- Repräsentationen des sozialistischen Jugoslawiens im
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- Repräsentationen des sozialistischen Jugoslawiens im
Turbofolk Vom pop-kulturellen Symbol der „Ära Milošević“ zum „panbalkanischen“ Identitätsstifter Repräsent ationen des sozialistis chen Jugoslawi ens im Umbruch Alexander Praetz Humboldt-Universität zu Berlin Forschungsprojekt: Repräsentationen des sozialistischen Jugoslawien im Umbruch Teilprojekt: „Balkan Goes Global“ Working Papers 3 Berlin 2013 Gefördert vom Turbofolk Vom pop-kulturellen Symbol der „Ära Milošević“ zum „panbalkanischen“ Identitätsstifter? Alexander Praetz 1. Einleitung Der Zerfallsprozess Jugoslawiens und der daraus resultierende Zusammenbruch des gesamtjugoslawischen Kulturraumes werden innerhalb von wissenschaftlichen und journalistischen Arbeiten zumeist mit dem Aufkommen des Turbo-Folks in Serbien in Verbindung gebracht. 1 In diesem Zusammenhang wird der Turbo-Folk häufig als „kulturelles Symbol“ beschrieben, das den serbischen Nationalismus der 1990er Jahre auf der kulturellen Ebene repräsentiert und gefördert hat. 2 Zum Ausdruck gebracht wird diese Sichtweise durch Bezeichnungen wie der „Soundtrack der Isolation“ 3 oder, dem „Soundtrack des Krieges“ 4, die verdeutlichen sollen, dass es sich beim Turbo-Folk um ein explizit „serbischnationalistisches“ Phänomen gehandelt hat. 5 Von dieser Perspektive ausgehend ist es daher nicht verwunderlich dass der Untergang des Turbo-Folks als „kulturelles Symbol“ des serbischen Nationalismus der 1990er Jahre, mit dem Ende der Ära Milošević zu Beginn der 2000er Jahre gleichgesetzt wurde. 6 Wer sich allerdings gegenwärtig mit dem Thema TurboFolk beschäftigt und zusätzlich die Länder des ehemaligen Jugoslawien bereist, der wird feststellen, dass die Musik und der Begriff weiterhin allgegenwärtig sind und das nicht nur in Serbien, sondern in allen ehemaligen Republiken Ex-Jugoslawiens. 7 Wie lässt es sich erklären, dass der Begriff Turbo-Folk heutzutage als Bezeichnung für eine populär-kulturelle Musikrichtung genutzt wird, die sich im gesamten ex-jugoslawischen Raum wiederfindet, obwohl dieser zum Teil immer noch als explizit serbisch-nationalistisches Phänomen der 1990er 1 Vgl. Gordy, Eric D. (1999): The Culture of Power in Serbia. Nationalism and the Destruction of Alternatives. University Park: Pennsylvania State University Press. Die Arbeit Gordys bildet quasi die Grundlage für die weitere Beschäftigung mit dem Turbo-Folk und hat nachfolgende Arbeiten stark beeinflusst. 2 Vgl. Kronja, Ivana (2004): Turbo Folk and Dance Music in 1990s Serbia. Media, Ideology and the Production of Spectacle. In: Anthropology of East Europe Review 22, S. 103–114, hier S. 103 und 112. 3 Vogel, Sonja (2013): Alternative Szene in Belgrad. Schluss mit Turbofolk. In: taz, 11.10.2012. Online: http://www.taz.de/!103287/, zuletzt geprüft am 18.07.2013. 4 Vogel, Sonja (2010): Ceca steht für Potenz, Reichtum, Heterosexualität. In: Die Welt, 05.10.2010. Online verfügbar unter http://www.welt.de/kultur/musik/article10072235/Ceca-steht-fuer-Potenz-Reichtum-Heterosexualitaet.html, zuletzt geprüft am 18.07.2012. 5 Vgl. Galijaš, Armina (2011): Musik als Spiegel politischer Einstellung. Turbofolk vs. Rock. In: Stefan Newerkla, Fedor B. Poljakov und Oliver Jens Schmitt (Hg.): Das politische Lied in Ost- und Südosteuropa. Unter Mitarbeit von Hansfrieder Vogel und Armina Galijaš. Wien: LIT (Europa Orientalis, 11), S. 273–293, hier. S. 273 und 280; vgl. zudem Itano, Nicole (2008): Turbo-folk music is the sound of Serbia feeling Sorry for itself. In: The Christian Science Monitor. Online verfügbar unter http://www.csmonitor.com/World/Europe/2008/0505/p20s01woeu.html, zuletzt geprüft am 18.07.2012. 6 Vgl. Kronja (2004), S. 112. 7 Vgl. Schubert, Gabriella (2012): Frieden, Bruder, Frieden! Musikalische Botschaften aus Südosteuropa gestern und heute. In: Zeitschrift für Balkanologie 48, S. 110–128, hier, S.126. 2 Jahre gedeutet wird? 8 Kann daraus abgeleitet werden, dass sich der Turbo-Folk von einer nationalistisch konnotierten Musikform zu einer „pan-balkanischen“ gewandelt hat, oder war dieser vielleicht auch schon während der 1990er Jahre eine Musikform, die innerhalb des gesamten ex-jugoslawischen Raum konsumiert wurde? Wie erklärt sich diese Ambivalenz innerhalb der Repräsentation des Turbo-Folk, und welche Ursachen können dafür sichtbar gemacht werden? Ich werde deshalb in diesem Paper hinterfragen, warum der Turbo-Folk sehr häufig als exklusives „Symbol“ des serbischen Nationalismus der 1990er Jahre gedeutet wurde und dazu einige Ansätze, die die Beschäftigung mit dem Turbo-Folk dominieren, problematisieren. Mit der Unterstützung meiner Feldforschung, die ich zwischen Mai und Juni 2013 in Belgrad durchgeführt habe, möchte ich anschließend die Wahrnehmungen und Deutungen meiner Gesprächspartner abbilden, die sich mir aus der gegenwartsbezogenen Betrachtung des Turbo-Folks ergeben haben. Mein Anliegen war es dabei zu hinterfragen, ob der Turbo-Folk immer noch als eine serbisch konnotierte Musik wahrgenommen wird, oder ob sich eine Tendenz erkennen lässt, dass dieser vielmehr als eine „pan-balkanische“ Musikform gedeutet wird. Anhand einer transnationalen Perspektive 9 auf den Turbo-Folk der 1990er Jahre möchte ich anschließend versuchen, eine andere Position zu vertreten. Da ich der Ansicht bin, dass die Musik des Turbo-Folks auch ohne den serbischen Nationalismus entstanden wäre, werde ich zudem der Frage nachgehen, ob dieser als transnationales Musikphänomen beschrieben werden kann. Meine Überlegung ist es den Turbo-Folk als "Musik der Zeit" zu betrachten, um damit der einseitigen Zuschreibung zu widersprechen, dass dieser lediglich ein „serbisch-nationalistisches“ Kulturphänomen dargestellt hat. Ausgehend von dieser Perspektive und den Erkenntnissen meiner Feldforschung werde ich abschließend thematisieren, ob dem Turbo-Folk gegenwärtig eine „pan-balkanische“ Repräsentation bescheinigt werden kann. Verdeutlichen möchte ich, dass es mir in diesem Paper nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Musik des Turbo-Folk geht, sondern um die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen, die sich aus der vorgestellten Betrachtung ergeben. Zu guter Letzt möchte ich noch auf die gegenwärtige Verbreitung den Turbo-Folks innerhalb der „jugoslawischen Diaspora“ 10 in Berlin eingehen und einige Überlegungen für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema aufzeigen. 