Möllenbeck, Wald (Hg.) Tod und Unsterblichkeit

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Möllenbeck, Wald (Hg.) Tod und Unsterblichkeit
Möllenbeck, Wald (Hg.)
Tod und Unsterblichkeit
Thomas Möllenbeck, Berthold Wald (Hg.)
Tod und Unsterblichkeit
Erkundungen mit Josef Pieper und C.S. Lewis
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildungen:
C. S. Lewis, Josef Pieper (Foto: Privatbesitz)
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
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Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-77983-0
INHALTSVERZEICHNIS
7 Vorwort
Thomas Möllenbeck und Berthold Wald
Tod und Unsterblichkeit – Erkundungen …
11 Sterblichkeit
Jörg Splett
38 Ist der Tod ein Übel? Ein Blick auf die Gegenwartsphilosophie
Stephan Herzberg
… mit Josef Pieper …
65 Tod und Unsterblichkeit. Zu einer ungewohnten
Augenöffnung durch Josef Pieper
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
81 Martin Heidegger, Josef Pieper und die neue Thanatologie
Berthold Wald
96 „Schwarzbrot für das himmlische Hochzeitsmahl“
Josef Pieper und Thomas von Aquin über die Letzten Dinge
Marcus Knaup
… und C.S. Lewis
115 Über Tod, Schmerz und die Theodizeefrage bei C.S. Lewis
René Kaufmann
138 Trennung ist unser Los. C. S. Lewis’ Reflexionen über die Trauer
Norbert Feinendegen
166 Literarische Darstellungen von Tod und Sterblichkeit
bei C.S. Lewis
Till Kinzel
186 Eine narrative Deutung des „Mythos von den zwei Bäumen“
Thomas Möllenbeck
6
INHALTSVERZEICHNIS
218 Personenverzeichnis
220 Hinweise zu den Autoren
VORWORT
Auf Einladung der Josef Pieper Arbeitsstelle an der Theologischen
Fakultät fand vom 21. bis 22. Juli 2013 die jährliche Tagung zu
aktuellen philosophischen Fragestellungen im Werk von Josef
Pieper und C. S. Lewis statt. Fünfzig Jahre nach dem Tod von C.
S. Lewis lag es nahe, als konkreten Bezugspunkt Piepers die nur
drei Jahre später erschienene Monographie „Tod und Unsterblichkeit“ zu wählen. Wie die Liebe, so gehört auch der Tod zu den
„Themen, die in einem hervorgehobenen Sinn ‚philosophisch‘
genannt werden müssen – weil es zu ihrer Natur gehört, die Bedenkung des Daseinsganzen zu erzwingen.“ (Josef Pieper)
Die hier versammelten Vorträge und ergänzenden Beiträge dokumentieren vor dem Hintergrund der Gegenwartsphilosophie,
dass „Erkundungen mit Josef Pieper und C. S. Lewis“ gerade heute
neue und notwendige Anstöße zu einem vertieften Nachdenken
über die existentiellen Grundfragen des Menschen zu geben vermögen. Wir danken der Bank für Kirche und Caritas in Paderborn
für die wiederum großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung
und dem Verein der Freunde und Förderer der Theologischen Fakultät Paderborn für einen Druckkostenzuschuss zur Herstellung
des Bandes.
Paderborn im April 2015
Thomas Möllenbeck und Berthold Wald
Tod und Unsterblichkeit
– Erkundungen …
JÖRG SPLETT
Sterblichkeit
Die Griechen haben den Menschen mit jenem Namen bezeichnet,
den dann Martin Heidegger neu aufgenommen hat: βρoτός, der
Sterbliche. Damit unterschieden sie ihn von den unsterblichen Göttern, doch auch von den untermenschlichen Lebewesen, die sie in
den Kreislauf ihrer Gattung eingebunden sahen.
„Sterblich sein – das heißt in einem Universum, in dem alles im
Kreise schwingt und Anfang und Ende immerfort dasselbe sind, einen Anfang haben und ein Ende und daher in die ganz und gar
,unnatürlicheʻ Form einer gradlinigen Bewegung gebannt sein.“1
Achill im Hades bekennt dem ihn rühmenden Odysseus: „Lieber
möcht ich fürwahr dem unbegüterten Meier, der nur kümmerlich
lebt, als Tagelöhner das Feld baun, als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.“2 Und in den Schriften Israels heißt es:
„Große Mühe hat Gott den Menschen zugeteilt, ein schweres Joch
ihnen auferlegt von dem Tag, an dem sie aus dem Schoß ihrer Mutter hervorgehen, bis zum Tag ihrer Rückkehr zur Mutter aller Lebenden: ihr Grübeln und die Angst ihres Herzens, der Gedanke an
die Zukunft, an den Tag ihres Todes“ (Sir 40,1f.). „Ein lebender
Hund ist besser als ein toter Löwe. Und: Die Lebenden erkennen,
dass sie sterben werden; die Toten aber erkennen überhaupt nichts
mehr [...] auf ewig haben sie keinen Anteil mehr an allem, was unter
der Sonne getan wurde“ (Koh 9,4-6).
