Zwei_Jagdnovellen
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Zwei_Jagdnovellen
Neumanns Geheimnis Wilderernovelle Namen, Handlung und Personen sind frei erfunden. Eine Namensgleichheit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig. Die Erzählung beruht jedoch auf Tatsachen, die sich vor dem Weltkrieg in Ostpreußen ereignet haben. 63 Ein orangeroter Sonnenuntergang verabschiedete im Westen den schönen Herbsttag, langsam senkte sich die Dämmerung über das flache Land. Mit dem zaghaften Aufleuchten des Abendsternes begann die Uhlenflucht, jene kurze Dämmerungszeit, bis die dunkle Nacht endgültig ihre Herrschaft antrat. Von der Silhouette des dunklen Kiefernwaldes löste sich lautlos ein Schatten. Ein alter Steinkauz startete zu seiner nächtlichen Futtersuche. Im Fluge erspähte er einen ungewohnten Lichtschein, der aus dem Dienstzimmer der alten Rentei in die Finsternis drang. Neugierig flog er auf den Lichtschein zu und blockte in der alten Linde vor der Rentei auf. Von der Helligkeit geblendet, starrte er mit verengten Pupillen verwundert durch das offene Fenster. Im Büro saß zu diesem späten Zeitpunkt der Forstverwalter Fritz Neumann an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag ein Brief seines Arbeitgebers und Freundes Baron von Stenglin. Mehrmals hatte Neumann das Schreiben durchgelesen, wobei er dicke Qualmwolken aus seiner halblangen Jägerpfeife hervorstieß. Verärgert faltete er das Schreiben zusammen und verschloss es im Schreibtisch. Sinnend glitten seine Augen über die zahlreichen Gehörne und Geweihe an den Wänden seines Dienstzimmers. Mit den Jahren hatten die ehemals weißen Schädel der Trophäen durch langen Tabakgenuss Patina angesetzt. Doch Neumanns Sinn stand nicht nach Sinnieren über alte Jagdfreuden. Was sein Brotherr ihm geschrieben hatte, war eine Zumutung Baron von Stenglin teilte ihm mit, dass seine Nichte, die Baronesse von Wrede in Kürze zur Jagd auf einen Abschusshirsch käme. Da der Baron in den nächsten Wochen geschäftlich im Ausland zu tun habe, solle er die junge Frau führen. 64 Mit dem Freiherrn war er seit seiner Jugend freundschaftlich verbunden. Obwohl er nach seinem Studium in seinen Dienst getreten war und die Bewirtschaftung und Betreuung des über 1000 ha. großen Reviers übernommen hatte, war das Verhältnis zu seinem “Dienstherrn” von kameradschaftlichem Vertrauen geprägt. Der Baron wusste aber auch, dass Neumann etwas gegen jagende Frauen hatte. Obwohl er eingefleischter Junggeselle war, hegte er keine grundsätzliche Antipathie gegen das weibliche Geschlecht. Vor Jahren war er mit einer hübschen Kaufmannstochter verlobt gewesen. Kurz von der geplanten Hochzeit verunglückte seine Braut mit ihrem Sportwagen tödlich. Aus Kummer und Gram hatte er sich jahrelang von allen gesellschaftlichen Veranstaltungen fern gehalten und ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Als die Wunden des Verlustes mit der Zeit vernarbten, nahm er wieder an Bällen und anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil. Er war ein guter Tänzer und charmanter Gesellschafter, der mal hier, mal dorrt flirtete. Manche Dame der Gesellschaft hätte ihn gerne als Schwiegersohn gehabt. Doch Neumann blieb bei seinem Entschluss Junggeselle zu bleiben. Trotz seiner Verehrung des weiblichen Geschlechtes, trotz seiner Aufgeschlossenheit für Gleichberechtigung und Emanzipation, war und blieb Neumann in einem Punkt stur: Er hasste jagende Weiber. Nach seiner Auffassung war die Frau von Gott dazu geschaffen, um Leben zu gebären. Und nicht, um Leben zu vernichten. Er meinte, eine gefühlsbetonte Frau würde unter Jagdfieber leiden. Oft werden aber erst nach dem Schuss an den Jäger schwere körperliche Anstrengungen gestellt. Er fragte sich: ’Kann eine Frau einen Brunfthirsch aufbrechen? Oder einem 65 klagenden Kitz den Fangschuss geben, einen todkranken Hasen durch Genickschlag erlösen und kilometerweit mit dem Schweißhund einer Wundfährte folgen?’ Es soll einige Frauen geben, die diesen Anforderungen gerecht werden gestand sich Neumann, doch haben diese Frauen so viel vom weiblichen Charme verloren, dass sie als “FRAU” indiskutabel waren. Um seine Ansicht zu bekräftigen, hatte er in seinem Büro unter den zahlreichen Trophäen folgenden Spruch aufgehängt: Ich finde soll'n sie sich empören, dass Frauen auf der Jagd nur stören. Ist eine hübsch und ohne Gatten, wird man auf sie wohl meistens blatten. Und verpasst beim Griff um den Rock, bestimmt den kapitalen Bock! Doch was half alles Grübeln? Es gehörte zu seinen Aufgaben, Jagdgäste zu führen, also musste er sich dem Wunsch seines Dienstherrn beugen. 66 Acht Tage später wurde Neumann telefonisch vom Ankunftstermin der Baronesse unterrichtet. Als am folgenden Tag der Gärtner im Park einen Strauß Dahlien pflückte, hörte er in der Ferne das Geräusch eines näher kommenden Fahrzeuges. Wenige Minuten später schoss ein roter, offener Sportwagen um die Ecke, nahm quietschend die letzte Kurve und hielt mit einem starken Ruck, eine Staubwolke aufwirbelnd, direkt vor dem Eingang des Gutshauses. Während der Gärtner auf das Auto zueilte, hatte die Fahrerin elastisch und leichtfüßig den Wagen verlassen. Der Gärtner begrüßte den ihm bekannten Gast herzlich und trug dann das Gepäck ins Haus. Durch das freudige Hundegebell war Neumann auf den Besucher aufmerksam geworden und eilte zum Empfang nach draußen. Ein junges, frisches Mädchen mit langen, blonden Haaren kam auf ihn zu. Das bunte Dirndlkleid und die flachhackigen Sportschuhe standen ihr vorzüglich und unterstrichen ihre gut gewachsene Figur. Lediglich die rot gefärbten Fingernägel bildeten einen Kontrast, der städtische Herkunft verriet. “Weidmannsheil, Baronesse”, begrüßte der Revierverwalter den Gast,: “Mein Name ist Neumann. Da Herr von Stenglin auf Geschäftsreise ist, soll ich Sie auf einen Abschusshirsch führen.” “Weidmannsheil, Herr Neumann. Von meinem Vater erfuhr ich, dass mein Onkel auf Reisen ist Ich habe schon so viel von Ihren jagdtlichen Erfolgen gehört, so das ich mich gerne Ihrer Führung anvertraue.” “Einige Hirsche habe ich bestätigt, so dass ich bestimmt glaube, dass Sie zu Schuss kommen werden. Nun möchte ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Der Gärtner wird schon Ihr Gepäck hinauf gebracht haben.” 67 Gemeinsam schritten sie die breite Freitreppe hinauf und betraten die sehr geräumige Diele. Über dem geschmackvollen, offenen Kamin, an der Stirnseite des Raumes, hingen die Trophäen starker Hirsche. Alte Ridingerstiche, die sich um Rehgehörne gruppierten, schmückten die Seitenwände. Eine bequeme Polstergarnitur vor dem Kamin vervollständigte die behagliche Einrichtung. Bewundernd hing der Blick der Baronesse an den starken Trophäen. Zögernd folgte sie Neumann auf der schweren Eichentreppe in das obere Stockwerk. Der Revierverwalter führte sie in ein geräumiges Zimmer, das als Wohn Schlafzimmer behaglich und geschmackvoll eingerichtet war. Neumann fragte: “Soll ich die Köchin herauf schicken, damit sie Ihnen beim Auspacken behilflich ist?” “Nein,. Danke. Ich komme allein zurecht.” “Um zwölf Uhr ist das Essen fertig, wenn es recht ist. Lassen Sie bitte Lisa nicht warten.” “Ich werde pünktlich sein. Ich will nur schnell auspacken und mich frisch machen”, erwiderte die Baronesse. “Um vier Uhr werde