Jugendsozialarbeit . Freise
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Jugendsozialarbeit . Freise
Josef Freise Jugendsozialarbeit in globalisierten Gesellschaften Stellenwert, Profil, Herausforderungen Vortrag am 28.5.2010 in Bonn - nur zum persönlichen Gebrauch - Jugendsozialarbeit hat als Ziel, junge Menschen in ihrer Identitätsentwicklung zu unterstützen und bei der Aufgabe, sich in die Gesellschaft zu integrieren, zu begleiten. Das gilt für junge einheimische Menschen sowie für Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, um die es bei dieser Tagung in besonderer Weise geht. Ich werde in meinem Vortrag zunächst über die Identitätsentwicklung Jugendlicher und ihre Integration in die Gesellschaft etwas Grundlegendes sagen, dann einzelne Faktoren benennen, die die Identitätsbildung Jugendlicher erschweren, um danach einige Thesen zum Stellenwert, zum zukünftigen Profil der Jugendsozialarbeit und zu den Herausforderungen für die Jugendsozialarbeit zu benennen. Aspekte der Identitätsentwicklung Jugendlicher Identität entwickelt sich beim Individuum als innerer Prozess in Auseinandersetzung mit äußeren, gesellschaftlich vorgegebenen Rollen und Normen. Ein Kind übernimmt in der Regel zuerst die Werte und Normen der Eltern. Mit der Adoleszenzkrise beginnt unter bestimmten Bedingungen eine Ablösung von den Orientierungen der Eltern. Identitätsbildung bleibt ein permanenter lebenslanger Prozess. Ich beschreibe die Prozesse der Identitätsentwicklung Jugendlicher auf dem Hintergrund der Theorie des Symbolischen Interaktionismus, wie sie von George Herbert Mead entwickelt und später von Lonnie Athens (1995) vertieft wurde. Der Mensch bildet seine Identität durch Selbstgespräche in Form von inneren Zwiegesprächen. Das Ich steht in ständigen inneren Gesprächen mit Personen und Gruppen, die im Kopf präsent sind: Das Ich führt Gespräche mit den Eltern und Freunden (der „Wir-Gruppe“), später auch mit Lehrern, Polizisten und abstrakten Instanzen wie Gesetzen und Normen (der „Sie-Gruppe“). Wir brauchen oft eine ganze Versammlung von inneren Gesprächspartnern, um die verschiedenen Argumente und Emotionen, die in uns gegenwärtig sind, zur Sprache zu bringen und im Inneren richtig zu ordnen. Athens benutzt dafür den 1 Begriff der "phantom community", mit der wir unser Handeln letztlich abstimmen. Wenn man auf Jugendliche einwirken will, dann kann man dies über die Beeinflussung der relevanten Wir- und Sie-Gruppen tun. Wenn Jugendliche in der wichtigen Phase der Adoleszenz in der „richtigen“ Peer-Group leben, wenn sie „guten“ Umgang haben, ist ein zentraler Baustein für ein gelingendes Erwachsenwerden gelegt. Die Wir-Stimmen und die Sie-Stimmen müssen Jugendlichen Bestärkung geben und sie in ihren Fähigkeiten fördern, aber auch Grenzen aufzeigen, wo Fehlentwicklungen drohen. Ein zweiter wichtiger Baustein ist die Integration ins Berufsleben. Wenn dadurch Anerkennung ermöglicht wird, kann abweichendes und kriminelles Verhalten verhindert werden. In der postmodernen globalen Gesellschaft verlieren die Wir- und die Sie-Stimmen oft ihren verbindlichen Charakter. Jugendliche haben keine festen gesellschaftlichen Vorgaben mehr, was erlaubt und was unerlaubt ist; sie haben auch keine festen Vorbilder für eine berufliche Karriere. Familiäre Lebenswelten zerbrechen zunehmend, und so ist es nicht verwunderlich, dass Jugendliche laut Shell-Studien zur Jugend in Deutschland als höchste Werte Halt und Treue angeben und nicht mehr wie vor 30 Jahren Freiheit und Selbstbestimmung. Die persönliche und berufliche Anerkennung ist der beste Schutzwall gegen das Misslingen von Identitätsentwicklung. Weiter gehören zu den Entwicklungsaufgaben die Beziehungsklärung und die geistige Orientierung: Was sind meine Ziele im Leben, die ich umsetzen will? Woran orientiere