2. Das Aufkommen des Turbo-Folk und dessen Rezeption innerhalb der Geisteswissenschaften Das Aufkommen des Turbo-Folk in Serbien wird innerhalb von geisteswissenschaftlichen Forschungsarbeiten als Abkehr von einer überregionalen jugoslawischen (Musik-) Kultur verstanden die sich unter anderem innerhalb der „novokomponovana narodna muzika“ (newly 8 Vgl. Itano (2008) und Vogel (2010). Zum Ansatz der transnationalen Geschichte, siehe Gassert, Philipp (2012): Transnationale Geschichte, Version: 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012. Online verfügbar unter http://docupedia.de/zg/Transnationale_Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert?oldid=85577, zuletzt geprüft am 18.07.2013. 10 Der Begriff „jugoslawische Diaspora“ wird hier lediglich zur Bezeichnung von Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien genutzt. Dadurch soll aber nicht suggeriert werden, dass sich bei den in Berlin lebenden Menschen mit einer jugoslawischen Familiengeschichte um eine homogene und in sich geschlossene Gruppe handelt. 9 3 composed folk music, kurz NCFM) 11 und der jugoslawischen Rockmusik wiederspiegelte. 12 Beide Musikformen, sowohl die jugoslawische Rockmusik, als auch die NCFM, werden innerhalb von geisteswissenschaftlichen Arbeiten als Teil einer gesamt-jugoslawischen Musikkultur verstanden, da beide eine jugoslawische Ausrichtung in sich trugen und einen gesamtjugoslawischen Musikmarkt bedienten. 13 Die NCFM wird dabei als ein Produkt der jugoslawischen Kulturpolitik der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts angesehen, das den Geist von „Brüderlichkeit und Einheit“ auf musikalischer Ebene verkörpern sollte. 14 Die jugoslawische Rockmusik war dagegen kein Produkt der jugoslawischen Kulturpolitik, sondern ein Ausdruck der jugoslawischen Jugendkultur der sechziger und siebziger Jahre, die sich aufgrund der Blockfreiheit Jugoslawiens, und dem daraus resultierenden Zugang zu westlicher Rockmusik entwickeln konnte und in ihren Anfängen durch diese inspiriert wurde. 15 Die Entwicklung der jugoslawisch konnotierten Rockmusik und der NCFM zum Turbo-Folk, wird daher auch als Umbruch vom „Jugo-Mainstream“ zum „Ethno-Mainstream 16“ verstanden. Im Folgenden werde ich die Entstehung des Turbo-Folks in Serbien nachzeichnen und verdeutlichen, warum dieser zumeist als Musikform verstanden wurde, die den serbischen Nationalismus auf kultureller Ebene gefördert hat. Der Begriff Turbo-Folk Der Begriff Turbo-Folk entstand Anfang der 1990er Jahre und wurde zunächst als Beschreibung einer neuen Musikrichtung genutzt, die Elemente von sogenannter „Folkmusik“ („kitch folk“ 17), elektronischer Tanzmusik (House, Dance), amerikanischem Hip-Hop und 18 „orientalischen“ Melodien kombinierte. Der Begriff Turbo-Folk entstand dabei allerdings nicht als Eigenbegriff der musikalischen Szene die diese Musik produziert hat, sondern als ironische Wortschöpfung seitens des montenegrinischen Sängers Rambo Amadeus, der durch die Wortschöpfung den künstlichen Charakter und die Einfältigkeit der Musik zum Ausdruck bringen wollte. 19 Amadeus, alias Antonije Pušić, bezeichnet den Turbo-Folk zudem als „musical Frankenstein“ 20 und brachte dadurch ebenfalls die Vermischung verschiedener Musikrichtungen zum Ausdruck. Als erster Interpret des Turbo-Folk gilt allgemein der Musiker 11 Vgl. Archer, Rory (2012): Assessing Turbofolk Controversies: Popular Music between Nation and the Balkans. In: Southeastern Europe 36, S. 178–207, hier, S. 179. 12 Vgl. Rossig, Rüdiger (2008): (Ex-)Jugos. Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag, S. 41–57. 13 Vgl. Ramet, Sabrina Petra (2002): Balkan babel. The disintegration of Yugoslavia from the death of Tito to the fall of Milosević. Boulder: Westview Press, S.145; Archer (2012), S. 180. 14 Vgl. Fischer, Wladimir (2005): A Polyphony of Belongings: (Turbo) Folk, Power and Migrants. In: Tatjana Marković; Vesna Mikić (Hg.): Music and Networking. Belgrade: Faculty of Music, S. 58–71, hier, S. 63; Kronja (2004), S. 103. 15 Vgl. Ramet (2002), S. 133; Rossig (2008), S. 41f. 16 Galijaš (2011), S. 279. 17 Kronja (2004), S. 103. 18 Vgl. Archer (2012), S. 179. 19 Vgl. Gordy (1999), S.116. 20 Fischer (2005), S. 64. 4 Ivan Gavrilović mit dem Lied „200 na sat“ (200 km in der Stunde). 21 Die Entstehung des TurboFolk wird dabei allgemein als eine Weiterentwicklung der NCFM gesehen, die sich bereits zum Ende der Achtziger Jahre zum sogenannten Neo-Folk entwickelte, und der sich in der Folgezeit zunehmend auf regionale (auf die Republiken bezogen) Hörerschaften bezog. 22 Definiert wurde der Turbo-Folk unter anderem mit Zuschreibungen von billiger musikalischer Qualität, Ausdruck von Chauvinismus, pornographischer Darstellung der Sängerinnen und als Verherrlichung von kriminellen Machenschaften. 23 Zudem wird durch die Betonung der Geschwindigkeit (Turbo), die als ein zentrales Element innerhalb der Musik erscheint, der rasante gesellschaftliche Wandel jener Jahre zum Ausdruck gebracht, wie sich an der Wortschöpfung „turbo-architecture“ 24 - die den kitschigen Baustil der 1990er Jahre beschreiben soll - ablesen lässt. 25 Die Definition des Begriffs Turbo-Folk beschränkt sich daher nicht nur auf die Beschreibung eines musikalischen Phänomens, sondern dient zusätzlich als Erklärungsmuster für die gesellschaftliche Entwicklung Serbiens während der 1990er Jahre. 26 Mittlerweile hat sich dazu bei der wissenschaftlichen Betrachtung des Turbo-Folks die von Catherine Baker hervorgebrachte Definition - „dass es sich beim Turbo-Folk weniger um eine konkrete Definition einer Musikrichtung, sondern vielmehr um eine konzeptionelle Kategorie handelt“ 27 - durchgesetzt. Baker bezieht sich dabei auf Anthony Cohen und versteht den Begriff Turbo-Folk zudem als „boundary-generierend“ und bezeichnet diesen deshalb als „gruppenkonstituierend“ 28. Obwohl daher nicht immer ganz klar zu beschreiben ist, welche Musiker_innen und sonstige Personen dem Terminus Turbo-Folk zugerechnet werden, hat sich der Begriff zur Beschreibung eines musikalischen Genres und dessen populär-kultureller Begleiterscheinungen etabliert. Turbo-Folk als ein pop-kulturelles Phänomen mit nationalistischer Symbolik? Die Dominanz des Turbo-Folks innerhalb des kulturellen Lebens der 1990er Jahre in Serbiens wird zumeist durch die hohe Verbreitungsrate der Musik in den staatlich kontrollierten Medien (Radio und Fernsehen) 29 während der Regierungszeit Slobodan Miloševićs, und der daraus resultierenden Verdrängung einer alternativen Musikszene - „allen voran der Rockmusik“30 – erklärt. Die hohe Medienpräsenz des Turbo-Folks wird dabei als Indiz gewertet, dass der 21 Vgl. Gordy (1999), S. 133; Cvoro, Uros (2012): Remember the Nineties? Turbo-Folk as the Vanishing Mediator of Nationalism. In: Cultural Politics 8 (1), S. 121–137, hier S. 128. Siehe auch Youtube Video von Gavrilovićs Lied: http://www.youtube.com/watch?v=3is49vWMwFI, zuletzt geprüft am 18.07.2013. 