ich Sie dann zum Ansitz abholen”, sagte Neumann und verließ das Zimmer. Die junge Frau trat an das Fenster und sah in den gepflegten Park. Hinter dem Park lag ein Wiesenthal, dass von einem Bach durchzogen wurde. Am oberen Wiesenrand erstreckte sich, bis an den Horizont ein großer Kiefernforst, aus dem sich einige leuchtende Laubholzinseln hervorhoben. Lange betrachtete sie das herrliche Bild Sie liebte diese Landschaft der Altmark. Dann packte sie ihren Koffer aus. Sie hatte gerade ihre Toilette beendet, als ein Gong erklang. Leichtfüßig ging sie die Treppe hinunter. In der Diele erwartete sie eine mittelalte Frau im dunklen Kleid mit einer weißen Schürze. 68 Die Frau ging auf den Gast zu und sagte: “Guten Tag Baronesse. Ich bin Lisa, die Köchin, und habe den Auftrag, für Ihr leibliches Wohl und Ihre Bequemlichkeit zu sorgen.” “Guten Tag Lisa", erwiderte die Baronesse und gab ihr die Hand. “Darf ich auftragen?”, fragte die Köchin. Bevor sie antworten konnte, öffnete die Köchin die Tür und sagte: ”Bitte schön. Hier ist das Esszimmer.” Frau von Wrede betrat das Zimmer. Der Raum war mit schweren Eichenmöbeln im rustikalen Stil ausgestattet. Dicke Perserteppiche dämpften die Schritte. Auf dem Tisch, in der Mitte des Raums war für eine Person gedeckt. Das Porzellangeschirr mit Jagdmotiven verriet den Geschmack des Hausherrn. Lisa servierte lautlos. Mit großem Appetit aß Frau von Wrede. Die lange Fahrt und die frische Luft hatten sie hungrig gemacht. Die Köchin legte vor und räumte ab mit einer Behändigkeit, die man der korpulenten Frau gar nicht zugetraut hätte. Als die Baronesse beim hinausgehen das gute Essen lobte, strahlte ihr Gesicht vor Freude. Frau von Wrede hatte sich gerade zur Jagd umgezogen, als sie durch das geöffnete Fenster das Geräusch eines näher kommenden Fahrzeuges hörte. Interessiert blickte sie aus dem Fenster und sah den Jagdverwalter in einem Kübelwagen an der Auffahrt halten. Sie sah auf ihre Armbanduhr, und stellte fest, dass es fünf Minuten vor vier war. Schnell setzte sie den feschen Jagdhut auf ihr blondes Haar, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, nahm das Gewehr aus dem Schrank und verließ das Zimmer. Der Jäger wartete schon an der Auffahrt auf sie. Als er aus stieg, lag sein Blick prüfend, und ein wenig überrascht auf den näher kommenden Gast. Herrgott, was hat sich das Mädel 69 verändert. Sie trug ein maßgeschneidertes Jagdkostüm aus feinstem Gabardine. Ihre wohlgeformten Beine steckten in grünen Trachtenstrümpfen und leichten, braunen Halbschuhen. Ein teures Nachtglas und eine schwere Doppelbüchse, ein Meisterwerk der Büchsenmacher, vervollständigten die Ausrüstung. Frisch importiert vom Laufsteg einer extravaganten Modenschau, dachte der Jäger, und warf einen verstohlenen Blick auf seine speckige Lederhose und seine verschossene Jacke aus derben Loden. Die Baronesse schient aber die Gedanken des Jägers nicht zu erraten, sondern blickte suchend auf den Vorplatz. “Ihren Wagen habe ich heute Mittag in die Garage fahren lassen”, erklärte Neumann. “Wir nehmen für das Revier besser den allradgetriebenen Geländewagen, denn die Wege sind oft nass und steinig.” “Schönen Dank, Neumann”, antwortete die Baronesse und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Neumann die Waffe des Gastes in der Halterung befestigte. Langsam rollte der Wagen den Parkweg hinab, und als sie die Landstraße erreichten, schaltete Neumann in einen höheren Gang. Auf beiden Seiten der Straße erhoben sich bewaldete Hügel. Immer seltener begegneten ihnen Fahrzeuge. Schließlich waren sie allein auf der schmalen Waldstraße. “Ich habe noch nie so dichte und unberührte Wälder gesehen”, stellte die Baronesse fest. “Ja, bei uns ist es schön. Gottlob wissen das die wenigsten. Wenn erst mal der Tourismus diese schöne Gegend erobert hat, ist es aus mit der Ruhe, und das Rotwild wird sich in die Dickungen zurückziehen”, antwortete der Jäger. 