Doch weder in Griechenland noch in Israel bleibt es bei dieser
Sicht. Ist schon bei Homer auch von den Qualen eines Tantalos
oder Sisyphos die Rede, so scheint später die „Vorstellung von
Belohnung und Strafe für alle Menschen [...] vor allem unter dem
Einfluss der Orphiker und Pythagoreer und deren Seelenwanderungslehre weitere Verbreitung gefunden zu haben.“3
12
JÖRG SPLETT
I. Platon
1. In Aufnahme dieser Tradition hat Platon dem abendländischen
Unsterblichkeitsdenken das Fundament gegeben, indem er die Seele als jenes bestimmt, das in der „Trennung von Leib und Seele“
die Auflösung des Leibes überdauert. Dabei wird Seele nicht bloß
als Teil des Menschen verstanden: „Die Seele: das ist der
Mensch.“4
„,Unsterblichkeitsbeweiseʻ finden sich im ,Menonʻ, im ,Staat‘ und
im ,Phaidrosʻ; das Streben nach Unsterblichkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen ist eines der zentralen Themen des
,Symposionʻ.5 Eindrucksvollstes Zeugnis der Platonischen Unsterblichkeitsgewissheit ist jedoch der ,Phaidonʻ.“6
Benannt ist der Dialog nach dem jungen Mann, der von den letzten
Stunden des Sokrates und seinen Ausführungen über die Unsterblichkeit der Seele berichtet. Ehe wir uns diesen Argumenten zuwenden, mag eine doppelte Vorüberlegung angebracht sein.
Die erste knüpft an die Situation des Disputs an: Über ein Leben
jenseits des Todes spricht man nur recht als vom Tod selbst konkret betroffen. Bleibt die wiederholt diskutierte Frage noch offen,
ob der Verurteilte oder die Freunde die Erst- und eigentlich Betroffenen seien, ob also der eigene oder der Tod des geliebten Anderen
die ursprüngliche Erfahrung darstellt.7
Die zweite: Das Gespräch mit seinen Freunden führt der Lehrer
Sokrates (so wenig die „Ideenlehre“ historisch von ihm stammt).
Helmut Kuhn hat seinem schönen Sokrates-Buch8 den Untertitel
gegeben: Versuch über den Ursprung der Metaphysik. Es war die
Begegnung mit diesem Mann, die Platon zum Begründer der
abendländischen Philosophie gemacht hat. Hier gilt die asiatische
Überzeugung, die in der westlich neuzeitlichen Tradition der
„Selbstdenker“ zu leicht vergessen wird: Keine Wahrheit ohne
Lehrer. Platons Seelen- und Unsterblichkeitslehre ist keine „abstrakte Philosophie“; sie entstammt ganz wesentlich seiner Erfahrung mit dem Lehrer Sokrates, der Überzeugung, der Tod könne
nicht das Erlöschen, das völlige Ende dieses hinreißenden Menschen sein. Die Bedrohung durch den Tod dieses Lehrers war derart überwältigend, dass Platon die nicht minder überzeugende Erfahrung der Todüberlegenheit seines Meisters nur so ausdrücken
konnte, dass er erklärte, wir hätten unseren Leib nur (statt er auch
STERBLICHKEIT
zu sein), der Tod betreffe nur ein Etwas an uns, nicht eigentlich
und wirklich uns selbst.9
2. Aber wenden wir uns nun der argumentativen Auslegung zu,
mit der Platon für diese seine Grunderfahrung eintritt. – Die erste
Begründung gibt Sokrates aus dem allgemeinen Kreislaufgeschehen der Natur, verbunden mit der Anamnesislehre. Aus Lebendem
wird Totes, aus Totem Lebendes; der in der Wiedererinnerung sich
bezeugenden Präexistenz der Seele entspricht ihr Dasein nach dem
Tod. – Wichtiger sind die folgenden Reflexionen: Die Seele erkennt die ewigen, unwandelbaren Ideen; da nur Gleiches von Gleichem erkannt wird, muss auch die Seele ewig sein. Weiterhin ist
sie einfach, unzusammengesetzt; so kann sie nicht in Teile aufgelöst werden. Schließlich gehört zu ihr als dem Lebensprinzip des
Körpers die Lebendigkeit wie zur Drei das Ungeradesein; sie kann
sowenig sterben, wie Feuer kalt werden kann (105d - 106c).10
Dass es sich hier nicht um „wissenschaftlich“ überzeugende
Beweise handelt, sagt Platon selbst. Sokrates akzeptiert, dass
Simmias „genötigt ist, noch Unglauben (!) bei sich zu hegen“
(107b), und hält weitere Untersuchungen für nötig. Aber auch die
werden kaum zu einer Letztgewissheit führen. Aus Mangel an Einsicht wird man sich an die bestbegründete Ansicht halten müssen.
