Rebekka Hartmann — Birth of the Violin

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Rebekka Hartmann — Birth of the Violin
Birth of the Violin
Rebekka Hartmann
(2011)
Solo Musica
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Rebekka Hartmann — Birth of the Violin
Geminiani trifft Carrera-Bahn
von Rainer Aschemeier • 9. August 2011
Vor vier Jahren erschien beim deutschen Label „Solo Musica“ die Veröffentlichung „Birth of
the Cello“, auf welcher der Ausnahmecellist Julius Berger auf einem der ältesten bekannten
und spielfähigen Violoncelli der Welt, dem wunderschönen „Carlo IX“-Cello von Andrea
Amati, zwei der ältesten bekannten Solowerke für Violoncello vorstellte. Das war damals eine
rundherum runde Sache und konnte vollauf überzeugen.
Im Juli 2011 nahm „Solo Musica“ dieses überzeugende Konzept erneut auf und
veröffentlichte die CD „Birth of the Violin“ mit der Violinistin Rebekka Hartmann. Nur ist
hier die Lage ungleich schwieriger: Nicht nur ist die Violine als Instrument bedeutend älter
als das Cello (es gab vermutlich schon rund 50 Jahre vor dem Beginn des Cellobaus die ersten
Violinen nach heutiger Bauweise), es ist auch viel schwieriger, die erste „echte“ Literatur für
Geige auszumachen; virtuose Musikstücke für Solo-Streicher in hohen Tonlagen gab es
nämlich schon lange vor der eigentlichen Violine, wie wir sie heute kennen.
Das „Birth of the Violin“-Projekt muss also im direkten Vergleich zu „Birth of the
Cello“ zwangsläufig stärker als Kompromiss erscheinen. Doch das stört nicht wirklich, wenn
man erst einmal dazu kommt, die Musik zu hören, die auf der CD versammelt ist.
Rebekka Hartmann hat sich dafür entschieden, auf der vorliegenden CD mit zwei
unterschiedlichen Geigen zu spielen; dies ermöglicht ihr eine äußerst konsequente
Vorstellung der aufgenommenen Musik: nicht nur in chronologischer Reihenfolge der
Kompositionen, sondern auch durch eine Begleitung mit dem zeitlich jeweils dazu passenden
Instrument. Dem Hörer wird also auch eine Chronologie des Instrumentenbaus beigebracht,
und dies ohne jede Anstrengung, sondern gewissermaßen „spielerisch“ und „nebenbei“.
Hartmann geht sogar so weit, im Verlauf der Einspielung nicht nur die Instrumente, sondern
auch vom historischen Barock-Geigenbogen zum „modernen“, heute noch geläufigen
Geigenbogen zu wechseln. Die Instrumente, die hier zum Einsatz kommen, sind zum einen
eine Amati-Geige von 1669, die in der Fachwelt unter dem Namen „The Rethi“ bekannt ist
und zum anderen eine relativ frühe Stradivari-Violine von 1675; sie gehört demnach noch
nicht zu der weltweit begehrten „Königsklasse“ der Stradivaris, ist aber ein wirklich
wundervoll klingendes Instrument.
Es ist sehr spannend, diese klanglichen Nuancen mitzuerleben, die von „Solo Musica“Tonmeister Andreas Fleck äußerst natürlich und mit vorbildlich wenig (aber gerade genug)
Hall eingefangen wurden. Geht man davon aus, dass der auf der CD enthaltene VideoEinblick in die Aufnahmesituation „echt“ ist, so muss das auch eine witzige Sache gewesen
sein: Das Aufnahmeequipment steht auf einem Schützenfest-Bierzelttisch und die Solistin
spielt in einem Raum, der auf dem Video aussieht, wie eine Art ausgebauter Dachboden.
Jedenfalls steht eine aufgebaute Carrera-Bahn für kleine Spielzeugrennautos auf dem Boden
herum. Das wirkt sehr sympathisch und zeigt auf’s Neue, wie herrlich unprätentios klassische
Musik manchmal sein kann, wenn man sie nur lässt.