22 Vgl. Archer (2012), S.180. 23 Vgl. Baker, Catherine (2007): The concept of turbofolk in Croatia: inclusion/exclusion in the construction of national musical identity. In: Catherine Baker u.a. (Hg.): Nation in formation: inclusion and exclusion in central and eastern Europe. London: University College London, School of Slavonic & Eastern European Studies (Studies in Russia and Eastern Europe, 1), S. 1–17, hier S. 1–2. 24 Archer (2012), hier S. 182. 25 Vgl. Jovanovic-Weiss, Srdjan (2004): Milošević as Architect. Online verfügbar unter http://www.networkedcultures.org/index.php?tdid=84, zuletzt geprüft am 19.07.2013. 26 Vgl. Kronja (2004), S. 103. 27 Baker (2007), S. 1 28 Baker, Catherine (2006): The Politics of Performance. Transnationalism and its Limits in Former Yugoslav Popular Music, 1999-2004. In: Ethnopolitics 5 (3), S. 275–293, hier S. 279. 29 Vgl. Kronja (2004), S. 104. 30 Gordy (1999), S.103. 5 serbische Staat diese Musik absichtsvoll förderte, und sie bewusst als Propaganda Mittel einsetzte, um so den populär kulturellen Bereich zu dominieren. 31 Das Argument lautet dabei, dass die massenmediale Präsenz des Turbo-Folks weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen mit sich gebracht hat und damit zur Etablierung von „Militarismus“ und „Patriotismus“ 32 beigetragen hat. Außerdem wird die Ansicht vertreten, dass sich die öffentliche Präsentation von männlichen und weiblichen Protagonisten des Turbo-Folks auf die Etablierung und Verfestigung von Geschlechterbildern ausgewirkt hätten. Dabei werden die erotische Darstellung der weiblichen Sängerinnen – „leicht bekleidete Frauen mit Silikonbrüsten“ 33 - und das Auftreten des starken Mannes – „Dizelaši“ 34 genannt -, als Vorbilder eines sich wandelnden Geschlechterbildes verstanden. 35 Der öffentlichen Präsentation der Akteure – besonders dem Kleidungsstil 36 - wird dabei eine Art Idealbild zugeschrieben, welches in der Folge von männlichem und weiblichem Publikum übernommen wurde und anschließend zu einem weitverbreiteten (Mode-) Trend wurde. 37 Symbolisch wird dieses „Idealbild“ an der Sängerin Svetlana Ceca Veličković (später Ražnatović) festgemacht, die als die zentrale Figur für den Turbo-Folk der neunziger Jahre dargestellt wird und als „mother of Serbs“ 38 bezeichnet wird. Um die Bedeutung des Turbo-Folk für die 1990er Jahre in Serbien sichtbar zu machen, wird anschließend auf die Beziehungen zwischen Vertretern des serbischen Staates und den Akteuren des Turbo-Folk – wie eben Ceca - verwiesen. 39 Jene Akteure, die dabei den serbischen Staat der 1990er Jahre repräsentiert haben, werden dabei zumeist als eine neue Elite gesehen, die sich im Zuge des jugoslawischen Zerfallsprozesses formiert hat und trotz der wirtschaftlichen Krise innerhalb Serbiens einen sozialen Aufstieg erlebte. 40 Zumeist werden diese Personen dem kriminellen Milieu zugeordnet und als „Kriegsprofiteure“ bezeichnet, die in den 1990er Jahre stetig an Einfluss innerhalb des serbischen Staates gewonnen haben, und deshalb als Repräsentanten des serbischen Nationalismus der 1990er Jahre beschrieben werden. 41 Beispielhaft wird diese Entwicklung zumeist anhand von Arkan Ražnatović dargestellt, der vor dem Zerfall Jugoslawiens ein kriminelles Netzwerk in Europa koordinierte, anschließend als Führer einer paramilitärischen Einheit („Tiger“) im Bosnienkrieg zu einem Kriegsheld stilisiert wurde und anschließend als Präsident des zwielichtigen Fußballvereins FK Obilić zur neuen Elite im Staat gehörte. 42 Ob gerade jene Personen wie Arkan direkt vom Turbofolk profitieren konnten, lässt sich nur schwer feststellen. Allerdings scheint der Turbo31 Vgl. Galijaš (2011), S. 280; Kronja (2004), S. 104. Volcic, Zala; Erjavec, Karmen (2011): Constructing Transnational Divas: Gendered Productions of Balkan TurboFolk Music. In: Radha Sarma Hegde (Hg.): Circuits of Visibility. Gender and Transnational Media Cultures. New York: New York University Press, S. 35–51, hier, S. 38. 33 Kronja (2004), S. 110. 34 Vogel (2012). 35 Vgl. Kronja (2004), S. 110. 36 Vgl. Vogel (2010). 37 Vgl. Galijaš (2011), S. 281. 38 Cvoro (2012), S. 128. 39 Vgl. Archer (2012), S. 185. 40 Vgl. Gordy (1999), S. 114. 41 Vgl. Galijaš, S. 280. 42 Vgl. Ridderbusch, Katja (1998): Der verbrecherische Aufstieg des FK Obilić. in: Die Welt, 12.08.1998. Online verfügbar unter http://www.welt.de/print-welt/article624861/Der-verbrecherische-Aufstieg-des-FK-Obilic.html, zuletzt geprüft am 18.07.2013 32 6 Folk als „repräsentative Plattform“ fungiert zu haben und zur Legitimation krimineller Strukturen beigetragen zu haben, da diesem ein positiver Bezug zum „Militarismus“ und „Patriotismus“ 43 anhaftete. Als symbolischer Akt zwischen dem Turbo-Folk und der neuen Elite im serbischen Staat wird hier auf die Hochzeitsfeier von Arkan und Ceca verwiesen, die als massenmediales Ereignis inszeniert wurde und live im staatlichen Fernsehen übertragen wurde. 44 Dass die beschriebene Verbindung zwischen den Akteuren des Turbo-Folk und den Vertretern der serbischen Politik keine Allgemeingültigkeit besitzt, zeigt eine Parlamentssitzung aus dem Jahre 1994. Nachdem der Politiker und Sänger Pavle Aksentijević eine Aufnahme von Dragana Mirković abgespielt hatte, kritisierte dieser die „orientalischen“ Klänge der Musik und warf der Regierung vor, dass dadurch die serbische Kultur verraten würde und sich zunehmend an einer minderen Kultur orientiere. 45 Die musikalisch-inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema Turbo-Folk hat zwar an einigen Punkten, bzw. in einigen bekannten und weit verbreiteten Liedern durchaus Elemente sichtbar gemacht, die als nationalistisch interpretiert werden können, 46 allerdings lässt sich dies für den Großteil der musikalischen Darbietungen nicht ohne weiteres konstatieren, da der Inhalt der Lieder zumeist auf Liebe, Sehnsucht und die Hoffnung auf Reichtum referiert. 47 Bei der innerserbischen Auseinandersetzung mit dem Turbo-Folk findet der Stadt-Land Konflikt, der zumeist als Folge der Migration von serbischer Bevölkerung aus anderen Regionen des ehemaligen jugoslawischen Staates beschrieben wird, eine übergeordnete Bedeutung. 48 In Bezug auf den Turbo-Folk lautet die Erklärungsfolie, dass die ländliche Bevölkerung die Musik in die Städte getragen hat und dadurch an der Bekämpfung von alternativen Kultur- und Musikszenen beteiligt gewesen ist. 49 Als Erklärung wird in diesem Zusammenhang auf die Politik Miloševićs verwiesen, die besonders innerhalb der ländlichen Bevölkerung ihre Anhängerschaft rekrutierte - und daher auch deren Kultur förderte -, innerhalb derer der Neo-Folk, bzw. später der Turbo-Folk seine Anhängerschaft gefunden hat. 50 Diese Interpretationsformel greift allerdings zu kurz, und wird zurecht kritisiert, da die Produzenten der Musik und jene Teile der serbischen Staatselite, die einen Einfluss auf kulturelle Angelegenheiten besaßen, keineswegs als „Ländler“ bezeichnet werden können. Im Gegenteil: Gerade die Produzenten der Musik stammen aus den Zentren, allen voran aus Belgrad. 