Auf diesem Beweis wird man dann „wie auf einem Floß das Leben
zu durchschwimmen suchen – falls man nicht sicherer und gefahrloser auf einem zuverlässigeren Fahrzeug, etwa einem göttlichen Wort, hindurchschiffen kann“ (85c - d).
Noch weniger als jenes Floß bietet die Form-Materie-Konzeption des Aristoteles, in der die Einheit von Leib und Seele enger
gedacht wird. Unsterblichkeit kennt Aristoteles wohl doch nur für
den überpersönlichen Vernunft-Geist (voῦς), der von außen
(„durch die Tür“) in den Menschen eintritt und als das Göttliche in
ihm den Tod überlebt. – In ähnliche Richtung geht die stoische
Antwort; während nach Epikur die Seele aus Kugel-Atomen besteht und beim Tod wie der Körper in diese ewigen Urbestandteile
zerfällt.11
II. Christliche Hoffnung
1. Auf Platon greifen dann auch Juden und Christen zurück, um
ihre Hoffnung auf ein Leben jenseits der Todesgrenze zu vertreten.
13
14
JÖRG SPLETT
Zwar wird biblisch der Mensch nicht derart dual-additiv gedacht,
sondern in aspekthafter Viel-Einheit:
„,nefešʻ (der unverwechselbare, von seinem Begehren geprägte
Mensch), ,ruachʻ (die Geist-Wirklichkeit des Menschen), ,baśarʻ
(Hinfälligkeit und Geschöpflichkeit) sowie ,lebʻ (personale Entscheidungsfreiheit des Menschen) [...] Dieser ist nicht ,nefeš + ruach + baśar + lebʻ, sondern Gleichbild seines Schöpfers als nefeš,
ruach usw. Das [Neue] Testament radikalisiert diese Konzeption
dadurch, dass Jesus Christus als das Urbild Gottes gesehen wird, so
dass die Menschen Bilder dieses Bildes Gottes sind.“12
Doch bietet sich im weltanschaulichen Disput der Schulterschluss
mit den Platonikern an.13
Anderseits wehrt die Theologie die „Überheblichkeit“ einer natürlichen Unsterblichkeit der Seele ab und sieht ihre Unvergänglichkeit als Gottes Gnadengeschenk. Zugleich wird der Kampf
gegen gnostische Leibabwertung nötig, was mitunter zu ultraphysizistischen Aussagen über die „Auferstehung des Fleisches“ wie
auch zur Annahme eines Zwischenzustands – zwischen Tod und
„jüngstem Tag“ – im Hades führt.14 Doch setzt sich schließlich „die
hellenistische Vorstellung von der Vollendung des Menschen in
der Seligkeit seiner Seele unmittelbar nach dem Tod“ durch (91)
und drängt die Hoffnung auf die endzeitliche Auferstehung in den
Hintergrund.
Einen Höhepunkt in der Vermittlung von biblischem und griechischem Denken – unter Einbezug des Aristoteles – bildet die
Anthropologie des Aquinaten: „anima – forma corporis“. „Die
Seele, wiewohl ,Teil‘ einer zerstörbaren Substanz, ist dennoch
substantiell unzerstörbar.“15
2. Weniger darauf als auf die Selbstsicherheit des Deutschen
Idealismus reagierend, hat sich anderseits in der evangelischen
Theologie des 20. Jahrhunderts die „Ganztod-These“ durchgesetzt
(98-113 [Gisbert Greshake]): Vom Menschen bleibe (Karl Barth)
„weder ein göttliches noch ein geschöpfliches Etwas, sondern ein
Tun und Verhalten des Schöpfers“ (103). Gott sei „der einzig in
Frage kommende Sinn-Träger“ des im Tod vernichteten Menschen-Daseins (Heinrich Ott): „in dieser Formulierung wird wohl
handgreiflich deutlich, dass damit die Konsequenzen spezifisch
protestantischer Soteriologie ausgezogen sind“ (ebd.)
