den Gurdwara. Ein generationenübergreifendes Angebot mit einem Bezug zum Leben in Deutschland wird vermisst. Inzwischen herrscht unter jungen Sikhs in vielen Ländern die Wahrnehmung, dass die Schulstätten von religiös fragwürdigen Auslegungen und politisierten Debatten sowie Führungsstreitigkeiten beherrscht werden. Die religiös und schulisch wenig gebildeten Verantwortlichen der Gurdwara, die überwiegend aus der ersten Generation stammen, seien vor allem von machtpolitischen und finanziellen Interessen sowie Seilschaften geleitet, so die Meinung junger Sikhs. Sie würden, so die Einschätzung von in Deutschland 60 aufgewachsenen Sikhs, ihren Asylhintergrund trotz veränderter Realitäten für politische Zwecke instrumentalisieren. Die vermehrte Zuwanderung von Arbeitsmigranten, die an den religiösen Inhalten und Traditionen kaum interessiert sind und wohl eher aus sozialen und kulinarischen Gründen in großer Anzahl die Gurdwara besuchen, steigert die ohnehin vorhandene Unzufriedenheit unter praktizierenden jungen Sikhs. Fehlende Vorbilder Insgesamt kann festgestellt werden, dass überzeugende Vorbilder in den nachfolgenden Generationen noch fehlen, die weltlich und zugleich religiös gut gebildet sind, die ihre Religion im Alltag ausüben und die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen und auf Panjabi besitzen. Auffällig ist, dass sich die wenigen erfolgreichen und frommen Sikhs, die zudem in der Lage sind, Verse in Begleitung von Instrumenten zu rezitieren, zusehends privat für den religiösen Austausch treffen. Sie begründen dies mit den oben beschriebenen Unzulänglichkeiten in den Gurdwara sowie ritualisierten und kapitalisierten Formen der Religionsausübung. Zwar können Sikhs inzwischen im Internet auf ein sehr vielfältiges Angebot an religiösen Texten, Videos und Audiobeiträgen zurückgreifen und sich vernetzen. Allerdings kann das unübersichtliche zumeist eng- Khushwant Singh lische oder panjabische Angebot ohne angemessene Filterung und Kommentierung Orientierungslosigkeit verstärken oder gar hervorrufen. Insbesondere dann, wenn religiösen aber auch politischen Inhalten vertraut wird, die aufgrund mangelnder Kenntnis inhaltlich fragwürdig sind. Neue Unterrichtsform mit Unterweisung Um die historisch und durch die Migrationserfahrung herleitbare Entfremdung zu überwinden, sind innovative Formen der religiösen Tradierung notwendig, die sich von den ursprünglichen Einsichten leiten lassen. Das ehrenamtliche Angebot der „Religiös orientierten Lebenskunde“, die der Autor im Frankfurter Gurdwara für junge Sikhs und Interessierte an ausgewählten Sonntagen anbietet, versucht diesem Anspruch näher zu kommen. Das Konzept entspricht einer Mischung aus freiwilligem Unterricht und Unterweisung in der Altersklasse von zehn bis etwa zwanzig Jahren. Dabei werden nicht primär Fakten vermittelt, sondern ausgehend von den Interessen und Kenntnissen der Schülerinnen und Schüler Inhalte ganzheitlich diskutiert, hinterfragt und eingeordnet. Der Grundton besteht aus herausfordernden Inhalten und Methoden sowie spontanen, humorvoll angelegten Übertreibungen, die zum Nachfühlen und Denken anregen. Der Unter- richt ist dabei bemüht, weniger Antworten vorzugeben und stattdessen persönliche Einsichten zu fördern sowie eine Grundorientierung für den Alltag mitzugeben. Insgesamt wird versucht, die religiösen und historischen Kenntnisse und das Selbstbewusstsein der Schüler ausgehend von aktuellen Realitäten zu stärken. Alle Inhalte werden aus den schriftlich festgehaltenen Weisheiten der Begründer abgeleitet und vereinfacht erklärt. Dabei werden auch immer Bezüge zu Schulfächern wie Geschichte oder Biologie hergestellt. Um die inhaltliche und sprachliche Übersetzungsfähigkeit zu fördern, wird der Unterricht zweisprachig auf Deutsch und auf Panjabi gehalten. So lernen die Jugendlichen etwa, dass die Bezeichnung „Götter“ für die „Meister“ unangebracht ist. Gleichzeitig werden wichtige Begriffe in der Sikh-Schrift „Gurmukhi“ sowie Fremdwörter visualisiert. Videos und Comics lockern den Unterricht auf und helfen auch jüngere Kinder anzusprechen. Auch werden alltägliche Herausforderungen wie Diskriminierung in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt besprochen. Interessante Besucher wie der wohl älteste Marathonläufer der Welt Fauja Singh dienen als Inspiration. Zusätzlich zum Unterricht werden Jugendcamps organisiert, die von Sikhs aus den verschiedensten Ländern geleitet werden. Dadurch sollen 61 Religion und Migration: Signale der Veränderung Netzwerke und die Teamfähigkeit gestärkt, Freundschaften aufgebaut und respektvolle Lernarrangements jenseits von alltäglicher Routine gefördert werden. Unterrichtserfolge Im Ergebnis ist zu vermerken, dass die meisten Schüler, die den Unterricht besuchen, ein Grundinteresse an ihrer Religion haben und die partizipative Lernform begrüßen. Vor allem einige Schülerinnen sind sehr engagiert. Sie sind nach eigenen Aussagen durch den Unterricht selbstbewusster geworden. Viele haben sich erstmalig genauer mit „Sikhi“ und Themen wie Gleichberechtigung, Schönheit, Namenstradition oder Kastensystem auseinandergesetzt und mit anderen Jugendlichen darüber diskutiert. Auch verstehen die meisten Schüler nun, dass ihre Religion nicht wie gepredigt,auf Regeln und das Äußerliche zu reduzieren ist, sondern vor allem tiefgründige spirituelle Weisheiten enthält, die für existentielle und alltägliche Fragen Orientierung bieten. Manche Schüler bemerken, dass „Sikhi“ doch „cooler“ ist, als sie dachten. Die religiösen Inhalte bieten zudem Argumentationshilfen, wenn sich bspw. Mitmenschen oder Familienmitglieder unangemessen verhalten. Gleichwohl hat dies im Einzelfall zu Diskussionen in der Familie geführt, weil kultu62 relle Traditionen durch die Kinder auf Basis religiöser Einsichten in Frage gestellt wurden. Herausforderungen Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass der beschriebene Unterricht die Lösung für die zuvor beschrieben Herausforderungen darstellt. Vielmehr handelt es sich um einen bescheidenen Versuch der Verbesserung, der migrationssoziologisch und biografisch verortbar ist. Die freiwillige Unterrichtsform stößt an zahlreiche Grenzen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass nur ein Bruchteil der Jugendlichen den Unterricht besucht. Die Klassenstärke reicht im Schnitt von zehn bis 25 Schüler. Die hohe Altersspanne sowie das sehr unterschiedliche inhaltliche und sprachliche Niveau erfordern einen Spagat zwischen Unter- und Überforderung. Der vorhandene Raum ist nicht ausreichend ausgestattet. Aufgrund mangelnder Isolierung herrscht in dem Gebäude ein enormer Lärmpegel. Teilweise werden die Räume während der Unterrichtszeit von Erwachsenen belegt, die sich unterhalten, oder von ehrenamtlich tätigen Müttern, die kleinen Kindern engagiert die Gurmukhi-Schrift beibringen. Von Seiten der Leitung des Gurdwara wird der Unterricht gutgeheißen aber kaum aktiv gefördert oder beworben. Auch zeigen nur man- Khushwant Singh che Eltern ein tiefer gehendes Interesse am Unterricht ihrer Kinder. Vor allem unter den männlichen Schülern herrscht ein hohes Ablenkungspotential z.B. durch Handys und einen erheblichen Gruppenzwang. Entscheidet sich ein tonangebender Jugendlicher gegen den Unterricht, so bleibt die ganze Clique abwesend. Die Schüler kommen und gehen in der Regel gemeinsam mit ihren Eltern. Sind diese verhindert, bleiben auch die Kinder dem Gurdwara und dem Unterricht fern. Verlassen die Eltern den Gurdwara frühzeitig, werden sie von den Kindern begleitet. Die Fluktuation unter den anwesenden Schülern macht ein kontinuierliches Arbeiten unmöglich und produziert Unruhe. Anvisierte Projekte wie z.B. ein Video-Theaterstück zu intergenerationellen Fragen konnten nicht abgeschlossen werden. reduziert werden können. Dabei ist es wichtig, bereits eingeübte und etablierte Praktiken sowie Führungsstile in den Gurdwara so weiterzuentwickeln, dass traditionelle Vorgehensweisen mit neuen sinnvoll ergänzt werden und die Unterstützung der Gemeinschaft erhalten. Hier werden gut ausgebildete und in Deutschland aufgewachsene religiöse Vorbilder in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Gesellschaftlich muss es besser als bisher gelingen, die vielfältigen Potentiale von zugewanderten Religionsgemeinschaften zu fördern – auch in den Schulen. Dabei ist eine visionsgeleitete gegenseitige Willkommenskultur, die konsequent gegen diskriminierende und stereotypisierende Verhaltensweisen vorgeht, unerlässlich. Fazit Diese kursorische Darstellung zeigt, dass sich die Sikhs nach einer langen Periode der historisch bedingten Entfremdung nun in einer Phase des Suchens befinden. Migration und technische Entwicklungen wie das Internet eröffnen dabei bisher nicht dagewesene Freiräume. Gleichzeitig bergen sie auch Risiken, die durch zeitgemäße Unterrichtsformen, die sich an den ursprünglichen Weisheiten der Begründer orientieren, 63 Religion und Migration: Signale der Veränderung Podiumsgespräch 2 Veränderungen in der pädagogischen Arbeit Auf dem zweiten Podium dieser Tagung wollten wir darüber sprechen, wie eine interkulturelle bzw. interreligiös orientierte pädagogische Arbeit aussehen kann. Wie gehen christliche, jüdische und muslimische Gemeinden mit den Unterschieden in der eigenen Glaubensgemeinschaft um und wie treten sie in den Dialog mit anderen Religionen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Podiumsgesprächs und zwar immer mit Blick auf die Jugendlichen und die Kinder. Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer: Dietmar Will Pfarrer für Ökumene in Frankfurt am Main bei den Dekanaten Mitte-Ost und Süd Christina Bender Jugendbildungsreferentin für Interkulturelle Arbeit, Kultur und politische Bildung beim Jugendbildungswerk der Stadt Frankfurt/M Hafida Allouss Sozialarbeiterin und Therapeutin beim Internationalen Familienzentrum Frankfurt/M Alexej Tarchis Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/M Moderation: Karen Fuhrmann Hessischer Rundfunk 64 Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit Frau Bender, Sie sind im Jugendbildungswerk der Stadt Frankfurt damit beschäftigt, auch Jugendleiter, also die Multiplikatoren auszubilden. Wie bekommt man dabei den interkulturellen Blick in die Köpfe? Christina Bender: Die Jugendleiterausbildung ist ein neues Projekt, das wir durchführen. Ich will es zunächst allgemein erörtern. Diese Ausbildung findet bei verschiedenen Trägern, zum Beispiel bei christlichen Gemeinden oder bei der Jugendfeuerwehr statt. Es handelt sich um Träger, die im Frankfurter Jugendring organisiert sind. Dazu gibt es verschiedene Angebote und die Ausbildungsinhalte sind bundesweit zu achtzig Prozent einheitlich. Die übrigen zwanzig Prozent können inhaltlich trägerspezifisch besetzt werden. Bisher war es so, dass wir vom Jugend- und Sozialamt diesbezüglich keine Angebote hatten. Nachdem aber das Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) hier einen Bedarf festgestellt hat, ist es durch einige Umwege zu einer Kooperation gekommen. Es gab zum Beispiel im Jahr 2008 die Veranstaltung „Jugendarbeit in muslimischen Gemeinden“. Das war ein Workshop, der in Zusammenarbeit mit dem AmkA, dem Hessischen Islamforum und dem Jugend- und Sozialamt veranstaltet wurde. Hier wurde zum ersten Mal deutlich, dass es Jugendliche gibt, die wir als Jugend- und Sozialamt bisher gar nicht erreicht haben. Wir sehen natürlich, dass es diese gesellschaftlichen Veränderungen gibt und dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Vielfalt geprägt ist, aber wir haben das bei unseren Angeboten bisher nicht berücksichtigt. Das lag auch daran, dass wir mit vielen anderen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert sind und zu wenig Mitarbeiter haben. Auf der anderen Seite haben wir erkannt, dass es notwendig ist, mehr zusammen zu arbeiten. Auf diesem Weg haben wir eine fruchtbare Kooperation mit dem AmkA gefunden, die mir persönlich die Augen für Bereiche geöffnet hat, die ich bisher nicht gesehen habe, die aber von Jugendlichen aus den Zuwanderergemeinden an das AmkA herangetragen wurden. Ich will kurz zurückblicken, damit man das besser versteht. Es gab einen Arbeitskreis im AmkA, an dem Herr Will, der Frankfurter Jugendring und auch muslimische Gemeinden beteiligt waren, in dem dann erkannt wurde, dass es auch Jugendliche mit einem Migrationshintergrund gibt, die die Jugendleiter-Card machen wollen. Da es diesbezüglich bei uns relativ wenig bestehende Strukturen gab, ging es zunächst darum, Strukturen zu schaffen, in denen sich die Jugendlichen ehrenamtlich engagieren und sich begegnen können um dann entsprechend ausgebildet zu werden. 65 Religion und Migration: Signale der Veränderung Wir haben in diesem Arbeitskreis lange darüber diskutiert, wer das machen könnte, und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir als Jugend- und Sozialamt am besten dafür geeignet waren, weil wir aufgrund dessen, dass wir nicht religiös gebunden sind, die neutralsten Vertreter waren. Da es bis dahin nur die Möglichkeit gab, eine Jugendleiterausbildung bei Einrichtungen mit einem spezifischen Trägerprofil, wie den Katholiken oder den Protestanten zu machen, hat diesen Jugendlichen den Zugang dazu sicher erschwert. Am Anfang haben wir überlegt, eine muslimische JugendleiterCard anzubieten, weil gerade aus diesen Gemeinden der Bedarf angemeldet wurde. Dann aber haben wir festgestellt, dass der Bedarf weit darüber hinaus geht und so kamen wir zu dem Entschluss, eine interkulturelle Jugendleiter-Card anzubieten, bei der der Schwerpunkt auch auf eine interkulturelle Kompetenz gelegt wird, wie wir das zum Beispiel auch beim Personal der Stadt Frankfurt einfordern und die inzwischen durchgängig in allen Berufen zum Tragen kommt. In diesem Kontext hat die Zusammenarbeit mit dem AmkA wunderbar geklappt, und im Oktober dieses Jahres haben wir das erste Wochenende durchgeführt. Es gab sehr viele Anmeldungen und wir haben da eine ganz bunte Mischung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Vertreten ist der Bildungs- und Kulturverein Frank66 furt e.V., die Katholische Gemeinde Unterliederbach, die Alevitische Jugend, die Fatima-Moschee, das Paritätische Bildungswerk, die Kroatisch-Europäische Kulturgesellschaft, der Grüne Halbmond, und das IIS – der Verein Islamische Sozial- und Serviceleistungen e.V., um nur einige der Teilnehmenden zu nennen. Sie haben gesagt, Sie haben zuerst überlegt, eine muslimische Juleica zu machen. Kann man überhaupt davon sprechen, dass es eine muslimische Jugendarbeit in Frankfurt gibt? Wie weit sind sich die Moscheegemeinden darin einig oder stimmen sich dabei ab? Frau Allouss, Sie sind neben dem Kompetenzzentrum muslimischer Frauen, auch mit der Jugendarbeit in den Moscheegemeinden befasst. Wie sehen Sie das? Hafida Allouss: Diesem Arbeitskreis, von dem Frau Bender berichtet hat, gehöre ich auch an. Ganz am Anfang haben wir eine Art Bestandsaufnahme gemacht, in dem Sinne, dass wir den Bedarf der Gemeinden und den Bedarf der Jugendlichen erhoben haben. Dabei haben wir festgestellt, dass hier Bedarf an Qualifikation besteht und haben den Arbeitskreis beim AmkA gegründet, in dem der Herr Will und auch ich dabei waren und es dann zu dem bereits erwähnten Workshop kam. Hier kamen dann schon die verschiedenen Gemeinden Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit zusammen. Die bosnische und die afghanische, die arabischen und die türkischen Gemeinden haben dabei ihre Jugendarbeit vorgestellt. Es war sehr beeindruckend, zu erfahren, was in den Gemeinden bereits vorhanden war. Gleichzeitig war aber bei allen ein Bedarf nach einer weiteren Qualifikation da. Die Teilnehmer dieses Workshops waren unter anderem Sozialarbeiter der jeweiligen Gemeinden, andere waren Laien, die gesagt haben, wir brauchen Qualifikation, wir wollen aber auch eine Vernetzung zu anderen Jugendgruppen, um zu sehen, wie die das machen. Bis jetzt lief das also alles eher nebeneinander her? Hafida Allouss: Bis dahin gab es Jugendarbeit in den Moscheen, teilweise in größeren oder in kleineren Gruppen. Die einen hatten qualifiziertes Personal, die anderen hatten Ehrenamtliche angesprochen und die dritten hatten gar nichts. Der Bedarf war aber da und wir wollten dafür neue Strukturen schaffen. Die Jugendlichen, die in die Moscheen kommen und denen wir etwas anbieten wollten, waren da, wir wussten nicht wie und was wir anbieten könnten. Wichtig bei diesem Workshop war, dass, als es um die muslimische Juleica ging, die Jugendlichen sagten, dass es ihnen nicht um die an die Juleica gebundenen Vergünstigungen gehe. Es gehe darum, was sie brauchen, um eine gute Jugendarbeit zu machen. Das war das Ergebnis dieses Workshops. Es wurde klar, dass es nicht primär islamische Inhalte braucht. Die Jugendlichen, die aus den verschiedenen Moscheen kommen, haben gesellschaftliche Probleme. Sie kommen damit in die Gemeinden und fragen sich, wie es denn kommt, dass ich denselben Abschluss habe wie mein Freund, aber nicht die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch rechtliche Fragen spielen eine Rolle, auch das deckt diese Juleica ab. Außerdem ist der Wunsch nach Vernetzung da. Deswegen sagen wir, dass von einer interkulturellen Juleica alle profitieren. Die muslimischen Jugendleiter können dabei sehen, wie das funktioniert, denn die christlichen Gemeinden sind schon etwas länger dabei und sie können daraus lernen, wie die anderen das machen und wie das funktioniert. Sie können daraus für sich Schlüsse ziehen, wie sie das machen können, wo es die Ressourcen gibt, wie die Jugendhilfe funktioniert. Denn es geht letztendlich nicht um muslimische Inhalte, sondern um allgemeine Fragen, die zur Integration führen. Wir sind jetzt dabei, einen Baustein für die Arbeit mit muslimischen Kindern und Jugendlichen zu entwickeln, ein Baustein der interkulturellen Juleica, denn dieser Ansatz ist besser und umfassender als der einer muslimischen Juleica. 67 Religion und Migration: Signale der Veränderung Auch in der Jüdischen Gemeinde gibt es verschiedene Nationalitäten, Herkunftsländer und Kulturen. Spielt für die Jugendlichen, die ja oft nachgeborene der Shoah-Generation sind, die eigene Herkunft noch eine Rolle und wie werden Sie dem, Herr Tarchis, in der Jugendarbeit gerecht? Alexej Tarchis: In der Jüdischen Gemeinde ist das ein bisschen anders als bei dem, was wir hier bis jetzt gehört haben. In Frankfurt gibt es nur eine Jüdische Gemeinde und da muss man nicht versuchen, die verschiedenen Richtungen miteinander zu verbinden, sondern sie sind alle bereits im Haus. Der religiöse Hintergrund ist in unserem Programm eher weniger vertreten. Das Problem der verschiedenen religiösen Richtungen haben wir da weniger, weil die meisten Jugendlichen, die ins Jugendzentrum kommen, von der Religion und von der Tradition eher wenig wissen. Der kulturelle Hintergrund ist wichtiger und interessanter. Ich war zwei Jahre Jugendleiter in Frankfurt und habe festgestellt, dass sich die Jugendlichen weniger mit den kulturellen Unterschieden befassen als es noch ihre Eltern oder Großeltern taten. Dazu muss man sagen, dass unsere Jugendlichen zu achtzig oder neunzig Prozent russischsprachig sind. Sie sind entweder als kleine Kinder nach Deutschland gekommen oder wurden bereits hier geboren. Aber 68 die Eltern sprechen immer noch russisch und zu Hause wird russisch gesprochen. Im Jugendzentrum ist das aber mittlerweile kein Problem, denn im Jugendzentrum sprechen wir alle deutsch. Ich gehöre selber dieser Generation an, ich bin vor fünfzehn Jahren aus Weißrussland nach Deutschland gekommen. Im Büro erlebe ich das aber immer öfter, dass die Kinder und Jugendlichen reinkommen und kein Problem haben, Deutsch zu sprechen, aber die Eltern das Problem haben. Der Grund, warum mich die Gemeinde nach Frankfurt holte, war, weil ich zweisprachig war und damit auch die Eltern mit ins Boot holen konnte, wenn sie noch Probleme mit der deutschen Sprache hatten. Da war ich dann so etwas wie ein Vermittler zwischen der Gemeinde, zwischen unserer Arbeit im Jugendzentrum und den Eltern, um denen zu erklären, warum unsere Arbeit wichtig ist. Für die russischen Eltern ist es immer noch schwer nachzuvollziehen, was so ein Jugendzentrum macht und wozu das gut ist. Viel wichtiger für sie ist die Ausbildung, die Schule und so weiter. Dass auch eine außerschulische Aktivität wichtig ist, um ein Verständnis von Gruppenbildung und Gemeinschaft zu gewinnen, da müssen wir noch sehr viel investieren, um das den Eltern verständlich zu machen. Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit Aber Sie haben dann nicht einen russischen, einen polnischen oder einen israelischen und deutschen Nachmittag, sondern alle Angebote sind für alle gleich und auf Deutsch? neue Migranten, bei den anderen waren es vielleicht die Eltern oder die Großeltern. Deswegen behandeln wir dieses Thema allgemein und nicht nur bezogen auf etwas Bestimmtes. Alexej Tarchis: Alle Angebote sind für alle gleich und alles, was wir anbieten, bieten wir in Deutsch an. In der Gemeinde gibt es zum Beispiel auch ein Seniorenclub, da wird noch überwiegend russisch gesprochen. Auch einige Feiertage wurden innerhalb der Gemeinde neu eingeführt, so zum Beispiel der 9. Mai, der Tag der Kapitulation. Heute ist das ganz normal, dass in der Jüdischen Gemeinde der 9. Mai gefeiert wird, weil das für neunzig Prozent der Gemeindemitglieder ein Feiertag ist, den sie seit ihrer Kindheit kennen. Im Jugendzentrum ist es dagegen anders, da findet alles auf Deutsch statt und da machen wir auch keine Unterschiede. Wir haben jetzt zum Beispiel ein Projekt aufgebaut, in dem wir über das Thema „60 Jahre Juden in Deutschland“, arbeiten wollen. Da werden wir uns an einem Sonntag auch mit dem Thema der Einwanderung beschäftigen. Dabei haben wir uns aber bewusst von den letzten zwanzig Jahren abgegrenzt. Wir wollen nicht nur über die russische Einwanderung sprechen, sondern über die ganze Gemeinde, die, wenn man so will, insgesamt einen Migrationshintergrund hat. Die einen sind halt Wir haben eben gehört, dass sich durch die Generationen auch immer etwas verändert. Kann man sich, Herr Will, darauf verlassen, dass, wenn Menschen verschiedenen Glaubens oder Menschen des gleichen Glaubens, aber anderer Herkunft nur lange genug zusammen leben, dass die Anpassungsprozesse automatisch stattfinden bzw. dass eine Generation weiter automatisch ein Stück näher beieinander ist, oder muss man das aktiv angehen? Dietmar Will: Das sind Prozesse, die man nicht planen kann, die aber ohnehin geschehen. Sie brauchen eine gewisse Beförderung und ein gewisses Bewusstsein. Für mich ist eine der Kernkompetenzen dieser Arbeit ganz banal: nämlich erstmal nur zuzuhören. Ich habe 2003 das Projekt mit dem ökumenischen Jugendleiterkurs damit begonnen, dass ich die Gemeinden, auch die Migrantengemeinden besucht und zunächst nur zugehört und erfragt habe, was sie brauchen und was deren Bedarf ist. Dann hatten wir ein Erzählcafé zum Thema der zweiten Generation, wir nannten es „The next generation“. In der Vorbereitung ist mir dabei klar ge69 Religion und Migration: Signale der Veränderung worden, dass in den Gemeinden eine ganz wichtige Nahtstelle liegt. Das heißt, die Frage, welche Informationen gebe ich an die erste Generation weiter, aber gleichzeitig auch die Angst davor, die Kinder an den „Westen“, an Frankfurt oder an Deutschland zu verlieren. Auf der anderen Seite, die zweite Generation, die das Gefühl hatte, die Elterngeneration, die versteht uns nicht mehr. Die wollen uns nur das aufzwingen, was sie kennen, aber wie wir hier leben, das verstehen sie nicht mehr. Nach diesem Erzählcafé ist zunächst nichts weiter passiert, aber einige Zeit später haben wir ein Werkstattgespräch initiiert, mit betroffenen Vertretern aus den Gemeinden aus der ersten und aus der zweiten Generation und aus den verschiedenen Konfessionen. Das waren seinerzeit christliche Gruppen: Methodisten und Protestanten, aber auch orthodoxe und charismatische Gruppen, von denen wir erfahren wollten, was sie machen, wo sie stehen, was sie brauchen. Dabei ist mir das Stichwort „bedarfsorientiert“ sehr wichtig, denn bei den vielen Angeboten, die wir machen, will ich halbwegs das Gefühl haben, dass es den Bedarf abdeckt. Nach drei Runden Werkstattgespräch haben wir dann ein Curriculum entwickelt, bei dem meine Aufgabe darin bestand, die jeweiligen Akteure zusammenzubringen: Die traditionellen Anbieter, die die Jugendleiter-Card ohne70 hin schon anbieten, wie z.B. das Stadtjugendpfarramt und andere Jugendverbände und den Kontakt zu den Migrantengemeinden herzustellen, die sich daran beteiligen wollten. Dabei ging es, wie wir schon gehört haben, auch um Methodenfragen. Achtzig Prozent der Inhalte sind ja festgelegt, aber bei den restlichen zwanzig Prozent hatten wir Gestaltungsfreiräume. Dabei war es wichtig, mit den Migrantengemeinden ins Gespräch kommen. Teilnehmer waren zum Beispiel die Griechisch-Orthodoxe und eine Vietnamesische Gemeinde, Gemeinden aus Eritrea, Ghana und Indonesien. Es ist also eine Art „Instrument“ entstanden, in dem Raum, Zeit und viele andere Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden, damit die Jugendlichen der zweiten Generation im Alter von sechzehn Jahren bis etwa Ende zwanzig einen Raum finden, in dem sie sich treffen können. Es ging zunächst nicht nur um Inhalte, sondern darum, ihnen ein Stück Raum anzubieten, in dem sie einfach nur neugierig aufeinander sein konnten. Bei der Auswertung kam heraus, dass eine griechischorthodoxe Teilnehmerin sagte: „Ich habe mit einer anderen Christin oder einem anderen Christen bewusst noch nie an einem Tisch gesessen“. Das Ziel also war, sich über sich selber, über die eigene Rolle bewusst zu werden und das im Austausch mit dem Anderen. Denn wenn ich im Austausch bin, Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit dann lerne ich auch sehr viel über mich selbst, und das sollte der tiefere Sinn von diesem Dialog sein. Was für mich dabei wichtig ist, ist die Tatsache, dass wir dies nicht von oben herab formuliert haben, sondern dass dieses Bedürfnis auch von der zweiten Generation formuliert wurde. Hier müssen wir also bereit sein, Verantwortung abzugeben. Wenn man von der interkulturellen oder der ökumenischen Jugendleiter-Card hört, könnte man sich vorstellen, dass die Jugendlichen aus allen Gemeinden, also aus den Mosche-Gemeinden, aus der Jüdischen Gemeinde, aus christlichen Gemeinden zusammen kommen und sich dazu ausbilden lassen. Aber sie haben ja alle einen anderen religiösen Hintergrund. Wie sieht das dann praktisch aus? Wenn ich zum Beispiel wissen will, wie ich mit den Jugendlichen in meiner Gemeinde umgehen soll, ist das dann so, dass man mir antwortet, deine Religion lassen wir jetzt bei Seite, wir reden erst einmal darüber, wie man eine Stunde mit Jugendlichen so verbringt, dass es ihnen Spaß macht, ob wir dabei Musik machen oder etwas für eine Freizeit planen, spielt dabei keine Rolle? Wie wichtig ist in so einer interkulturellen Jugendleiterausbildung noch die Religion? Christina Bender: Natürlich haben wir versucht, das zu berücksichtigen. Es war unsere Absicht, bei der interkulturellen Juleica die Religion nicht allzu sehr in den Vordergrund zu stellen. Ich muss aber dazu sagen, dass die interkulturelle Juleica nur ein Baustein davon ist, was wir mit dem AmkA entwickelt haben. Dabei ging es vor allem darum, diejenigen auszubilden, die ehrenamtlich in der Jugendarbeit in den Zuwanderergemeinden tätig werden wollten, dieses Angebot aber noch nicht kannten. Dafür mussten wir zunächst die Strukturen der Jugendarbeit in den Gemeinden kennenlernen und haben festgestellt, dass es in den meisten muslimischen Gemeinden gar keine gewachsenen Strukturen wie in anderen Gemeinden, gab. Es mussten also zunächst neue Strukturen aufgebaut werden. Dazu haben wir zusammen mit Frau Klinger, ähnlich wie es Herr Will bereits dargestellt hat, angefangen, die Gemeinden zu befragen und zu hören, was die erste Generation möchte, wie weit die Wünsche der Jugendlichen und der ersten Generation, die die Vorstände der Gemeinden bilden, auseinander liegen. Oft haben wir eine Hilflosigkeit erfahren, denn die Vorstellungen über mögliche Angebote waren völlig unklar. Deswegen haben wir neben der interkulturellen Juleica einen zweiten Baustein in Form eines Jugendforums errichtet, in dem es 71 Religion und Migration: Signale der Veränderung um den Aufbau von Strukturen für die Jugendarbeit ging und auch darum, wie diese finanziert werden könnten. Das war zunächst ein Nachmittag bzw. Abend, den wir im Jugendamt angeboten haben und die wir auch fortführen wollen, weil sich sehr viele Jugendliche dafür interessiert haben. Wir haben zunächst Beispiele für den Aufbau von Jugendarbeit vorgestellt und dann ein breites Spektrum von Finanzierungsmöglichkeiten erörtert. Dabei könnten sich das AmkA, das Jugendamt und das Jugendbildungswerk beteiligen, weil es hier Gelder für Partizipationsprojekte gibt. Darüber hinaus ist mir noch etwas anderes klar geworden. Sie hatten gefragt, welche Rolle bei der interkulturellen Juleica die Religion spielt. Nachdem wir die interkulturelle Juleica begonnen hatten, ist mir klar geworden, dass wir völlig vergessen hatten, dass auch Jugendliche dabei sein können, die Zeit und Raum für ihr Gebet brauchen. Das hatten wir nicht eingeplant, weil wir damit noch nie konfrontiert waren. Wir haben es dann eher spontan untergebracht, in der ursprünglichen Konzeption war das aber nicht berücksichtigt. Im Nachhinein würde ich sagen, dass wir das künftig von vorne herein einplanen müssen. Genauso wie wir immer Barrierefreiheit garantieren, müssen wir auch Zeit und Raum für das individuelle Gebet garantieren. Bei dem nächsten Jugendforum hatten wir im Ju72 gend- und Sozialamt für einen Gebetsraum gesorgt, bekamen dann aber das ganz profane Problem mit der Alarmanlage, weil wir bei Abendveranstaltungen nur einen gewissen Trakt benutzen können. Wir haben dann eine längere Pause gemacht und diejenigen, die wollten, sind zum Beten gegangen. Als sie dann zurückkamen haben sie gefragt: „Habt ihr jetzt auf uns gewartet?