Mediensounds!: Zwischen François FM Mürner, Fanzines und NME

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Mediensounds!: Zwischen François FM Mürner, Fanzines und NME
Aberdutzende Fanzines und die Kürzel
DD, NME und FM sprengten muffige
Heimatbegrifflichkeiten – abseits
der bürgerlichen Feuilletons.
MEDIENSOUNDS!
«‹Reisender Krieger›, immer wieder», antwortet der spätgeborene Freund, Jahrgang 1980, verschmitzt auf die Frage, was ihm denn zu den Achtziger-Medien in der Schweiz
einfalle. «‹Reisender Krieger›, und dann: ‹Züri brännt›, natürlich.» Es ist kein Zufall, dass der junge Historiker, der
mit Tocotronic aufgewachsen ist und sich sehr wohl für
Achtziger-Bands wie die Go-Betweens zu begeistern weiss,
als exemplarische mediale Zeugnisse jener Zeit zwei Filme
nennt, und zwar just jene, die präzis den Hintergrund projizieren, auf dem die Achtziger und ihre bewegte Kulturszene
spielen: Christian Schochers phänomenale Schweiz-Odyssee
schildert das Klima einer drögen «Arschlochhaftigkeit der
Welt» in einer ewig grauwinterlichen Alpenrepublik; ein
Meisterwerk zweifellos, wenn nicht sogar, wie der Nachkomme meint, «der beste Schweizer Film überhaupt». Und
«Züri brännt», klar, es ist das filmische Dokument der Zürcher Unruhen und jener Bewegung, die bis in die hintersten
Winkel des Landes ausstrahlen sollte.
Was er denn kennen müsse an sonstigen Medien? Ach, winke ich mit vorsorglich verzweifelter Erinnerung an die ungeordneten Achtziger-Schätze in meiner Seekiste im Estrich
ab, und witzle: Bewegungsblätter! Aberdutzende Fanzines
und Politblätter, englische Music Weeklies, das deutsche
«Sounds» und «Spex», Magazine von «Tages-Anzeiger»
und «Weltwoche», aber auch Sternschnuppen wie «Twen»
und «Magma» sowie Hunderte Ausrisse stapeln sich in jenem Behältnis, mit dem mein Vater in den Fünfzigerjahren
auf einem Schiff in die USA auswanderte. Die lokalen Untergrundpublikationen von 1979–1981 hat er schon gesehen, «Steinschleuder», «Rack» (Motto: «Let’s Go to Moskau») und «Umsturz», grandiose Serien von widerständigen
Kunstblättern der St. Galler Marcel-Duchamp- und SergeStauffer-Fans, die muffige Heimatbegrifflichkeiten sprengten, unter anderem mit dadaistischen Staubsaugerübungen.
MEHR ALS NUR DIE MUSIK
Duchamp? Moskau? Staubsauger? Alles eine Frage der
Distinktion – zeitweise waren fast alle Mittel recht, sich
abzugrenzen vom bedrückenden Mief eines Landes, das im
Kalten Krieg und in den Konventionen seiner Gnomen-Verschwiegenheit und todlangweiligen Anständigkeit gefangen
war. «Es war die grosse Zeit der U-Zeitungen, Fanzines und
linken Postillen aller Schattierungen», wie es im Rückblick
des Aarauer «Alpenzeiger», «Sprachrohr der Alternativen»,
über die Glanzzeiten des Zürcher Kollektivbuchladens Paranoia City heisst; 73 (!) Titel steckten 1979 angeblich «im
eigens angefertigten Ständer», 73 unabhängige Klein- und
Minipublikationen «abseits der bürgerlichen Medienpolitik, auch wenn der Absatz zu wünschen übrig liess».
Dies muss man sich vor Augen halten, wenn es um die hiesige Musikszene und ihre damaligen Publikationen gehen
soll, also um den «Mediensound» jener Zeit. In den meisten
Fällen spielt da weit mehr als nur die Musik: Wer Joy Division hörte, interessierte sich auch für die Filme von Herzog
und Fassbinder, und natürlich waren Gang of Four nicht
ohne Engagement für den revolutionären Kampf in Zentralamerika hör- und denkbar. Tatsächlich besuchte ich als