Das aber liefe auf eine Neuschöpfung hinaus: „In dieser Sicht ist
kaum zu sehen, wie noch von der Auferweckung dieses Menschen
STERBLICHKEIT
die Rede sein kann, denn einen menschlichen Identitätsträger gibt
es ja gar nicht“ (Wolfgang Beinert 686).
Die schroffe Alternativik lässt sich indes vermitteln, wenn man
entschieden und folgerichtig aus der Schöpfungsperspektive denkt.
Dieser erste Glaubensartikel hat bisher kaum die ihm gebührende
Aufmerksamkeit und systembildende Geltung erhalten.16 Außerhalb der biblisch christlichen Tradition hat sich kein Denker dazu
hin aufgeschwungen, obwohl dies gemäß dem Ersten Vatikanischen Konzil grundsätzlich möglich wäre. Innerhalb des christlichen Denkens aber wird die „wunderbare Gründung“ immer schon
von der „wunderbareren Wiederherstellung“ überstrahlt17 – nicht
bloß im verschärften Sünden- und Erlösungsverständnis der Reformatoren.
3. Der Schöpfungsgedanke seinerseits nun, ob streng als „ex nihilo“ oder vager als Gründen-in genommen, begegnet grundsätzlich in zwei Perspektiven. Sie stellen keinen Widerspruch dar, lassen sich aber auch nicht einfach addieren, sondern bilden alternative Formen von Weltanschauung und -denken. Die erste ist kosmologisch und prägt – wie die griechische Philosophie – die Hochscholastik, steht wohl auch heute im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die zweite ist anthropologisch; sie herrscht bei Anselm, dann wieder bei Descartes oder Fichte, in der Gegenwart besonders bei
Emmanuel Levinas. Sie soll auch unser Vorgehen bestimmen, im
Blick auf unser – zentral anthropologisches – Thema. Doch sei
auch die erste Sicht nicht einfach ausgespart:
III. Geschaffen-sein
Was bedeutet „Schaffen“ (im Hebräischen bará, ein Gott vorbehaltenes Wort)? Von allem anderen Verursachen und „Machen“
hebt der Begriff „Erschaffen“ das einzigartige Erwirken Gottes in
dreifacher Weise ab.
1. Negativ als creatio ex nihilo – Schöpfung aus nichts. – Das
weist ebenso die äußere Abhängigkeit eines Baumeisters oder
Künstlers von seinem Material ab wie die innere Bedingtheit einer
Weltseele durch den Urstoff oder eigene Werde-Notwendigkeiten.
(Über Anfänglichkeit oder Anfangslosigkeit der Materie wird damit nichts gesagt, nur, dass die Schöpfung der Welt – seit „Ewig-
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JÖRG SPLETT
keit“ oder in einem von „innen“ erreichbaren zeitlichen Anfang –
keinen einschränkenden Bedingungen unterliegt.)
2. Positiv wird der Begriff als creatio entis qua entis bestimmt –
Schöpfung des Seienden als solchen: in seinem Sein einfachhin.
Das meint: nach seiner Wirklichkeit wie bereits seiner Möglichkeit
und schließt jegliche „Konkurrenz“ mit anderen Urhebern aus. Der
Schöpfer ist nicht das erste Glied einer Ursachen-Kette, sondern
der wesenhaft einzige Grund der Welt und alles Weltlichen in seinen Wirkzusammenhängen.
Hier liegt wohl das größte Ärgernis des Schöpfungsgedankens.
Denn wertet dies nicht Welt und Mensch zum „Machwerk“ ab? –
Dagegen erklärt man, Gott brauche den Menschen – womit die
Vorstellung einer unterdrückenden Allmacht entfalle. Doch Unersetzlichkeit garantiert weder Achtung von Würde noch Wahrung
von Freiheit. Das belegt die Erfahrung, von alters – bedurften
Griechen und Römer nicht ihrer Sklaven? – bis heute. Und weiteres Nachdenken zeigt, dass die Funktions-Sicht als solche überhaupt kein Auge für die Eigenwirklichkeit von Freiheit und Person
besitzt.
