Martin Buber – Deuter und Mahner

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Martin Buber – Deuter und Mahner
Ursula Homann
Martin Buber – Deuter und Mahner
Aus Anlass seines 130. Geburtstags
D
er jüdische Religionsphilosoph Martin Buber gehört zweifellos zu den wichtigsten Repräsentanten des modernen Judentums. Als Deuter und Wegweiser hat er in vielschichtiger
Weise das Denken des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Nach landläufiger Meinung erfreut er
sich bei Nichtjuden sogar einer größeren Beliebtheit als bei den Juden selbst. Aus welchem
Grund? Um diese Frage klären zu können, muss man sich mit Bubers Leben, seinen Ansichten und seinem Werk näher befassen.
Geboren wurde Martin (Mordechai) Buber vor hundertdreißig Jahren am 8. Februar 1878
in Wien als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Sein Vater, Karl Buber, besaß
Güter im galizischen Teil Österreich-Ungarns und ein Stadthaus in Wien. Als Martin Buber
drei Jahre alt ist, verlässt die Mutter die Familie wegen ihres Liebhabers – für das Kind eine
emotionale Katastrophe. Der Junge kommt zu den Großeltern nach Lemberg. Sein Großvater, Salomon Buber, ist Großkaufmann und ein bedeutender Midrasch-Forscher. Er korrespondiert mit jüdischen Theologen aus aller Welt. Von ihm lernt der Junge die rabbinische
Tradition und die Haskala kennen, die auf Moses Mendelssohn zurückgehende jüdische
Aufklärung, und taucht – wie Gerhard Wehr, einer seiner Biographen, anmerkt – »in jenen
geographischen Raum ein, der durch die Spiritualität des jüdischen Chassidismus durchtränkt ist.«
Im galizischen Lemberg, gelegen in einer östlichen Provinz des Habsburger Reiches,
wächst Martin Buber also auf – mit einer polnisch und ukrainisch gemischten Bevölkerung
und einer beträchtlichen Minderheit zumeist traditioneller Juden. Er besucht weltliche polnische Schulen und erhält zugleich einen soliden traditionell-jüdischen Unterricht. Seine
Großeltern wiederum flößen ihm leidenschaftliche Verbundenheit mit der deutschen Literatur und der deutschen Kultur ein. Auch erweist sich der Heranwachsende als außerordentlich
sprachbegabt: Hebräisch, Jiddisch, Polnisch, Deutsch und Französisch lernt er im großelterlichen Haus und in dessen Umfeld. In der Schule kommen Latein und Griechisch hinzu, später Englisch und Italienisch. Mit vierzehn Jahren kehrt er zu seinem inzwischen neu verheirateten Vater zurück, bleibt aber weiter in enger Verbindung mit den Großeltern. Später
einmal soll der Vater sagen, nachdem sein Sohn bekannt und berühmt geworden ist: »Ich bin
nichts als der Sohn meines Vaters und der Vater meines Sohnes.«
Nach Beendigung der Schulzeit studiert Martin Buber ab 1896 Philosophie, Psychiatrie,
Germanistik, Kunstgeschichte, später auch Mystik, zunächst in Wien, dann in Leipzig, Zürich und Berlin, wo er Vorlesungen von Georg Simmel und Wilhelm Dilthey hört. Sein Studium schließt er an der Franz-Josephs-Universität zu Wien 1904 mit einer Dissertation ab.
Das Thema lautet: »Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems«. Schon während
des Studiums hatte Buber mit dem Zionismus und seinem Begründer Theodor Herzl Bekanntschaft gemacht und sich zionistisch engagiert. Er rief den »Bund jüdischer Studenten«
in Leipzig ins Leben, wurde Redakteur der zionistischen Zeitschrift »Die Welt«, Mitgründer
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des »Jüdischen Verlages« und nahm an Zionistenkongressen in Basel teil. Allerdings vertrat
er gegen Theodor Herzl und gegen Achad Haam den kulturzionistischen Standpunkt, der vor
der politischen die geistige und moralische Erneuerung des Judentums fordert.