17-Jähriger in jener Juliwoche 1981, in der wir als Rorscha-
cher Bubenquartett auf erster Londonreise in einer Woche
18 Bands erlebten, auch einen knochentrockenen El-Salvador-Diskussionsabend einer lokalen Aktivistengruppe.
STABILO-BOSS-MARKIERUNGEN IM «SWISS WAVE»
Ach wo, was für ein Bullshit, hör ich da einen angejahrten
Punk rufen, und prompt purzelt mir aus der Seekiste die
zweite Nummer des «Swiss Wave» vom Oktober 1980 entgegen, in dem Arnold Meyer «200 Schallplattenkritiken»
verspricht und unter anderem vom Jazz-Festival Montreux
berichtet, wo «zum ersten Mal in der Geschichte auch NewWave-Gruppen» vertreten waren. Hier gehts wahrlich im
engeren Sinn um Musik, und der junge Käufer in der Ostschweizer Provinz hat sich seinen Stabilo-Boss-Markierungen nach offensichtlich nur daran gestossen, dass Athletico
Spizz 80 «noch nicht reif» seien für ein Album; nicht aber
an Vorbehalten gegenüber Bow Wow Wow, bei denen «der
geschäftstüchtige Jude Malcolm McLaren seine Finger im
Spiel hatte».
Fotokopierte Blättchen wie «Swiss Wave», die sich oft an
die frisch entstandenen Plattenvertriebe anhängen und lobitte umblättern
MEDIENSOUNDS!
gischerweise beim Plattenhändler des Vertrauens erstanden
werden, sind lebensatemwichtig für eine quicklebendige,
aber doch recht orientierungslose Szene, die noch nicht
recht weiss, wie ihr geschieht: Punk hat augenscheinlich
abgedankt, und New Wave kommt in allen erdenklichen
Spielarten daher.
QUELLEN AUS DEM AUSLAND
Weil solche Fanzines höchst unregelmässig erscheinen und in
den bürgerlichen Printmedien Pop- und erst recht Punkplatten kaum vorkommen, ist die helvetische Szene auf PrintInformationsquellen aus dem Ausland angewiesen: auf das
deutsche «Sounds», wo zum Jahrzehntwechsel der bald
einflussreichste deutschsprachige Popintellektuelle Diedrich Diederichsen (DD) und seine «Hamburger Kumpanei»
übernommen haben, und die englischen Music Weeklies,
die nicht nur in den Zentren Zürich und Genf, sondern
auch in den meisten kleineren Schweizer Städten am Kiosk
erhältlich sind. Der heute als Hype-Maschine leer gelaufene
«New Musical Express» (NME) und seine – längst eingestellten – Konkurrenten, der altehrwürdige «Melody Maker» und das strassennahe «Sounds», erreichen in England
in den frühen Achtzigern regelmässig Auflagen zwischen
100 000 und 300 000 Exemplaren. Und auch hierzulande
gieren Hunderte Musikbewegte wöchentlich nach den musikjournalistischen Bekenntnissen zu Bands wie The Fall
oder Pere Ubu, die oft mit einer Dringlichkeit geschrieben
sind, als hinge die ganze Welt von ihnen ab.
SOUNDS MIT AUSRUFEZEICHEN
DD und NME also, aber vor allem FM und das hiesige
«Sounds!», die Rockradiosendung mit dem Ausrufezeichen:
Wenn es bei allen widersprüchlichen Einschätzungen die
eine Figur gibt, auf die sich alle als zentrale Medienkraft in
der Schweizer Musikszene der Achtzigerjahre einigen können, ist es François Mürner, kurz FM. Mürners «Sounds!»
ist während der ganzen Achtziger der inspirierende Motor
und Dorfplatz, auf dem sich alle treffen und wiederfinden;
hier lief die heisse neue und legendär frech moderierte Musik aus den Weltzentren des Postpunk, und: «Es war die
Sendung, in die eine Schweizer Band reinkommen musste,
dann lief es», wie sich Stephan Ramming, Sänger und Gitarrist der Schaffhauser Band Der Böse Bub Eugen, erinnert.
Und Mürner spielte wirklich (fast) alles, von den baselländlichen Punks Vorwärts über die Zürcher TV-PersonalitiesDilettanten Nilp bis zu arrivierteren Bands wie Blue China
und Mittageisen, für die er sich besonders begeisterte. Der
Ruf der Sendung strahlte bis nach Genf und weit über die
Landesgrenzen hinaus; unzählige Bands, deren Demos damals gespielt wurden, kamen so zu unverhoffter Fanpost
aus Süddeutschland, die bisweilen zu ersten Auslandgigs
führte.