70 Neumann bog von der Straße ab. Der Weg wurde eng, und Zweige schlugen gegen die Windschutzscheibe. Rumpelnd arbeitete sich der Geländewagen durch die tiefen Fahrspuren des ausgefahrenen Weges. Nach weiteren zehn Minuten hielt Neumann auf einer kleinen Lichtung. “So, da wären wir!”, sagte er. Er hatte bereits den Wagen verlassen und holte Lodenmäntel, Gläser und die beiden Gewehre aus dem Fahrzeug, während dessen die Baronesse im Rückspiegel des Wagens ihre, durch den Fahrwind ramponierte, Frisur korrigierte und ihr Makeup kritisch in Augenschein nahm. Als sie endlich mit ihrer Toilette fertig war, reichte ihr der Jäger Glas und Gewehr, warf sich die beiden Lodenmäntel über die Schulter und sagte: “Wollen wir mal unser Glück versuchen.” Sie überquerten eine Lichtung, gelangten dann auf einen Pirschweg, der durch einen alten Kiefernbestand führte. Mit elastisch, federnden Schritt bewegte sich der Forstverwalter zügig vorwärts. Die Baronesse, die das lautlose Pirschen nicht gewohnt war, hatte Mühe, ihm zu folgen. Obwohl sie sich bemühte, lautlos zu gehen, stieß sie bald an einen Stein an, dann zertrat sie knisternd einen kleinen Zweig, so dass ein Eichelhäher mit erschrockenem Gezetere die ganze Gegend alarmierte. Der Jäger verhielt. Während er sich zu seinem Gast umdrehte, stand eine kaum merkliche Unmutsfalte zwischen seinen buschigen Augenbrauen. Gemächlich stopfte er seine halblange Pfeife, steckte sie in Brand und prüfte lange und eingehend den Wind. Ein kurzes Kopfnicken sollte wohl andeuten, dass die Windrichtung in seinen Plan passte. Dann pirschte er langsam weiter, sich ab und zu nach seinem Gast umschauend. 71 Am Waldrand erreichten sie einen offenen Hochsitz, den sie beide bestiegen. Vor ihnen lag ein, etwa zwei Hektar großer, Kahlschlag, der rechts von einem Kiefernstangenholz, an den übrigen Seiten von Buchendickungen umgeben war. Ein rotbrauner Fleck in der üppigen Krautflora ließ Neumann zum Glas greifen. Nach einem kurzen Blick durch das Fernglas sagte er: “Sehen Sie, dort rechts neben dem Ginster steht eine Ricke mit ihrem Kitz.” Nach einigem Suchen mit dem Glas hatte die Baronesse das Wild entdeckt und brach mit einer hohen, hellen Mädchenstimme in den Freudenruf aus: “Ach, wie niedlich!” Neumann war über diesen unpassenden und lauten Freudesausbruch ebenso erstaunt, wie die Ricke, die misstrauisch aufgeworfen hatte. Noch bevor Neumann den Gast zur Ruhe ermahnen konnte, ertönte aus der Dickung ein gedämpftes Knören. Beide suchen mit den Gläsern den Waldrand ab. Nichts rührte sich! Keine Bewegung, kein Schrei. Die rote Scheibe der Sonne verschwand langsam, aber stetig hinter dem bewaldeten Horizont. Die Ricke zog mit ihrem Kitz langsam, hier und da ein besonders leckeres Kraut äsend, über den Kahlschlag, und verschwand in der Dickung. Plötzlich zeterte von den Buchen her eine Drossel. Der Jäger griff zum Glas und leuchtete den gegenüberliegenden Waldrand ab. Lautlos erschien dort das vorsichtig sichernde Haupt eines Alttieres. Mit einem Fingerzeig machte Neumann den Gast darauf aufmerksam. Nach kurzem winden zog das Leittier auf die Fläche. Es folgten Kalb und Schmaltier. Dann folgte noch mal ein Alttier mit seinem Kalb. 72 In aller Ruhe begann das Kahlwild an zu äsen und zog dabei langsam immer weiter auf die Kahlfläche. Lauscher wehrten spielend die Fliegen ab. Erneut suchte der Jäger