51 Zu kritisieren ist innerhalb der Vorstellung eines Stadt-Land Gegensatzes zudem die schemenhafte Darstellung zwischen Anhängern und Gegnern des neuen Regimes, die sich häufig in der Gegenüberstellung von „Turbofolkern“ (Turbaši) und „Rockern“ (Rokeri) äußert. Diejenigen, die als Hörerschaft des 43 Volcic; Erjavec (2011), S. 38; vgl. auch Monroe, Alexei (2000): Balkan Hardcore. Pop culture and paramilitarism. In: Central Europe Review 2 (24). Online verfügbar unter http://www.ce-review.org/00/24/monroe24.html, zuletzt geprüft am 18.07.2013. 44 Vgl. Hudson, Robert (2007): Popular Music, Tradition and Serbian Nationalism. In: Ian Biddle, Vanessa Knights (Hg.): Music, National Identity and the Politics of Location. Between the Global and the Local. Adlershot: Ashgate (Ashgate popular and folk music series), S. 161–178, hier S. 174. 45 Vgl. Archer (2012), S. 189 46 Vgl. Galijaš (2011), S. 282. 47 Vgl. Kronja (2004), S. 109 f. 48 Vgl. Cvoro (2012), S. 125. 49 Vgl. Gordy (1999), S. 107. 50 Vgl. Galijaš (2011), S. 273–275. 51 Vgl. Archer (2012), S.180. 7 Turbofolks gelten und als „Ländler“ bezeichnet werden, kommen dabei pauschal als Nationalisten weg, und diejenigen die als Teil der städtischen Rockszene gelten, werden als ihr Gegenteil dargestellt. 52 Folgt man dieser engen Zuschreibung, so ergibt sich ein eindimensionales Bild, das weder erklärt, warum es auch Personen gab, die beide Musikrichtungen konsumiert haben, noch wird deutlich, welche Zuschreibungen von Zugehörigkeiten über die jeweilige Musikform vermittelt wurden. Ich würde mich daher Wladimir Fischer anschließen, der genau in dieser Gegenüberstellung ein „reproduzieren des Gegensatzes zwischen traditioneller (ländlicher) Bevölkerung und Elitekultur“ 53 erkennt und diese verkürzende Darstellung zu Recht kritisiert. Dem Turbo-Folk wurde also insbesondere durch die Beziehungen zwischen seinen Akteuren und Vertretern der neuen staatlichen Elite – neben der Hochzeit von Arkan und Ceca werden allerdings kaum weitere Verstrickungen genannt – eine nationalistische Repräsentation 54 zugeschrieben, die durch deren massenmediale Präsenz auf weite Teile der Gesellschaft übertragen werden konnte und als „spectacle of the nation“ 55 dargestellt wird. Obwohl diese Argumentation auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheint, wird nicht deutlich, ob dem „Publikum“ dadurch tatsächlich eine Botschaft im nationalen Sinne vermittelt wurde und ob dies zur Ausbildung und Etablierung von nationalen Zugehörigkeiten geführt hat. Aufgrund des „hybriden Charakters“ 56 und des stetigen Wandels der Musik des Turbo-Folks erscheint dies im Sinne eines feststehendes „Symbols“ mit einer explizit zugeschriebenen nationalen Bedeutung allerdings kaum möglich gewesen zu sein. 57 3. Beschreibung der Feldforschung Nachdem die wissenschaftliche Perspektive auf den Turbo-Folk der 1990er Jahre in seinen Grundzügen dargestellt werden konnte, möchte ich im Folgenden die Ergebnisse meiner Feldforschung präsentieren. Neben dem methodischen Hilfsmittel der teilnehmenden Beobachtung habe ich dazu Interviews geführt und - wo dies nicht möglich war Gesprächsprotokolle angefertigt. Das Ziel der Feldforschung war dabei, die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Forschung im Feld zu hinterfragen und die Deutungen und Wahrnehmungen meiner Gesprächspartner zum Thema Turbo-Folk einzufangen. Ich habe deshalb vornehmlich jene Personen ausgewählt, die ich an Orten auffinden konnte, wo auch die Musik des Turbo-Folk präsentiert wurde. Mir ging es in den Gesprächen vordergründig um die Frage, ob der Turbo-Folk gegenwärtig als serbische Musik verstanden wird, oder ob dieser vielmehr als eine gesamt-balkanische („pan-balkanische“) Musikform wahrgenommen wird. 52 Vgl. Tomić, Đorđe (2013): Der Klang des Vojvodina-Diskurses, Das „Phänomen Balašević und seine Phantomgrenzen (unveröffentliche Arbeitsversion des Kapitels 2). Berlin. 53 Fischer (2005), S. 66. 54 Zum Begriff der Repräsentation siehe: Baberowski, Jörg (2009): Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel? Anmerkungen zu einer Geschichte interkultureller Begegnungen. In: ders. (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt am Main: Campus, S. 7–18. 55 Cvoro (2012), S. 128. 56 Fischer (2005), S. 66. 57 Cannadine, David (2004): The Context, Performance and Meaning of Ritual. The British Monarchy and the „Invention of Tradition“, c. 1820-1977. In: Eric Hobsbawm und Terence O. Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press, S. 101–164, hier S. 104 f. 8 Zunächst einmal: Egal wo ich mich im letzten Jahr im ehemaligen Jugoslawien aufgehalten habe, sei es im Straßencafé in Sarajevo, Podgorica oder Dubrovnik, auf den Partybooten der Sava oder in den Vorstadt-Kafanas Belgrads, stets war ich umgeben von laut dröhnender Musik, die mir dort von meinen Gesprächspartner entweder als „narodna muzika“, „naša muzika“ oder eben als Turbo-Folk beschrieben wurde. Sehr ähnliche musikalische Impressionen habe ich auch bei meinen Besuchen in den südosteuropäischen Hauptstädten Bukarest und Sofia 58 bekommen, denn auch dort findet man diese Spielart der Musik in den Clubs und Cafés, die sich kaum von derjenigen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien unterscheidet. Obwohl die Musikform in Rumänien und Bulgarien nicht als Turbo-Folk oder dergleichen bezeichnet wird, sondern als „Manele“ (Rumänien) und „Chalga“ (Bulgarien) 59, hatte ich den Eindruck, dass sich diese nur schwer voneinander abgrenzen lassen. Bei meinen Exkursionen in das Straßen- und Nachtleben dieser unterschiedlichen Städte Südosteuropas stellte sich mir dabei die Frage, warum diese Spielarten der modernen „Pop-Dance-Folk Musik“ überall unter einem anderen Label auftreten, sich in ihrer Art und Weise der Darbietung und äußerlichen Erscheinungsform jedoch kaum voneinander unterscheiden. Obwohl sich mir als ungeübtem, der Sprache nicht durchgängig mächtigen Musikhörer, die Inhalte der Texte nicht auf Anhieb erschlossen haben, zeigte sich mir jedoch deutlich, dass die Musik überall Elemente von „orientalischer“ 60 Musik und internationalem Pop-Dance in sich trägt und dass diese auf eigentümliche Art und Weise mit Passagen regionaler „Folk-Musik“ vermischt werden. Die inhaltliche Beschäftigung mit den verschiedenen Musikarten hat mir anschließend verdeutlicht, wie ähnlich die besungenen Themen der Lieder sind. Kaum