Damit geriet Buber schon bald in Konflikt mit dem politisch-nationalen Zionismus von
Theodor Herzl. Später hat Buber in seinem einzigen, 1949 erschienenen chassidischen
Roman »Gog und Magog« sein spannungsgeladenes Verhältnis zu Herzl verschlüsselt dargestellt. Doch blieb er, trotz dieser Differenzen, bis zu seinem Tod Mitglied der zionistischen
Vereinigung. Auf einem Zionistenkongress in Basel proklamierte Buber unverblümt: »Zionismus ist etwas anderes als jüdischer Nationalismus; denn Zion ist mehr als Nation. Zionismus ist Bekenntnis zu seiner Einzigartigkeit. Es ist auch keine bloße an einen geographischen Ort geknüpfte Bezeichnung wie Kanaan oder Palästina, sondern es ist von jeher ein
Name für etwas, was an einem geographisch bestimmten Ort werden soll; in der Sprache der
Bibel: der Anfang des Königtum Gottes über alles Menschenvolk.« Sein Biograph Gerhard
Wehr erläutert diese Position: »Damit tritt das messianisch-theokratische Element an die
Stelle des ursprünglich von Herzl intendierten nationalistischen.«
In dieser Zeit begegnet Buber seiner zukünftigen Lebensgefährtin Paula Winkler, die erst
später zum Judentum konvertierte und unter dem Pseudonym Georg Munk Romane und Erzählungen verfasste. Sie wurde Bubers treue Wegbegleiterin. Er gestand ihr einmal: »Erst als
Du zu mir kamst, habe ich meine Seele gefunden.« Paula wiederum hat uns Buber privat in
kleinen Anekdoten nahegebracht. Als beispielsweise der Tübinger Alttestamentler Fridolin
Stier von ihr wissen wollte: »Wie ist er denn, der Martin, wenn er tagelang das gesuchte Wort
nicht findet?« »Unausstehlich!« sagte sie. »Aber manchmal weckt er mich dann mitten in
der Nacht: ›Paula ich hab’s.‹«
Zurück zum frühen Buber, dem es in erster Linie noch um eine Neubestimmung der jüdischen Identität, um eine jüdische Wiedergeburt ging, die zwar eine Rückkehr war, aber zugleich eine Umwertung und Regenerierung des Judentums einschloss. Vor einem äußeren
Vaterland sei ein inneres Vaterland nötig, eine Neuschöpfung des Jüdischen, meinte der
junge Religionsphilosoph, denn für ihn lebte die Seele des Judentums nicht in seinen Gesetzen und Institutionen, nicht in seinen offiziellen Ausdrucksformen, sondern in der unterirdischen Welt seiner reichen mystischen und mythischen Tradition. Mit Anklängen an
Nietzsche forderte er daher die Befreiung der jüdischen Seele von den Fesseln der Assimilation und den Anmaßungen der institutionalisierten Religion.
Aus Enttäuschung über die rein politisch-säkulare Ausrichtung der zionistisch-nationalen
Erneuerungsbewegung unter Herzl, die für Buber zu keiner geistig-kulturellen Erneuerung
führen konnte, begann ab 1904 seine Hinwendung zum Chassidismus, einer mystisch-religiösen jüdischen Bewegung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden war und weite
Teile des Ostjudentums erfasst hatte. So kam es zu Bubers Wiederentdeckung, Sammlung
und erzählerischer Neu- und Nachgestaltung chassidischer Geschichten. Er übersetzte sie
nicht einfach, sondern versuchte, sie nachzudichten. Viele Buber-Anhänger sehen darin eine
seiner großen Leistungen. Andere dagegen, vor allem Juden, mitunter selbst Ostjuden,
haben Bubers Beschäftigung mit dem Chassidismus und der jüdischen Mystik mit einer gewissen Herablassung betrachtet. 1906 erschien von Buber eine Sammlung chassidischer Erzählungen unter dem Titel »Die Geschichte des Rabbi Nachman« und 1908 »Die Legende
des Baalschem«. Diese trugen Buber den Ruf des Erzählers ein. 1922 und 1924 folgten weitere Bände.