den Waldrand ab. Nun hatte er den Langersehnten im Glas. Träger und Haupt hoben sich undeutlich von den dunklen Stämmen des Waldrandes. Der Hirsch äugte dem Rudel nach und zog dann langsam näher. Rasch wischte Neumann die, von seinem Atem beschlagenen Okulare des Fernglases ab. Mit einem Blick sah er, dass die Baronesse den Hirsch auch entdeckt hatte und ihn im Glas beobachtete. Vierter Kopf - und dann schon ein angedeuteter Kronenzehner. Das wird wohl ein sehr guter Hirsch werden, wenn auch die Stangen ein wenig kurz sinddachte Neumann bei sich Doch dann riss ihn ein leises metallisches Geräusch aus seinen Betrachtungen. Schnell setzte er das Glas ab und wandte sich zur Seite. Für einen Bruchteil einer Sekunde erstarrte er vor Schreck. Entsetzt sah er auf die Baronesse, die unbemerkt in Anschlag gegangen war, und mit gestochener Büchse auf den Hirsch zielte. Mit einem Griff riss er blitzschnell das Gewehr an den Läufen hoch, entspannte es und stellte die gesicherte Waffe neben sich. Vor Schecken kreideweiß, stierte die Baronesse in das wütende Gesicht ihres Begleiters. Nur mühsam konnte Neumann seine Wut unterdrücken. Bevor das erschrockene Fräulein etwas sagen konnte, donnerte er los: “Sie wollen doch nicht den besten Zukunftshirsch des Reviers abknallen? Solange ich Sie führe, wird nur mit meiner ausdrücklichen Genehmigung geschossen. Merken Sie sich das. Baronesse!” “Aber der Hirsch war doch so schön. Einen besseren will ich gar nicht”, entgegnete die Baronesse. 73 Diese Antwort verschlug nun Neumann völlig die Sprache. Durch den heftigen Disput war das Rotwild auf die Anwesenheit von Menschen aufmerksam geworden und flüchtete in die schützende Dickung. Die Fläche war leer. Wortlos stand Neumann auf. entlud seine Büchse, zog den Lodenmantel an und stieg die Leiter hinab. Die Baronesse folgte bedrückt. Schweigend gingen sie hintereinander durch den dunklen Wald, erreichten den Geländewagen und fuhren zum Gut. Kurz und förmlich verabschiedete sich Neumann im Gutshof, nachdem er einen Termin für die Frühpirsch vereinbart hatte. Dann fuhr er verärgert zu seiner Rentei. In der Frühe des folgenden Tages holte Neumann seinen Gast mit dem Geländewagen ab. Nach kurzer Fahrt folgten sie schweigend dem dunklen Pfad eines Pirschweges und bestiegen eine geschlossene Kanzel. Die vor ihnen liegende Fläche lag noch in der Dämmerung. Im Süden vernahmen sie das Schreien mehrerer Hirsche. Nebelfetzen schlichen über die Kahlfläche. Feuchte Kälte schlich langsam, aber stetig von unter in die Kanzel. Langsam wurde es heller, und die aufgehende Sonne saugte die letzten Nebelreste auf. Neumann griff zum Glas und leuchtet die Kahlfläche gründlich ab. Nichts! Schweigen starrte beide auf die Fläche. Da knackte etwas in der Dickung. Neumann hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Nun vernahm er das zarte Geräusch von an Ästen anstreichenden Geweihstangen. Ein wenig später trat das Leittier auf die Fläche. Dann folgte das ganze Rudel. “Nehmen Sie die schussbereite Büchse zu Hand”, flüsterte Neumann. “Der Hirsch wird wahrscheinlich gleich folgen. Aber bitte, erst schießen, wenn ich es sage.” 74 Endlich betrat der Platzhirsch gebieterisch den Kahlschlag und folgte zügig dem Rudel. Neumann sprach ihn als ungeraden EissprossenZehner an von etwa acht Jahren. “Wenn der Hirsch näher kommt und bereitsteht, dann können Sie schießen”, flüsterte er. Die Baronesse ging in Anschlag. “Nehmen Sie sich Zeit. Erst, wenn der Hirsch das Blatt zeigt, können Sie schießen”, ermahnte Neumann seinen aufgeregten Gast. Langsam, sehr langsam zog das Rudel näher. Oft war der anziehende Hirsch vom Kahlwild