ich mein Leben? Die personale Ich-Identität ist gekoppelt an die soziale Identität. Die Perspektive, wie ich die Welt sehe („I“) und wie mich („me“) die anderen sehen, gehören zusammen. Das Individuum braucht das Umfeld, das es in seinen Entscheidungen und Optionen bestärkt. Allein kann keiner leben. Jeder Mensch braucht eine Umgebung, die ihm Zugehörigkeit zusichert. Diese Zugehörigkeit kann auch mit dem Begriff Integration bezeichnet werden. Die soziale Identität sichert die Integration. Integration ist gewährleistet, wenn das Individuum, so wie es lebt, von seiner Umgebung anerkannt wird, und wenn es selbst andere – auch in ihrem Anderssein – anerkennt. Integration ist nicht Assimilation, reine Anpassung an eine wie auch immer geartete Normalität. Es gibt nicht mehr die eine von allen akzeptierte Normalität. Wir haben viele bunte Normalitäten, die auch so lange akzeptabel sind, wie sie den Menschenrechtsnormen entsprechen, andere Lebensentwürfe respektieren und keinen Exklusivitätsanspruch erheben. Deshalb gehört zur Integration Jugendlicher auch, dass jeder Jugendliche lernt, selbstbewusst und wissend um seine eigenen Lebensvorstellungen auch Menschen mit anderen Lebensentwürfen zu respektieren. Jeder Jugendliche macht irgendwann die Erfahrung, dass er 2 oder sie selbst nicht respektiert wird. Solche Diskriminierung erfahren Jugendliche wegen schlechter Schulleistungen, wegen der ethnischen Herkunft, wegen der Religion, aus Gründen der sexuellen Orientierung, wegen Behinderung, wegen des eigenen Körpers, der nicht den gesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen voll entspricht u.s.w.. Diskriminierungen können zur Autoaggression und Depression oder zur Gewaltbereitschaft gegen andere führen. Sie sind ein zentraler Grund dafür, dass Jugendliche selbst andere diskriminieren. Wer andere diskriminiert, ist zumeist selber diskriminiert worden. Oft wird in der öffentlichen Diskussion und auch immer noch in der wissenschaftlichen Literatur bei der Diskussion über die Integration von Zuwanderern der Aspekt ausgeklammert, dass erlittene Diskriminierung ein zentraler Faktor für misslingende Integration ist. Die Erfahrung von Zugehörigkeit, von Partizipation wiederum ist ein Faktor, der Integration begünstigt und fördert. Ein Aspekt, der in der Integrationsdiskussion ebenfalls bisher viel zu kurz kommt, ist der Aspekt der geistigen Integration. Jugendliche brauchen eine geistige Verortung in der Demokratie. Jede/r Jugendliche braucht Vorbilder, Menschen, die ihm demokratische Werte vorleben und erklären, was ihre Grundüberzeugungen sind, aus denen sie leben und nach denen sie handeln. Jugendliche benötigen auch eine geistige Orientierung, die ihrem Leben Kohärenz und Sinn gibt. Was macht mein Leben lebenswert? Wem bedeute ich etwas? Wofür lohnt es sich zu leben? Dass die religiöse Orientierung unter Jugendlichen nach neueren Studien wieder zunimmt, macht dieses Bedürfnis nach einer geistigen Sinn-Orientierung deutlich. 21 Prozent der 16- bis 29-Jährigen interessieren sich – so die Ergebnisse der Shell-Jugendstudie im Jahr 2006- sehr oder ziemlich für religiöse Fragen, während es 1994 erst 14 Prozent waren. Interessant ist, was Thomas Gensicke im Rahmen der Shell-Studie "Jugend 2006" in Bezug auf die Verbindung von Werteentwicklung und Religiosität herausgefunden hat: Wer nicht religiös ist, bildet seine Werte im Kontakt mit Familie und Peer-Group, im Sinne von Lonnie Athens also durch die Wir-Gruppe. Religiöse Jugendliche sind in ihrer Werteorientierung weniger abhängig von der Meinung der Familie und der Peer-Group. Sie haben eine zusätzliche identitätsbildende Instanz durch ihren Gottesbezug. Auch das innere Selbstgespräch mit Gott, das Gebet, kann also eine solche zusätzliche identitätsbildende Instanz darstellen. Dies muss