Man habe «Sounds!» nicht nur angehört, sondern «aufgesaugt», schreibt der «Bund»-Musikjournalist Ane Hebeisen, es war «Wundertüte, kundiger Berater, Wegweiser und
Inspirationsquelle für sämtliche wegweisenden Musikschaffenden dieses Landes». Dass die Sendung zum unangefochtenen Sprachrohr wird, liegt an der sprichwörtlichen Street
Credibility ihrer Macher, den Baslern Urs Musfeld als Redaktor und François Mürner als Moderator – wohlgemerkt
als erster Moderator bei Radio DRS mit eigener täglicher
Sendung und ebenso als Pionier, der aus einem DJ-Studio
(«ein Keller in Basel, wir nannten es jugoslawisches Reisebüro») im Alleingang sendet. FM geniesst aufgrund seiner
langjährigen England-Erfahrung und seiner piratenhaften
Rocksendung «Musik aus London» (1974 – 1978) bereits
Kultstatus; er hat «das ultimative gut feeling» und ist nachweislich der erste Radio-DJ, der Punk-Singles und Interviews mit den Sex Pistols, Sham 69 oder Bob Marley auf
François «FM» Mürner.
den europäischen Kontinent brachte. Weil FM in «Sounds!»
– zunächst auf DRS 2 im täglichen Vorabendprogramm vor
der Sendung für italienische Gastarbeiter, ab 1983 dann täglich zur «Prime Time» auf DRS 3 – kompromisslos auf die
Schweizer Rockszene setzt, erhalten einheimische Bands in
noch nie gekanntem Mass Raum im staatlichen Radio. Ehrensache, dass er als auch technisch interessierter Innovator
fast alle DRS-3-Signete mit Boris Blank von Yello produziert, in der bis zu jenem Zeitpunkt im Radio noch nie verwendeten digitalen Sampling-Technik.
Die schlagenden Vorteile sind der Standort in der Basler Provinz, «off Broadway» mit einem herzhaften «Fuck it!» auch
als bewusstes Abseits gegenüber den etablierten Studios in
Bern und Zürich verstanden, und das Selbstverständnis als
Band, um nicht zu sagen verschworene (Räuber-)Bande.
Zum «Sounds!»-Team gehören neben «Geburtshelfer»
Schwegler, Redaktor Martin Schäfer und später den Moderatoren Daniel Hitzig und Suzanne Zahnd auch Korrespondenten wie Hanspeter «Düsi» Künzler (London), Christian Gasser (Paris) oder Kuno «Comics» Affolter – es ist
eine jederzeit vertrauenswürdige Bande, die die Künstler als
«Gewissen der Gesellschaft» ernst nimmt (Mürner), oder
wie es die Dangermice- und Eugen-Bassistin Zahnd später
formulierte: «Wir haben den Aufbruch dokumentiert, der
auf der Strasse und in der Musik stattgefunden hat.»
Als Mürner sein «Baby» 1987 verlässt, um dem Morgenradio Vitamin einzuspritzen, fragt Jean-Martin Büttner im
«Tages-Anzeiger»: «Braucht das Herz des Rock’n’Roll einen neuen Schrittmacher?» Die Speerspitzen-Funktion ist in
unzähligen Fanzine-Artikeln belegt – «Sounds!» ist im Gegensatz zu allen anderen staatlichen und privaten Medien
nie der sarkastisch beargwöhnte oder gar ernsthaft verhasste Feind.
«LEIDEST DU UNTER MINDERWERTIGKEITSGEFÜHLEN?»
Derweil tun sich die Bewegungsblätter mit ihrer politischen
Stossrichtung schwer mit Rockmusik – oder jedenfalls mit
allen, die sich nicht ausdrücklich zum revolutionären Kampf
bekennen. In einem Klima ständiger Grabenkämpfe, in dem
sich die Spuckerei der Punks oft in der giftigen Schreibe ihrer Fanzines gegenüber allen möglichen «Verrätern» niederschlägt, ist es vor allem das vierzehntägliche Alternativblatt
«tell», das 1982 mit dem Blue-China-Musiker Rudolph
(Rudi) Dietrich einen Szenevertreter als Kulturredaktor einstellt. Und der ist weniger an Scheuklappen und destruktivem Geschimpfe als vielmehr am aufbauenden Verständnis
für Prozesse und Phänomene interessiert. «Im Journalismus
wie in der Musik haben mich die Kommunikation und die
Interaktion fasziniert», meint Dietrich rückblickend. «Die
Printmedien haben sich dem kreativen Prozess entzogen
und stattdessen dröge Klischees zelebriert.» Was der Zürcher Punk der ersten Stunde (Nasal Boys) von Rockjournalisten hält, hat er 1983 im Buch zum «Tonmodern»-Festival
ohne Rücksicht auf Verluste mit einem Fragenkatalog auf
den Punkt gebracht: «Fällt es dir schwer, mit Leuten in Kontakt zu kommen? Leidest du unter Minderwertigkeitsgefühlen? Hast du einen ausgeprägten Sinn für: Opportunismus,
Arschleckerei, Ellbögeln, Egozentrik?» Und so weiter.
