Bananenrepublik - Hundertvierzehn.de

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Bananenrepublik - Hundertvierzehn.de
Joseph O’Connor
Bananenrepublik
Erinnerungen an eine irische Vorstadtkindheit
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch
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Im Sommer 1977 war ich 13 und haderte ziemlich mit meinem Leben. Die seit langem
unglückliche Ehe meiner Eltern war endgültig in die Brüche gegangen.
Wir wohnten in Glenageary, einer Mittelklassesiedlung in Dublins Süden. Ein großer
Feuchtigkeitsfleck zierte die Giebelwand unseres Hauses, und wenn man den in einem
bestimmten Licht betrachtete, sah er genau wie eine Karte von Irland aus. Das schien mir
immer auf etwas Wichtiges hinzudeuten, aber ich kam nicht dahinter, auf was. Im
Sommer 1977, als nur meine Mutter und ich noch da wohnten, kam mir das Haus
unsagbar leer vor.
Wir verstanden uns nicht, meine Mutter und ich. Manchmal warf sie mich aus dem Haus,
wenn wir Streit hatten, dann wieder ging ich von selbst, um sie los zu sein. So verbrachte
ich einen großen Teil des heißen Sommers 1977 damit, allein durch die Straßen von
Dublin zu laufen.
Und im Sommer 1977 passierte etwas Merkwürdiges in Dublin. Anfangs war Punkrock in
meiner Heimatstadt wenig mehr als ein Gefühl. Man wusste eben nicht viel darüber. Punk
war wohl ursprünglich als typisch englische Erfindung wahrgenommen worden, eine
nachbarliche Überspanntheit vom selben beknackten Kaliber wie Aalpastete und von
Männern dargestellte Frauen im Märchenspiel. Festzuhalten ist, dass Dublin auf der
Weltkarte des Rock'n'Roll damals eigentlich nicht vorkam. Es gab Thin Lizzy, ab und zu
einen Auftritt des großen Rory Gallagher, und eine Handvoll jüngere irische Bands. Ein
Quartett wiedergeborener Christen aus der Nordstadt spielte Songs von Peter Frampton,
und einige Leute meinten, die würden es nicht weit bringen. (Sie hießen The Hype und
benannten sich im selben Sommer in U2 um.) Das war's so ungefähr. Die Stadt hatte
keine Popkultur. Aber im Sommer 1977, als ich 13 war, nahm sich ein monströser,
geifernder Geist dieses Vakuums an.
Damals im Juli jobbte ich auf einer Baustelle. Mit dabei war ein dürrer, leichenblasser
junger Kerl, der eine wichtige Rolle in meiner musikalischen Erziehung spielen sollte.
Hubert war vielleicht neunzehn und kam aus einem nahen Vorort, den er mitunter
»Sallyfuckinnoggin« nannte. Seine Ausdrucksweise war so abscheulich wie sein Teint.
Zwei Dinge machten Huberts Leben zu einer runden Sache. Das erste waren Pornos. Das
zweite war Punkrock. Den liebte er. Er fuhr total auf Punk ab und redete mir stundenlang
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damit die Ohren voll. Er erzählte mir von einem Laden namens Moran's Hotel in der
Stadt, wo im Keller fast jeden Abend Punk-Konzerte liefen. Punk sei »gegen die
Gesellschaft«, sagte er, weil für »die Zerschlagung des Systems«. Auch Hubert war
»gegen die Gesellschaft«, wie er mir inbrünstig versicherte. Im Keller von Moran's Hotel
wimmele es allabendlich von Leuten, die »gegen die Gesellschaft« seien und sich deshalb
Sicherheitsnadeln in die Ohrläppchen, die Backen und die Nase gesteckt hätten.
Auch die Bands, die in Moran's Hotel spielten, waren allesamt gegen die Gesellschaft.