man genau betrachten und je nach Religionsverständnis der Jugendlichen bewerten: Ist das Gottesverständnis des einzelnen geprägt vom Bild eines liebenden, verzeihenden Gottes, der ein kritischer, aber wohlwollender Wegbegleiter ist, dann kann diese religiöse Orientierung den einzelnen zu mehr Menschlichkeit und Unabhängigkeit im Sinne von Zivilcourage befähigen. Wird Gott jedoch fundamentalistisch als der Strafende 3 gesehen, der den einzelnen zum Kampf gegen all die Ungläubigen aufruft, die den eigenen richtigen Weg nicht mitgehen, dann führt auch dieser Glaube möglicher Weise zu Unabhängigkeit von der eigenen Familie und Gruppe, aber nicht im Sinne von Zivilcourage, sondern im Sinne von Unbelehrbarkeit – wie bei den jungen asiatischen Selbstmordattentätern in England, bei denen die Eltern jeden Einfluss verloren hatten. Faktoren, die die Identitätsbildung Jugendlicher erschweren Defizit- und (sexuelle) Gewalterfahrungen Wenn Kinder schon früh die Erfahrung machen, dass sie von ihren Eltern nicht wahrgenommen und wertgeschätzt werden, dann – das hat die Psychoanalyse sehr deutlich herausgearbeitet – verfestigt sich im Unterbewussten die Erfahrung, dass etwas in der eigenen Person nicht stimmt, dass etwas falsch ist, und diese Wahrnehmung führt später möglicher Weise zu Depression, Autoaggression oder auch – über den Weg der Projektion – zur Feindbildorientierung und zu einer Ideologiebildung. Wenn man sich fragt, warum intelligente Menschen zu Ideologien wie dem Nationalsozialismus neigen, dann findet sich in der Psychoanalyse eine Erklärung neben anderen. Psychoanalytische Deutungen, die auf Theodor W. Adorno und seinem Ansatz vom „autoritäre Charakter“ fußen, sind nach wie vor aktuell, auch wenn sich die Formen von Defiziterfahrung und Gewalterfahrung in der Kindheit geändert haben. Wir werden derzeit mit erschreckenden Berichten über sexuellen Missbrauch und von Gewalt an Kindern und Jugendlichen konfrontiert. „Eine giftige, stinkende Wolke entlädt sich“, hat Bischof Stefan Ackermann aus Trier dazu gesagt. Der kriminelle pädophile Missbrauch durch Priester, Lehrer und Erzieher macht sprachlos. Mit dem Aufruf, sich zu solchen Missbrauchserfahrungen zu melden, wurden unerwartet auch andere Gewalterfahrungen aus kirchlichen Einrichtungen gemeldet – mit am stärksten war dies beim Kloster Ettal der Fall. Diese Gewalttaten muss man sicher von Pädophilie klar trennen, aber es handelt sich bei sexuellem Missbrauch und bei Schlägen um Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen, und dieses Thema der Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen ist ein Zentralthema der Jugendsozialarbeit, das ich hier nicht umgehen kann. Die Talsohle der Auseinandersetzung mit diesen schlimmen Erfahrungen ist wahrscheinlich noch gar nicht durchschritten. Wir müssen gerade auch in der Kirche Orte schaffen, wo eigene Leiderfahrungen ausgedrückt werden können und wo die Vergangenheit aufgearbeitet wird, das gilt auch für die 4 Jugendsozialarbeit: In der Geschichte der erzieherischen Arbeit - auch der Kirche - z. B. in den „Heimen für Schwererziehbare“ wird das sehr deutlich. Da wurden Jugendliche in Heimen mit folgenden Attributen belegt: „triebhaft, debil, grenzdebil, kriminelle Veranlagung, verwahrlost, körperlich und sittlich verkommen, moralisch haltlos, schwachsinnig, zur Erziehung unfähig“ (Prodosh Aich u. a. 1973, 7f) und wir müssen uns ernsthaft mit den gewalttätigen Umgangsformen auseinandersetzen, die damals im Umgang mit den so bezeichneten Jugendlichen „normal“, schrecklich normal waren. Allein das Ausgrenzen von Jugendlichen als „abweichend“, „unbrauchbar“, „untüchtig“ verletzt die Seele von Kindern und Jugendlichen. Es ist sehr wichtig, den Blick in die Vergangenheit zu lenken und das Schlimme, das in der Kirche, in Schulen und