zu unterscheiden ist ebenfalls die Art und Weise, wie die Musik präsentiert wird und wie sich Publikum und Interpreten aufeinander beziehen. So lassen sich innerhalb der „Ausgeh-Kultur“ überall sinnverwandte Rituale beobachten, egal ob man sich nun gerade in Belgrad oder in Sofia aufhält, überall werden Tische im Separee reserviert die durch den Kauf großer Schnapsflaschen bezahlt werden, es wird quasi durchgehend mitgesungen, beziehungsweise laut gegrölt, und der Kleidungsstil der Partybesucher hatte überall ein äußeres Erscheinungsbild, das auf eine gemeinsame Modeorientierung schließen lässt. Kurz und knapp: Überall hatte ich das Gefühl, dass gezeigt wird, wer man ist, wie viel Geld man hat und dass es wichtig ist, die eigene Gruppe zur Schau zu stellen. Während meines Aufenthalts in Belgrad zwischen Mai und Juni 2013 habe ich nochmal versucht, einen differenzierten Einblick in die Welt des Turbo-Folk zu bekommen, da sich dieser für mich kaum von den Musikformen in den Nachbarländern unterscheidet, diesem aber wie beschrieben eine enge Beziehung zum serbischen Nationalismus nachgesagt wird. Ich habe deshalb unterschiedliche Orte besucht, an denen Turbo-Folk gespielt wird, und habe anschließend versucht, die Wahrnehmungen und Deutungen einzelner Party- oder Konzertbesucher einzufangen. 58 Die Besuche in Sofia und Bukarest fanden bereits im Sommer 2012 statt. Droumeva, Milena (2004): New Folk: The phenomenon of chalga in modern Bulgarian folk. Term Paper. Online verfügbar unter http://www.sfu.ca/~mvdroume/FPA341_term%20paper.pdf, zuletzt geprüft am 18.06.2013, (S. 1– 11). 60 Mir ist bewusst, dass der Begriff eine stereotypische (west-europäische) Sichtweise in sich trägt und daher besser nicht genutzt werden sollte. Mir ist allerdings in diesem Zusammenhang kein besserer Begriff eingefallen, der das gemeinsame Musikelement beschreiben könnte. 59 9 Splavovi und Kafana Wer einmal ein Wochenende in Belgrad verbracht und sich in das Nachleben der Stadt gestürzt hat, der wird mit großer Wahrscheinlichkeit einen der vielen schwimmenden Clubs auf der Sava („Splavovi“) besucht haben. Beworben werden diese bereits bei einem Besuch in der Tourismus-Information im Stadtzentrum, wo das Stadtmagazin „Belgrade at night“ 61 ausliegt, und den Partybesuchern als Wegweiser für das Nachtleben dient. Angekommen an der Sava trifft man unweigerlich auf die Musik des Turbo-Folk, die mit lauten Bässen aus den zum Teil geöffneten Clubs heraus dröhnt, und die gesamte Umgebung in ein Open-Air Festival verwandeln lässt. Anders als noch vor ein paar Jahren – wie mir von verschiedener Seite berichtet wurde, gab es hier ausschließlich Turbo-Folk zu hören -, trifft man hier heute auf ein viel breiteres Spektrum moderner Unterhaltungsmusik. Dieses reicht von internationalem Rock und Pop, über elektronischen House bis zum Hip-Hop und selbst spanische Flamenco Musik ist bisweilen auf einem der Splavovi zu hören. Die typischen Clubs, in denen Konzerte von TurboFolk Interpreten besucht werden können, sind das „Blaywatch“ 62 zwischen Zemunski put und Most Gazela, und das „Sunset Cafe“ auf der Ada Ciganlija 63 . Dort trifft sich an den Wochenenden zwischen Mai und September ein sehr gemischtes Partypublikum, das sich aus jungen Belgradern, internationalen Touristen, aber auch aus Wochenendbesuchern aus anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens zusammensetzt. Der Turbo-Folk präsentiert sich dem Besucher hier als ausgelassene Partymusik ohne eine politische oder nationalistische Repräsentation, egal ob nun ein Live-Auftritt zu sehen ist, oder ob die Musik von einem DJ abgespielt wird. Bei einem Konzertbesuch im „Blaywatch“ – für den ich überraschender Weise keine Reservierung brauchte - beschrieben mir Petar und Ivo - zwei ca. 20 jährige Touristen aus Zagreb - die dargebotene Musik als Turbo-Folk, obwohl mir beide nicht sagen konnten, wer eigentlich an diesem Abend auf der Bühne stand. Auf meine Nachfrage, ob es sich bei der Musik um serbische Musik handele, antwortete mir Ivo: „no that’s ‚naša muzika‘“, und ergänzt „that’s not serbian music it’s Jugo-Music for me“. 64 Obwohl ich den Begriff „JugoMusik“ schon des Öfteren im Zusammenhang mit der jugoslawischen Rockmusik gehört hatte, war es neu für mich, dass jemand aus Kroatien den Turbo-Folk so bezeichnet. Bei weiteren Gesprächen die ich auf dem Konzert geführt habe und bei denen ich wissen wollte, wie die Musik denn nun bezeichnet wird, hörte ich zumeist, dass dies Turbo-Folk sei, oder eben „naša muzika“. Es kam auch vor, dass mir Leute die Musik als „narodna muzika“ beschrieben haben, allerdings hat niemand in diesem Zusammenhang explizit von serbischer Musik gesprochen. Auffällig empfand ich zudem, dass mir viele der befragten Leute sagten, dass ihnen die Musik zwar nicht wirklich gefiele und sie lieber Rockmusik hörten, aber trotzdem meinten, dass man gut zum Turbo-Folk feiern kann und dass man hier eben die hübscheren Frauen trifft. An diesen Aussagen wird nochmals deutlich, dass sich politische oder gesellschaftlichen Einstellungen 61 Online verfügbar unter http://belgradeatnight.com/, zuletzt geprüft am 18.06.2013. Online verfügbar unter http://www.blaywatch.com/, zuletzt geprüft am 18.06.2013. Auch wenn auf der Homepage keine wertvollen Informationen zum Programm zu finden sind, so bekommt man doch ein paar visuelle Impressionen zum Blaywatch geliefert. 63 Online verfügbar unter http://www.sunset.rs/index.php, zuletzt geprüft am 18.06.2013. 64 Interview mit Ivo aus Zagreb vor dem Blaywatch in Belgrad vom 24.05.2013. 62 10 von Menschen eben nicht aus dem Besuch eines Turbo-Folk Konzertes ableiten lassen, wie in der Gegenüberstellung von „Turbaši“ und „Rokeri“ suggeriert wurde. Nachdem ich mich auf den „Splavovi“ mit der Musik des Turbo-Folk vertraut machen konnte und gemerkt habe, welche unterschiedlichen Begriffe zur Beschreibung der Musik verwendet werden, habe ich nach weiteren Orten gesucht, an denen die Musik des Turbo-Folk gespielt wird. Dank meines serbischen Bekannten Miloš – der mir auch gesagt hat, dass er eigentlich keinen Turbo-Folk hört – habe ich einen Einblick in die Turbo-Folk Szene der Vorstadt-Kafanas bekommen, den ich ohne ihn nicht bekommen hätte. Beispielhaft möchte ich im Folgenden einen Besuch in einer dieser Kafanas schildern: Es ist Samstagabend gegen Mitternacht und wir befinden uns in einer Kafana im Belgrader Stadtbezirk Kotež 65, in der sich ca. 150 bis 200 Gäste aufhalten. Auffällig viele der Gäste tragen hier T-Shirts mit einer nationalen, oder sogar nationalistischen Symbolik, wozu neben der serbischen Nationalflagge auch das Konterfei von Ratko Mladić und Abbildungen der „Großserbischen Karte“ zählen. Der Raum ist ebenfalls