Doch zurück zum «tell». Der wird 1984 mit der Integration von Michael Lütschers «Cut» als ständiger Beilage quasi
zum verlässlichen Fanzine: Bereits in der ersten Nummer
gibt da Santo Trafficante alias Ruedi «Hotcha» Tüscher
einen Überblick über die rhizomatisch «weltumspannend»
wuchernde Szene rund ums Billigmedium Kassette, erklärt
Stephan Ramming seine Begeisterung für die Toten Hosen
– «die erfolgreichen Jungs von nebenan» – und berichtet
Martin Schori vom Smiths-Konzert in der Roten Fabrik,
einer «gelungenen Soirée» mit allerhand Szeneprominenz.
Ebenfalls mehr Raum erhält die einheimische Szene in dem
seit 1982 dem Tagi beigelegten «Züri-tip», wo in der Rubrik «Sounds» (!) wöchentlich (Zürcher) Bands vorgestellt
und Konzerte ausführlicher angekündigt werden. Klar, dass
da auch die linke «WochenZeitung» nicht länger die Nase
rümpfen darf: «WozRocky» nennt sich ab März 1986 vorsichtig ironisch «die neue Fraktion in der Kulturredaktion,
ein Versuch zweier vom Business Verdammten, einem Konsumenten und einem Rocker».
Tonangebend bleiben indes weiterhin die Fanzines, die für
das Selbstverständnis der Szene und die in- wie externe
Hackordnung bis spät in die Achtziger den mehr oder weniger amüsanten Rohstoff liefern. «Die Auflage durch die
erste Hälfte der Achtzigerjahre wurde mit grossflächigen Serien über Terror und Anarchie gehalten. Auch Schimpfkanonaden wegen der Grünen und der Schweizer Rockmusik
waren immer sehr beliebt», heisst es in der Rückschau des
«Alpenzeiger». Neben dem Aarauer Anarchoblatt schwingt
namentlich Jogi Neufelds «Skunk» (später «Shrunk») aus
dem St. Galler Rheintal in dem mit «Sensemann» und anderen Blättchen reichhaltig bestückten «Nahen Osten» obenaus. Fast schon Magazinqualität hat das «Bleu Royal» rund
um das Konzertlokal Fri-Son, das sich als ambitioniertes
Bindeglied zwischen Welsch- und Deutschschweiz positioniert. Wirklich herausragend ist allerdings das Bieler «Angeldust». Zwar verwahrt man sich, «ein schweizerisches
Spex» zu sein, doch Berichte über Bands wie The Deep Freeze Mice stehen dem deutschen Vorbild in nichts nach. Umso
selbstsicherer machen sich die Bieler über die Konkurrenz
lustig, etwa das mittlerweile eine «New-Wave-Seite» führende, aber noch immer hinterwäldlerische Kioskmusikheft
«Music Scene», das gefälligst nicht über Chur lästern solle,
wo es doch dort «zuhauf Leser» habe. Und die feine Klinge legt das «Angeldust» ganz beiseite, wenn es 1985 gallig
feststellt: «Radio 24 der Langeweile zu bezichtigen, ist wie
Christoph Blocher als Arschloch zu betiteln. Also völlig
überflüssig.»