auch in Jugendeinrichtungen passiert ist, zu benennen und aufzuarbeiten. Wir müssen gleichzeitig aber auch den Blick auf die Gegenwart richten und heutige, zum Teil andere Formen von Gewalt und sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erkennen und ächten. Das Entsetzen über Stockschläge und Ohrfeigen ist notwendig, und wir dürfen gleichzeitig die Gewalt, der Kinder und Jugendliche heute ausgesetzt werden, nicht ausblenden. Es sind heute nicht mehr die Lehrer, die Kinder schlagen, es sind oft Gleichaltrige oder etwas Ältere, die Kinder drangsalieren, auf dem Schulhof erpressen, die die Fahrt in den Schulbussen zur Qual werden lassen. Und dieses Gewaltpotenzial, das sich heute in Kindern schon zeigt, die andere drangsalieren, kommt nicht aus heiterem Himmel: Es ist das Alleingelassensein, es sind die unverarbeiteten Konflikte und Stress- und Trennungssituationen in den Familien, es ist das unbeaufsichtigte Schauen von Gewaltvideos, überhaupt der Fernseher und die Spielkonsole im Schlafzimmer der Kinder, was zu diesem Gewaltpotenzial beiträgt. Wir wissen es und schauen doch oft hilflos zu. Wir empören uns – zu Recht – über schlagende Lehrer und Priester. Wir müssen auch aufschreien, wenn wir allein gelassene Kinder angesichts oft überforderter Eltern vor Gewalt verherrlichenden Medien sitzen sehen. Es müsste einmal untersucht werden, wie sich die Kommunikation zwischen Eltern und ihren Kindern durch die neuen Medien im Kinderzimmer verändert hat. Statt der Gute-Nacht-Geschichten haben Fernsehen und DVD die Einschlaffunktion übernommen. Kinder und auch Jugendliche brauchen aber gerade an diesen Schnittstellen zwischen Wachsein und Einschlafen beschützende Rituale, die Ängste abwehren und nicht noch schüren. Schulen, Kirchengemeinden und Moscheen müssten sich sehr deutlich gegen Fernseher und Spielkonsolen in Kinderzimmern aussprechen und die unbeaufsichtigte Nutzung der neuen Medien durch Kinder und Jugendliche mit ihren Folgen für die Entwicklung thematisieren. 5 Eine besondere Bedeutung bekommt heute die Medienerziehung. Die neuen Medien beinhalten große Chancen für eine nahezu grenzenlose, weltweite, globale Kommunikation, aber sie bergen eben auch für Kinder und Jugendliche besondere Gefahren. Was Kinder und Jugendliche in gewalthaltigen Computerspielen und Videos kennen lernen, setzen sie dann um, wenn dem keine anderen humanen erzieherischen Impulse in Familie und peer group entgegengesetzt werden: Der Pfarrer Bernd Siggelkow erlebt in seiner Einrichtung der Arche Kinder, die nicht mehr Verstecken, sonder Gruppensex spielen: Acht kleine Jungs warfen sich nacheinander auf ein Mädchen. Heute sind es zunehmend Jugendliche selbst, die Gewalt und auch sexualisierte Gewalt gegen Gleichaltrige oder Jüngere ausüben. Die Zahl sexueller Nötigung und Vergewaltigung bei Jugendlichen steigt, so der Kriminologe Christian Pfeiffer. Pornografie im Internet kann für Jugendliche zu einer Droge werden. Kinder, die solche Filme sehen, können die Sex-Bilder oft gar nicht einordnen, werden dadurch aber tief verwirrt. Jugendliche zerren ein 12jähriges Mädchen in eine Schultoilette, fotografieren die Schülerin mit heruntergelassenen Hosen und versenden die Bilder über Handy. In Diskotheken wird auf Après Ski-Parties mit viel Alkoholkonsum der zum Mister Après Ski mit 200 Euro Preisgeld gekürt, der sich beim Striptease am weitesten vorwagt. Auch wenn diese Erfahrungen nicht verallgemeinert werden dürfen, gehören sie in diese jetzt geführte Diskussion mit hinein. In den Familien mit Zuwanderungsgeschichte, insbesondere bei türkischstämmigen Familien, stellt sich die Situation des Umgangs mit Sexualität anders dar. Hier geht es öfters um die Frage, ob bei Jugendlichen, insbesondere bei den Mädchen, die ganz persönlichen Gefühle, das erste Verliebt