mit vielen serbischen Flaggen geschmückt und an den Wänden befinden sich Portraits verschiedener Musiker, unter ihnen auch ein Porträt von Arkan und Ceca. Das Publikum wirkt entsprechend homogen serbisch auf mich, und ich scheine tatsächlich der einzige Ausländer zu sein der sich hierher verirrt hat. Es ist auffällig für mich, dass sich Männer und Frauen – die nicht gerade wie „VorortApparatschiks“ 66 und Ceca Abbilder wirken - separat gruppiert sind und unter sich bleiben, und den Abend an ihren reservierten Tischen verbringen (auch meine Begleiter haben vorher einen Tisch reserviert). Den ganzen Abend singt hier ein Duo, das von einem dritten Musiker am Keyboard durch Soundeffekte begleitet wird. Die Sängerin tritt in erotischer Kostümierung – wie es zuvor für die 1990er Jahre beschrieben wurde - auf, und ihr männlicher Partner ist klassisch im Sakko gekleidet. Die Musiker werden immer wieder an verschiedene Tische gewunken und die Gäste stecken ihnen bereitwillig Geld für das Spielen bestimmter Songs zu meist 1000 Dinar. Es werden Lieder von Ceca, Jelena Karleuša , Mile Kitić und Co. gespielt und das Publikum singt ununterbrochen mit. Mir wird die Musik von Siniša, einem 35-jährigen Bankangestellten aus Dorćol, entweder als Turbo-Folk oder „naša muzika“ beschrieben. Siniša hilft mir, die Texte der Lieder zu verstehen und sagt mir, dass diese von Liebe, Sehnsucht und Familie handeln und dass immer wieder die Schönheit der Landschaft besungen wird. Obwohl mir Siniša mehrmals versichert, dass die Texte keinen direkten Bezug zu Serbien besäßen, stimmen einzelne Gruppen – zumeist die in den T-Shirts - immer wieder „Srbija, Srbija“ Gesänge an und der serbische Dreifinger Gruß wird auffallend häufig gezeigt. Ich komme mit Dušan ins Gespräch – einer von denjenigen, die immer wieder diesen Gruß zeigen - und befrage ihn nach dem gezeigten Gruß und ob dieser etwas mit der dargebotenen Musik zu tun habe. Er beschreibt mir den Gruß als serbischen Freiheitsgruß und meint, dass hier nur serbische Musik gespielt werde, aber kein Turbo-Folk, sondern „narodna muzika“. Auf meine Nachfrage, was denn Turbo-Folk für ihn sei, antwortet mir Siniša, „das ist billige Musik, die ich nicht höre“. Bei der Frage, was denn für ihn serbische Musik sei, bekomme ich nur ein Schulterzucken als Antwort, aber sein Freund Marko, der scheinbar mitgehört hat, meint daraufhin: „Die alten 65 Der Name des Lokals ließ sich trotz intensiver Nachfrage nicht ermitteln, selbst das Barpersonal nannte mir als Bezeichnung nur „Kafana“. 66 Vogel (2012). Mit dem Begriff „Vorort-Apparatschicks“ bezeichnet Vogel den männlichen Turbo-Folk-Fan. 11 Četnik-Lieder, dass ist serbische Musik, beim Turbofolk geht es nur um Party“. 67 Ich bekomme an diesem Abend also keine einheitlichen Antworten, fast jeder sieht die Musik irgendwie anders, zumeist wird zwar von Turbo-Folk gesprochen, aber die Musik wird auch als „narodna muzika“ oder „naša muzika“ bezeichnet. Die Wahrnehmungen, was denn nun Turbo-Folk ist, gehen dabei sehr weit auseinander und trotz der nationalistischen Kostümierung vieler Gäste hatte ich nicht das Gefühl, dass dies in einem engen Zusammenhang mit der Musik zu sehen ist. Obwohl ich beobachten konnte, dass der Begriff Turbo-Folk in Serbien immer noch als Abgrenzungsbegriff genutzt wird und mehr als nur ein musikalisches Genre bezeichnet, wird dieser im alltäglichen Leben auf eine seltsame Art und Weise genutzt. Ich konnte beispielsweise kein Konzertplakat finden, das mit dem Label Turbo-Folk wirbt und auch sonst wird der Begriff im öffentlichen Raum kaum verwendet. Seltsam empfand ich auch, dass diejenigen, die sich mir als Hörer der Musik „geoutet“ haben, zumeist darauf verwiesen, dass sie Turbo-Folk zwar nicht unbedingt mögen, aber trotzdem ab und zu gerne mal zu der Musik tanzen gehen. Jene wiederum, die der Musik ablehnend gegenüber standen, sahen im Turbo-Folk zwar die Ausgeburt des schlechten Geschmacks und verbanden damit eine zielgerichtet Politik des Staats und der Medien - die ihrer Ansicht nach an der Verdummung der Menschen durch eben diese Musik arbeiten 68 -, aber wenn ein Song von Ceca im Radio oder Fernsehen gespielt wird, dann singen und pfeifen sie trotzdem mit. Leider war es mir nicht möglich, wie erhofft einen Kontakt zu unmittelbaren Akteuren der Musik aufzubauen, um in Erfahrung zu bringen, wie diese den Turbo-Folk verstehen. Auf meine Anfragen bei „Grand produkcija“, der wichtigsten Produktionsfirma von Turbo-Folk Musik, habe ich leider ebenso wenig eine Antwort erhalten, wie bei dem Versuch, Kontakt zu Musiker_innen des Genres aufzunehmen. Ich konnte mich daher bei meinen Recherchen über den Turbo-Folk hauptsächlich auf private Kontakte stützen und habe dadurch lediglich einen Blick von außen auf die Szene bekommen. Dadurch sehe ich mich - wie die meisten Arbeiten über den Turbo-Folk – mit dem Problem konfrontiert, dass ich lediglich eine Fremdbeschreibung zu diesem Thema abliefern konnte, ohne jedoch die Deutungen und Wahrnehmungen der eigentlichen Protagonisten wiederzugeben. 69 Auffällig an den geführten Gesprächen empfand ich allerdings, dass die befragten Personen den TurboFolk fast nie als eine nationalistische Musik beschrieben haben. So sagte mir beispielsweise Predrag, ein 37 jähriger Bosnier aus Sarajevo, den ich auf dem Konzert von Jelena Karleuša getroffen habe, dass er den Turbofolk nicht als nationalistische Musik ansieht, „sondern vielmehr als moderne Popmusik, wie sie es sie überall auf dem Balkan gibt.“ Auf meinen Frage, ob er die Musik in den neunziger Jahren gehört habe, versicherte er mir: „natürlich habe ich auch Musik von Ceca gehört.“ Er persönlich hat den Turbo-Folk daher auch nicht als reinserbische Musik wahrgenommen, sondern wie er mir sagte als „naša muzika“. 70 Eine sehr ähnliche Einschätzung habe ich auch von der 35 jährigen Tanja bekommen, die in Split 67 Die Angaben beruhen auf meinem Gesprächsprotokoll vom Kafana-Besuch am 18.05.2013. Gesprächsprotokoll vom Interview mit Miroslav vom 18.06.2013 in Belgrad. Der 39 jährige Miroslav arbeitete Ende der neunziger Jahre ein paar Monate als Radiomoderator bei B92 und bezeichnet sich selbst als absoluter Turbo-Folk-Gegner. 69 Baberowski, Jörg (2008): Selbstbilder und Fremdbilder: Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel. In: Jörg Baberowski; Hartmut Kaelble; Jörg Schriewer (Hg.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnung im Wandel. Frankfurt am Main: Campus, S.9–13. 70 Interview mit Predrag aus Sarajevo vom 10.06.2013 in Belgrad. 68 12 aufgewachsen ist und seit fünf Jahren in Belgrad lebt: „Für mich ist der Turbo-Folk eine Musik des Balkans, egal wo du bist, überall wird die gleiche Musik gespielt“. Sie sagte mir auch: „Ich bin als Teenager in Split mit dieser Musik (dem Turbo-Folk) aufgewaschen, zum Glück hatte ich aber ältere Geschwister, die mir andere Musik gezeigt haben“. 