Bubers Zuneigung zum Chassidismus resultierte aber nicht nur aus der Ablehnung eines
rein nationalen Zionismus, sondern auch aus der durch Nietzsches Kulturkritik offengeleg-
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ten Krise des rein wissenschaftlich ausgerichteten modernen Denkens, das einen auf transzendentale Sinnzusammenhänge gerichteten Wahrheitsbegriff allem Anschein nach nicht
mehr zuließ. Für Buber bestand das Versagen der abendländischen Kultur nicht zuletzt darin,
dass sie mehr und mehr einem Leben mit einem der Welt entrückten Gott den Vorzug gab.
Er selbst bemühte sich, der allgemeinen Entmythisierung den Chassidismus als glaubensgebundenen Mythos gegenüberzustellen, da er ihn für die allein angemessene Glaubenshaltung hielt und in ihm ein wirksames Gegenbild zur westlichen modernen Welt sah.
Die Erneuerung des Judentums war für Buber ein geistiger Prozess und keineswegs die
Wiedererrichtung oder Stärkung einer konfessionellen oder nationalen Gemeinschaft. Diesem Prozess galt auch das Programm seiner berühmten »Drei Reden über das Judentum«,
die er von 1909 bis 1911 in Prag gehalten und damit unter den Prager Studenten intensive
Diskussionen um das eigene Judentum und den Zionismus ausgelöst hat. Franz Kafka, der
gleichfalls durch einen Vortrag von Buber über den jüdischen Mystizismus auf die eigene
jüdische Identität aufmerksam geworden war, soll dem Religionsphilosophen 1916 und
1917 drei Erzählungen zur Veröffentlichung überlassen haben. Jedoch verhielt sich der Prager Dichter von Anfang an gegenüber Bubers Gedankengut recht kühl und ablehnend, da seiner Meinung nach bei Buber das Rhetorische, Künstliche und Ästhetisierende überwog.
Seine Arbeiten tat er als »abscheuliche, widerwärtige Bücher« ab.
Mit der Wiederentdeckung der chassidischen Literatur hatte Martin Buber als eine wichtige Quelle der Erneuerung das bis dahin im Westen vielfach verachtete Ostjudentum, in
dem er ein großes Reservoir geistlicher, sittlicher und sozialer Energie sah, in den Blickpunkt gerückt. Viele assimilierte Juden indes, wie etwa Fritz Mauthner, Jakob Wassermann,
Walther Rathenau, sahen auf Ostjuden noch lange verächtlich herab. Andere dagegen, die
wie Arnold Zweig, Joseph Roth und Alfred Döblin Polen bereist hatten und dort dem Ostjudentum begegnet waren, haben es wohl als eine widersprüchliche, aber in sich geschlossene
kulturelle Größe begriffen, die alles aufwies, was das westliche Judentum durch Aufklärung
und wissenschaftlichen Fortschritt zum großen Teil verloren hatte, nämlich Zusammenhalt,
Selbstbewusstsein, geschichtliche und kulturelle Selbstdefinition. Kein Wunder, dass diese
Reisenden wie Buber das Ostjudentum in seiner historischen Realität als das einzige Zeugnis eines echten jüdischen Lebens betrachteten. Andere Buber-Experten bewerteten seine
Wiederentdeckung des Chassidismus als ein rein nostalgisches und ästhetisches Phänomen,
bei dem von chassidischer religiöser Praxis wie Gebetsübungen keine Rede sein könne.
Gershom Scholem beispielsweise hat Bubers »diffuse Schwärmerei für das Ostjüdische« in
seinen Erinnerungen als »Bubertät« glossiert.
Von 1906 bis 1916 lebte Martin Buber mit seiner Familie in Berlin und von 1916 bis 1938
in Heppenheim an der Bergstraße. (Dort ist eine Straße nach ihm benannt.) Von 1916 bis
1924 gab er die deutsch-jüdische Zeitschrift »Der Jude« heraus, die ein Sprachrohr jüdischer
Neubesinnung und Sammlung war. Einige Jahre darauf wurde er, zusammen mit Victor von
Weizsäcker und Joseph Wittig, Herausgeber der sozialpädagogischen Vierteljahresschrift
»Die Kreatur«. Ferner übte er eine Lehrtätigkeit am Freien Jüdischen Lehrhaus aus sowie an
der Universität in Frankfurt/Main – hier hatte er den einzigen Lehrauftrag für Religionswissenschaft und jüdische Ethik in Deutschland inne – und initiierte Tagungen zur Erneuerung
des Bildungswesens.