Anerkennung von Person ist unbedingte Anerkennung. Sie kann
nicht durch nützliche Qualitäten bedingt sein. Andererseits ist zu
völligem Absehen von allem Nutzen nur Allmacht imstande. Einzig sie kann völlig „zwanglos“ (im Doppelsinn des Wortes) andere
Wesen entstehen und bestehen lassen. – Das hat Romano Guardini
einmal in einem anschaulichen Denkaufstieg verdeutlicht: Das
Werkzeug hebt den Stein; Licht weckt und leitet den Keimling; zur
Brunftzeit bringt die Ricke den Bock in Bewegung ... je tiefer die
Einwirkung reicht, desto tätiger wird das Bewegte selbst. Und so
geht es weiter, nun unter Menschen: Überredung gewinnt, geglücktes Überzeugen schenkt Einsicht ... Liebe gibt ins streng Eigene frei, in einer Weise, dass der Befreite sagen kann: „Ich verdanke Dir alles; aber so, dass ich durch Dich erst überhaupt ich
selbst geworden bin.“18
Im Maß, wie hier Intensität und „Tiefenwirkung“ der Einwirkung wachsen, nimmt ihre „Behutsamkeit“ zu, ihr Anruf an Eigensein und -wirken des Betroffenen, zuletzt dessen Freiheit nicht
bloß respektierend, sondern sie eigentlich weckend. Darum ist in
solcher Perspektive Allmacht strikt als Erwirken(können) von
Freiheit zu denken – statt als das Vermögen, alles Mögliche „machen“ zu können.
STERBLICHKEIT
Wenn Freiheit nicht anfanglos, ganz aus sich ist, dann kann sie
allein von Allmacht her beginnen; jeder „mindere“ Ursprung höbe
sie auf. – Gerade die Würde von Person und Freiheit fordern also
deren „Gott-Unmittelbarkeit“.
Hier liegt der personal-anthropologische Ort des zunächst geschichts-theologisch eingeführten Schöpfungsbegriffs. – Person
kann einerseits nicht leugnen, dass sie sich einem Anfang verdankt; sie besteht andererseits aber darauf, dass „Geist und Sein
[...] durch kein Seiendes gemacht oder gezeugt oder in der Weitergabe einer Bewegung verursacht werden können. Dies ist der Sinn
auch des sogenannten thomistischen ,Creatianismusʻ in bezug auf
die Geist-Seele“ (Max Müller).19
Das besagt nicht, der Mensch stamme „teils vom Himmel“, teils
von der Erde, als heillos „kentaurischer“ Zwitter. Sein Gezeugt-,
Geborenwerden ist vielmehr eben die Weise seiner Erschaffung.
Weder Dualismus noch Monismus treffen die Wahrheit. Beide
verfehlen die eigentümliche „Mehrdimensionalität“ von Welt und
Mensch; dass nämlich wir selber leben, erkennen und wollen (nicht
gelebt werden) – und doch aus uns selber weder Leben noch Erkennen oder Wollen auch nur einen Augenblick lang garantieren
können.
3. Solch radikal umfassendes Gründen ist nun nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich wesenhaft undistanzierbar. Was nicht
bloß Anfang, sondern Grund ist, bringt man niemals hinter sich:
creatio besagt zugleich: creatio continua, Schöpfung ist schöpferisches Erhalten. Und diese Erhaltung „entfremdet“ oder entmündigt
so wenig wie nach dem eben Bedachten das Erschaffen überhaupt.
Im Gegenteil wieder; nicht von ungefähr hat Augustinus sich Gottes Allgegenwart an jener der Wahrheit deutlich gemacht. „Sie
gehört nicht dir noch mir noch einem Dritten, sondern ist allen
wunderbar wie ein zugleich geheimes und allgemeines Licht gegenwärtig.“20
IV. Gerufen
Damit hat sich bereits eine gewisse Selbstzwecklichkeit des Geschaffenen gezeigt. Denn da es nicht einem Bedürfnis des Schöpfers entspringt (um ihm eine Not zu wenden – womit dessen Absolutheit fiele21), also nicht (gleichsam sklavisch) dessentwegen
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JÖRG SPLETT
besteht, kann es nur um seiner selbst willen ins Dasein gerufen
sein. Dies aber definiert Liebe: „volo, ut sis“.22 Darum ist – jenseits
aller „Erbaulichkeit“ und nicht erst in der Glaubensparänese, sondern streng philosophisch – hier von Liebe zu sprechen.