Aber die Allerschlimmsten, so vertraute mir Hubert an, der räudigste Haufen verlauster,
nichtsnutziger elender Dreckfinken, die jemals einen Verstärker eingestöpselt, ihn weit
aufgedreht und eine 3-Akkorde-Nummer rausgehauen hatten, waren die erst ein Jahr alten
Boomtown Rats. Die seien »der letzte Abschaum«, sagte Hubert und lächelte dabei so
gütig und zufrieden, als wäre die charakterliche Entwicklung zum letzten Abschaum
etwas, auf das man ziemlich stolz sein durfte. »Die waschen sich noch nicht mal«, meinte
er mit einem teuflischen Grinsen, auch wenn er (dankenswerterweise?) offen ließ, woher
er das wusste. Natürlich wäre ich gern mit in Moran's Hotel gegangen, doch als
Minderjähriger kam ich nicht rein. Aber ich war wahnsinnig neugierig auf diesen
Eiterherd restlos verkommener Subjekte, die Boomtown Rats.
Ich fragte mich, was für Typen das waren. Der einzige Popstar, den ich jemals in Natur
gesehen hatte, war Gary Glitter, als er in einem RTÉ-Fernsehstudio zu Love You Love die
Lippen bewegte. Ich fragte mich, ob diese Boomtown Rats ähnlich unterhaltsam sein
könnten wie Gary. Eines Tages sagte mir Hubert dann, ich bekäme bald Gelegenheit, das
herauszufinden. Die Rats seien für ein großes Freiluftkonzert im Dalymount-Stadion
gebucht. Hubert hatte mir eine Karte besorgt.
An jenem Augustnachmittag belog ich meine Mutter – ich glaube, ich schob einen
Pfadfinderausflug vor – und ging mit Hubert und seiner geliebten Mona in das Konzert.
Mona war ein strotzgesundes Mädchen mit Armen wie ein Hafenarbeiter und einem
erstaunlichen Repertoire an Kraftausdrücken. Ihre sichtbaren Klamotten waren durchweg
aus Leder, was mich unerhört beeindruckte, vor allem, weil außer Schuhen das einzige
lederne Kleidungsstück, das ich damals besaß, ein Skapulier war.
Gluthitze und ein vollgepacktes Stadion. Thin Lizzy und Fairport Convention waren die
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Headliner des Konzerts, aber das kümmerte mich nicht, hauptsächlich weil Hubert dezent
angedeutet hatte, dass diese Gruppen nicht hinreichend »gegen die Gesellschaft« waren.
Wie meinen Mentor und Mona interessierten mich also nur die Boomtown Rats. Als sie
angesagt wurden, dachte ich, Hubert würde mit Leib und Seele in den Himmel auffahren
wie die Jungfrau Maria, so begeistert kreischte er drauflos.
Noch nie hatte ich eine so phänomenale Erregung erlebt wie in dem Moment, als die
Gruppe die Bühne bestieg, ihre Instrumente aufnahm und zu spielen anfing. Es war, als
fegte ein Gewitter durch meine Synapsen. Wenn man zum ersten Mal eine E-Gitarre
heulen, einen Bass dröhnen, eine echte Hihat knallen hört, das vergisst man nicht. Der
Leadsänger Bob Geldof sprang und torkelte wie ein ausgezehrter, sabbernder Dämon über
die Bretter, während er seine merkwürdigen Texte ins Mikrofon zischte. Der Keyboarder
Johnny »Fingers« Moylett trug einen Schlafanzug auf der Bühne, ein ganz unsäglicher
und beispielloser Akt der Kleidungsanarchie. Der Bassist Pete Briquette taumelte mit
irrem Blick umher, als litte er an einer besonders unangenehmen Form boviner
spongiformer Enzephalopathie. Und wenngleich die Gitarristen Gerry Cott und Gary
Roberts sowie der Drummer Simon Crowe relativ normal aussahen, hätte man auch ihnen
nur unter erheblichen Vorbehalten die eigene Schwester zum Babysitten anvertraut.
Sie spielten ihre Musik hektisch und schnell, unglaublich LAUT, mit einer sonderbaren
Mischung aus Leidenschaft, Engagement und völliger Missachtung des Publikums. Ich
fand sie toll. Noch nie hatte ich so einen Rabatz gehört. Es warf mich um. Ehrenwort, als
sie mit ihrer ersten Single, Looking After Number One, loslegten, stand mir jedes einzelne
Körperhaar zu Berge.
Don’t give me love thy neighbour!
Don’t give me charity!
Don’t give me peace and love from your good lord above!
You’re always getting’ in my way with your stupid ideas!
I don’t want to be like you.
I don’t want to be like you.
I don’t want to be like you.