Ab 1924 wirkte er ebenfalls in der Schweiz, den Niederlanden und in Deutschland in freien Lehrgruppen, nachdem er ein Jahr zuvor die religionsphilosophische Grundlegung seiner
politischen und literarischen Arbeit »Ich und Du« veröffentlicht hatte, eine seiner weiteren
großen Leistungen. In diesem Werk, mit dem er endgültig sein Thema gefunden hatte, un-
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terscheidet er prinzipiell die konkrete dialogische Beziehung und Sprache im zwischenmenschlichen Verhältnis und im Verhältnis zur Natur und zu Gott von einem verdinglichten
Zugriff auf die Wirklichkeit. Echte Religiosität findet Buber im Gegensatz zu einer in Gesetzen und Glaubenssätzen erstarrten Religion nur in der dialogischen Begegnung, wie sie,
seiner Meinung nach, gerade die Bibel und die chassidischen Geschichten bezeugen. Robert
Weltsch urteilte 1961: »Gegenüber der Bibel mehr als sonstwo ist das dialogische Prinzip
der Schlüssel zum Verständnis.« Das Wesen des Menschen definierte Martin Buber gleichfalls mit dem Begriff »dialogisch«, da es sich erst in der Begegnung mit dem anderen verwirklicht und der Mensch am Du zum Ich wird.
Das dialogische Prinzip beherrschte auch Bubers Konzeption der Erwachsenenbildung,
die er zunächst mit dem jüdischen Philosophen und Theologen Franz Rosenzweig, mit dem
ihn eine intensive und lebensbestimmende Freundschaft verband, am gemeinsam gegründeten Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main umgesetzt hat, eine Arbeit, die er dann nach
gleichem Muster ab 1933 als Leiter der Mittelstelle für Erwachsenenbildung in ganz
Deutschland und schließlich nach seiner Emigration in Palästina ausübte.
Ab 1925 unternahm Buber mit Rosenzweig eine neue deutsche Übersetzung der Bibel.
Man erinnere sich: Vor mehr als hundert Jahren hatte Moses Mendelssohn die Bibel übersetzt, um den in Deutschland lebenden Juden die deutsche Sprache und Kultur näher zu
bringen und um die kulturelle Kluft zwischen Juden und Deutschen in den frühen Stadien
der Akkulturation überbrücken zu helfen. Bubers und Rosenzweigs Projekt drückte dagegen eine umgekehrte Richtung aus. Ihre Übersetzung sollte Juden dazu dienen, die abgerissenen Bande zu ihrer eigenen Vergangenheit zu erneuern und ihre jüdische Identität neu
zu bestätigen und zu festigen. Auf diese Weise wollten sie aber auch ihren dialogischen
Anspruch abermals hörbar machen. »Es gilt«, so äußerte sich Buber zu dem Unternehmen, »in bibeltreuer Glaubensaufgeschlossenheit unseren heutigen Situationen dialogisch
verantwortend standzuhalten.« Über die Grundlagen der Übersetzung legten beide in dem
Gemeinschaftswerk »Die Schrift und ihre Verdeutschung« Rechenschaft ab.
Nach Rosenzweigs Tod am 10. Dezember 1929 – er starb mitten in der Arbeit, als die beiden Freunde bei Jesaja angekommen waren – setzte Buber die Bibelübersetzung fort und
schloss sie im Februar 1961 ab. »Für wen wird diese Übersetzung nun bestimmt sein, in welchem Medium wird sie wirken?« fragte damals skeptisch Gershom Scholem, Bubers Freund
und Kritiker. »Die Juden, für die Sie übersetzt haben, gibt es nicht mehr. Die Kinder derer,
die diesem Grauen (der nationalsozialistischen Herrschaft) entronnen sind, werden nicht
mehr Deutsch lesen.« So ist es auch gekommen. Die Bibelübersetzung hat wohl viel Bewunderung erregt, doch ist sie weder im Christentum noch im Judentum ernsthaft übernommen worden.