sein, respektiert wird, ob sie ihre Gefühle ausdrücken dürfen, ob ihre private Intimsphäre geschützt bleibt, oder ob alles tabuisiert, verboten wird, was zur Folge hat, dass sie dann entweder sich anpassen, ihre Gefühle verleugnen oder aber mühsam sich heimlich Wege suchen, das Verbotene zu leben. Bei männlichen Jugendlichen türkischer Herkunft gab es und gibt es in bestimmten Kreisen, ohne dass es darüber erhärtete Zahlen gäbe, wie verbreitet das ist, die Tradition, dass ältere Cousins oder Onkel die Sechzehn-, Achtzehnjährigen in Bordelle mitnehmen, damit sie dort in die Sexualität eingeführt werden. Ein türkischstämmiger Mann berichtete mir einmal, in welche psychische Not ihn das als Junge gebracht hat und wie er sich mit einem Sprung aus dem Fenster des Bordells aus dieser Situation gebracht hat. Man muss sich auch fragen, welches Bild von Frauen sich bei Jugendlichen entwickelt, die auf diese Weise in die Sexualität eingeführt werden sollen. Die Beschneidung von Jungen ist ein weiteres, oft noch tabuisiertes Thema: Geschieht diese Beschneidung ohne oder mit Betäubung, in welchem 6 Alter wird sie vorgenommen? „Die Jungen sind nach der Beschneidung oft anders, still, verschlossen; die Spontaneität ist verloren“, wurde mir berichtet. Diese Aussage ist eine Einzelaussage und ich muss betonen, dass ich nicht weiß, wie weit sie verallgemeinerungsfähig ist. Es fehlen noch Forschungen zu diesem Thema. •Versagenserfahrungen in der Sekundärsozialisation (Die „Sie-Stimmen“ in Schule und Ausbildung) Anerkennung und Selbstwertgefühl sind die Basis für Integration. Wenn Schule und der fehlende Ausbildungsplatz das Gefühl vermitteln, ich tauge nicht, ich bin überflüssig, dann kann Identitätsbildung nicht gelingen. Pater Klaus Mertes, der Leiter des Canisiuskollegs in Berlin, der den Skandal um Kindesmissbrauch in die öffentliche Diskussion gebracht hat, hat es so formuliert: Der Missbrauch eines Kindes beginnt da, wo ihm kein Respekt entgegen gebracht wird, wo ihm vorgeschrieben wird, was es zu tun und zu lassen hat. Wenn die Schule als Erziehungssystem, zu sehr auf Selektion und Leistungsbelohnung ausgerichtet ist, steht sie in der Gefahr, Kinder respektlos zu behandeln: Wie reagiert die Seele eines zehnjährigen Kindes, wenn es voller Zuversicht nach der Grundschule in eine weiterführende Schule gewechselt ist, sich auf die neuen Mitschüler und Lehrer freut und wenn es dann bei der ersten Klassenarbeit kommentarlos eine „fünf“ im Heft findet. So etwas ist üblich, aber respektlos und es kann genauso oder schlimmer noch wirken als eine Ohrfeige oder ein Schlag mit dem Stock. Hier wird nicht infrage gestellt, dass es sehr gute und empathische Lehrerinnen und Lehrer gibt, aber die Struktur der Schule hat nach wie vor Elemente, die eine Respektlosigkeit gegenüber Kindern beinhalten und viele Lehrer leiden darunter. Warum wird nicht grundsätzlich festgelegt, Kindern nach Klassenarbeiten eine Rückmeldung derart zu geben: Das und das kannst Du schon gut, hier fehlt es noch; das hast Du noch nicht verstanden, da musst Du kräftig üben. Wir wissen heute sehr gut, dass psychische Gewalterfahrung in der Schule Narben in der Seele hinterlässt. •Erfahrung der Ablehnung und Ausgrenzung in der Gesellschaft (Diskriminierung, Gefühl des Überflüssigseins) Jugendliche erfahren Diskriminierung als Hauptschüler oder Schüler von Förderschulen, aufgrund von Behinderung und auf der Basis von der Erfahrung, dass sie nicht die notwendigen Kompetenzen mitbringen, die der Arbeitsmarkt fordert. Jugendliche mit 7 Migrationshintergrund werden darüber hinaus aufgrund fehlender Sprachkenntnisse, wegen ihres „anderen“ Aussehens, ihrer Kultur- oder Religionszugehörigkeit diskriminiert. Ausgrenzung erleben Kinder und Jugendliche, die in Armut leben, und das ist in Deutschland jedes