I’m gonna be like ME!
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Kommt mir nicht mit Nächstenliebe!
Kommt mir nicht mit guten Werken!
Kommt mir nicht mit Love & Peace von eurem lieben Gott!
Immer kommt ihr mir mit euren Flausen in die Quere!
So wie ihr will ich nicht sein.
So wie ihr will ich nicht sein.
So wie ihr will ich nicht sein.
Ich will so sein, wie ICH bin!
Das nannte ich Musik. Mit dröhnendem Kopf und Herzsausen wankte ich an dem Abend
nach Hause. Meine Mutter schrie mich einige hundert Jahre lang an, was mein Kopfweh
noch verschlimmerte. Aber ich fühlte mich wirklich aufgebaut von der Musik. Ich weiß,
dass sich das jetzt naiv anhört, aber so war es. Ich hatte das Gefühl, eine Offenbarung
erlebt zu haben. Plötzlich war das Leben eine ziemlich klare Angelegenheit. Wenn dir
jemand auf den Keks ging, musstest du ihm sagen, verpiss dich, so wie ihr will ich nicht
sein, ich will so sein, wie ICH bin, und fertig. Das war eben der Sommer 1977. Alles sah
ganz einfach aus.
Ab September wieder in der Schule, erzählte ich meinen Freunden von den Boomtown
Rats. Diesen Freunden fühlte ich mich durch eine eigenartige Gemeinsamkeit verbunden.
Wir dachten, glaube ich, wir hätten Interessanteres durchgemacht als andere Menschen,
auch wenn wir als heranwachsende Jungen nicht groß über so etwas redeten. Wie sich
herausstellte, hatte mein Kumpel Conor schon selbst von den Rats gehört. Er hatte einen
Artikel über sie im Hot-Press-Magazin gelesen, in dem enthüllt wurde, dass Bob Geldof
an unserer Schule gewesen war.
Hatten mich die Rats schon vorher interessiert, ging meine Begeisterung jetzt völlig mit
mir durch. Diese aussätzigen Antiestablishment-Dreckskerle waren auf meiner Schule
gewesen! Blackrock College, ein von Priestern geführter Laden, der seit jeher dafür
bekannt war, dass er am laufenden Band fügsame Lohnsklaven produzierte, hatte
irgendwie die Boomtown Rats hervorgebracht! Wie konnte das denn sein? Es bestand
Hoffnung für uns alle.
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Eines Abends im Herbst sollten Bob Geldof und die Rats dann in der Late Late Show
auftreten. Im Wohnzimmer meines Freundes knisterte die Luft, während wir die
Biermixflaschen köpften, die eingespeichelte Zigarette herumgehen ließen und auf die
Ankunft des Messias warteten. Bob schlurfte auf den Bildschirm wie ein schmuddeliger,
böser Alki und grinste sich mit kaum merklichem Süddubliner Zungenschlag durch das
Interview. Vieles an Irland kotze ihn an, sagte er. Er verabscheue die katholische Kirche;
er hasse die Priester, die ihn am Blackrock College unterrichtet hatten; seinen Vater
könne er nicht ausstehen. Mit Rock'n'Roll habe er nur angefangen, um saufen und bumsen
zu können. Fast alles, was er sagte, rief entsetztes Nachluftschnappen und massives
Gezische beim Publikum hervor, aber meine Freunde und ich jubelten heftig. Als das
Interview vorbei war, kamen die übrigen Bandmitglieder angezockelt, als wären sie
gerade auf einer Müllkippe erwacht, und es fetzte Mary of the Fourth Form, ein
fieberheißes Stück über einen Lehrer, der von einer Schülerin verführt wird. Die Late
Late Show hatte in ihrer langen, bewegten Geschichte schon viel Aufregendes erlebt, aber
noch nie einen jungen Mann, der im Schlafanzug Klavier spielte. Als der Song in einem
Getöse von Drums und kreischender Rückkopplung kulminierte, war das Publikum im
Studio sprachlos.
»Bravo, Bob«, sagte Gay Byrne lächelnd. Geldof drehte sich finsteren Blickes um und
wischte sich mit dem Handrücken die Spucke von den Lippen. »Na, wenn's dir so
gefallen hat«, blaffte er, »dann kauf dir die Platte.« Hoppla! Der Typ kam Gaybo frech!