1. Person aber wird anders bejaht als Unterpersonales. Nach wie
vor finde ich das bei niemandem klarer formuliert als bei R. Guardini: „Die Person hat eine Sinnbedeutung, die ihr Seinsgewicht
übersteigt“, heißt es sehr plastisch.23 Ihr eignet eine absolute Dignität, die nur aus einem selbst Absoluten kommen kann, und zwar
durch die Weise ihrer Erschaffung (114): Das Unpersönliche, Lebloses wie Lebendiges, schafft Gott einfachhin, als unmittelbares
Objekt seines Wollens. Die Person kann und will er nicht so schaffen, weil es sinnlos wäre. Er schafft sie durch einen Akt, der ihre
Würde vorwegnimmt und eben damit begründet, nämlich durch
Anruf. Die Dinge entstehen aus Gottes Befehl; die Person aus seinem Anruf. Dieser aber bedeutet, dass Gott sie zu seinem Du beruft – richtiger, dass er sich selbst dem Menschen zum Du bestimmt.
Und auch dies wird hier nicht als Glaubensverkündigung vorgetragen, sondern mit dem Anspruch, einzig so der Kernerfahrung
von Person zu entsprechen: ihrer unbedingten Verpflichtung, „der
Wahrheit die Ehre zu geben“ und sittlich verantwortbar zu handeln. Einschlägig ist hier der Beitrag zweier Philosophen: die Ausführungen Immanuel Kants zum „Kategorischen Imperativ“ und
Emmanuel Levinas’ Phänomenologie der Indienstnahme durch den
flehenden Blick.24
Während der kosmologische Zugang leicht dahingehend missverstanden werden kann, als wollte er mit astrophysikalischen Hypothesen konkurrieren25 (wobei zudem die Hervorhebung der Person in den Verdacht eines naiven Anthropomorphismus gerät),
begegnet in der sittlichen Erfahrung das unabweisbar eigene Gemeintsein unmittelbar. Nicht als könnte man es nicht bestreiten
oder „weg-erklären“; doch man erfährt zugleich, dass man dies
nicht darf.
Kant spricht von einem unhintergehbaren „Faktum der Vernunft“, um das eigentümliche Zugleich von Einsichtigkeit und
Sollens-Unbedingtheit auszudrücken, weshalb hier weitere Begründung weder möglich noch notwendig ist; Reinhard Lauth prägt
den Begriff „Sazienz“:26 Ergreifen als Ergriffen-werden, selbstgerechtfertigtes Sich-ergreifen-Lassen. Die Frage „Why to be mo-
STERBLICHKEIT
ral?“ erweist sich als gänzlich unangebracht: als Offenbarung sittlicher Blindheit. Gleichwohl stellt sich hier ein Verstehensproblem.
Gefragt wird zwar nicht, warum man dem Imperativ folgen solle, doch, wie sich das Gewissens-Phänomen verstehen lasse – ohne
es um Dimensionen zu verkürzen. Dabei wird am „Gewissen“ jetzt
nur eines thematisch: der (hier nicht zu diskutierende, sondern als
gemeinsam anerkannt vorausgesetzte) Anspruch auf unbedingten
Respekt vor seinem Entscheid, sei er auch irrig.27 Es geht also nicht
um konkrete kulturell-gesellschaftlich vermittelte Inhaltlichkeiten
(„Werte“ und Normen), sondern um den Kernpunkt des „sense of
duty“ (klassisch: die „synderesis“, das Prinzipien-Gewissen), kein
(„überich-haftes“) Müssen, sondern ein Du-sollst, das aus sich
selbst einleuchtet, und zwar als (statt aus Klugheitsgründen) unbedingt verpflichtend.
2. Der Ethik- und Religionsdenker Levinas hat dies als Erfahrung des Antlitzes oder Gesichts erwogen. – „Visage“ ist nicht
etwas, das ich betrachte, sondern ein Blick, der mich trifft. Aber
anders als bei Sartre trifft mich nicht ein Blick, der beurteilt, abschätzt und mich zum Objekt in der Welt des Anderen macht.
Vielmehr reißt er mich als Hilfeschrei aus meinem Selbstgenügen.28 Das Antlitz fordert Antwort, und zwar dringend. Ich erhalte
nicht erst Bedenkzeit, um zu überlegen, ob ich dem Ruf Folge leiste, ob ich „Verantwortung übernehmen“, „mich engagieren“ solle.
Vielmehr finde ich mich schon inmitten der Situation, in die Sache
verwickelt. Levinas spricht von „Intrige“.29 Ich habe nicht erst etwas zu übernehmen, sondern bin schon vereinnahmt. Ich bin nicht
mehr frei – und war ich es je?