71 Die Aussage von Tanja verdeutlicht, dass der Turbo-Folk während der 1990er Jahre auch eine Verbreitung in Kroatien hatte und dient mir an dieser Stelle als Übergang für meine weitere Auseinandersetzung mit ihm. 4. Turbofolk als ein transnationales Kulturphänomen? Obwohl es mich überrascht hat, dass der Turbo-Folk, konnotiert als „nationalistisches Symbol der Ära Milošević“, heutzutage in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien ein Teil der populären Musikkultur darstellt, so lassen sich dafür nachvollziehbare Gründe finden. Ein wichtiger und innerhalb der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Turbo-Folk oft vernachlässigter Aspekt liegt dabei im transnationalen Charakter der Musik und seiner Hörerschaft. 72 Schaut man sich die musikalische Entwicklung von der NCFM, über den Neo-Folk bis zum Turbo-Folk genauer an, dann wird deutlich, dass diese Entwicklung auch in den anderen Staaten Südosteuropas zu beobachten ist.73 Es scheint daher angemessen zu sein, von einem Wandel der populären Musikkultur innerhalb des gesamten Balkanraumes zusprechen, der sich im Verlauf der 1990er Jahre vollzogen hat, und sich nicht nur auf Serbien beschränkte. 74 Auch wenn der Begriff Turbofolk nicht in allen Ländern genutzt wurde, so zeigen sich doch innerhalb der „Chalga“, „Manele“ und dem türkischen „Arabesque“ 75 sehr große Ähnlichkeiten hinsichtlich der Vermischung der musikalischen Genre, die offensichtlich den Musikgeschmack einer breiten Bevölkerungsmasse entsprechen. Gegen die weitverbreitete These, dass es sich beim Turbo-Folk um ein rein-serbisches Musikphänomen gehandelt hat, spricht außerdem die Verbreitung innerhalb der anderen ehemaligen Republiken Jugoslawiens. Obwohl der TurboFolk in Bosnien-Herzegowina und Kroatien während der 1990er Jahre nicht so stark vertreten war wie in Serbien, so war dieser dennoch präsent und war dadurch ein Teil der populären Musikkultur in diesen Ländern. 76 In Kroatien zeigt sich beispielsweise, dass sich die Entwicklung der NCFM derjenigen des Turbofolks angeglichen hat und dass sich die Inhalte der Liedtexte zwischen kroatischer NCFM und serbischem Turbo-Folk kaum voneinander unterscheiden, wie Catherine Baker anschaulich zeigen konnte. Obwohl der Turbo-Folk von Seiten der kroatischen Staatlichkeit abgelehnt wurde und zumeist als „balkanisch“ abgewertet wurde, so kann dies nicht als Indiz gesehen werden, dass keine alltägliche Verbreitung des Turbo-Folks stattgefunden hat. Baker beschreibt die Aneignung des Turbo-Folks daher auch als einen provokativen Akt, der sich gegen die staatliche Obrigkeit richtete. 77 Rory Archer sieht in der transnationalen Betrachtung ebenfalls eine notwendige Perspektive, um die Entstehung und 71 Gespräch mit Tanja vom 12.06.2012 in Belgrad. Vgl. Fischer (2005), S. 66. 73 Vgl. Baker (2007), S. 8; Archer (2012), S. 201. 74 Vgl. Cvoro (2012), S. 123. 75 Droumeva (2004), S. 8. vgl. Fischer (2005), S. 66. 76 Vgl. Cvoro (2012), S. 123. 77 Vgl. Baker (2007), S. 8. 72 13 Entwicklung des Turbofolks verständlich zu machen und argumentiert ebenfalls mit der regionalen Verbreitung der Musik. Archers Anregung den Turbo-Folk weniger als ein historisches Phänomen aus der Pro- oder Anti-Milošević-Perspektive zu behandeln, sondern ihn vor allem als einen Diskurs über Balkanismen zu verstehen, bietet dabei eine hilfreiche Diskussionsgrundlage. 78 Dass der Turbo-Folk die Ära überlebt hat und weiterhin als Musikrichtung präsent ist, hat neben der regionalen Verbreitung allerdings noch weitere Gründe. Zumeist wird dazu eine Differenzierung zwischen gegenwärtigen Spielarten des TurboFolk, die mir Milan Miletic in einem Gespräch als „Turbo-Folk 2.0“ bezeichnete, und jener der 1990er Jahre vorgenommen. 79 So argumentiert Eric Gordy, „dass der heutige Turbo-Folk kaum noch Elemente von Folk Musik in sich trägt und daher lediglich eine Form populärer Musik darstellt und dadurch seine nationale Zuschreibung verloren hat“ 80. Dieser Einschätzung kann zwar ansatzweise zugestimmt werden, da die Folk Elemente innerhalb des Turbo-Folk weniger präsent sind, allerdings erklärt sich daraus noch nicht, was an den Elementen der früheren Turbo-Folk Musik tatsächlich als nationalistisch bezeichnet werden kann. Interessante Überlegungen zum Wandlungsprozess des Turbo-Folks finden sich zudem bei Uros Cvoro, der sich mit der Transformation „des Symbols Turbo-Folk“ beschäftigt hat. Cvoro denkt den Identitätswandel des Turbo-Folks dabei als „new Balkanness“ und schreibt diesem einen überregionalen Bezug zu, den er als „self-exoticizing“ und „transnational antineoliberalism“ bezeichnet 81 . Den Beginn dieses Wandlungsprozesses sieht er dabei insbesondere im Nato Angriff auf Belgrad und der sich daraus formierten Protestbewegung. 82 Eine weitere interessante Perspektive auf den Wandlungsprozesses des Turbofolks bietet die Person Ceca, die als Ikone des Genres galt und trotz ihrer Ehe mit Arkan – dieser wurde bekanntlich 1999 ermordet –, ein Star der Musikszene blieb, und das nicht nur in Serbien, sondern im gesamten südosteuropäischen Raum. In einer von Volčić und Erjavec durchgeführten Forschung, bei der Jugendliche aus allen ehemaligen Republiken Jugoslawiens befragt wurden, wurde Ceca sogar als „einendes Element auf dem Balkan“ beschrieben und als „Idealbild der starken Frau“. 83 Die Besucherzahlen von Cecas Konzerten im gesamten südosteuropäischen Raum – 120.000 Besucher kamen zu ihrem Konzert in Sofia – bestätigen zudem, dass aus dem einstigen Star des Turbo-Folks ein Megastar des Balkans geworden ist.84 Nachdem ich den Wandlungsprozess des Turbofolks anhand einer transnationalen Perspektive schemenhaft dargestellt habe, möchte ich versuchen, meine Ergebnisse mit dem übergeordneten Projektthema „Repräsentationen des sozialistischen Jugoslawiens im Umbruch“ in Verbindung zu bringen. Meiner Ansicht nach kann die Entwicklung des TurboFolks dabei als „doppelter Repräsentationswandel“ beschrieben werden. Zum einen, weil 78 Vgl. Archer (2012), S. 180; siehe auch Monroe (2000). Gesprächsprotokoll vom Interview mit Milan Miletić am 18.06.2013 in Berlin. Miletić arbeitet gegenwärtig an einem Dokumentarfilm über die Berliner Turbo-Folk-Szene, der 2014 erscheinen soll und hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Bisher gibt es nur einen Trailer zum Film. Online verfügbar unter http://www.behance.net/gallery/Turbo-folk-documentary-project/4325701, zuletzt geprüft am 18.07.2013. 80 Gordy, Eric D. (2005): Reflecting on the Culture of Power, Ten Years On. In: Philosophy, Sociology and Psychology (4), S. 11–19, hier, S. 16. 