sechste Kind, das in einem Haushalt mit einem Einkommen lebt, das weniger als 60% des Durchschnittseinkommens vergleichbarer Haushalte in Deutschland hat. Wie gehen Jugendliche mit diesen Erfahrungen von Ausgegrenztsein und Diskriminierung um? Melanie Groß beschreibt, wie HipHop-Gruppen in Berlin sich den Namen geben „Wir sind die Unterschicht“ oder politische Aktivistinnen und Aktivisten sich „Die Überflüssigen“ nennen. Sie erinnern an das „black movement“ oder auch an die „Schwulen- und Lesbenbewegung“, die sich Schimpfwörter zueigen machten, sich mit ihnen identifizierten und sich damit die Würde gaben, die ihnen genommen wurde. Das von der Gesellschaft zugewiesene Profil der Jugendsozialarbeit Die derzeitige Diskussion um Gewalt und Missbrauch bleibt letztlich unvollkommen, wenn die strukturellen Bedingungen, die zu dieser Gewalt beigetragen haben, nicht thematisiert werden. Ich möchte zu dieser Frage eine grundsätzliche Überlegung beisteuern. Was Jugendliche in ihrer Entwicklung zentral schadet und sie beeinträchtigt, ist der fehlende Respekt, die Missachtung durch die anderen. Jugendsozialarbeit kümmert sich laut SGB VIII, Absatz 1 um die Jugendlichen, „die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“. Mit dieser Kennzeichnung werden Jugendliche abgegrenzt von den anderen „normalen“ Jugendlichen. Jugendsozialarbeit hat es mit ausgegrenzten Jugendlichen zu tun, und Jugendsozialarbeit muss aufpassen, dass sie in ihren Organisationsformen diese Ausgrenzung nicht noch einmal verdoppelt. Wir müssen also sehr sensibel reflektieren, inwieweit die Maßnahmen der Jugendsozialarbeit selbst – vielleicht in guter Absicht ausgrenzende Wirkung haben, In der Schulpolitik wird gefordert, ausgrenzende Strukturen – wie die Hauptschule – abzuschaffen. Auch die Aktivitäten der Jugendsozialarbeit sind daraufhin auf den Prüfstand zu stellen. Ich schließe einige kurz gehaltene Thesen zu den Herausforderungen der Jugendsozialarbeit an. 8 Jugendsozialarbeit muss von der Problemorientierung hin zur Ressourcenorientierung und Bewältigungsorientierung wechseln. Wir haben davon auszugehen, dass im Rahmen der Globalisierung unserer Lebensverhältnisse die Normalbiografie mit problemlosen Übergängen von Schule zu Ausbildung / Studium, Beruf bis zur Verrentung / Pensionierung in Zukunft den Ausnahmefall darstellt. Jugendliche sind darauf vorzubereiten, dass Phasen von Arbeitslosigkeit immer häufiger vorkommen. Auch wenn Soziale Arbeit einen Schwerpunkt darauf legen muss, Diskriminierung im Keim zu ersticken und ganz zu beseitigen, müssen Jugendliche doch darauf vorbereitet sein, dass sie einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der nationalen, kulturellen oder religiösen Herkunft oder aufgrund von Behinderung ausgesetzt sein können. Zentral für die Jugendsozialarbeit sind die Förderung von Resilienz, d.h. von Widerstandskraft und die Mobilisierung von Ressourcen zur Bewältigung von Krisen. Jugendsozialarbeit muss systemisch arbeiten und z. B. die Eltern einbeziehen. Neben Schule und Arbeitswelt müssen auch die Eltern einbezogen werden, insbesondere bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Der Kölner Sozialpädagoge Mustafa Bayram von der Beratungs- und Bildungseinrichtung coach e.V. sagt: „Ohne die Eltern geht gar nichts. Bei den türkischstämmigen Familien ist der Zusammenhalt noch stärker, obwohl die Probleme in der Familie gravierender sind. Untersuchungen zeigen das: 84 Prozent der türkischen Jugendlichen treffen die Entscheidungen zusammen mit ihren Eltern, sei es bei Fragen der Ausbildung, Berufswahl, Heirat, Militärdienst oder Einbürgerung. Die sind noch sehr stark verbunden. Wenn wir also bei den Jugendlichen etwas verändern wollen, Kompetenzen fördern, müssen wir auch mit den Eltern arbeiten. Wenn wir Verhärtungen aufbrechen sollen, Frust abbauen, dann müssen uns die Eltern unterstützen. Dafür aber müssen sie gewonnen und sensibilisiert werden.