In diesem Sinn wird das Gute nicht erst gewählt, „es hat sich
vielmehr des Subjekts bemächtigt“ (HA 75 – ,Subjektʻ bedeutet
wörtlich: ,unterworfenʻ). Zur „Wahl“, zur „Übernahme der Verantwortung“ ist man seinerseits je schon verpflichtet. „Zur Verantwortung verpflichtet sein, das hat keinen Anfang“ (77). Es gibt
keine Flucht und Ausflucht davor, die nicht „Fahnenflucht“ (74)
wäre. Derart ist das Ich (statt „autonom“) „Geisel“ (72), ja seine
Passivität ist (Geisel heißt lateinisch ,obsesʻ) „Besessenwerden“
und „Besessenheit“(80).
Eben diese Passivität und „Besessenheit“ aber ist eine solche
von Freiheit (und darum auch von völliger geistiger Klarheit). Levinas stellt selbst die Frage (74): „Doch sich der Verantwortung
19
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JÖRG SPLETT
nicht entziehen zu können, ist das nicht Knechtschaft?“ Es ist dies
nicht. Denn wo wäre hier ein knechtender Herr und ihm gegenüber
ein zu knechtender oder geknechteter Knecht? – Was hier herrscht,
ist das Gute. Es wurde, so hieß es erstens, nicht gewählt, weil es
dazu gar keine Zeit und Distanz gab; es hat sich vielmehr des Subjekts je schon bemächtigt.
Ähnliches gibt es bei den Naturbedingtheiten der Existenz.
Doch fehlt hier, zweitens, der Abstand in anderer Weise als dort.
Solche Determinationen endlichen Daseins liegen durchaus jenseits von Freiheit und Knechtschaft. Man denke an Kants Beispiel
von der Luft als Vorbedingung für den Flug der Taube.30 Dem Guten aber sieht sich das Subjekt nicht bloß tatsächlich unterworfen;
es ist vom Guten derart „ergriffen“, dass es sich darin zugleich als
erwählt und im Gehorsam als (von sich) befreit erfährt. – „Der
Gehorchende findet, diesseits des Unterworfenwerdens, seine Integrität wieder. Die undeklinierbare und dennoch nie in voller Freiheit angenommene Verantwortung – ist gut“ (75).
Nie in voller Freiheit angenommen ist sie, weil Freiheit erst unter diesem Anspruch erwacht. Gut, weil er die Freiheit zum einleuchtend Guten erweckt hat, zur Bejahung des gebotenen Guten.
Jetzt nein sagen wollen bringt uns nicht bloß in Widerspruch zum
erweckenden Anspruch, sondern zugleich in Widerspruch zu uns
selbst (unserem eigenen „besseren Ich“), zu unserem je schon gesprochenen Ja zu diesem Anspruch.
Diese Anrede weckt mich zu meinem unersetzlichen Da-sein als
(nicht [ein] Ich, sondern) ich. Ich bin ge- und erwählt, „beim Namen gerufen“ – nicht, als hätte ich den schon gehabt, um bei ihm
gerufen werden zu können. Vorher gab es ihn so wenig wie mich.
Darum kann hier „vielleicht“, merkt Levinas an, „von der creatio
ex nihilo gesprochen werden“ (78), angesichts eben dieser Passivität, „die passiver ist als jede Passivität“.31
Kann aber ein solcher An- und Aufruf hypothetisch, widerruflich, zeitlich terminiert sein?
V. Tod als dialogische Situation
1. In der Tat, wenn die klassischen „Beweise“ für die Unsterblichkeit der Seele von der Unzerstörbarkeit ihres geistig-einfachen
Wesens und der Notwendigkeit ewiger Sanktionen sprechen, dann
STERBLICHKEIT
artikulieren sie nur in bestimmter Weise die innerste Grunderfahrung von Freiheit selbst. Selbst-sein darf man dann freilich nicht
isoliert individuell, solipsistisch lesen. „Ich war mir selbst zur großen Frage geworden“, schreibt Augustinus zum Tod seines Freundes.32
Doch fragen wir gleichwohl nach dem eigenen Tod, ob nun seine ursprüngliche Erfahrung im Tod des geliebten Menschen gegeben sei oder nicht. – Muss man die Einsamkeit des eigenen Todes
einfachhin als Erfahrung der „Untreue“33 verstehen?
In der Tat halten offenbar weder Dinge noch Menschen die Versprechen, mit denen sie uns gewannen. Hatte man anfangs eine
schier unerschöpfliche Zukunft vor sich, stand die Welt dem jungen Menschen offen, so hat sie von Tag zu Tag sich um ihn zusammengezogen, bis sie schließlich auf den Punkt bloßen Lebens,
des Betts und der Arzneien daneben zusammengeschrumpft ist.34
Und dieser letzte Weltpunkt schwindet zuletzt, wie im Strudel, in
das Dunkel des Todes.
