Gespräch mit A. Twitchell über Bildbeschreibung

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Gespräch mit A. Twitchell über Bildbeschreibung
gruppe thersites
Bildbeschreibung, Heiner Müller
3., 4. u. 5. Jan. 2014 im Kasko Basel
Alan Twitchell im Gespräch mit Luzius Rohner
A. T.: Was fasziniert dich an Müller?
L. R.: Bei Müller fasziniert mich die kraftvolle und evokative Sprache. Und zudem
sein kunstvoller Humanismus, seine Lust an der Provokation und sein beinah
obsessiver Glaube an die Veränderbarkeit der Welt.
Grundsätzlich ist es mir sympathisch, wenn ein Literat einerseits mit einer extremen
Schärfe über die Abgründe der menschlichen Existenz schreiben kann bzw. sie
unbarmherzig blosslegt oder - wenn man so sagen kann - seziert; - man könnte in
Bezug auf viele Texte von ihm beinahe von einem Obduktionskünstler reden - wenn
er eine Hamletmaschine schreibt oder einen Ödipus adaptiert, kann man leicht den
Eindruck gewinnen, die Figuren würden vor unseren Augen in ihre Bestandteile
zerlegt - als Zuschauer müssten wir uns dann folgerichtig dazu aufgefordert fühlen,
sie wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen - ; gleichzeitig aber steckt hinter
diesem gewissermassen destruktiven Impuls der fühlbare Wunsch, die Empfindung
eines radikalen Humanismus auszulösen.
Vielleicht lässt sich diese Art der Empfindung vergleichen mit jenem Gefühl, das uns
ergreift, wenn wir etwa ein surrealistisches Gemälde von Salvador Dalì betrachten,
zum Beispiel «Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel,
eine Sekunde vor dem Aufwachen», in dem zwei Tiger aus einem Granatapfel bzw.
einem fressbegierigen Fisch emporfliegen und sich auf den liegenden Akt einer Frau
stürzen - dies neben einem Gewehr, das mit aufgespiesstem Bajonett in dieselbe
Richtung «fliegt». Die unmittelbare Gefühlsreaktion ist dabei wohl: So darf es nicht
sein!
Das Thema - eine aggressive, pervertierte Art der Gier - wird hier im eigentlichen
Sinn in seine einzelnen Aspekte zerlegt - der Granatapfel steht für das
Lustempfinden, der fressende Fisch für das Inkorporationsbedürfnis, die Raubtiere
für die Invokation von Macht und Gewalt, das Gewehr für die Zerstörungswut; der
Gesamt-Kontext beschreibt schliesslich, wie ein grundsätzlich natürliches Bedürfnis
in eine falsche Synergie umgesetzt und in der Konsequenz destruktiv wird. Diese Art
einer ikonografischen Dramaturgie scheint mir dem Kernimpuls des Müllerschen
Schaffens eins zu eins vergleichbar.
Das Bild hat Dalì übrigens 1944 gemalt - in dieser Zeit sollte die Lektion gelernt
werden, was Machtfantasien in globaler Dimension für Auswirkungen haben. Müllers
Schaffen ist eindeutig geprägt durch die Eindrücke des Krieges, die er erlebt hatte,
und die Perversion der Diktatur. Wenn wir ihn heute lesen, so wirken seine Texte oft
wie Schlachtgemälde: Das «Medeamaterial» etwa ist der Ausdruck von einer Art
Endkampf der Geschlechter - die Konsequenz dieser negativen Visionen ist
erschütternd. Sie befreien aber auch einen menschlichen Empfindungsreflex: Ich
möchte alles dafür tun, zu vermeiden, dass es so weit kommen kann. Müllers
Schreiben wirkt - oberflächlich betrachtet - vielleicht teilweise sehr schockierend und
brutal, in Wirklichkeit aber bietet es einen radikalen Widerstand gegen die Verletzung
der Moral.
A. T.: Was fasziniert dich an seinem Bildbeschreibungstext?
L. R.: Grundsätzlich handelt es sich bei dem Text vorerst um eine klassische
Beschreibung eines Bildes, die in ein komplexes, surrealistisches Deutungsspiel
überführt wird. Die auf dem Bild dargestellten Protagonisten sind eine Frau, ein Mann
und ein Vogel. Es gibt Anzeichen dafür, dass sie in einem Dreieck der Gewalt stehen
und es wird vom Betrachter des Bildes eine Analyse der Indizien vollzogen, um die
möglichen Hergänge der Vorgeschichte des Bildmoments zu rekonstruieren oder
Spekulationen über das zukünftige Geschehen anzustellen. In Betracht gezogen wird
dabei eine allfällige Wiederholung dieser Vorgänge. Schliesslich identifiziert sich der
Betrachter mit den einzelnen Figuren der Szenerie.