Das war etwas Neues und Gefährliches. Praktisch eine Revolution. Ende der 70er Jahre in
Irland war das eine unerhörte Art zu reden. In diesem Jahrzehnt hatten eine Million
Menschen – knapp ein Drittel der gesamten irischen Bevölkerung – der Messe des
Papstes im Dubliner Phoenix Park beigewohnt. Das war viele Jahre vor Mary Robinson,
vor der Scheidungsdebatte und der Anerkennung der Schwulenrechte in Irland.
Im Irland der 70er Jahre konnte man nicht mal legal ein Kondom kaufen, geschweige
denn im Fernsehen so unverblümt vom Saufen und Bumsen, vom Hass auf Priester und
der Abneigung gegen den eigenen Vater reden. Und obwohl ich meinen Vater sehr gut
leiden konnte, sprach Geldofs scharfer Cocktail aus revolverschnäuziger Arroganz,
gewagter Hose und Nichtachtung von Autoritäten mich wirklich an. Bald bekam ich gar
nicht mehr genug davon.
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Kurz nach der Late Late Show besorgte mein Freund Conor sich die erste LP der
Boomtown Rats und nahm sie mir auf Band auf. Eigentlich war das gar kein Punk; es war
aufgemotzter, sehr aggressiv vorgetragener Rhythm & Blues. Aber mit einigen
phantastischen Songs. Never Bite the Hand That Feeds und Neon Heart zum Beispiel. Die
Musik war hart, prall von Verve und frischer emotionaler Kraft. Aber ich bewunderte
noch mehr daran. Die Songs steckten voller Charaktere, and das gefiel mir. Es hörte sich
an, als handelten sie von realen Menschen. Und die Sprache war erstaunlich leicht; ein
mutiges, ballastfreies Geschichtenerzählen.
Sooner or later, the dawn came breaking,
The joint was jumping and the walls were shaking,
When Joey sneaked in the back door way,
Pretending he was with the band, he never used to pay;
He was never a great draw for pulling the chicks,
He’d just lie against the wall like he was holding up the bricks.
Früher oder später wurde es Tag,
Der Laden bebte, und die Wände wackelten,
Als sich Joey hintenrum reinschlich
Wie einer, der zur Band gehört, er zahlte nie,
Die Frauen flogen auch nicht auf ihn,
Er lehnte bloß an der Wand, als stützte er das Mauerwerk.
Aber auf der ersten Scheibe der Boomtown Rats fand sich auch eine langsame
Klavierballade mit dem Titel I Can Make It If You Can. Ein zärtliches Lied von
Verletzlichkeit und Sehnsucht. Ich bewahrte das Band neben meinem Bett auf und hörte
jeden Morgen beim Aufwachen als Erstes I Can Make It If You Can. Für mich war das die
Stimme eines Überlebenskünstlers, eines, der wusste, was Leid war. Es war, als sänge er
für mich und meinesgleichen, und als stände er hinter dem, was er da tat. Ich spielte das
Band, bis es durch war und nicht mehr gespielt werden konnte. Und damals – ich scheue
mich nicht, es zuzugeben – half mir der Song an vielen Tagen, aus dem Bett zu kommen.
Ich hörte zu, wie er I Can Make It If You Can sang, und ich glaubte ihm. Ich hatte einfach
das Gefühl, ich konnte es schaffen, wenn Bob Geldof es schaffte. Ich weiß, das war total
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naiv, aber jetzt bin ich froh über diese jugendliche Naivität. Ich identifizierte mich mit
Bob Geldof. Er war ein Musterbeispiel an Überlebenskunst, Widerstandskraft und Mut.
Den kriegt nichts klein, dachte ich, und wenn ich das im Kopf behalte, mich auch nicht.
Mit der Zeit dachte ich immer öfter an Bob Geldof und seine Band. An allem, was die
Rats trieben, hatte ich meinen Spaß. Ich kaufte alles, was sie herausbrachten – She’s So
Modern, Like Clockwork, dann das wunderbare Album A Tonic for the Troops. Ich dachte
wirklich, ihr Erfolg hätte etwas mit mir zu tun. Ich hatte das Gefühl, ich sei daran
beteiligt, untrennbar damit verbunden auf eine Art und Weise, die kein anderer verstand.