“ Das war für diejenigen, die diese Zeit brauchten, nicht selbstverständlich. Auch für sie war das ein Lernprozess. Was Religion anbelangt, möchte ich noch eine Sache erwähnen. Uns war dann schon klar, dass auch Religion bei dieser Weiterbildung im Vordergrund stehen sollte, weil das für die Identität der Jugendlichen wichtig ist. Dazu entwickeln wir jetzt ein Projekt mit dem Rat der Religionen. Das Ziel ist, dass Jugendliche sich zeigen können, wo sie in der Stadtgesellschaft stehen. Dazu soll unter anderem eine interreligiöse Stadttour entwickelt werden, die man zum Beispiel Schulen anbieten kann. Jeweils zwei Jugendliche einer Gemeinde entwickeln einen Baustein, in dem sie ihre Religion und ihre Gemeinde vorstellen und sich den Fragen der Schüler stellen. Die verschiedenen Bausteine können dann zu einer interreligiösen Stadtführung beliebig kombiniert werden, je nach Interessen der jeweiligen Schule. Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit Heißt das, dass man der gesamten Frankfurter Bevölkerung bewusst macht, dass diese Religionen hier in Frankfurt und zwar an diesen Orten stattfinden? Hafida Allouss: Aus meiner Sicht als Außenstehende kann ich sagen, dass es auch für die Moscheen schwierig ist, die Jugendlichen zu erreichen. So wie die religiöse Praxis von der ersten Generation gelebt oder erklärt wird, das kommt bei den Jugendlichen oft nicht mehr an. Die Jugendlichen in den Moscheengemeinden nutzen die Gruppen auch zur Neudefinition für sich selbst, um zu schauen, wie das für sie richtig ist. Gilt für mich noch das, was meine Eltern leben? Auch die Rolle der Frau, die Bildung, all das können sie mit den Jugendleitern diskutieren und für sich klären, ob das, was die Tradition der Eltern betrifft, noch ihre Tradition sein kann. Deshalb sind diese Gruppen für die Jugendlichen so wichtig. Obwohl die Jugendarbeit auf diesem Podium unser Thema ist, will ich doch noch einmal die Frage nach dem muttersprachlichen Gottesdienst aufgreifen. Herr Tarchis, wie erleben Sie das? Sie haben gesagt, es ist völlig selbstverständlich, dass bei Ihnen im Jugendzentrum deutsch gesprochen wird. Aber ist das auch das Bedürfnis der jüdischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft? Wir haben heute Morgen gehört, dass es in der portugiesischsprachigen Gemeinde das Bedürfnis gibt, auch in der zweiten und dritten Generation über die eigene Sprache Wurzeln und Identität zu suchen. Alexej Tarchis: Ich glaube, in der Jüdischen Gemeinde ist es weniger der Fall. Ich höre bei den Jugendlichen, die noch als Kinder eingewandert und jetzt schon Erwachsene sind, inzwischen sehr selten Russisch. Man hört auch, wenn sie vom Jugendzentrum aus mit ihren Eltern telefonieren und sagen, dass sie später kommen, dass sie nicht mal mehr wirklich gut Russisch sprechen können. Das ist die Generation, die hier aufgewachsen ist. Natürlich gibt es Ausnahmen. Schimpfwörter zum Beispiel benutzt man immer noch in der Muttersprache, das kennt man. Aber auf jeden Fall ist Deutsch eher da und die Bereitschaft, russisch zu sprechen, ist weniger da. Man hört es noch, aber inzwischen immer weniger. Verbindet sich damit ein Interesse an anderen Religionen? Also dass man sagt, ich lebe hier in Deutschland und schaue, wie die christlichen oder die muslimischen Jugendlichen leben? Gibt es im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde eine Offenheit für eine interkulturelleökumenischeJugendleiter-Card? 73 Religion und Migration: Signale der Veränderung Alexej Tarchis: Ich muss ehrlich sagen, das ist nicht in erster Linie ein Schwerpunkt in unserer Arbeit. Ich muss als Jugendleiter bestimmen, was wir machen. Meine Meinung diesbezüglich war immer, dass es noch genug Nachholbedarf an Wissen über das Judentum gibt. Bevor man nach außen geht und die anderen Religionen kennen lernt und hinterfragt, muss man seine eigene Religion gut kennen. Auf der anderen Seite erleben die Jugendlichen das Andere in der Schule und bei den Freunden, die aus anderen Religionen kommen. Das heißt, man erlebt das schon. Ich würde aber nicht sagen, dass man da sehr tief nachforscht. Wie ist das in den Moscheegemeinden? Auch hier haben wir ja ganz unterschiedliche Herkunftsländer und Gemeinden, die schon nach den Herkunftsländern organisiert sind. Wir haben schon gehört, dass sich da untereinander einiges tut, um aufeinander zuzugehen und sich auszutauschen bzw. sich zu vernetzen. Wie groß ist in den muslimischen Gemeinden die Offenheit, sich mit der jüdischen, der katholischen oder der evangelischen Religion zu befassen? Hafida Allouss: Meine Gemeinde ist auch eine deutschsprachige Gemeinde. Dort finden das Freitagsgebet und alles andere in der deutschen Sprache 74 statt. Im interreligiösen Dialog sind wir sehr aktiv. Dadurch, dass uns z.B. beim Freitagsgebet immer wieder Schulklassen oder andere Gäste besuchen, befinden wir uns in einer ständigen Auseinandersetzung. Auch beim Tag der offenen Moschee kommen viele Gäste und es wird viel diskutiert. Also in dieser Hinsicht findet ein intensiver Austausch statt. Aber auch bei uns ist es so, dass die Mitglieder unserer Moschee von sich aus nicht unbedingt nach außen gehen. Sie sind viel zu sehr mit sich und mit ihren alltäglichen Problemen beschäftigt. Was die Sprache anbetrifft, auch das erlebe ich so, dass sich die Jugendlichen der zweiten oder der dritten Generation vielmehr in der deutschen Sprache beheimatet fühlen. Das ist die Sprache, in der sie sich in den Jugendgruppen, zumindest in denen, die ich kenne, verständigen. Inwieweit wird daran gedacht, bei der ökumenischen JugendleiterCard auch jüdische oder muslimische Jugendliche mit reinzuholen? Dietmar Will: Im Kopf ist es schon, nur ich denke, dass das Sichselbstfinden, das Untereinander-Austauschen seine Zeit braucht und im nächsten und übernächsten Schritt auch das Auseinandersetzen mit den anderen Religionen, auch dafür muss man sich Zeit nehmen. Deswegen gibt es für mich nicht dieses „Entweder-Oder“. Es braucht Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit eine halbwegs gesicherte eigene Identität, um in den Dialog zu treten. Wenn ich keine eigene Identität, keine eigene Rollensicherheit habe, dann bewege ich mich im Dialog auf sehr dünnem Eis. Deswegen ist das zwar wichtig, aber im Kopf erst in der zweiten oder dritten Phase möglich. Wichtig ist es, weil das die gelebte Normalität in Frankfurt ist. Aber das Bewusstsein dafür, das zu reflektieren, ist noch eher spärlich vorhanden. Gerade bei der interkulturellen Jugendleiter-Card ist zum Beispiel auch ein Mitglied von der Französisch-reformierten Gemeinde dabei, also auch ein Christ oder eine Christin. Deswegen hat das hat auch seine Berechtigung. Ich konnte es gut nachvollziehen, was Sie von dem jüdischen Jugendzentrum gesagt haben, würde aber trotzdem sagen, von der Zielsetzung her muss deutlich werden, dass wir uns da interkulturell auch in einem religiösen Feld bewegen und das wir das entsprechend reflektieren und in unsere Überlegungen und Arbeit mit aufnehmen müssen. Wenn man sagt, wir machen alle zusammen eine Jugendleiter-Ausbildung und alle machen dann in ihren Gemeinden dasselbe, worin liegt dann der Unterschied, ob ich als Jugendliche in eine Gemeinde gehe mit meinem religiösen Hintergrund, oder in eine ganz andere Gemeinde, oder gar in das städtische Jugendzentrum? Christina Bender. Ich würde das jetzt nicht nur auf die Gemeinden beziehen. Wir haben zum Beispiel eine Jugendfeuerwehr. Wenn man eine Jugendleiter-Ausbildung macht, trifft man auch auf ganz unterschiedliche Jugendliche mit ganz unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen. Dann reicht es nicht, vorher mit Christen zusammen gewesen zu sein und sich da ein bisschen auszukennen, sondern dann ist es wichtig, diese Erfahrungen in die Ausbildung mit einzubringen. Dann kann nämlich über Erfahrungen berichtet werden, wie z.B. Ich hatte noch nie mit Kopftuchträgerinnen zu tun und das war eine ganz tolle Erfahrung. Wir haben in einem Raum geschlafen und ich war dabei, als sie gebetet haben. Also einfach so etwas. Beitrag aus dem Publikum Dr. Brigitta Sassin: Also für unsere Jugendlichen, die Jugendlichen der katholischen Gemeinden hier aus Frankfurt, ist es wichtig, dass sie sich untereinander vernetzen und erfahren, sie sind alle Jugendliche in dieser gemeinsamen Kirche, aber leben ihren Glauben sehr unterschiedlich, leben ihn in unterschiedlichen Sprachen und kommen aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Und wenn dann indische Jugendliche mit eritreischen und deutschen Jugendlichen zusammen einen Jugendgottesdienst vorbereiten, dann ist das span75 Religion und Migration: Signale der Veränderung nend für alle. Uns von der Katholischen Kirche ist es wichtig, dass diese Vernetzung passiert und diese Vernetzung, diese Verständigung zunächst in unserem Rahmen passiert. Wir sind glücklich, dass wir das anbieten können und wir ermutigen unsere Leute, das zunächst in diesem Rahmen zu tun. Das Angebot der Stadt schätzen wir sehr, aber wir haben auch die Möglichkeit, diese Vernetzungen, diese Verortung und das Wachsen der eigenen Identität selber anzubieten. Dann ist also die eigene Kirche doch wichtiger? Dietmar Will: Ich würde nicht sagen wichtiger, aber ich würde sagen, die Grundlage, die