Nach dem Beginn des Nazi-Regimes verlor Buber seine Honorarprofessur an der JohannWolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, das heißt, er wartete den Entzug der offiziellen
Lehrbefugnis gar nicht erst ab – dieser erfolgte im Oktober 1933 –, sondern legte seine Professur schon vorher nieder. Als unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, die Buber als »Erzjuden« zu bezeichnen pflegten, der »Herr Professor«, wie er in seinem Wohnort Heppenheim an der Bergstraße allgemein genannt wird, spazieren geht, stellt
sich ihm plötzlich ein Mann in den Weg, fixiert ihn und sagt: »Na, du Jud!« Ohne Zögern
antwortet Buber: »Na, du blöder Kerl.«
In den folgenden Jahren widmete er sich bis zu seiner Emigration im Jahr 1938 ganz der
Erwachsenenbildung der in Deutschland noch verbliebenen Juden, die unter dem wachsenden Druck erst lernen mussten, ihre jüdische Identität zu finden. Diese Kulturarbeit hat si-
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cher manchem Überlebenshilfe vermittelt. »Wenn wir unser Selbst wahren«, meinte Buber,
»kann nichts uns enteignen. Wenn wir unserer Berufung treu sind, kann nichts uns entrechten. Wenn wir mit Ursprung und Ziel verbunden bleiben, kann nichts uns entwurzeln, und
keine Gewalt der Welt vermag den zu knechten, der in der echten Dienstbarkeit die echte
Seelenfreiheit gewonnen hat.«
Vor dem Novemberpogrom 1938 emigrierte Buber nach Jerusalem. Hier übernahm er an
der Hebräischen Universität eine Professur für Sozialpsychologie, wobei er, da ihm Hebräisch von Kindheit an vertraut war, keine Sprachprobleme hatte. Auch hier war er unermüdlich tätig und engagiert. So errichtete er im neu gegründeten Staat Israel im Jahre 1949 das
gewünschte »Seminar für Erwachsenenbildung«, das er bis 1953 leitete, und verfasste nach
und nach seine Werke, die ab 1945 besonders in den USA und in Westeuropa bei Bibelexegeten und Interpreten jüdischer Spiritualität auf großes Interesse stießen.
Wie aber hat er über den Holocaust geurteilt? Unter Hinweis auf Hiob sprach er in diesem Zusammenhang von Gottes verborgener Anwesenheit. »Nichts ist erklärt, nichts ausgeglichen, das Unrecht ist nicht Recht geworden und die Grausamkeit nicht Milde. Nichts ist
geschehen als dass der Mensch wieder Gottes Anrede vernimmt.« Ohne Deutschland von
seinen Verbrechen gegen die Menschheit und das jüdische Volk zu entlasten, war Buber der
Ansicht, dass die Wunden, die die Shoah geschlagen hatte, nur heilen könnten, wenn man
die geistige Tradition des deutschen Humanismus stärkte, die ebenfalls ein Opfer des Nationalsozialismus geworden sei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Buber einer der
ersten Juden, die eine Versöhnung mit dem deutschen Volk suchten. Schon 1947 besuchte er
wieder Europa und verbrachte fortan zusammen mit seiner Frau Paula alljährlich mehrere
Wochen oder Monate in Deutschland.
In Bubers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt 1953, die den Titel trägt: »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des
Friedens«, standen die beiden Sätze, die seither in die Welt gegangen sind: Einmal der Satz
der Schuldbestätigung: »Und was bin ich, dass ich mich vermessen könnte, hier zu vergeben?«- und dann der Satz des Erbarmens: »Mein der Schwäche des Menschen kundiges
Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden.« Dass nach dem großen Judenmord Forschungen zum deutschen Judentum wieder möglich wurden, ist ebenfalls Bubers Verdienst: Zehn Jahre nach der
Befreiung der Konzentrationslager wurde 1955 in Bubers Jerusalemer Wohnung das LeoBaeck-Institut gegründet.
Eine weitere Aufgabe, die sich Buber, der mit seiner Familie vor der Gründung des Staates Israel in einem meist von Arabern bewohnten Viertel Jerusalems gelebt hat, schon früh
stellte und die heute immer noch unabgegolten und mittlerweile womöglich noch aktueller
geworden ist, war die Versöhnung zwischen Juden und Arabern. Schon beizeiten forderte er
die jüdischen Siedler in Palästina zur Verständigung mit den Arabern auf, fand aber nur geringen Zuspruch. Doch er gab nicht auf. So leitete er zusammen mit dem aus Kalifornien
stammenden Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem, Judah Leon Magnes, den
Ihud (hebräisch Einheit). Dieser war eine 1942 in der Nachfolge von Brit Schalom geschaffene Organisation, die sich während des Zweiten Weltkrieges und danach für die Bildung
eines binationalen, paritätisch verwalteten jüdisch-arabischen Gemeinwesens in einem ungeteilten Palästina einsetzte. Diesem Ziel ist auch Bubers 1983 neu aufgelegtes Buch »Ein
Land und zwei Völker« gewidmet.