Ich hatte das Gefühl, sie sangen für mich und die Leute, die ich kannte. Ich betrachtete sie
als meine Freunde, obwohl sie mir gar nicht persönlich bekannt waren.
Im November 1978 jedenfalls kamen die Boomtown Rats als erste irische Gruppe der Ära
an die Spitze der britischen Charts. Als Geldof dann in den ›Top of the Pops‹ der Woche
den herrlichen Text von Rat Trap ins Mikro ratterte, zerriss er ein Poster von Olivia
Newton John und John Travolta, deren zuckersüße Single Summer Nights die Rats soeben
von Platz 1 verdrängt hatten. Meine Freunde in der Schule brachten vor Stolz kein Wort
heraus. Conor schnitt ein Foto von Geldof aus der Hot Press aus, und wir postierten es in
der Hall of Fame, wo die gerahmten Konterfeis sämtlicher berühmter Ehemaligen der
Schule hingen. Wir hängten Bob zwischen die Bischöfe, Diplomaten und Politiker, die
den Staat gegründet hatten, in dem wir lebten. Sein schmales Schmuddelgesicht passte
deckungsgleich auf ein Foto des einstigen Präsidenten Eamon de Valera, und dem Reiz
einer so überaus wohlfeilen Symbolik können Vierzehnjährige nur schwer widerstehen.
Damals mutete es wie eine Art Sieg an, und wenn ich ehrlich bin, tut es das immer noch.
Ich hörte dauernd die Boomtown Rats. Ich hörte sie stundenlang und ließ mich davon in
eine wohlige Trance versetzen. I Don’t Like Mondays, Diamond Smiles, ich konnte die
Songtexte auswendig. Immer wieder sagte ich sie mir im Kopf vor, immer wieder. Oft
hallte mir abends beim Einschlafen der Text von I Don’t Like Mondays zwischen den
Ohren, und morgens beim Aufwachen sagte ich ihn mir oft noch im Stillen vor, wie ein
Gebet.
Im Dezember 1979 kamen sie wieder nach Irland. Sie hatten ein großes Konzert geplant,
für das ihnen im letzten Moment aber die Erlaubnis entzogen wurde. Die Zeiten waren so
mörderisch harmlos, dass die Boomtown Rats in Irland als gefährlich galten. Die Band
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zog gegen die Behörden vor Gericht und verlor. Zu Beginn des neuen Jahres erschien –
oder besser gesagt, explodierte - die Single Banana Republic, mit der die Rats ihre
Einstellung zu Irland auf den Punkt brachten. Inzwischen entsprach diese Einstellung
weitgehend der meinen.
Banana Republic, septic isle,
Suffer in the screaming sea,
It sounds like dying, dying, dying
Everywhere I go now
And everywhere I see
The black and blue uniforms
Police and priests
Bananenrepublik, sieche Insel,
Leidend in schreiender See,
Klingt nach Sterben und Tod,
Wohin ich auch geh,
Und überall seh ich
Die schwarzen und blauen Monturen,
Priester und Polizei
Es war ein vernichtender Angriff auf eine Gesellschaft, deren Scheinheiligkeit und
Heuchelei ihre moralischen Errungenschaften weit hinter sich gelassen hatten. Ein bissig
vorgetragener Angriff genau zur rechten Zeit. Niemand außer Geldof hätte den Mumm
dazu gehabt. Ich weiß nicht, wie andere damals darüber dachten, und es ist mir egal. Ich
bewunderte Geldof dafür, dass er die Dinge beim Namen nannte. Ich bewundere ihn
immer noch dafür.
Aber es sollte die letzte große Single der Boomtown Rats sein. Nicht lange nach Banana
Republic begann ihr Stern zu sinken. Gerüchte von Drogen in der Band und ihrem
Umkreis kamen auf; ich weiß wirklich nicht, ob da etwas dran war. Jedenfalls glaube ich,
die Rats kamen einfach ins Schwimmen, als sich der Geschmack des plattenkaufenden
Publikums nach und nach änderte. Aber ich sortiere mein Tun und Lassen jener Zeit
immer noch nach ihren Singles. Elephant’s Graveyard kam im Januar 1981, einen Monat
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nach dem letzten Gerichtstermin meiner Eltern. House on Fire kam im August 1981, dem
Monat, in dem meine Mutter ins Krankenhaus musste.