Basis, die Zugehörigkeit zu einer eigenen Gruppe ist wichtig. Wir leben ja religiös nicht global. Religion ist immer sehr konkret, verbunden mit Bekenntnissen und Riten. Das finde ich auch gut und das sollte man nicht gegeneinander ausspielen. Es ist wichtig, eine eigene Identität zu haben, dann aber auch zu sagen, ich bin nicht allein, wie gehe ich jetzt mit dem anderen um, also auch das miteinander lernen. Für die Schlussrunde will ich die Frage aufnehmen, was genau unter interreligiösen bzw. interkulturellen Kompetenzen zu verstehen ist. Was brauchen wir für die Begegnung. Herr Tarchis, Sie 76 haben beschrieben, dass Sie auch Programme und Projekte haben, in denen Sie die jüdischen Jugendlichen über ihre Wurzeln, ihre Herkunftsreligionen oder Herkunftsländer informieren und über die Besonderheiten, die es in der Ausübung der Religion gibt. Andererseits haben Sie gesagt, dass auch die Einheitsgemeinde stark im Mittelpunkt steht, und dass Deutsch die Sprache in den Projekten ist. Das heißt, Sie haben innerhalb der Jüdischen Gemeinde Aufklärung über die Unterschiede aber auch die Begegnungen. Wenn Sie jetzt nach vorne schauen, wo meinen Sie, könnte beides aus der Jüdischen Gemeinde heraus in die andere Öffentlichkeit in Frankfurt stattfinden? Alexej Tarchis: Was den Dialog angeht, ist das schwierig. Da war der Vorschlag, dass man selber viel über sich lernt, wenn einem Fragen gestellt werden, dass die Jugendlichen das unmittelbar erleben. Das stimmt auf jeden Fall. Das Problem dabei ist nur, dass man oft nicht die Fragen erlebt, sondern eher Anfeindungen, und dadurch verschließt man sich eher als etwas über sich zu lernen oder zu erzählen. Ein Projekt aus Heidelberg bzw. Baden-Württemberg könnte hier für die Zukunft interessant sein. Da werden jüdische Jugendliche für den Dialog vorbereitet. Man kann ja die Jugendlichen nicht einfach irgendwo in eine an- Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit dere Gemeinde schicken, damit sie etwas über sich oder über ihre Religion und Identität erzählen. In diesem Projekt werden die Jugendlichen darauf vorbereitet, um dann in die Klassen zu gehen. Sie werden oft von Schulen eingeladen, um zu zeigen, dass jüdische Jugendliche genauso normale Jugendliche sind, dass sie hier leben und deutsch sprechen und die gleichen Probleme haben wie Jugendliche aus anderen Kulturen oder Religionen. Das Projekt läuft jetzt seit zwei Jahren und es trägt positiv zu diesem Dialog bei. Vor allem für die jüdischen Jugendlichen ist es glaube ich positiv, weil sie erleben können, dass man sich für sie interessiert und sie sich darauf vorbereiten können. Wenn Sie sich das für die muslimischen Jugendlichen anschauen, vielleicht auch für die muslimischen Frauen, mit denen Sie in dem Kompetenzzentrum zusammen arbeiten. Wo sehen Sie, Frau Allouss, die nächsten möglichen Schritte? Hafida Allouss: Ich sehe das auch so, dass der interreligiöse oder der interkulturelle Dialog ein Stück weit begleitet werden muss. Während der Diskussion kam mir der Gedanke, dass die Jugendleiter, die an der interkulturellen Juleica teilnehmen, diesen Dialog ein Stück weit begleiten könnten. Gerade die Jugendlichen müssen sich mit ih- rem Glauben auseinandersetzen, in dem Sinne, wie und was will ich praktizieren, was habe ich von meinen Eltern mitbekommen, was möchte ich selbst daraus machen bzw. weitergeben. Die Adoleszenz ist eine sehr sensible Phase und die müsste begleitet werden. Wenn man später den Dialog eröffnet, dann muss das zuerst in einem kleinen, geschützten Rahmen stattfinden. Es geht also um kleine Schritte, die aber passieren müssen. Mit Blick auf die Jugendarbeit, Herr Will, was ist mit interreligiöser Kompetenz gemeint? Dietmar Will: Ich will noch einmal wiederholen, dass in der Juleica, in der Jugendleiter-Card, die Inhalte zu achtzig Prozent festgelegt sind. Die bildet Mitarbeiter aus, die in der Jugendarbeit tätig sind. Achtzig Prozent der Methoden und der Inhalte sind dort festgelegt. Deswegen will ich davor warnen, diese JugendleiterCard zu überfrachten. Über die zwanzig Prozent, die da noch offen sind, sollte man verhandeln und für Themen reservieren, die den jeweiligen Bedürfnissen entsprechen. Ob es dabei um die eigenen Rollen geht, die Rolle der Religionen in der Gesellschaft oder um die Grenzen und Möglichkeiten des Dialogs, das sollten wir den jeweiligen Bedürfnissen der Teilnehmenden überlassen. Ich möchte jetzt nicht definieren müssen, was 77 Religion und Migration: Signale der Veränderung interreligiöse Kompetenzen sind. Da begeben wir uns nach wie vor auf Glatteis. Ich würde aber sagen, dass wir dazu Module anbieten, und zwar dort, wo es uns sinnvoll erscheint, interreligiös zu agieren. Dazu können wir zum Beispiel Vertreter aus den jeweiligen Religionen einladen, um punktuell und praktisch zusammen zu arbeiten. Das war jetzt keine echte Antwort auf Ihre Frage, aber ich wollte das auf diese Weise zusammenfassen. Ich will damit den Erwartungsdruck für die Jugendleiter-Card zurücknehmen und eher erläutern, was sie leisten und was sie nicht leisten kann. Es ist ein Handwerkszeug, um die Rollensicherheit, das Reflexionsvermögen und vieles mehr mit praktischen Übungen zu lernen. Heißt das dann aber auch, dass mit der interkulturellen oder der ökumenischen Jugendleiter-Card die Jugendarbeit perspektivisch gesehen in zehn Jahren nicht nur ökumenisch sein wird? Dietmar Will: Die Jugendarbeit wird immer an die jeweiligen Gemeinden oder Vereine gebunden bleiben. Es muss aber möglich sein, diese Netzwerke, den gesicherten Raum herzustellen, damit die Begegnung möglich wird. Das betrifft die Vermittlung von Inhalten genauso, wie das gegenseitige sich Entdecken und sich Erleben. Beides gehört zusammen, 78 damit eine interkulturelle bzw. eine multikulturelle Stadtgesellschaft heranwächst. Das ist für mich auch eine Aufgabe derer, die jetzt in Verantwortung stehen, dazu brauchen wir diese Instrumentarien. Wie sehen Sie das Frau Bender? Sie arbeiten mit der interkulturellen Juleica und haben gesagt, früher hat uns das Thema Religion nicht gekümmert, jetzt sind wir da aber eingestiegen. Sicher haben auch Sie eine Vorstellung davon, wo Sie damit hin wollen. Was ist Ihr Wunsch? Christina Bender: Mein Wunsch ist auf jeden Fall, dass die Juleica, die wir jetzt als Ausbildung anbieten, in Zukunft nicht mehr interkulturelle Juleica heißen sollte, sondern dass es selbstverständlich wäre, wenn in diesen achtzig Prozent, die bundesweit gelten, interkulturelle Anteile schon mit enthalten wären, sodass wir das nicht gesondert entwickeln müssen. In der Zukunft sollte es selbstverständlich sein, dass es zu so einer Ausbildung dazu gehört, um auf diese gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen wir es in der pädagogischen Arbeit zu tun haben, zu reagieren. Mein Wunsch wäre, dass man sich im Sozialministerium dazu Gedanken machen und Konzepte entwickeln sollte. Das ist meine Vision. Die andere Vision ist, dass der Aufbau der Jugend- Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit arbeit in den Zuwanderergemeinden gelingt, so dass wir dann gemeinsam mit diesen Jugendlichen partizipatorische Projekte machen können. Unser Ansatz ist, dass wir partizipatorisch arbeiten, dass wir das mit einfließen lassen können, wohin wollen sie, was wollen sie, und dann gemeinsam Projekte entwickeln. Das ist meine Vision. Wir haben auch auf diesem Podium wieder viel über Brücken gesprochen und auch hier ist noch einmal klar geworden, dass man nicht nur gut koordinieren und kommunizieren muss, sondern dass auch die Fundamente an all den Seiten, von denen aus die Brücken gebaut werden, stabil sein müssen, damit eine stabile Brücke zustande kommt. Wenn es uns gelingt, diese Brücke zu bauen, dann können unsere Kinder und auch die Jugendlichen vielleicht leichter darüber gehen. 79 Religion und Migration: Signale der Veränderung Magdalena Modler Die Chance zwischen Tradition und Aufbruch. Potenziale und Herausforderungen außerschulischer Jugendarbeit in religiösen Gemeinden mit Migrationsgeschichte* Die Bedeutung der außerschulischen Jugendarbeit erfährt in den letzten Jahren einen Aufschwung. Hier wird nicht nur ein ganz pragmatischer Bedarf „vor Ort“ angemeldet, sondern auch fern von der kommunalen, stadtgesellschaftlichen Sphäre, zum Beispiel auf EUEbene verstärkt ein Fokus auf die „non-formal education“ gelegt. Am Beispiel von Frankfurt lässt sich beobachten, dass sich gerade in den letzten Jahren vieles in dieser Hinsicht neu formiert hat. Das liegt nicht nur an den freien Trägern der Jugendhilfe oder städtischen Institutionen, die diese Entwicklung teilweise gezielt vorangetrieben haben und langsam in das Blickfeld der Öffentlichkeit rücken. Es liegt selbstverständlich zunächst an der Situation innerhalb der Zuwanderergemeinden selbst. Sie unterscheidet sich überraschenderweise in nur sehr geringem Maße. Ob koptisch-orthodox, protestantisch mit Ursprüngen in Kamerun oder polnisch-katholisch, schiitische Gruppen aus der Türkei, sunnitische Muslime aus Marok- ko oder bei afghanischen Hindus – sowohl die (neue) Aufbruchsstimmung in den Gemeinden, als auch die vielschichtige Problematik, der sich ihre Mitglieder stellen müssen, sind sich oft sehr ähnlich. Die Lebenswirklichkeiten sind verschieden Man hat erkannt, dass nach neuen Wegen gesucht werden muss, um als religiöse Gemeinde länger zu bestehen. Der Elan, dafür etwas zu tun, kann jedoch Hand in Hand gehen mit Konfliktsituationen, mit denen sich die Gemeinden konfrontiert sehen und die das Gemeindeleben belasten. Der Generationenkonflikt, der auch unabhängig von diesen äußeren Bedingungen schon ein fester Bestandteil der Lebensphase „Jugend“ ist, wird in diesen Gruppen überdeutlich spürbar. Ein Grund dafür sind sicherlich die so fundamental verschiedenen Lebenswirklichkeiten. Kontexte, in denen noch die Älteren aufgewachsen sind und jene, die sich nun der nach- * Dieser Beitrag ist bereits erschienen in: Jörg Walther und Dietmar Will (Hrsg.): Ökumenische Jugendleiter-Card. Frankfurt am Main 2011 80 Magdalena Modler wachsenden Generation hier vor Ort präsentieren, variieren stark. Die kulturellen Codes, denen die Jüngeren sich anpassen, oder sie gar als die eigenen empfinden, sind der ersten Generation von Zuwanderern oft nicht nur fremd, sondern gelten ihr auch nicht unbedingt als nachahmens- und erstrebenswert. Die Gemeinden sehen sich dem Dilemma gegenüber, einerseits einen heimatverbundenen Rückzugsort zu schaffen, andererseits weiterhin bestehen bleiben zu wollen. So müssen sie auch Raum bieten, an dem die nachkommende Generation sich mit den hiesigen Realitäten auseinandersetzen kann und darf. In der Vergangenheit standen meist ganz pragmatisch die Überlebensprioritäten der ersten Einwanderergeneration im Vordergrund: Wo feiern wir Gottesdienst? Wie helfen wir unseren Mitgliedern bei Behördengängen? Wie regeln wir unsere Finanzen? Tragfähige Strukturen für eine lebendige Jugendarbeit waren zunächst in vielen Fällen nicht angelegt. Sie sind aber jetzt eine Voraussetzung für das Fortleben der Gemeinde. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es den Gemeinden an Nachwuchs fehlt. Woran es vielmehr mangelt, sind Perspektiven, am Gemeindeleben teilzunehmen und dieses mitzugestalten. Das heißt Perspektiven, die für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiv sind und ihnen die Chance und die Freiheit bieten, ihre eigenen Zukunftsvorstellungen einzubringen. Wichtig ist, in den Gemeinden zu vermitteln, dass dies im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass „die Alten die Bühne räumen müssen“. Sie haben in Bezug auf die Gemeindejugend oftmals Angst, dass die jüngere Generation ihre Religion oder „Heimat“ vergisst. Andererseits kann gleichzeitig die Sorge, dass Jugendliche und junge Erwachsene aus ihnen nicht ersichtlichen Gründen den gemäßigten Boden religiöser Überzeugungen verlassen und sich radikalen Einstellungen und Gruppen außerhalb der Gemeinde zuwenden, eine Rolle spielen. Beide Extreme sind teilweise vorhanden, zeigen aber zunächst den Bedarf nach eigenen Strukturen, um beiden Phänomenen angemessen zu begegnen. Stärken entdecken – Verantwortung übernehmen – Konflikte lösen Ein verstärkter Fokus auf die Kinder- und Jugendarbeit seitens der Gemeinden mit Migrationsgeschichte und deren institutionellen Partnern kann eine Chance für alle Beteiligten sein. Einerseits kann so die religiöse Identitätsbildung von jungen Menschen auf sie zugeschnitten, konstruktiv begleitet und unterstützt werden. Andererseits wäre dies aber auch ein aktiver Beitrag zur Gewährleistung und Tragfähigkeit basisdemokrati81 Religion und Migration: Signale der Veränderung scher Strukturen. Jugendgruppen und selbstverantwortliche Gestaltung von Projekten durch Jugendliche können einen idealen und geschützten Rahmen bieten für zivilgesellschaftliches „empowerment“ im weitesten Sinne. Die Entwicklung einer selbstreflektierten Persönlichkeit, Erprobung eigener Stärken und Schwächen, erste Erfahrungen von Teamarbeit und Konfliktlösungsstrategien und ein Bewusstsein für Verantwortung gegenüber gesellschaftlichen Prozessen werden hier ermöglicht und unterstützt. Demokratie und Partizipation können als erfahrbare Lebenswirklichkeit und nicht als entfernt bekannte Regierungsform erlernt werden. Klassische Formen der Jugendarbeit bieten Erfahrungswerte, die auf die spezielle Zielgruppe übertragen oder aber zu neuen Strategien weiterentwickelt und angepasst werden können. Bedingungen für die oben erwähnten Lern- und Entwicklungsprozesse sind in gegenwärtiger Jugendarbeit in den verschiedensten Kontexten gegeben. Zu nennen wären hier kooperative Handlungsweisen und die Reflexion der Jugendleiter und Leiterinnen über Methoden und ihre eigene Rolle in der Jugendarbeit. Jugendliche erleben sich innerhalb von Jugendarbeitsstrukturen als „Lehrende“ und werden als Repräsentanten und Vorbilder ernst genommen und gefordert. Erfolge der partizipativen Jugendarbeit sind u.a. auf eben diesen 82 Rollenwechsel zurückzuführen, Leitungs- und Organisationsverantwortung werden freiwillig und gern übernommen, da eine Art „empowerment“ Effekt entsteht. Ihnen eröffnen sich außerdem Möglichkeiten zum Einüben von eigenen Handlungsoptionen und des Umgangs mit Gruppenprozessen und -dynamiken. Diese Grundfesten der Jugendarbeit können insbesondere an Bedeutung gewinnen, wenn es sich bei der Zielgruppe um Kinder und Jugendliche handelt, die teilweise aus sogenannten „bildungsfernen“ Milieus stammen und/ oder in ihrem Leben mit Erfahrungen sozialer Benachteiligung konfrontiert waren. Es kann eine Chance sein, schulische Versäumnisse oder Diskriminierung struktureller Art positiv ergänzen zu können. Es ist daher wichtig, Strukturen zu schaffen und weiter zu unterstützen, die Identitätsentwicklung in einer fördernden, zu eigenen Positionen anregenden und wertschätzenden Atmosphäre ermöglichen. Zukunft gemeinsam erarbeiten Für die bereits etablierten Institutionen und Verbände der Mehrheitsgesellschaft stellen sich verschiedene Aufgaben, um diese Prozesse konstruktiv mitzugestalten und zu unterstützen. Dabei ist es wünschenswert, Bemühungen und Austausch von Erfahrungen möglichst ohne eine paternali- Magdalena Modler sierende Haltung anzugehen. Zunächst sollte eine Bestandsaufnahme von schon vorhandenen Strukturen der Jugendarbeit in Gemeinden mit Zuwanderergeschichte vorgenommen werden, die den Status quo möglichst realitätsnah beschreibt. Daran anschließen sollte sich die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, Bedürfnisse aufzunehmen und bereits begonnene Prozesse weiter zu unterstützen. In Frankfurt geschah dies in einigen Fällen bereits erfolgreich (Internationaler Konvent/evangelische muttersprachliche Gemeinden mit der ÖkJuleica; Hessisches Islamforum, Amt für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurter Moscheegemeinden mit einem Forum zu „Jugendarbeit in Moscheegemeinden“). Anschließend sollten die „human resources“ sondiert werden, d.h. Multiplikatoren und Multiplikatorinnen aus den Gemeinden sollten identifiziert und mit bedarfsorientierten Informationsveranstaltungen, Professionalisierungsangeboten und Überblicksbroschüren für die Praxis in den eigenen Kontexten unterstützt werden (Kontext Frankfurt: Entwicklung der „Interkulturellen Juleica“ und eines „Jugendforums“ seitens des AmkA, des Frankfurter Jugendbildungswerks und des Jugendrings Frankfurt). Zukunftsorientiert gedacht, wäre es durchaus lohnenswert, sich mit der Arbeit in anderen euro- päischen Großstädten besser zu vernetzen und über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, „good practice“ usw. zu sprechen. Teilnehmen an solch vernetztem Arbeiten sollten Institutionen, Initiativen und Jugendliche/junge Erwachsene. Dies kann sowohl gelten für die Arbeit in den großen Kirchen, für Kommunen wie auch für Vereine und NGOs. Es gilt, wie in einigen Beispielen auf kommunaler Ebene bereits erfolgreich geschehen, zusammengeführte Initiativen und Projekte auch länderübergreifend in europäischen Großstädten zu evaluieren und voneinander zu lernen. Es gibt bekanntermaßen viel mehr Ähnlichkeiten z.B. zwischen Frankfurt und Mailand oder London als zwischen einigen deutschen Großstädten. Gerade in Fragen, die die Jugendarbeit betreffen, kann es also von großem Gewinn für alle Beteiligten sein, diese Ähnlichkeiten aufzugreifen und gemeinsam an Zukunftsstrategien zu arbeiten. Ausgewählte Literatur zum Weiterlesen Non-Formale/Informelle Bildung: Rauschenbach, Th./Düx, W./Sass, E. (Hg.) (2006): Informelles Lernen im Jugendalter: vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. München, Weinheim. 83 Religion und Migration: Signale der Veränderung Sozialisationsphase Jugend: Hurrelmann, K. (2007): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, 9. Aktualisierte Auflage. Weinheim, München. Peer-Trainings: Nörber, M. (2003): Peer Education – Ein Bildungs- und Erziehungsangebot? In: ders. (Hg.): Bildung und Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige. Weinheim et al., S. 79–93. 84 Christina Bender, Vera Klinger Christina Bender, Vera Klinger Die Frankfurter „Juleica interkulturell“ Um die Arbeit von ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendarbeit tätigen jungen Menschen zu unterstützen und zu professionalisieren, bieten verschiedene Träger in Frankfurt erstmals seit 2010 in einer Trägerkooperation eine Jugendleiterausbildung an. Diese wird verbunden mit dem Erwerb der bundeseinheitlich anerkannten Jugendleiter bzw. Jugendleiterin-Card. Diese beinhaltet eine amtliche Legitimation, die in allen Bundesländern gleichermaßen anerkannt wird und eine Reihe von Vergünstigungen (z.B. freie Eintritte) ermöglicht. In Frankfurt bieten derzeit folgende Frankfurter Jugendverbände die Ausbildung an: Deutsche Jugend aus Russland e.V., Evangelisches Stadtjugendpfarramt, Jugendfeuerwehr, Katholische Jugend, Naturfreundejugend, SJD – Die Falken und Solidaritätsjugend Frankfurt. Speziell für die Gruppe der Jugendlichen aus christlichen Zuwanderergemeinden hat die Evangelische Pfarrstelle für Ökumene zusammen mit weiteren evangelischen Trägern die „Ökumenische-Juleica“ entwickelt . Zuständig für die Vergabe der Jugendleiter-Card ist das Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt. Etwa achtzig Prozent der Ausbildungsinhalte der Jugendleiterausbildung sind inhaltlich festgelegt. Sie umfassen folgende Schwerpunkte: Arbeit in und mit Gruppen/Rechts- und Versicherungsfragen/Organisation und Planung/ Entwicklungsprozesse/Lebenssituation sowie Informationen zum Rollen- und Selbstverständnis von Kindern und Jugendlichen. Weitere zwanzig Prozent der Inhalte werden trägerspezifisch ausgestaltet – diese orientieren sich