Die Gründung eines jüdischen Staates Israel gehörte zwar nicht zu Bubers erklärten Zielen. Als aber seit 1948 an dieser Tatsache nicht mehr zu rütteln war, hat er das neue jüdische
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Gemeinwesen akzeptiert und nach der Gründung des israelischen Staates und der Beendigung des ersten israelisch-arabischen Krieges 1948 sein Verhältnis zum neuen jüdischen
Staat wie folgt definiert: »Das Gebot, dem Geist zu dienen, ist jetzt von uns in diesem Staat
von ihm aus zu erfüllen«. Nach der Ermordung des Grafen Folke Bernadotte, dem Vermittler im arabisch-jüdischen Krieg, durch jüdische Extremisten, empörte sich Buber: »Schändliche Mordtaten werden unserem Volke nur Schaden und Verachtung einbringen. Es wird
nicht gelingen, eine Nation einzuschüchtern, die sich rühmt, niemals vor einer Drohung zurückgewichen zu sein . . . Ein im Namen des Volkes begangener Mord zersetzt das Leben
und die Lebenshoffnung eben dieses Volkes.«
Als er 1951 den Goethepreis der Universität Hamburg persönlich entgegennahm, wurde
diese Ehrung von Juden in der ganzen Welt als Affront empfunden, offensichtlich auch deshalb, weil Buber die Preissumme der Monatszeitschrift »Ner« spendete, die für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern eintrat. 1953 griff Buber die vorgesehene Gesetzgebung zur Enteignung arabischen Landbesitzes an, die angeblich aus Sicherheitsgründen
erfolgte. Im gleichen Jahr töteten israelische Soldaten bei einer Vergeltungsaktion im jordanischen Ort Kibya sechzig Männer, Frauen und Kinder. Fünf Jahre darauf fand Buber in
New York für solche Untaten der Israelis Worte der harschen Kritik, wobei er dem angewandten Gesetz der Vergeltung jede moralische Berechtigung absprach. Sogar Ben Gurion
attackierte er scharf. Am Eichmann-Prozess in Jerusalem hielt er gleichfalls mit seiner Kritik nicht zurück und verlangte, das Verfahren vor einem internationalen Gericht zu führen.
Er suchte Ben Gurion in dessen Wohnung auf und bat ihn, mit Hinweis auf das Gebot »Du
sollst nicht töten«, das Todesurteil in lebenslange Haft umzuwandeln – vergeblich, wie wir
wissen.
Eine von Bubers letzten Anweisungen bestand bezeichnenderweise darin, die von ihm als
Stipendium für arabische Studenten ausgesetzte Summe zu verdoppeln. Noch ein Jahr vor
seinem Tod führte er mit Ministerpräsident Levi Eschkol einen Briefwechsel, um das Araberproblem einer Lösung zuzuführen und um für eine Verständigung zwischen Israel und
den arabischen Völkern zu werben, »solange noch die Möglichkeit dazu besteht. Damit ein
so großes, fast präzedenzloses Werk gelingt, ist unerlässliche Voraussetzung, dass geistige
Vertreter der beiden Völker miteinander in ein echtes Gespräch kommen, in dem sich gegenseitige Aufrichtigkeit und gegenseitige Anerkennung verbinden.« Eine Mahnung, die
heute wie vor vierzig Jahren ihre Gültigkeit hat.
Der Utopie eines jüdisch-arabischen Bundes hat Martin Buber sein Leben lang angehangen. Bis an sein Ende blieb der jüdische Religionsphilosoph das mahnende, oftmals unbequeme Gewissen des Staates Israel. Zeit seines Lebens ließ er nicht davon ab, Politik generell unter moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Buber, der sich schon in seiner Jugend
mit Sören Kierkegaard beschäftigt und unter seinem Einfluss über die Kategorien des Ethischen und Religiösen in ihrem Verhältnis zueinander nachzudenken begonnen hatte, mahnte immer wieder, dass man sich der Verantwortung für die ethischen Gebote und ihrer Verteidigung nicht entziehen dürfe.
