Kopf stehen oder kopfstehen? - Deutsches Seminar

Transcription

Kopf stehen oder kopfstehen? - Deutsches Seminar
Universität Zürich, Deutsches Seminar
Seminar „Graphematik und Orthographie“
Sommersemester 2005
Prof. Dr. Christa Dürscheid
Kopf stehen oder kopfstehen?
Versuch einer grammatischen Sichtung des Grundproblems der Getrenntund Zusammenschreibung im Bereich der Nomen-Verb-Verbindungen
Elke Weinberger
In der Breiti 7
8047 Zürich
044 492 65 33
[email protected]
21. September 2005
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung .................................................................................................................... 1
2. Wortgruppe oder Zusammensetzung? – Das Grundproblem der GZS................ 2
2.1 Wortgruppe und Zusammensetzung....................................................................... 2
2.1.1 Definitionsversuch ........................................................................................... 2
2.1.2 Verschiedene Wortkonzepte, untrennbare und trennbare Zusammensetzungen ........ 3
2.1.3 Verbale Pseudokomposita ............................................................................... 6
2.2 Tendenz zur Univerbierung: Der Grund des Grundproblems ................................ 9
2.2.1 Univerbierung.................................................................................................. 9
2.2.2 Inkorporation und Noun-Stripping................................................................ 10
2.2.3 Grammatikalisierung..................................................................................... 12
3. Kopf stehen oder kopfstehen? – Positionen und ihre grammatische Begründung..... 13
3.1 Position von Peter Gallmann ................................................................................ 14
3.1.1 Phrasenkopf und Kopfadjunkt ....................................................................... 14
3.1.2 Folgerungen für die GZS............................................................................... 15
3.2 Position von Hartmut Günther.............................................................................. 16
3.2.1 Syntaktische Sollbruchstellen ........................................................................ 16
3.2.2 Folgerungen für die GZS............................................................................... 18
3.3 Position von Peter Eisenberg................................................................................ 19
3.3.1 Modell der Bindungsfestigkeit: 5 Stufen........................................................ 19
3.3.2 Folgerungen für die GZS............................................................................... 22
3.4 Diskussion ............................................................................................................ 23
4. Fazit ........................................................................................................................... 26
5. Bibliographie............................................................................................................. 28
6. Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. 29
Kopf stehen oder kopfstehen?
1
1. Einleitung
Kopf stehen oder kopfstehen? In der Diskussion um die Neuregelung der deutschen
Rechtschreibung von 1996 ist der Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung1
besonders umstritten. Bisher kaum geregelt2 und völlig uneinheitlich, sollte er durch die
Reform nach dem Prinzip der systematischen Ausweitung der Getrenntschreibung vereinheitlicht und dadurch leichter handhabbar werden. Die Reformgegner erheben gegen
die Neuregelung jedoch den Vorwurf, man greife massiv in die Sprache ein: Mit der
vermehrten Getrenntschreibung würden ganze Wörter – mit der falschen Annahme, es
seien Wortgruppen – zersplittet und somit vernichtet (vgl. Nerius 2000:169–172). Während bei den Reformern und Reformgegnern darüber, dass die Bestandteile von Wörtern
zusammen, einzelne Wörter aber voneinander getrennt geschrieben werden, Einigkeit
herrscht, wird die problematische Frage diskutiert, was denn eigentlich genau ein Wort
ist – ergo, was zusammengeschrieben werden muss.
Ein Ziel dieser Arbeit ist, genauer und eingehender auf ebendieses Grundproblem der
GZS einzugehen: Was ist ein Wort, bzw. eine Zusammensetzung, was eine Wortgruppe? Wo liegt die Problematik bei der Abgrenzung von Zusammensetzung und Wortgruppe? Weiter soll aufgezeigt werden, welche Lösungsansätze für dieses Problem, d.h.
welche Wortbegriffe in der Diskussion um die Regelung der GZS gegeneinander stehen
und wie sie grammatisch begründet werden: Welche unterschiedlichen Wortkonzepte
gibt es?3 Wie wird argumentiert? Sind die Argumentationen nachvollziehbar und plausibel? Welche Konsequenzen ziehen diese Wortmodelle für die GZS nach sich?