vornehmlich am Trägerprofil und unterschiedlichen Zielgruppen. Für Frankfurt bedeutet dies, dass es ein Angebot für eine große Gruppe eher trägerorientierter junger Interessierter gibt, wobei zu bemerken ist, dass der Qualifizierungsbedarf ehrenamtlich tätiger junger Leute aus den zahlreichen Zuwanderergruppen bisher kaum speziell berücksichtigt wurde. Eine Ausnahme bildet dabei die „Deutsche Jugend aus Russland“ und die „Ökumenische-Juleica“. Hier setzt das interkulturelle Frankfurter Projekt an, das im Rahmen einer Arbeitsgruppe entwickelt wurde. Koordiniert vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) trafen sich in einem 85 Religion und Migration: Signale der Veränderung Arbeitskreis Vertreterinnen und Vertreter des Jugend- und Sozialamtes, der evangelischen Kirche/ Jugendarbeit, des Frankfurter Jugendrings, des Verbandes „Deutsche Jugend aus Russland“, des muslimischen Verbandes „Grüner Halbmond“, des Hessischen Islamforums, der Moscheegemeinde „IIS“ und das „Kompetenzzentrum Muslimische Frauen Rhein-Main“. Der Ansatz ging von dem Bedarf für eine Jugendleiter-Ausbildung speziell für junge Leute in den Moscheegemeinden aus. Dieser Bedarf wurde durch Gespräche mit Vorständen von Moscheegemeinden deutlich, die ihre Frage „was können wir den jungen Leuten heute anbieten“ wiederholt in Gesprächen mit dem AmkA thematisiert wurde. Da es keine Kenntnis und keine entsprechend ausgebildeten Mitarbeiter in den Gemeinden gab, war oftmals – gerade bei Vorständen der ersten Zuwanderergeneration – der „gut Deutsch sprechende junge Prediger“ aus Sicht der Vorstände die einzig vorstellbare personelle Wahl. Ein erster Workshop zum Thema „Jugendarbeit in den Moscheegemeinden“ machte in einzelnen Gemeinden beeindruckende Entwicklungen sichtbar, dabei wurden aber Qualifizierungsbedarfe und Wünsche bei den im Jugendbereich Engagierten mehr als deutlich. In einer optional denkbaren „Muslimischen Juleica“ sollten die 86 spezifischen Erfahrungen muslimischer Kinder und Jugendlicher angemessen aufgegriffen und thematisiert werden. Im Laufe des Arbeitsprozesses des Arbeitskreises wurde deutlich, wie groß der Bedarf auch bei Gruppen aus anderen Zuwanderermilieus ist. Dabei wurde ebenfalls deutlich, dass die oben beschriebene Grundqualifikation, die die bereits angebotenen „Juleicas“ sicherstellen, durch weitere Aspekte ergänzt werden muss. Thematisiert werden sollten vor allem die spezifischen Lebenswelten in den unterschiedlichen Zuwanderermilieus, die jeweiligen religiösen und kulturellen Prägungen, das Verhältnis der Generationen untereinander und die Erfahrungen in unserer Gesellschaft, die von einzelnen Gruppen immer noch als ausgrenzend oder diskriminierend erlebt werden. 2010 wurde erstmals vom kommunalen Jugendbildungswerk Frankfurt in Kooperation mit dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten und dem Frankfurter Jugendring ein neues Konzept einer „Jugendleiterausbildung interkulturell“ entwickelt, die durch spezifische Bausteine (z.B. zur Arbeit mit muslimischen Kindern und Jugendlichen) ergänzt wird. Die Ausbildung, die neben notwendigen Basisinformationen auch methodische Hilfen zu den pädagogischen Grundsätzen der Kinder- und Jugendarbeit enthält, vermittelt demokratische Grundla- Christina Bender, Vera Klinger gen der Bundesrepublik Deutschland und befähigt Jugendliche in ihren jeweiligen Strukturen zielgruppenorientiert zu arbeiten. Die interkulturelle Jugendleiterausbildung soll junge Menschen unterstützen, offen für eine multikulturelle Gesellschaft zu sein, für die plurale Gesellschaft einzutreten sowie gleichzeitig die eigene religiöse und kulturelle Identität zu bewahren und zu leben. Aus diesem Grund wurde dem Erwerb interkultureller Kompetenz ein hoher Stellenwert in der Ausbildung beigemessen. Der erste Ausbildungslauf der „Juleica interkulturell“ startete im März 2011 in der Jugendherberge Wiesbaden. Der interkulturelle Ansatz zeigte sich bereits in der Zusammensetzung der Gruppe. Die sechzehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die daran teilnahmen, kamen aus verschiedenen Gemeinden und Kulturvereinen im Stadtgebiet. Vertreten waren die Evangelische Kirchengemeinde Sindlingen, der Bildungs- und Kulturverein Frankfurt e.V., die Alevitische Jugend Frankfurt e.V., die Kroatisch-Europäische Kulturgesellschaft, der Grüne Halbmond e.V., der islamische Sozialdienst-Deutschland e.V., der Marokkanisch-IslamischeKulturverein e.V., die Katholische Gemeinde Unterliederbach, der Verein Islamische Informationsund Serviceleistungen e.V. sowie die Hazrat Fatima Moschee e.V. Neben einem ersten Kennenlernen standen die Entwicklung und Förderung interkultureller Kompetenz sowie die Herausforderungen einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft im Vordergrund. Die Begegnung war von Toleranz und gegenseitigem Interesse geprägt, sodass die ersten Rückmeldungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchweg positiv ausfielen. Am zweiten Ausbildungswochenende, das im Mai 2011 in der Naturschule Hessen stattfand, war eingebettet in erlebnispädagogische Module. Die Arbeit mit Gruppen bildete dabei einen Schwerpunkt. Einen Abschluss wird die Ausbildung nach den Sommerferien finden, in denen das Ferienkarussell der Stadt Frankfurt den Teilnehmenden der Juleica-Ausbildung Möglichkeiten für Praktika und Hospitationen bietet, um erworbene Kenntnisse unter pädagogischer Anleitung erproben zu können. Das Abschlusswochenende wird vom 2. bis 4. September 2011 im Haus der Jugend stattfinden und wird sich schwerpunktmäßig mit Kinder- und Jugendschutz sowie der Rolle von Jugendleiterinnen und Jugendleitern auseinandersetzen. Aufgrund des großen Interesses und da nicht allen Interessentinnen und Interessenten ein Ausbildungsplatz angeboten werden konnte, wird voraussichtlich im 87 Religion und Migration: Signale der Veränderung kommenden Jahr ein zweiter Ausbildungsdurchgang angeboten. Zusätzlich ist eine erste Fortbildung mit interkulturellen Inhalten, die auf Jugendarbeit mit muslimischen Kindern und Jugendlichen bezogen sein wird, für September 2011 geplant. 88 Saskia Schneider, Jörg Walther, Dietmar Will Saskia Schneider, Jörg Walther und Dietmar Will Die ökumenische Jugendleiter-Card in Frankfurt am Main – Ein Zukunftsthema für die ganze Gesellschaft ... Ein Gespräch mit den „Machern“ des Projektes* Was war für Sie der Anlass, ein Projekt gezielt für Jugendliche aus Gemeinden nicht-deutscher Herkunft und Sprache anzubieten? Jörg Walther: Der Ausgangspunkt war, dass uns eine Tatsache immer deutlicher wurde: Im Rhein-Main-Gebiet gibt es eine Vielzahl Gemeinden unterschiedlicher christlich-konfessioneller Herkunft, die sich regelmäßig zu Gottesdiensten treffen und dabei meist in Kirchen und Gemeindehäusern zu Gast sind. Ihre Mitglieder kommen aus Ostoder Südost-Europa, Asien oder aus Afrika. Zu ihrem sonntäglichen Programm gehört vielfach auch die Begleitung von Kindern und Jugendlichen. Doch die Ehrenamtlichen, die verschiedene Altersgruppen betreuen, haben in der Regel keine pädagogische Vor- oder Ausbildung. Dietmar Will: Das geht bereits auf das Jahr 2003 zurück. Da gab es Interviews mit Jugendlichen aus Gemeinden fremder Sprache und Herkunft. Viele aus dieser Zweiten Generation sind hier geboren und fühlen sich als Frankfurter, werden aber von außen mit ihrer Herkunft und vermeintlichen Andersartigkeit konfrontiert und identifiziert. Was war der erste Schritt in Richtung eines speziellen Angebotes für diese Zielgruppe? Jörg Walther: Wir haben zunächst zu einem Erzählcafé eingeladen, damit sich die Jugendlichen einmal kennenlernen und austauschen können. Beim ersten Treffen haben wir dann noch einmal richtig gemerkt, wie wichtig es ist, ein spezielles Angebot für diese Jugendlichen * Das Interview ist entnommen aus: Ökumenische Jugendleiter-Card. Dokumentation. (Hrsg.): Pfarrstelle Ökumene in Frankfurt am Main, Pfr. Dietmar Will. Zentrum Bildung der EKHN, Fachbereich Kinder- und Jugend, Jörg Walter Evangelisches Jugendwerk in Hessen, Frankfurt am Main 2011 89 Religion und Migration: Signale der Veränderung zu machen. Es gab viele Fragen, Ideen und Vorschläge und wir haben bereits dort die Gelegenheit genutzt, über die Kriterien zur Erlangung der Jugendleiter-Card zu informieren. Welche Themen brannten den Jugendlichen besonders auf den Nägeln? Saskia Schneider: Zum Beispiel der Spagat, den die Jugendlichen in ihren Gemeinden zwischen den Kulturen machen müssen – der des Herkunftslandes mit ihren Traditionen einerseits und dem alltäglichen Leben in Deutschland andererseits. Aber auch Klagen der Ersten Generation wie: Es gibt in unserer Gemeinde zwar viele Jugendliche, aber wir erreichen sie nicht, wurden geäußert. Und vor solchen Fragen standen die Jugendlichen dann ziemlich ratlos. Dietmar Will: Uns wurde sehr deutlich, welche persönliche Leistung eigentlich dahinter steckt, in zwei Welten zu leben. Die zweite Migranten-Generation muss ja die Hauptintegrationsarbeit leisten und ist für den weiteren Prozess gerade auch in den Gemeinden ungemein wichtig. Wenn wir da nicht einen Fuß in die Tür bekommen, ist die dritte Generation dann ganz aus dem Gemeindeleben verschwunden. Natürlich muss die Erste Generation in diesem Prozess auch lernen, 90 Dinge abzugeben, und das ist auch mit Trauerarbeit verbunden. Wie haben Sie dann nach den ersten Treffen weitergemacht? Jörg Walther: Unser Grundziel war ja, Mitarbeiterinnen aus Migrationsgemeinden für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu qualifizieren. Daher haben ganz gezielt Module für die nächsten Mitarbeiterschulungstage erarbeitet und dabei neben dem üblichen Kanon von Angeboten in der Jugendleiterinnenausbildung starken Wert auf Methoden der Gruppenarbeit gelegt. Dies stärkte die MethodenKompetenz und förderte gleichzeitig Gruppenbildung sowie gute Beziehungen untereinander und