Man darf diesen Anblick von Alter und Tod nicht überdecken
und kurzschlüssig wegdisputieren. (Gerade der Christ nicht; ihm
wird „vom Anführer seines Glaubens“ [Hebr 12,2] sogar ein Wort
überliefert, das nicht bloß das Hiesige, sondern den „Vater“ selbst
der Untreue anklagt: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ [Mk 15,34].) – Dennoch behauptet der mehr, als er weiß, der
dieses Antlitz des Todes schon für seine ganze Wirklichkeit
nimmt. Wenigstens so hätte er dann ja trotzdem das begriffen, was
seine Macht gerade darin zeigt, dass es sich allem Begreifen entzieht.
Der Tod kein Etwas, sondern dessen Ende: „Negation der Negation der Negation“?35 Doch was bedeutet dies Ende? Ist das Ende
jeglichen „Etwas“ ausgemachterweise das Nichts oder nicht vielleicht auch der Aufgang einer Wirklichkeit über jedes Etwas hinaus?
Man hätte die Einsamkeit des Todes dann nicht als Verlassensein zu verstehen, sondern als Erscheinung des Ernstes reinen
Bezugs: als Aufruf dazu, selber alles und alle zu verlassen – nicht
in Abkehr, sondern in Zuwendung; d. h., die anderen in dem Sinn
zu lassen, dass man ihnen Raum und Leben lässt, dass man sie sein
lässt.
So gesehen, trifft im Anspruch der Liebe wie in der Drohung
des Todes der Mensch auf seine eigene Zukunft: Er erkennt, dass
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JÖRG SPLETT
er sich selber nie, auch nicht ins Sterben entkäme, dass er also Stellung nehmen, sich entscheiden muss, um in solcher Entscheidung
sich seinen endgültigen Namen zu geben.
2. Darin zeigt die „Unsterblichkeits“-Frage sich als dialogische
Thematik. Und dies in einer doppelten Dialogik, nicht bloß „dual“,
sondern „trilogisch“.
Die erste Dimension ist die Zwischenmenschlichkeit. So wie
beim Blick in Menschenaugen man den anderen sieht, seine „Seele“ – von der es heißt, sie sei unsichtbar –, also ihn selbst, das Du;
so wie bezüglich „Haltung“ und „Geste“ man nicht in natürliche
Prozesse Mythologisches hineingeheimnisst, sondern mehr sich
zeigt (das eben heißt – im Unterschied zum Körper – „Leib“): so
trifft im Blick, in dem der andere mir begegnet, seine und meine
Zukunft mich. Das Ja oder Nein auf die Anfrage dieses Blicks hat
nicht nur für heute, morgen und übermorgen Konsequenzen, sondern es zielt zuletzt auf Endgültigkeit ab.
Damit ist bereits die zweite Dimension im Spiel: die des unbedingten Anspruchs zur Wahrheit und zum Guten. – Person ist bei
ihrer vielfältigen Bedingtheit unbedingt insofern, als sie unbedingt
gemeint ist. Nur so, nicht anders, lässt sich, wenn überhaupt, ein
möglicher Anspruch endlicher Person auf unbedingte Achtung
legitimieren. Anerkennung des andern als „Zweck“, die sich ja
nicht auf irgendwelche stets bedingten Qualitäten seiner gründen
kann, übernimmt im Nach- und Mitvollzug dieses unbedingte Gemeintsein.
„Ein Wesen lieben heißt sagen: Du wirst nicht sterben“, heißt es
in Gabriel Marcels Theaterstück Le mort de demain (III, 7).36 Wer
argwöhnt, es handle sich dabei um Poesie,37 sei auf die These des
Aquinaten verwiesen, das Fundament der Nächstenliebe liege im
gemeinsamen Berufensein zur Gottesschau.38
An die gegenläufige Richtung dieses Zusammenhangs erinnert
Roger Troisfontaines mit einem Dostojewski-Zitat. Staretz Zosima
sagt einer Ratsuchenden:
„Beweisen lässt sich hier nichts, wohl aber kann man sich überzeugen.“ – „Wie? Wodurch?“ – „Durch die Erfahrung tätiger Liebe.
Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben.
In dem Maße, wie Sie in der Liebe fortschreiten, werden Sie sich
auch vom Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele
überzeugen.“ 39