“ Einzelne Initiativen der interkulturellen Sozialen Arbeit führen ergänzend zur Arbeit mit den Jugendlichen meist türkischer Herkunft Elternabende in deutscher und zum Teil in türkischer Sprache zu folgenden Themen durch, die von den Eltern gewählt wurden: Schule in Zeiten der Pubertät – Erziehung und Gewalt – Drogen – Der Umgang mit Medien – Depressive allein erziehende Mütter. Traditionelle deutsche Jugendsozialarbeit geht von dem Paradigma aus, dass in der Pubertät die Ablösung vom Elternhaus beginnt und dass man Jugendliche am besten erreicht, wenn 9 man sich weit weg vom Elternhaus positioniert. Dieses Paradigma muss kritisch hinterfragt und revidiert werden. Es ging von Elternhäusern aus, die ihre Erziehungsaufgabe wahrnahmen, möglicher Weise zu streng und rigide, und dass man Ergänzungen dazu schaffen sollte. Heute brauchen Eltern die Unterstützung auch der Jugendsozialarbeit. Die interkulturelle und interreligiöse Öffnung der Jugendsozialarbeit schafft die Voraussetzung dafür, dass Jugendliche Vorbilder durch Menschen ihrer Sprache, Kultur und Religion erleben. Jugendliche benötigen Ansprechpartner, die ihren eigenen kulturellen und religiösen Kontext kennen und teilen. In der katholischen Jugendsozialarbeit ist deshalb zu klären, inwieweit in bestimmten Handlungsfeldern auch hauptamtliche muslimische Mitarbeiter/innen eingestellt werden sollten, die natürlich in ihrer Haltung und in ihrer praktischen Arbeit loyal zum Träger sein müssen. Die Erziehung und Begleitung Jugendlicher muss von Wertschätzung geprägt sein. Autoritäre Erziehung ist nicht wertschätzend und permissive Erziehung ist es auch nicht. Die Wertschätzung eines jeden Jugendlichen begründet sich christlich aus der Wahrnehmung jedes Menschen als Ebenbild Gottes. Jugendsozialarbeit in katholischer Trägerschaft sollte sich verstärkt auch auf die jungen Menschen konzentrieren, die in den Endstationen der Jugendhilfe angekommen und kriminell geworden sind. Christliche Jugendsozialarbeit müsste einen Schwerpunkt auf die Jugendgerichtshilfe legen. Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Großteil der inhaftierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Zuwanderungshintergrund hat: Diese Jugendlichen sind nicht krimineller als andere, aber sie gehören zu Schichten und Gruppen, die stärker in der Gefahr stehen, mit der Polizei in Kontakt zu geraten, und sie werden häufiger kontrolliert und angezeigt. Christliche Überzeugung ist es, niemanden fallen zu lassen, und gerade bei einem jungen Menschen kommt es darauf an, den guten Kern aufzuspüren und die positiven Kräfte zu mobilisieren gegen alles, was bisher schief gelaufen ist. 10 Jugendsozialarbeit ist und bleibt in erster Linie Beziehungsarbeit. Jugendliche brauchen Vorbilder, die Halt geben und Grenzen setzen. Es wird heute in der Jugendsozialarbeit zu viel organisiert und gemanagt und es werden zu wenig kontinuierlich Beziehungen zu den Jugendlichen selbst gepflegt. Das hat mit den instabilen Rahmenbedingungen der Jugendsozialarbeit zu tun. Wenn sich Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen selber um die Finanzierung der eigenen Jobs kümmern müssen, dann bleibt wenig Zeit für die Beziehungspflege. Es braucht eine ausgewogenes Angebot kontinuierlicher Maßnahmen, um Beziehungsarbeit zu ermöglichen und um Jugendliche mit Event-Veranstaltungen zeitgemäß anzusprechen. Wo Hauptamtliche notgedrungen mit Organisation und Management beschäftigt sind, ist der Einsatz von Ehrenamtlichen und von Honorarkräften unerlässlich, die dann für den Beziehungsaufbau zur Verfügung stehen sollen. Was wir heute auch brauchen, sind charismatische Personen, die wie seiner Zeit Don Bosco und Adolph