ANTITHESEN ZUM GÄNGIGEN
So viel zum Thema Blocher, schon damals, und zu den eben
erst konzessionierten Privatradios. Die bieten der Szene
zwar hier und da ein regionales Türchen, doch overall sind
sie auf «Durchhörbarkeit» erpicht und also ein kommerzieller Graus. Ausnahmen wie das Zürcher Radio LoRa
oder Förderband Bern und Canal 3 in Biel bestätigen nur
die Regel. Und das Fernsehen? «Sounds! isch d’Sändig, wo
üs vor em Fernsehprogramm rettet», hatte Mürner jeweils
am Radio gespottet. Nicht der Rede wert, könnte man aus
heutiger Sicht meinen, und mit etwelchem Schaudern an
tapsige Versuche mit «Ten O’Clock Rock», «Backstage»,
«Barock» oder «Downtown» zurückdenken, der Rock-
kultur gerecht zu werden. Doch was Christoph Schwegler
oder Mani Hildebrand damals versuchten, wird heute von
Musikern wie Blue-China-Dietrich und Eugen-Ramming
durchaus milde, wenn nicht positiv bewertet. «Erstaunlich
offen und aktiv» erlebte Rudi das SF, und Rämi bestätigt
die vorhandene «Bereitschaft, Schweizer Bands zu zeigen»,
und dies «immer eingebettet in ausländische MainstreamPopsachen», was dann «wirkte wie eingestreute Antithesen
zum Gängigen». Musikredaktor Hildebrand bekennt 1983
im «Weltwoche-Magazin» fast trotzig: «Rock ist Teil unserer Kultur, auch sein kommerzieller Teil. Was wir von
TV DRS in dieser Beziehung bringen, steht top da, selbst
verglichen mit Österreich und Deutschland.» Na ja, manche schwören bis heute auf «Formel 1». Dass gegen MTV
und Konsorten kein (Quoten-)Kraut gewachsen ist, sehen
die Fernsehhäuptlinge Ende der Achtziger ein, als von drei
Sendungen lediglich noch die Clipschau «Barock» überlebt,
zum Ärger etwa der Jugendzeitschrift «2li»: «Affront gegen
das Rockpublikum.»
Darüber kann der Genfer Musiker und Journalist Alain
Croubalian nur lachen. Ihn holte man zum «Barock», weil
die Deutschschweizer neidisch auf das vom «welschen FM»
Jean-François Acker bereits 1982 gegründete Radio Couleur 3 und erst recht auf die welschen TV-Musiksendungen
wie «Rock et les belles oreilles» schauten. Croubalian meint
allerdings freimütig, er hätte seine Sendung «selber auch
nicht geschaut». Die Medien seien auch am Lac Léman,
wo alle nach Paris blickten, «höchstens als Inspiration, aber
nicht als Kommunikationsquelle wichtig» gewesen. Damit belegt der Genfer die Einschätzung von Rudi Dietrich:
«Wichtig waren für uns vor allem Fanzines und unabhängige neue Medien. Vorab aber waren die Live-Präsenz und der
direkte Kontakt zum Publikum das Wichtigste.» Wie die
Schaffhauser oder Bieler Musiker schrieben auch die Genfer
alle im selben Fanzine namens «Un Vraie Massacre», Mitte
der Achtziger von der Association Post Tenebraes Rock ins
Leben gerufen.
VOM FANZINE IN DIE TAGESPRESSE
Ein Aufbruch mit Massakern – «No Future» hatte konkret
mit Abbruch zu tun, positiv besetztem, aber sehr wohl auch
handfest bekämpftem, jenem durch Häuserspekulanten betriebenen nämlich. Croubalian erinnert an die Bedeutung
der Hausbesetzerszene in Genf und daran, dass «die sozialen Behörden vor den kulturellen da waren». Das mag
ansatzweise auch erklären, warum nur ein Bruchteil der
damaligen Fanzine-Schreiber am Ende in den Feuilletons
landete. Doch war es selbstverständlich von Bedeutung,
dass die Themen der Bewegungsblätter und Fanzines in die
Tagespresse einzudringen begannen, wie Ramming, heute
Fussballredaktor bei der «NZZ am Sonntag», feststellt:
«Sei es mit Musikgeschichten, sei es, vielleicht noch wichtiger, durch Debatten wie Hausbesetzungen, Geld für Jugendräume, Drogenprobleme usw.»
Wie in den Achtzigern aufgewachsene und (Pop-)Theorie
geschulte jüngere Spezialisten den Musikjournalismus in
den Feuilletons unterbrachten und mitunter auf atemberaubende Höhen schraubten, ist eine andere Geschichte. Im
Wissen, dass auch noch die schrulligsten Achtziger-Bands
wieder mit Re-Issues ans Licht gezerrt werden und auch
das hinterletzte Fanzine dereinst als PDF auf irgendeiner
Website landet, klappe ich die Seekiste wieder zu. Und besuche dann den grossartigen Blog «nationofswine.ch» und
suche in den Weiten des Internet noch ein wenig nach jenem Science-Fiction-Festival in der Burgdorfer Fabrik, an
dem 1987 die irrwitzigen Very Things auftraten. Und schalte schliesslich «Sounds!» ein, auf DRS 3, das ist mal kurz
weggewesen, aber schnell wieder installiert worden und
geblieben, unsterblich gut und nach wie vor aufmüpfig, Düsis «Depesche aus London» inklusive. «Reisender Krieger»
muss ich mir endlich auf DVD besorgen.
Marcel Elsener