Da der Text der Hand eines Dramatikers entsprungen ist, erwarten wir eine
dramatische bzw. szenische Vorlage. Die Erwartung wird insofern erfüllt, als die
möglichen Interaktionen der Figuren im beschriebenen Bild offensichtlich sehr
dramatisch sein können. In Wirklichkeit aber spielt sich alles nur im Kopf des
Betrachters ab. Das ist grundsätzlich eine sehr besondere Form einer Theatervorlage
und eine besondere Herausforderung für eine szenische Umsetzung ...
Vielleicht aber kennt letztlich jeder selbst eine vergleichbare alltägliche Erfahrung:
Gewisse Bilder können uns sehr stark in ihren Bann nehmen. Es mag dahinter eine
innere, persönliche Verbundenheit mit dem dargestellten Thema stecken. Ein Bild
kann in uns eine ganz besondere individuelle Betroffenheit auslösen und unsere
gewohnte Sicht auf unsere Lebenswirklichkeit erschüttern oder zumindest stark in
Frage stellen.
In unserer Umsetzung der «Bildbeschreibung» ist es tatsächlich so, dass ein
Galeriebesitzer im Zentrum steht, der innerhalb eines Aufbaus einer Ausstellung ein
Bild beschreibt, das einen Bezug zu seinem eigenen Leben offenlegt und seinen
gewohnten Lebensgang tiefgreifend zu irritieren vermag.
A. T.: Was interessiert dich generell an dem Thema der Bildbeschreibung?
L. R.: Ich finde den Vorgang grundsätzlich interessant, etwas Gesehenes
beschrieben zu bekommen - es ist ein Ereignis, das in unserer Zeit eher rar ist, in der
der Austausch von festgehaltenen, in grosser Zahl oberflächlich und flüchtig
aufgenommener Augenblicke zur selbstverständlichen, nicht selten belanglosen
Gewohnheit geworden ist. Eine visuelle Wahrnehmung dezidiert und ausführlich nur
in Worten zu beschreiben stellt mehrheitlich eher eine Ausnahme dar. - Ich hatte
kürzlich ein in diesem Sinn anachronistisches Erlebnis: Ein Bekannter, der den
inflationären Umgang mit dem Heraufladen von JPG-Fotos auf Social Media
Formaten nur vom Hörensagen kennt, erzählte mir seine Ferieneindrücke von einer
Reise im Süden Europas. Es war sehr eindrücklich, für einmal eine ohne durch eine
PowerPoint-Präsentation rhythmisierte Schilderung von Landschaften und
besonderen Orten erhaltene Erinnerung ausschliesslich verbal dargestellt zu
bekommen. Ich genoss es in diesem Fall, mir das Erzählte mit meinem inneren Auge
nachvollvollziehend zu visualisieren und die mündlich berichteten Reiseerlebnisse
auf diese Weise zu teilen.
Diese Art der Mitteilung entspricht der Ekphrasis als Teil der Belletristik und hat ihren
ganz besonderen Reiz als konstitutiver Teil davon.
Als explizite Form der Exphrasis ist mir u.a. ihr sehr gelungener Einbezug im Roman
«Unterwelt»* von de Lillo hängen geblieben, wo die Beschreibung des Gemäldes
«Triumph des Todes» von Bruegel als Untertext einer Art Prolog verwendet wird. In
ihm wird in der Schilderung eines Baseball-Spiels die latent bedrohliche Atmosphäre
der 50-Jahre in den Vereinigten Staaten paraphrasiert. Der Anbruch des
Atombombenzeitalters markiert hier den Beginn eines durchgängig brüchig
gewordenen globalen Sicherheitsgefühls - die Vision des Triumphes eines
Massentodes, symbolisiert durch das beschriebene Bild von Brueghel, das als
Druckmotiv einer zerknüllten Illustrierten auf der Tribüne des Baseball-Stadions
herumgeworfen wird. Es unterspült den spielerischen Charakter des
Sportereignisses: Was Ausdruck eines harmlosen Kräftemessens ist, wird in der neu
ausgerufenen Epoche womöglich unwillkürlich und rasch durch einen globalen
Bedrohungscountown ersetzt werden.
Kollektive Ebenen der Bedrohung durch eine nicht endendwollende Spirale von
Gewalt gegen Schwächere bzw. gegen die Natur finden sich auch in der Vorlage von
Müller.
*Herzlichen Dank übrigens für deinen diesbezüglichen Tipp!