Kolping mit kreativen Ideen neue Wege gehen. Aber solche Personen und Initiativen kann man nicht „machen“; wir können die Augen offen halten und Personen und Initiativen, die in eine solche Richtung gehen, verstärken und fördern. „Normale“ professionell betriebene Jugendsozialarbeit kommt an ihre Grenzen, wo für Jugendliche nicht nur Familien ergänzende, sondern auch Familien ersetzende Hilfen benötigt werden. Hier sind Ansprechpartner und Vorbilder gefragt, die über das Maß guter professioneller Arbeit hinaus aus einer Berufung heraus ihr Engagement verstehen und leben. Hoffnung machen hier Initiativen wie die christliche Lebensgemeinschaft Fazenda Gut Neuhof in Brandenburg. Dort leben suchtabhängige und häufig gewaltbereite Jugendliche nach ihrem Entzug ein Jahr lang drogenfrei zusammen. Sie üben neue Verlässlichkeit und Vertrautheit im Rahmen einer „christlichen Großfamilie“ ein. Sie haben sich von den negativen Peer-Groups gelöst und bauen eine neue Bezugswelt für sich auf. Wenn wir von Jugendsozialarbeit als Beziehungsarbeit sprechen, heißt das, dass zwischen den Sozialpädagoginnen und Sozialarbeitern auf der einen und den Jugendlichen auf der anderen Seite auch Nähe erforderlich ist, eine Zuwendung, bei der es gut sein kann, dass man mal jemanden in den Arm nimmt. Und da brauchen wir, wenn wir noch einmal die derzeitige Missbrauchdebatte aufgreifen, eine ganz hohe Sensibilität. Sozialpädagogen sollen und dürfen dann Jugendliche in den Arm nehmen, wenn sie spüren: Das tut dem Jugendlichen jetzt gut, und es geht jetzt nicht darum, dass es mir gut tut. Wenn es um mich geht, dann soll ich mich von meiner Freundin oder meinem Partner in den Arm nehmen lassen, aber dann bleibe ich bei den Jugendlichen auf Distanz. Diese Unterscheidung ist wichtig. Es wäre allerdings fatal, 11 wenn die derzeitige Diskussion über Missbrauch dazu führen würde, dass Nähe ganz ausgeblendet wird. Jugendliche brauchen geistige Orientierung, die ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt. „Politische Alphabetisierung“ eröffnet den Horizont für konkrete Demokratieerfahrung. Integration in die Gesellschaft braucht die Erfahrung von Zugehörigkeit. Diese kann in Projekten der erfahrungsbezogenen politischen Bildung vermittelt werden. Dumpfe rechtsextreme Ideologie findet bei denen am schnellsten Anklang, die selber entwurzelt sind. Gegen die Entwurzelung helfen gelebte Nächstenliebe von religiösen Vorbildern wie auch gelebte Solidarität von Humanisten. „Die Entwurzelung ist bei Weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft. Wer entwurzelt ist, entwurzelt. Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht. Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele“ (Simone Weil). Jugendsozialarbeit braucht eine starke Lobby. Jugendsozialarbeit muss strukturelle Veränderungsarbeit leisten und sich für die Verbesserung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen engagieren, um Diskriminierung zu beseitigen. Gleichzeitig muss sie viel besser finanziert und als Regelarbeit mit Präventionsmaßnahmen installiert werden. Was die Jugendsozialarbeit an Gewalt- und Krisenprävention leistet, spart die Gesellschaft bares Geld in der Jugendgerichtshilfe und in Maßnahmen für Jugendliche, deren Integration in den Arbeitsmarkt misslingt. Deshalb ist die Arbeit der BAG und der LAG Katholische Jugendsozialarbeit so wichtig, und ich möchte allen Mitarbeitenden der Jugendsozialarbeit, die hier heute anwesend sind, für Ihre wichtige Arbeit danken. Ganz speziell danke ich Frau Dr. Elvira Spötter für ihre engagierte und kompetente Arbeit über die vielen Jahre hinweg. Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. (Literaturhinweise finden sich in verschiedenen Artikeln des Verfassers, auf denen dieser Vortrag aufbaut: siehe www.Josef-Freise.de) 12