Nach all dem Biographischen nun zurück zu unserer Ausgangsfrage: Was hat Bubers Rezeption im Judentum beeinträchtigt, während er Nichtjuden besonders in Deutschland als
einer der wichtigsten Vertreter des Judentums galt und immer noch gilt? Ein Grund war sicherlich seine Ablehnung des normativen Judentums. So groß seine Wirkung war, so hatte
er doch im »eigenen Land« und bei seinem »eigenen Volk« wegen seines Bildes vom eigentlich Jüdischen erhebliche Schwierigkeiten. Allerdings haben auch politische Gründe
eine Rolle gespielt. Die orthodoxen Kreise hielten ihm vor, das Gesetz nicht treu zu achten.
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Andere kritisierten seine Haltung in der Araberfrage. Dennoch finden sich seine Texte heute
sowohl in israelischen als auch in arabischen Schulbüchern.
Dass Bubers Haltung bei Juden oft auf Widerspruch stieß, erklärte Gershom Scholem
einst mit Bubers »ketzerischer« Auffassung vom Judentum. Sie habe dazu geführt, dass sich
die Jugend, die zunächst einen Propheten in ihm gesehen habe, sich in Palästina von ihm abwandte. So wurde Buber im einstigen Palästina, dem späteren Israel, anfangs keineswegs
einer der einflussreichsten geistigen Führer der Jugend. Obendrein hatten seine studentischen Hörer nicht selten Schwierigkeiten mit seinem hochgestimmten Sprachstil, ein Problem, das über Jahre bestehenblieb.
Viel Verständnis für Martin Buber und sein Werk zeigte allerdings auch ein Theodor W.
Adorno nicht. Sah er in ihm doch nicht mehr als einen »Religionstiroler«. Andere Philosophen und Künstler fühlten sich dagegen von Bubers Charisma angezogen, so Albert
Schweitzer, Max Brod, Theodor Däubler, Franz Werfel, Rudolf Borchardt, Stefan Zweig und
Hermann Hesse, der Buber sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen hat. Geehrt wurde der
jüdische Religionsphilosoph mehrfach: 1953 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (auch diesen Preis soll er für die jüdisch-arabische Verständigung gestiftet haben),
1963 mit dem niederländischen Erasmus-Preis, 1964 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg und am Ende seines Lebens mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt Jerusalem. Die beiden letzten Ehrungen hat Paula Buber nicht mehr miterlebt. Sie starb 1959 in
Venedig und liegt dort auf dem Jüdischen Friedhof begraben.
Martin Buber starb am 13. Juni 1965 in seinem Heim in Jerusalem-Talbie. Bei der Aufbahrung in der hebräischen Universität hatte man die neue Staatsflagge über den Sarg gebreitet, und arabische Studenten waren es, die Rosen, Nelken und Gladiolen auf diese Flagge legten. Martin Buber erhielt ein würdiges Begräbnis, das deutlich macht, »dass Israel den
nonkonformistischen Mann des Geistes trotz aller Meinungsverschiedenheiten doch tief
verehrte.« (Grete Schaeder)
Nachzutragen bleibt, dass der ernste Gelehrte Martin Buber Heiterkeit und Humor durchaus geschätzt hat. Das Gebet war ihm wichtig, aber es sollte »nicht in Pein und Buße, sondern in großer Freude geschehen. Freude allein ist wahrhafter Gottesdienst.« Den Humor
soll der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber dagegen den »Milchbruder des Glaubens« genannt und erklärend hinzugefügt haben: »Wenn ein Mensch nur Glauben hat, steht
er in Gefahr, bigott zu werden. Hat er nur Humor, läuft er Gefahr, zynisch zu werden. Besitzt er aber Glaube und Humor, dann findet er das richtige Gleichgewicht, mit dem er das
Leben bestehen kann.« Für einen Martin Buber war der Humor ohne den Hintergrund des
Glaubens eben einfach nicht denkbar.