verdeckt. Urplötzlich erscholl vom Süden her ein Sprengruf. Der Eissprossenzehner wandte sich um, sein Blatt freigebend, und knörrte gereizt. “Schießen”, zischte Neumann erregt. Die Baronesse lag im Anschlag, doch Neumann sah, dass die Mündung wie ein Lämmerschwanz wackelte “Ruhig atmen. Die Büchse fest einziehen”, beruhigte er seinen Gast Gerade, als der Hirsch sich wieder wenden wollte, um seinem Rudel zu folgen, brach der Schuss. Der Hirsch brach auf der Stelle zusammen, während das Kahlwild in wilder Flucht die Dickung annahm. Aber was war das? Der Hirsch kam wieder auf die Läufe und versuchte mit erhobenem Haupt dem Rudel zu folgen. Doch der hintere Teil seines massigen Körpers war leblos und bewegungsunfähig an den Boden gefesselt. Statt des stolzen Brunftschreis durchschnitt ein markerschütterndes Klagen der gequälten Kreatur die morgendliche Stille. “Rückgratschuss”, murmelte Neumann Und sagte laut: “Nun schießen Sie noch mal und erlösen das Tier von seinen Qualen!” 75 Die Baronesse starrte mit kalkweißem Gesicht auf den mit seinen Vorderläufen wild um sich schlagenden Hirsch, der in kurzen Abständen schauerliche Laute ausstieß. Da die Baronesse keine Anstalten machte, den Fangschuss abzugeben, riss Neumann ihr das Gewehr aus der Hand, repetierte blitzschnell, und erlöste mit einem Blattschuss den Hirsch von seinen Qualen. Zornesröte stand auf seinem Gesicht, als er sagte: “Erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen mit Weidmannsheil zu diesem Schuss gratuliere. Den schlechten Schuss hätte ich Ihnen ja noch verziehen. Obwohl bei der festen Auflage auf dem Hochsitz auch das nicht passieren durfte. Aber dass Sie in Ihrer Kopflosigkeit nicht in der Lage gewesen sind, einem todkranken Hirsch den Fangschuss zu geben, zeigt, das Sie unfähig sind, die Jagd auszuüben!” Wortlos verließen sie den Hochsitz. Dann sagte der Forstverwalter: “Ich werde den Hirsch selber versorgen, denn ich will ihrem zart besaiteten Gemüt den Anblick des Aufbrechens ersparen. Nehmen Sie den Wagen und fahren allein zum Gut. Ich habe noch bei den Waldarbeitern zu tun. Die Trophäe wird Ihnen nach dem Abkochen und Bleichen in den nächsten Tagen zugestellt.” Schweigend schlug die immer noch verdatterte Baronesse den Weg zum Wagen ein, während sich Neumann an die rote Arbeit machte. Am nächsten Morgen hatte die Baronesse ihren Schock überwunden. Es wurmte sie, dass ein bürgerlicher Jagdaufseher sie schwach und hilflos gesehen hatte. Was fiel diesem Lakaien eigentlich ein, eine Baronesse von Wrede zu maßregeln? Sie, die Mittelpunkt auf Bällen und Parties war, und der alle jungen Männer der Gesellschaft zu Füßen lagen? 76 Nach dem Frühstück läutete das Telefon in der Rentei. Als Neumann abnahm, sagte Frau von Wrede: “Herr Neumann, fahren Sie um zehn Uhr meinen Wagen vor, und chauffieren mich in die Kreisstadt Ich wünsche, dass Sie mir die Sehenswürdigkeiten des Städtchens zeigen!” Der Forstverwalter stutzte, holte tief Atem und sagte dann ganz ruhig: “Baronesse, ich bin als Forstverwalter von Baron Stenglin eingestellt. Meine Aufgabe ist es, für Wald und Wild des Gutes zu sorgen. Den Reiseführer zu spielen, dazu habe ich keine Lust und keine Zeit. Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe einen dringenden Termin beim Sägewerk. Wenn Sie nicht allein fahren wollen, so steht Ihnen der Gärtner gewiss gern zur Verfügung. Er ist ein zuverlässiger Fahrer. Guten Tag, Baronesse.” Dann hängte er ein. Damit war es endgültig zum Bruch gekommen. Neumann verrichtet lustlos seinen Dienst. Die Baronesse fuhr ziellos mit ihrem Sportwagen durch die Gegend. Beide wussten es so einzurichten, dass sie sich nicht begegneten. Jedoch erwarteten beide sehnlichst die Rückkehr des Gutsherrn, um durch eine deftige Beschwerde ihrem Herzen Luft zu machen. Am Wochenende traf endlich der Baron ein. Sicherlich hatte Frau von Wrede ihrem Onkel aus ihrer Sicht über die beiden unerfreulichen Jagdtage informiert. Am Nachmittag ging der Baron, wie stets nach längeren Reisen, zur Rentei, um Neumann zu begrüßen und sich über den Stand der laufenden Arbeiten zu informieren. Die Begrüßung war herzlich. Die Unterhaltung werde wie immer im vertraulichen “du” geführt. Neumann berichtete über den Holzeinschlag über den getätigten Holzverkauf und von dem Ausfall einer. Maschine im Sägewerk. Der Baron machte sich Notizen und meinte dann: “Dann ist ja alles in Ordnung. Beim Holzverkauf hast 77 du einen guten Preis erzielt. Danke Fritz. Was die Maschine im Sägewerk betrifft, die werden wir erneuern. Sie hat uns ja schon oft Schwierigkeiten bereitet.” Der Baron stand auf und wollte sich verabschieden, als Fritz sagte: “Bodo, da ist noch etwas, was ich berichten muss.” Dann erzählte er ausführlich die jagdlichen Ereignisse, und verschwieg auch nicht die Aufforderung der Baronesse sie als Chauffeur und Reisebegleiter in die Stadt zu fahren. Abschließend stellte er fest: “Lieber Bodo, trotz der über Jahrzehnte andauernden Verbundenheit meiner Familie mit dem Gut beabsichtige ich, mich bei passender Gelegenheit zu verändern. Ich bin nicht gewillt, ein zweites Mal eine derartige prekäre Aufgabe zu übernehmen.” Bodo von Stenglin setzte sich wieder und antwortete nach kurzem Schweigen: “Aber Fritz, wer wird denn gleich das Kind mit dem Bade ausschütten? Wie du schon sagtest, unsere Familien sind seit zwei Generationen fest und herzlich verbunden. Dein Vater hat schon als Rentmeister meinen Vater beraten. Du hast durch deine Tüchtigkeit und Fleiß dem Wildererunwesen ein Ende bereitet und aus der Jagd das gemacht, was sie heute ist. Und schließlich und das ist für mich das Wichtigste hast du nicht nur das Gut aus den roten Zahlen gebracht, sondern durch intensive Bewirtschaftung dafür gesorgt, dass es heute eine gute Rendite abwirft. Gewiss, es war ein Fehler von mir, als ich dich bat, meine extravagante Nichte auf einen Hirsch zu führen. Ich hätte sie eigentlich besser kennen müssen. Zwar teile ich nicht deine Abneigung gegen jagende Frauen, jedoch kann ich nach den unerfreulichen Ereignissen deinen Standpunkt begreifen. Ich verspreche dir, dass ich dir nie mehr zumuten werde, eine Jägerin zu führen. Die 78 Angelegenheit mit meiner Nichte werde ich heute Abend selber mit ihr regeln. Ich aber rechne fest mit noch vielen Jahren harmonischer, von gegenseitigem Vertrauen geprägter, Zusammenarbeit.” Er stand auf und verabschiedete sich von Fritz mit festem Händedruck. Dieser sagte dann: “Bodo, ich will die ganze Angelegenheit vergessen und begraben.” “Was anderes habe ich auch von dir nicht erwartet, alter Freund”, erwiderte Bodo und verließ das Haus. Das Abendessen nahm von Stenglin mit seiner Nichte im kleinen Speisesaal ein. Während Lisa lautlos und gewandt servierte, ließ der Baron sich über die im Reichstag jüngst erlittene Abstimmungsniederlage der DeutschNationalen aus. Er beklagte die unpatriotische Einstellung der immer stärker werdenden Sozis. Seine Nichte hörte nur mit halbem Ohr zu. Nachdem der Onkel seinen Redeschwall beendet hatte, schwärmte sie etwas von einem Modellhut, den sie in der Stadt gesehen hatte. Der Hut sei “en vogue”. Sie wollte ihn kaufen aber leider sei das Modell schon verkauft gewesen, und noch dazu an eine Bürgerliche. Der Baron fand wenig Verständnis für die Sorgen seiner Nichte. Seit