Damit diese Arbeit nicht zu umfangreich wird, soll sich die Diskussion auf den Bereich
der Nomen-Verb-Verbindungen4 (wie z.B. Kopf stehen) beschränken, da diese Gruppe
zu den meistdiskutierten und meiner Meinung nach gerade deshalb zu den spannendsten
Fällen gehört. Nach den neusten Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung
1
‚Getrennt- und Zusammenschreibung’ wird im Folgenden durch ‚GZS’ abgekürzt.
1880 vermied Duden manche Schreibvarianten der GZS in seinem ‚Vollständigen Orthographischen
Wörterbuch der deutschen Sprache’ zu Gunsten der Zusammenschreibung. Diese von ihm festgesetzte
Schreibung wurde durch die II. Orthographische Konferenz von 1901 nicht verändert und erfuhr bis zur
Neuregelung von 1996 kaum Modifikationen (vgl. Nerius 2000:165–166).
3
Es soll hauptsächlich auf die Arbeiten von Gallmann (1999), Günther (1997) und Eisenberg
(1981:80−84/1998:322−326) eingegangen werden.
4
‚Nomen-Verb-Verbindungen’ werden im Folgenden mit ‚NVV’ abgekürzt. NVV ist ein Überbegriff für
Zusammensetzungen und Wortgruppen (vgl. Gallmann 1999:281). Zu den Begriffen ‚Zusammensetzung’
und ‚Wortgruppe’ vgl. Kapitel 2.1.1.
2
Kopf stehen oder kopfstehen?
2
sollen Verbindungen wie kopfstehen und eislaufen5, „bei denen die ersten Bestandteile
die Eigenschaften selbständiger Substantive weitgehend verloren haben“ (Die Empfehlung des Rats 2005:3), nun wieder – entgegen der Regelung von 1996, wo es Kopf stehen und Eis laufen heisst – zusammengeschrieben werden (vgl. Die Empfehlung des
Rats 2005:3).6
Der Aufbau der Arbeit leitet sich aus der oben dargelegten Fragestellung ab: Im 2. Kapitel folgt eine theoretische Einführung in das Grundproblem der GZS. Es ist zudem
unumgänglich, ein Inventar von Begriffen um das Thema Wort und Wortbildung einzuführen, um dieses Grundproblem und die verschiedenen linguistischen Positionen und
grammatischen Argumentationen, die im Kapitel 3 referiert und miteinander verglichen
werden, verstehen zu können. Am Schluss der Arbeit werden in einem Fazit die wichtigsten der gewonnenen Erkenntnisse vor dem Hintergrund der genannten Aufgabenstellung zusammengefasst.
2. Wortgruppe oder Zusammensetzung? – Das Grundproblem
der GZS
2.1 Wortgruppe und Zusammensetzung
2.1.1 Definitionsversuch
Nach traditioneller Auffassung ist die Funktion der Schreibung die genaue Wiedergabe
der Lautung. Diese ‚Aufzeichnungsfunktion’ dominierte ursprünglich tatsächlich. Die
Funktion der Schrift hat sich aber mit der Entwicklung der geschriebenen Sprache, v.a.
mit dem Übergang der ‚scriptio continua’ zur Schreibung mit Leerstellen (Spatien) zwischen den Wörtern, gewandelt. Diese und andere Veränderungen (z.B. Interpunktion
oder Absatzbildung) drücken die grammatische Strukturierung des Textes (z.B. bestimmte semantische und syntaktische Beziehungen) aus (vgl. Günther 1997:3/ Herberg
1997:366). Die getreue Abbildung der gesprochenen Sprache wurde im Laufe der histo5
In dieser Arbeit werden die NVV stets so geschrieben, wie es das Wortkonzept, über das gerade gesprochen wird, verlangt. In der Rechtschreibdiskussion umstrittene Verbindungen wie Kopf stehen und Eis
laufen werden also einmal getrennt, dann wieder zusammengeschrieben. Ist von keinem bestimmten
Wortmodell die Rede, wird nach der amtlichen Regelung 2005 (Deutsche Rechtschreibung 2005:33−37)
getrennt geschrieben.