Ein paar Tage waren wir allein im Haus. Fast die ganze Zeit hatten wir laut die Rats
laufen. Daran erinnere ich mich jetzt, den berauschenden Zustand zwischen Angst und
Freiheit, das Stampfen des Basses aus den Fußbodenbrettern und das näselnde Gebrüll
Bob Geldofs. Merkwürdig, woraus man Trost schöpft, wenn man Sorgen hat.
Never in a Million Years erschien im November 1981, kurz nachdem ich zu studieren
anfing und zu Hause auszog. House of Fire erschien im Februar 1982, als ich mit einem
Mädchen namens Grace Porter ging. Charmed Lives kam im Juni desselben Jahres, kurz
nachdem wir Schluss gemacht hatten. Nothing Happened Today erschien im August
1982, kurz nach meiner ersten Jahresprüfung. So gut wie alles, was ich damals erlebte,
kann ich an einem Song der Boomtown Rats festmachen.
Die Single Drag Me Down kam im Mai 1984 heraus. Daran erinnere ich mich, weil ich
sie an einem kalten Nachmittag in Dún Laoghaire gekauft habe, ehe ich mit dem Bus zu
meiner Mutter fuhr. Wir zankten uns und gingen im Streit auseinander. Da sah ich sie
zum letzten Mal. Sie starb neun Monate später bei einem Verkehrsunfall. Ich ging nach
Nicaragua, um allein zu sein. Im Gepäck hatte ich ein Band vom letzten Album der Rats,
In the Long Grass, das die schöne Single Dave enthielt.
Flirt with Death
But never kiss Her
I see you bleed
I know you feel the squeeze
But please, believe
The view from on your knees
Deceives
Keep going
Flirte mit Frau Tod
Aber küss sie nicht
Ich seh dich bluten
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Ich weiß, du spürst den Druck
Aber glaub mir bitte
Dein Blick ist getrübt
Wenn du am Boden bist
Steh auf
Und eine Aufnahme von ihrer allerletzten Single, A Hold of Me, nahm ich auch mit.
Einerseits wollte ich nicht mehr an zu Hause denken, andererseits wollte ich die kleinste
Kleinigkeit in Erinnerung behalten.
Ich dachte oft an früher, und manchmal kamen mir dabei die Boomtown Rats in den Sinn.
Im Juli hatte ›Live Aid‹ stattgefunden, und mittlerweile war Geldof wahrscheinlich der
berühmteste Mensch der Welt. Doch die Band hatte lange kein Album mehr
aufgenommen und schien das auch nicht vorzuhaben.
Aber im Mai 1986, als gemunkelt wurde, die Gruppe werde sich endgültig auflösen,
kamen sie dann zu einem Benefizkonzert nach Dublin, bei dem auch Van Morrison, U2,
Scullion und The Pogues auftraten, alles, was Rang und Namen hatte in der irischen
Rockwelt. Die Rats spielten einen Knaller. Das Publikum war hin und weg und bereitete
ihnen einen stürmischen Empfang. Nach dem Set trat Geldof langsam für eine Zugabe ans
Mikrofon. Es sah aus, als wäre er verblüfft über die Wärme und Zuneigung der Leute. Als
wäre er – ausnahmsweise – um Worte verlegen. Ein wenig hilflos ließ er den Blick über
die Menge schweifen. »Also, es waren zehn tolle Jahre«, sagte er leise. »Lassen wir's
ruhen.«
Der donnernde Trommelwirbel kam. Der Eröffnungsriff, laut und klar. Die vertraute
Akkordfolge D, A, G, E. Der letzte Song, den die Boomtown Rats öffentlich spielten, war
ihr erster, Geldofs Hymne an die Rotznasenanarchie und pubertäre Posen, Looking After
Number One.
Don’t give me love thy neighbour,
Don’t give me charity,
Don’t give me peace and love from your good lord above
I’M GONNA BE LIKE ME!!
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Kommt mir nicht mit Nächstenliebe,
Kommt mir nicht mit guten Werken,
Kommt mir nicht mit Love & Peace von eurem lieben Gott!
ICH WILL SO SEIN, WIE ICH BIN!!