81 Vgl. Cvoro (2012), S. 122. 82 Ebd., S. 130. 83 Vgl. Volic, Erjavec (2011), S. 44–46. 84 Vgl. Vogel (2010). 79 14 dieser eine Abgrenzung zur jugoslawischen Musik der Vorkriegszeit geschaffen hat und sich Elemente einer nationalen Repräsentation erkennen lassen, und zum anderen weil sich der Turbo-Folk in seiner weiteren Entwicklung einer „pan-balkanischen Repräsentationsform“ 85 angenähert hat. Ich bin allerdings der Meinung, dass dies nicht als starre Entwicklung gesehen werden kann, da der Turbo-Folk während der 1990er Jahre nicht nur als national-serbische Musikform existiert hat und keine klar definierte Symbolik in sich getragen hat, noch würde ich davon ausgehen, dass der gegenwärtige Turbo-Folk eine feststehende „panbalkanische“ Repräsentation besitzt und als Identitätsstifter fungiert. Turbofolk in Berlin – Ein Kurzer Ausblick Neben der Existenz des Turbo-Folks in den ehemaligen Republiken Jugoslawiens, kann zudem auf die transnationale Verbreitung der Musik innerhalb anderer europäischer Staaten verwiesen werden 86, die zur gegenwärtigen Existenz der Musik beiträgt. Besonders in Ländern wie Deutschland und Österreich, wo viele Menschen mit einer jugoslawische Familiengeschichte leben, lässt sich eine weite Verbreitung des Turbo-Folks feststellen. 87 Innerhalb des Filmes „Turbofolk“ , von dem Regisseur Milan Miletić, wird beispielsweise von Protagonisten der Berliner Turbo-Folk Szene davon gesprochen, dass der Turbo-Folk die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder näher zusammen gebracht hat und als gemeinsamer Identitätsstifter fungiert. 88 Ausgehend von dieser Gegenwartsperspektive wäre es demnach sinnvoll zu fragen, ob der Turbo-Folk innerhalb der jugoslawischen Szene in Berlin während der 1990er Jahre eine Identitätsstiftende Funktion eingenommen hat und auf die Ausbildung von Gruppenzugehörigkeiten gewirkt hat, die zur Etablierung von Ressentiments beigetragen haben. Besonders an der Entwicklung des sogenannten „Turbofolk 2.0“ zeigt sich dabei eine zunehmende Transnationalisierung der Musik, die durch den Einsatz moderner Kommunikationsmittel wie Facebook zunehmend ortsunabhängig geworden ist. 5. Fazit Festzuhalten bleibt, dass es sich bei der Beschreibung des Turbo-Folk um eine Zuschreibung von außen, und demnach um eine Fremdbeschreibung handelt, die vor allem von Personen getätigt wurde, die dem Turbo-Folk ablehnend gegenüberstanden. Die Beurteilung des Turbofolks als musikalische Ausgeburt der Ära Milošević hat dabei eine Sichtweise produziert, die den Turbo-Folk als „rein-serbisches“ Phänomen erscheinen lässt und dabei die Verbreitung der Musik auf dem gesamten Balkanraum ausspart. Nicht klar wird aus den geleisteten Veröffentlichungen zum Thema, wie die Hörerschaft des Turbo-Folk die Musik gesehen hat, und 85 Vgl. Pohlig, Matthias (2009): Wandel und seine Repräsentation. In: Jörg Baberowski (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt am Main; New York: Campus, S. 37– 61. 86 Dimitrijević, Branislav (2002): Global Turbo-Folk. In: NIN, 20.06.2002. Online verfügbar unter http://www.exyupress.com/nin/nin139.html, zuletzt geprüft am 18.07.2012. 87 Fischer (2005), S. 67–70. 88 Trailer zum Film „Turbo Folk“. Online verfügbar unter http://www.behance.net/gallery/Turbo-folk-documentaryproject/4325701, zuletzt geprüft am 18.07.2013. 15 ob diese als explizit serbische Musik verstanden wurde. Die Verbreitung der Musik auf dem Balkan während der neunziger Jahre spricht zumindest dagegen. Es scheint legitim zu sein, die Verbreitung des Turbo-Folk mit der Verbreitung neuer kultureller Leitbilder in Verbindung zu bringen (Geschlechterrollen, Lifestyle). Ich konnte zeigen, dass die fehlende transnationale Betrachtung des Turbo-Folk eine einseitige, auf den serbischen Nationalismus der 1990er Jahre bezogene, Perspektive geschaffen hat, aus der heraus nicht deutlich wird warum der TurboFolk auch heutzutage im gesamten Balkanraum existiert. Erst aus dieser Perspektive erklärt sich meiner Meinung nach die Wandlungsfähigkeit des Turbo-Folk und die weitere Verwendung des Begriffes in den anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens (Kroatien, BosnienHerzegowina). Ich würde den Turbo-Folk daher nicht als ein „nationales Symbol“ beschreiben, dass mit einer spezifisches Deutung versehen wurde und dadurch Botschaften im Sinne einer nationalistischen Politik transportieren konnte. Genauso wenig wie der Turbo-Folk ein festes Symbol für die 1990er Jahre darstellt, tut er dies für die heutige Zeit als „panbalkanischer“ Identitätsstifter. Wir haben es bei der Beschäftigung mit dem Thema Turbofolk also mit einem doppelten Umbruch zu tun. Auf der einen Seite steht er als synonym für den Zerfall Jugoslawiens auf kultureller Ebene und dem Aufkommen einer nationalisierten Kulturpolitik in Serbien, zum Anderen steht der Begriff für ein pan-balkanisches Kulturprodukt, dass sich von einer nationalisierten Wahrnehmung gelöst hat. Ich bin der Ansicht, dass weitere Beschäftigungen mit dem Turbo-Folk vor allem die Sichtweise der Akteure berücksichtigen sollten. Zudem wäre es wünschenswert, den Turbo-Folk als Teil einer europäischen Musikkultur zu betrachten, um dadurch die zunehmende transnationale Verflechtung der Musik zu analysieren. 16 6. Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Interviewquellen Interview mit Tanja vom 12.06.2012 in Belgrad. Interview mit Predrag aus Sarajevo vom 10.06.2013 in Belgrad. Interview mit Ivo aus Zagreb vor dem Blaywatch vom 24.05.2013 in Belgrad. Gesprächsprotokoll Kafana-Besuch vom 18.05.2013 in Kotež (Belgrad). Gesprächsprotokoll vom Interview mit Milan Miletić vom 18.06.2013 in Berlin. Gesprächsprotokoll vom Interview mit Miroslav vom 18.06.2013 in Belgrad. 6.2 Internetquellen Belgrade at night: http://www.belgradeatnight.com/. Blaywatch Club: http://www.blaywatch.com/. Sunset Club: http://www.sunset.rs/index.php. Trailer Film Turbofolk: http://www.behance.net/gallery/Turbo-folk-documentary-project/4325701. 6.3 Literaturverzeichnis Archer, Rory (2012): Assessing Turbofolk Controversies: Popular Music between Nation and the Balkans. In: Southeastern Europe 36, S. 178–207. Baberowski, Jörg (2008): Selbstbilder und Fremdbilder: Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel. In: Jörg Baberowski; Hartmut Kaelble; Jörg Schriewer (Hg.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnung im Wandel. Frankfurt am Main: Campus, S.9–13. Baberowski, Jörg (2009): Was sind Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel? Anmerkungen zu einer Geschichte interkultureller Begegnungen. In: ders. (Hg.): Arbeit an der Geschichte. 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