6
Zur ‚konkreten’ Kritik an der Neuregelung dieses Bereiches, an dem § 34(3) und § 34 E3(5), vgl. Ickler
(1997:267–268/1999:67−68,74−75). Zur Reaktion auf die Kritik vgl. Vierter Bericht (21–22). Auf die
‚allgemeine’ (nicht konkret auf die Paragraphen bezogene) Kritik an der vermehrten Getrenntschreibung
der NVV seit der Neuregelung wird in dieser Arbeit in Kapitel 3.2 näher eingegangen.
Kopf stehen oder kopfstehen?
3
rischen Entwicklung allmählich von dieser Funktion der Schrift zurückgedrängt, „weil
sich die graphische Markierung von semantischen Einheiten für den Lesenden im Interesse der besseren und schnelleren Sinnerfassung als wesentlicher erwies“ (Herberg
1997:366−367). Wörter stehen demnach in nahem Zusammenhang mit Spatien, von
denen auch unsere Vorstellung vom Wort geprägt ist: Wörter werden durch Leerräume
voneinander getrennt (vgl. Ágel/ Kehrein 2002:4−6).
In der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung von 2005 wird auf diesen
Zusammenhang Bezug genommen. In den Vorbemerkungen heisst es:
„Die Getrennt- und Zusammenschreibung betrifft die Schreibung von Elementen, die im Text unmittelbar benachbart und aufeinander bezogen sind. Handelt es sich um die Bestandteile von Wortgruppen, so schreibt man sie voneinander getrennt. Handelt es sich um die Bestandteile von Zusammensetzungen, so schreibt man sie zusammen“ (Deutsche Rechtschreibung 2005:33).
Was ist eine Wortgruppe? Was eine Zusammensetzung? Gallmann und Sitta (1996:109)
definieren die Begriffe folgendermassen: „Eine Wortgruppe besteht aus mehreren
grammatisch selbständigen Wortformen. Eine Zusammensetzung bildet als Ganzes
eine einzige Wortform. Sie besteht aus zwei oder mehr Wortteilen“. Das Problem dieser
Definition liegt darin, dass die Unklarheit der Begriffe auf andere unklare Termini abgeschoben wird: Was ist eine selbständige Wortform? Was ist ein Wortteil?
2.1.2 Verschiedene Wortkonzepte, untrennbare und trennbare Zusammensetzungen
Es gibt viele verschiedene Definitionen des Begriffs ‚Wort’, da zu seiner Bestimmung
unterschiedliche Kriterien herangezogen werden können: graphematische, syntaktische,
semantische oder phonologische. In diesem Kapitel soll auf einige Wortkonzepte, d.h.
auf Wortdefinitionen nach verschiedenen Kriterien, näher eingegangen werden.
Die Versuchung, den Wortbegriff von der GZS, also von einem graphematischen Kriterium, abhängig zu machen, ist gross, da das Wortverständnis, wie in Kapitel 2.1.1
erwähnt, „zumindest zum Teil auf den spatia“ (Ágel/ Kehrein 2002:6) basiert. Wird bei
der GZS vom Konzept des graphematischen Wortes ausgegangen, sieht man sich jedoch schnell einer zirkulären Argumentation ausgesetzt: ‚Wörter werden zusammengeschrieben’ und ‚Wörter erkennt man daran, dass zusammengeschrieben wird’ (vgl. Dürscheid 2002:163−164). Schaeder (1997:162) konstatiert dazu: „Es lässt sich nur als Dilemma verstehen, einerseits die Schreibung durch die Art der Wortbildung und andererseits die Wortbildung durch die Art der Schreibung begründen zu wollen“.
Kopf stehen oder kopfstehen?