Es war eine eindrucksvolle Heimkehr, eine stilvoll ironische Selbstbetrachtung und ein
pointierter Abschied zugleich. Und auch mir kam es seltsamerweise, aber ganz eindeutig
wie ein Abschied vor, ein letztes Lebewohl an eine Zeit meines Lebens, die jetzt vorüber
war. Als ich die Sendung damals im Fernsehen sah, wusste ich, dass ich Irland bald
wieder verlassen würde, dass ich lange nicht wiederkommen, sondern versuchen würde,
es hinter mir zu lassen.
Nach und nach verlor ich den Kontakt zu meinen Freunden. Ich zog in London sechs oder
sieben Mal um, und irgendwo ließ ich dabei meine alten Boomtown-Platten zurück. Aber
ihre Kraft und Energie, der heilsame Einfluss ihrer rechtschaffenen Empörung sind mir
noch in Erinnerung. Und es mag sein, dass die Texte jetzt mitunter nicht mehr ganz so
einschlagen wie an dem Sommertag im Dalymount Park, als ich dreizehn war und sie
gerade erst entdeckt hatte. Aber das kümmert mich nicht. Denn große Popmusik heilt uns
manchmal, ohne dass wir sagen könnten, wie, oder sie hilft uns auf eine Art und Weise,
die uns in der Rückschau unglaublich banal oder trivial vorkommt. Bei großer Popmusik
geht es um die Menschen, die sie hören, und die Umstände, unter denen sie sie hören, und
letztlich nicht so sehr um diejenigen, die sie machen. Das ist vielleicht das Große an ihr.
Ich weiß es nicht.
Vor ein paar Jahren sprach ich im irischen Fernsehen über einen Roman von mir, und
Bob Geldof war in der Sendung zu Gast. Er war einfach großartig. Er hatte das Flair eines
Überlebenskünstlers. Einer, der durchgekommen war.
Nachher im Aufenthaltsraum unterhielten wir uns eine Weile über nichts Bestimmtes,
wobei seine Augen unruhig umherhuschten und er sich mit den Fingern durch die
Zottelhaare fuhr. Zum Abschied gaben wir uns die Hand, dann raffte er seinen Kram
zusammen und stakste mit einem verbeulten Gitarrenkasten unterm Arm davon. Es war,
als wäre ein Stück Vergangenheit zur Tür hinausspaziert.
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Ich kam nicht dazu, ihm zu sagen, was mich an dem Abend bewegte. Es waren zu viele
Leute da, und wahrscheinlich hatte ich auch noch gar nicht die Worte gefunden, die ich
suchte. Aber wenn ich jetzt daran denke, war das, was ich ihm sagen wollte, eigentlich
ganz einfach. Dem verängstigten, am Sinn des Lebens zweifelnden Jugendlichen, der ich
war, hatte nur der Beistand meiner Lieben mehr geholfen als er mit seiner Musik und
seinem Vorbild. Er hatte mir geholfen, zu überleben. Die finsteren Zeiten durchzustehen
und auf bessere zu warten. Die dann auch kamen. Sie kommen oft. Aber bevor sie kamen,
war Bob da. Seine Musik verkörperte eine Weltsicht, der ich mich irgendwie verbunden
fühlte. Sei immer auf der Hut vor den Normalen, Watch Out For the Normal People, riet
sie mir im Titel eines Songs von Bob. Sie öffnete mir die Augen für Dinge, die mir nie
aufgefallen wären.
Als
ganz
große Popmusik
machte sie Spaß, war
unberechenbar, lebendig,
bilderstürmerisch, intelligent, witzig, tanzbar, zärtlich, wenn sie wollte, knallhart, wenn es
sein musste. Durch sie fühlte ich mich besser. Sie heilte. Und sie ließ mich glauben, dass
ich es schaffen konnte, wenn er es schaffte. Ein törichter, pubertärer Gedanke wie aus
dem Bilderbuch. Aber in einer Welt, in der ich zu schnell erwachsen werden musste,
erlaubten mir Bob Geldof und seine Band, hin und wieder auch einmal töricht und
pubertär zu sein. Dafür, ob es nun viel oder wenig ist, bin ich wirklich dankbar. Ich bin
sehr dankbar dafür.
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© by Joseph O’Connor 1996
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