Diese Intimität der Atmosphäre am Aufnahmeort scheint sich auch auf Rebekka Hartmann
übertragen zu haben, welche die zum Teil irrsinnig schwer zu spielenden Stücke auf der
vorliegenden CD nicht nur wie selbstverständlich technisch komplett beherrscht und nicht
eine Sekunde die Kontrolle über ihren Vortrag verliert, sondern auch mit hörbarer Hingabe
und viel Liebe zu diesen zum größten Teil extrem selten zu hörenden Werken musiziert. Es
handelt sich dabei in fast allen Fällen um „prä-Bach“-Literatur von Komponisten wie Johann
Paul von Westhoff, Heinrich Ignaz Franz Biber, Johann Georg Pisendel, Francesco Geminiani,
Nicola Matteis, Louis-Gabriel Guillemain und Friedrich Wilhelm Rust.
Unterstützt wird der an sich schon positive Gesamteindruck durch einen vorzüglichen und
über Strecken sogar nachgerade amüsant zu lesenden Booklet-Text von Alte-Musik-Kenner,
Violinist und langjährigem Leiter des Ensembles „Musica Antiqua Köln“ Reinhard Goebel.
Das ist wahrscheinlich der beste und schönste Begleittext einer CD, den ich im laufenden Jahr
bisher gelesen habe. Dem gegenüber steht leider eine etwas „hausbacken“ wirkende grafischlayouterische Gestaltung der CD, die zwar hohe Ambitionen verrät, jedoch in ihren gewollten
(aber nicht gekonnten) Feinheiten einiges zu wünschen übrig lässt. Hervorragend und genau
so toll (wenn nicht noch toller) wie einst bei der „Birth of the Cello“-CD sind allerdings die
enthaltenen Detail-Fotos der beiden auf der CD vorgestellten Violinen. Beim Blick auf diese
Wunderwesen aus Holz und Lack kann man wirklich verstehen, warum manche Musiker eine
so innige Beziehung zu ihrem Instrument aufbauen können, dass man sich an eine
Liebesbeziehung erinnert fühlt. Auch Rebekka Hartmann lässt daran keinen Zweifel, wenn sie
im Interview erläutert, dass ihre Stradivari sie viel „unterrichtet“ habe. So spricht kein
fidelnder „Teufelsgeiger“, dem lediglich an der Zurschaustellung höchster
Schwierigkeitsgrade liegt, so spricht vielmehr eine Musikerin, die bereit ist, sich wirklich auf
Musik einzulassen, Zeit mit ihr zu verbringen und sich selbst zugunsten des Werks und seiner
Wiedergabe in adäquatem Maße zurückzunehmen.
Ein Wort noch zu dem Video auf der CD: Das ist zwar eine wirklich tolle Sache und trägt
nochmals erheblich zum Verständnis des enthaltenen musikalischen Programms und dessen
Umsetzung bei, doch — Hifi-Fans haben schon längst die Stirn in Falten gelegt — es ist für
ein Label mit klanglich weitreichenden Ansprüchen selbstverständlich ein totales „no go“,
eine Datensession auf denselben Datenträger zu packen, auf dem auch die Musik enthalten ist.
Gerade die hochwertigen, eher puristischen CD-Player haben damit nämlich so ihre Probleme
und schmeißen die Fehlerkorrektur an, sodass diese CD wahrscheinlich auf den wenigsten
Playern in ihrem vollen klanglichen Potential ertönen wird — was zweifellos sehr schade ist,
denn das, was wir da auch jetzt (noch) hören, ist ziemlich gut (wenngleich ich auch schon mal
noch bessere Soloaufnahmen gehört habe).
Fazit: Eine rundum tolle Veröffentlichung, die zeigt, dass es auch noch Musik für Violine
Solo vor Bach gab. Wer sich an der Datensession auf dem Tonträger nicht stört, erwirbt mit
dieser Neuveröffentlichung aus dem Hause „Solo Musica“ eine CD, die ihm auf viele Jahre
immer wieder Freude bereiten wird und die konzeptionell und programmatisch das Prädikat
„besonders wertvoll“ verdient hätte.
Und wer auf all diese hochtrabende Musikphilosophiererei keine Lust hat, erwirbt einfach
eine CD voll mit wunderschöner, zum Teil in ihren „Girlanden“ und Verzierungen fast
meditativ wirkender Barockmusik der unterhaltsamsten Art.