dem Tode seiner Frau interessierte er sich nicht mehr für Mode. Nach dem Essen sagte er: “Du machst mir doch die Freude und leistet mir noch Gesellschaft. Ich hätte mit dir etwas zu besprechen.” Im nahe gelegenen Herrenzimmer waren zwei alte Kristallrömer und eine Flasche auserlesenem Rotwein bereitgestellt. Im offenen Kamin prasselten die Buchenscheite und strahlten anheimelnde Wärme aus. Schmiedeeiserne Lampen erhellten die Sitzecke in dem sonst 79 dunklen Raum. In unmittelbarer Nähe des Kamins hatte Waldi, der betagte Jagddackel seinen Stammplatz bezogen. Der Hausherr schenkte den blutroten Wein in die funkelnden Gläser und steckte sich umständlich und bedächtig eine Brasilzigarre an. Helle Qualmwolken zogen in Richtung des Kamin .Dann sagte er bedächtig: “Liebe Ingeborg, während deines Aufenthaltes habe ich festgestellt, dass du dich über meine Mitarbeiter erhebst. Ja, du meinst, auf Grund deines Adelstitels mehr zu sein. Die so genannten “Bürgerlichen” sind für dich nicht gesellschaftsfähig, was du auch immer darunter verstehst. Hast du eigentlich schon ein Mal die Geschichte des Adels insbesondere des niedrigen Adels erforscht? Ich meine hier nicht den “Gotha”. Ich weiß, dass du den Adelskalender auswendig kennst. Es ist, und bleibt, eine geschichtliche Tatsache dass viele Barone und Freiherrn ihre Titel durch Raubzüge und zweifelhafte Geschäfte und dergleichen erworben haben. Ja, selbst gehörnte Ehemänner wurden als “Schweigegeld” in den Adelsstand erhoben. Auch ist es geschichtlich belegt, dass Kammerfrauen, die als Mätressen ihrem Landesherrn ein Kind geboren haben, geadelt wurden, damit das nichteheliche Kind standesgemäß erzogen wurde. So sahen oft die Ursachen des blauen Blutes aus, auf das du so stolz bist. Ich will nicht behaupten, dass alle Adelserhebungen so zustande kamen. Viele Frauen und Männer wurden wegen hervorragender Leistungen in Wissenschaft, Politik und Literatur nach damaliger Sitte vom Landesherrn geadelt. Selbst wenn unser Ahnherr für hervorragende Leistung geadelt wurde, warum fällt der Glanz seiner Ehrung nach vielen Generationen noch auf uns? Nein, meine Liebe, dem Adel anzugehören ist heute kein Vorrecht, sondern eine Bürde. Durch viele Generationen haben wir versucht, auch in schweren Krisenzeiten, das Gut 80 über Wasser zu halten, um den vielen Dorfbewohnern, die bei uns beschäftigt sind, ihren Arbeitsplatz und damit ihre Existenz zu erhalten. Der Adel hat in heutiger Zeit, in der viele alte Werte verloren gingen, durch adelige Gesinnung treu und zuverlässig seine Pflicht zu tun. Jeder an seinem Platz, egal ob als Kaufmann, Offizier, Angestellter oder Gutsherr. Wenn der “Alter Fritz” sagte: ’ich bin der erste Diener meines Staates’, dann steht es uns nicht zu, das Erbe der Ahnen zu verprassen und durchzubringen. Oder als Drohne im Staat zu leben. Auch du solltest mehr Achtung vor den Arbeitern haben, denn schließlich erarbeitet die Belegschaft deines Vaters das Geld, das dir ein sorgenfreies und mondänes Leben ermöglicht” Der Baron nahm sein Glas zur Hand und stieß mit seiner Nichte an und sagte: “Ich hoffe, dass du über meine Worte mal in Ruhe nachdenkst.” Nachdenklich starrte die Baronesse in die Glut, als ihr Onkel fortfuhr: “Du warst gestern schockiert, als du bemerktest, dass ich Fritz Neumann duze. Du meinst, dass ein Gutsherr nicht so vertraulich mit seinen Angestellten verkehren soll, Ich gebe dir im Allgemeinen recht. Doch Neumann ist kein Angestellter, sondern ein alter Freund unserer Familie Unser Haus ist schon seit etwa fünfzig Jahren mit den Neumanns engsten verbunden. Schon sein Vater arbeitete für meinen Vater auf dem Gut” 81