zueinander. Ich tue etwas für andere – aber auch für mich, diese Haltung ist wichtig, um eine gute Balance zwischen Engagement für andere und Vorteilen für die eigene Entwicklung hinzubekommen. Wo lagen die besonderen Herausforderungen? Dietmar Will: Die unterschiedlichen familiären Herkünfte und religiös-konfessionellen Sozialisationen stellten besondere Herausforderungen für die Konzeption dar. So haben wir der Darstellung des jeweiligen Gemeindelebens viel Zeit eingeräumt. Unser Ziel war dabei, die unterschiedliche religiöse Praxis, Saskia Schneider, Jörg Walther, Dietmar Will deren Riten und jeweiligen nationalen Besonderheiten gegenseitig zu verstehen und nachzuvollziehen. Saskia Schneider: Auch im Hinblick auf eine Selbstvergewisserung ist das immens wichtig, denn es ging uns ja auch um einen Dialog. Und den kann ich nur führen, wenn ich einen eigenen Standpunkt habe und meine eigenen Wurzeln und Traditionen kenne. Was war für die Gestaltung der Treffen entscheidend? Jörg Walther: Da die Teilnehmenden Angehörige der ersten und zweiten Einwanderer-Generation oder Studierende im Raum Rhein-Main waren, stellten wir die Arbeit an der eigenen Biographie in den Mittelpunkt eines Wochenendes. Es ging um die Reflexion der eigenen Sozialisation in der deutschen Gesellschaft. Die Traditionsabbrüche von einer Generation in die nächste sorgen für einen entscheidenden Konfliktpunkt innerhalb der Gemeinden nicht-deutscher Herkunft und Sprache. Die Kinder und Jugendlichen müssen den Spagat zwischen Familie und ihren Lebenswelten aushalten. Saskia Schneider: Die Fragestellung „Wie leben wir in dieser Gesellschaft und behalten unsere Tradition bei?“, be- stimmt vielfach ihre Lebenssituation. Für Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter ist es daher wichtig, sich dieser Frage zu stellen. Und was wir auch feststellen konnten ist, dass die Spiritualität eine große Rolle spielte. Wenn Jugendliche sich zum Beispiel bei einer selbst gestalteten Andacht darüber austauschten, ging das unglaublich tief. Wir haben sie als in ihrem Glauben sehr gefestigt erlebt. Der Umgang mit der Bibel wirkte um vieles natürlicher, als man es bei Jugendlichen in Deutschland sonst gewohnt ist. Da wurde zum Beispiel ganz selbstverständlich ein Psalm gelesen ... Haben Sie ihre Ziele erreicht? Dietmar Will: Das erste Teilziel auf jeden Fall. Aber das kann nur ein Anfang sein, der insgesamt überaus ermutigend war. Bei den Treffen gab es eine gute Mischung aus konzentriertem Arbeiten, Spaß und viel Kommunikation untereinander. Eine gute Atmosphäre ist sehr wichtig – gerade, wenn Menschen aus so unterschiedlichen Gruppen zusammentreffen. Sie ist quasi die Grundlage, andere wirklich zu verstehen. Die Jugendlichen konnten hier die Erfahrung machen, dass ihre Offenheit und ihr Vertrauen nicht ausgenutzt, sondern honoriert werden. Das hat allgemein zu einer großen Gelassenheit geführt. 91 Religion und Migration: Signale der Veränderung Was haben die Teilnehmer vor allem mitgenommen? Saskia Schneider: Viele sind um einiges selbstsicherer im Umgang mit der eigenen Rolle geworden – nicht nur, was ihre Arbeit in den Gemeinden betrifft. Sie haben Handlungsoptionen kennengelernt: Wie kann ich reagieren, wie intervenieren? Neben neuen Arbeitstechniken, Wissen und kreativen Ideen ging es uns immer auch um Persönlichkeitsbildung. Ein anderer wichtiger Punkt sind Netzwerke, die durch die Treffen entstanden. So können Ressourcen gegenseitig genutzt werden. Schön war zu erleben, wie Kontinuität und Zusammenhalt in der Gruppe von Treffen zu Treffen wuchsen ... Jörg Walther: Insgesamt haben wir hier Mitarbeiter kennengelernt, wie man sie sich wohl in jeder Gemeinde wünschen würde... Was steht für die nahe Zukunft an? Dietmar Will: Wir müssen den eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen, denn die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Gemeinden nicht-deutscher Sprache und Herkunft ist ein immens wichtiges Element, um Ökumene in Frankfurt und dem Rhein-MainGebiet zu bauen. Integration ist eine der größten Herausforderun92 gen für die gesamte Gesellschaft. Und die Kirche muss sich fragen. Wie gehen wir damit um? Wir verstehen uns als eine Volkskirche und das Volk ist eben heute nicht nur deutsch. Oftmals werden Migranten viel zu stark unter einem diakonischen Aspekt betrachtet, anstatt sie darin zu unterstützen, etwas für sich selbst zu tun. Wie viele Ressourcen und Kompetenzen es da gibt, ist gerade auch bei unseren Treffen sehr deutlich geworden. Jörg Walther: Solange Jugendliche mit Migrationshintergrund noch einen verschwindenden Prozentsatz in der Ausbildung zur JugendleiterCard ausmachen, könnte die Ausbildung in dieser Form ein erster Schritt sein, Migrantengemeinden an das reguläre System heranzuführen. Ein neuer Kurs ist daher im Herbst gestartet. Ziel bleibt jedoch, möglichst viele MigrantenJugendliche für die bestehenden Kurse zu gewinnen. Saskia Schneider: Nicht zuletzt geht es ja um ein Zukunftsthema, nämlich Religion als Potenzial für Integration. Welche Rolle Religion im Rahmen der Globalisierung spielt ist schon eine sehr entscheidende Frage. Es geht um die Visionen, die wir als Christinnen und Christen in dieser Hinsicht haben. Saskia Schneider, Jörg Walther, Dietmar Will Was ist für ein solch erfolgreiches Projekt wie das Ihre besonders entscheidend? Jörg Walther: Eine gute Vernetzung ist das A und O. Insgesamt konnte das Projekt nur aufgrund einer guten Vernetzung realisiert werden, weil sich Verantwortliche von drei Trägern gezielt den Herausforderungen gestellt haben. Es gilt, das Thema aus drei verschiedenen Perspektiven zu betrachten: einer religiösen, einer sozialpädagogischen und auch einer politischen. Unsere Erfahrungen teilen wir gerne mit anderen und freuen uns über Interesse und neue Kontakte. Das Gespräch führte Jörn Dietze Gesprächspartner: Dietmar Will Pfarrer für Ökumene in Frankfurt/M bei den Dekanaten Mitte-Ost und Süd. Jörg Walther Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau, Fachbereich Kinder- und Jugendarbeit, Darmstadt Saskia Schneider Evangelisches Jugendwerk Frankfurt/M 93 Religion und Migration: Signale der Veränderung Autorinnen und Autoren Hafida Allouss Diplom Sozialarbeiterin und systemische Paar- und Familientherapeutin. Mitarbeiterin beim Internationalen Familienzentrum Frankfurt/M mit den Arbeitsschwerpunkten sozialräumliche Koordination (Familienbildung) und Beratung. Mitbegründerin des Kompetenzzentrums muslimischer Frauen. Prof. Dr. Dr. Peter Antes Professor für Religionswissenschaft an der Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Methodenfragen in den Religionswissenschaften, aktuelle Probleme der islamischen Ethik sowie der Religionen und religiösen Gemeinschaften im heutigen Europa. Gastprofessuren u.a. in Japan, Italien (Gregoriana) und der Schweiz. Präsident und Ehrenmitglied der „Association for the History of Religions" sowie der „Deutsch-Italienischen Kulturgesellschaft e.V. Hannover". Träger zahlreicher Auszeichnungen. Publikationen: „Einführung in das Christentum“ 2004 sowie „Der Islam als politischer Faktor“ 2001. 94 Christina Bender Jugendbildungsreferentin für Interkulturelle Arbeit, Kultur und politische Bildung beim Jugendbildungswerk der Stadt Frankfurt/M. Diplom in Sozialwesen, MA in Beratung und Sozialrecht. Paulo Caldeira Pereira Diplom Theologe, Aufbaustudium Sozialtherapie und Psychodrama, Pastoralreferent der portugiesischsprachigen Gemeinde Frankfurt/M und Wiesbaden. Mechtild M. Jansen Erziehungswissenschaftlerin, Leiterin des Referates Frauen/Gender Mainstreaming/geschlechtsbezogene Pädagogik/Migration der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. Vera Klinger Diplom-Soziologin. Bis März 2011 Referentin für Religion und Interkulturelle Arbeit im Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt/M. Magdalena Modler selbständige Religionswissenschaftlerin. Promoviert derzeit zum Thema religionsbezogener Autorenverzeichnis Sozialisation im Jugendalter an der Philipps-Universität Marburg. Helga Nagel Politologin und Germanistin, Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt/M. Prof. Dr. Mathias Rohe Jurist und Islamwissenschaftler. Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leiter des Zentrums für Islam und Recht in Europa in Erlangen. Dr. Brigitta Sassin Seit 2005 Referentin für die Katholiken anderer Muttersprache und für Christlich-Islamischen Dialog für das Bistum Limburg in Frankfurt/M. Arbeitschwerpunkte: Interkulturelle Dialogarbeit, Vernetzung von Migranten untereinander und mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft, christlichislamischer Dialog auf Stadtteilebene, Vernetzung von Imamen und christlichen Seelsorgern, Initiierung und Mitarbeit bei dem Fortbildungsprogramm für Imame „In Frankfurt ankommen“. Karl Schermuly Pastoralreferent, Pfarrbeauftragter der Gemeinde St. Lioba auf dem Ben-Gurion-Ring in Frankfurt/M Bonames. Khushwant Singh Ethnologe und Erziehungswissenschaftler. Forschungsschwerpunkte: Migration, Interkulturalität und die Sikh-Religion in Deutschland sowie im indischen Panjab. Vorstandsmitglied im Frankfurter „Rat der Religionen“. Alexej Tarchis Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/M. Dietmar Will Pfarrer für Ökumene in Frankfurt am Main bei den Dekanaten Mitte-Ost und Süd. Athenagoras Ziliaskopoulos Archimandrit des Ökumenischen Patriarchats, Pfarrer der Kirchengemeinde Prophet Elias in Frankfurt/M (Griechisch-orthodoxe Metropolie von Deutschland), Vorsitzender im Rat der Religionen sowie Mitglied in zahlreichen anderen interreligiösen Organisationen in Frankfurt, darunter dem Internationalen Konvent Christlicher Gemeinden anderer Muttersprache, dem Organisationskomitee der Christlich-Islamischen Woche sowie dem Christlich-Islamischen Dialog. 95 Veranstaltet von: Hessische Landeszentrale für politische Bildung