4
Das syntaktische Wort wird durch syntaktische Kriterien bestimmt, z.B. durch die
Ununterbrechbarkeit und Nicht-Verschiebbarkeit seiner Bestandteile im Satz. Diese
Eigenschaften können z.B. mit Hilfe der Verschiebe- oder Flexionsprobe getestet werden:
(1) Sie will Äpfel waschen
→ Verschiebeprobe: Äpfel will sie waschen
→ Flexionsprobe:
Ich wasche Äpfel
(2) Sie will schlussfolgern
→ Verschiebeprobe: *Schluss will sie folgern
→ Flexionsprobe:
Ich schlussfolgere
(3) Sie will Eis laufen
→ Verschiebeprobe: *Eis will sie laufen
→ Flexionsprobe:
Ich laufe Eis
(4) Sie will preisgeben
→ Verschiebeprobe: ?Preis will sie geben
→ Flexionsprobe:
Ich gebe preis
In (1) lassen sich bei der Verschiebeprobe die Elemente will und sie zwischen Äpfel und
waschen schieben und bei der Flexionsprobe verändert sich die Reihenfolge der Bestandteile des Ausgangssatzes. Auf Grund dieser syntaktischen Proben ist Äpfel waschen eine Wortgruppe (Äpfel als Akkusativobjekt von waschen) und folglich getrennt
zu schreiben. Diese NVV stellen in der GZS wegen den eindeutigen Proben kein Problem dar und werden in der neuen sowie in der alten Rechtschreibung getrennt geschrieben.
In (2) ist keine Verschiebbarkeit der Elemente von schlussfolgern und keine Unterbrechbarkeit der Gesamtkonstruktion feststellbar. Es handelt sich demnach um ein
Wort. Verben solcher Art werden untrennbare Zusammensetzungen genannt. In der
amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung heisst es: „Untrennbare Zusammensetzungen erkennt man daran, dass die Reihenfolge der Bestandteile stets unverändert bleibt“ (Deutsche Rechtschreibung 2005:33/ Duden 1996:873): massregeln → er
massregelt. Da auch die untrennbaren Zusammensetzungen eindeutig durch grammatische Proben identifiziert werden können, rufen sie in der GZS keine Probleme hervor:
Sie werden in der neuen und alten Rechtschreibung zusammengeschrieben.
In (3) ist Eis laufen analog zu schlussfolgern in (2) nicht unterbrechbar, was darauf hindeutet, dass es sich bei Eis laufen um ein Wort handelt. Bei der Flexionsprobe hingegen
ist eine Umstellung der Bestandteile unumgänglich, um einen grammatischen Satz zu
erhalten (*ich eislaufe). Handelt es sich nun gemäss der Verschiebeprobe um ein Wort
oder gemäss der Flexionsprobe um eine Wortgruppe? Es wird deutlich, dass Tests nicht
immer eindeutige Ergebnisse liefern, da sie sich gegenseitig widersprechen können. Um
Kopf stehen oder kopfstehen?
5
dann zu einem Ergebnis zu kommen, muss ein Kriterium stärker gewichtet und/oder es
müssen weitere Kriterien herangezogen werden. Gallmann (1999:271−279,282/ vgl.
Kapitel 3.1.1) z.B. legt das Gewicht bei der Begründung der Getrenntschreibung der
NVV wie Eis laufen in der neuen Rechtschreibung v.a. auf die Verschiebbarkeit
(Trennbarkeit) der Bestandteile bei flektierter Verbform. Die amtliche Regelung (Deutsche Rechtschreibung 2005:35–37/ Duden 1996:874) besagt zudem, dass NVV, bei denen der substantivische Teil nicht ‚verblasst’ ist, getrennt zu schreiben sind.7 Mit dem
Begriff ‚verblasst’ ist gemeint, dass sich die Ursprungsbedeutung des Substantivs, aus
dem das als substantivischer Teil angesehene Element8 entstanden ist, verändert hat
(vgl. Gallmann 1999:300). Entscheidend ist neben dem syntaktischen also ein semantisches Kriterium.
Die Grammatikalität des Resultats der Verschiebeprobe in (4) ist schwer zu beurteilen:
Ist preis will sie geben eine grammatisch richtige Konstruktion? Ist es möglich, zu sagen: Preis gibt sie alles? Dieses Beispiel zeigt, dass Proben nicht immer eindeutige Urteile zulassen, weil gewisse Konstruktionen je nach Sprachgefühl als grammatisch richtig angesehen werden oder nicht. Obwohl die Trennung der Bestandteile in der Flexionsprobe auf eine Wortgruppe hindeutet, wird preisgeben in der neuen sowie in der
alten Rechtschreibung zusammengeschrieben, da preis als ein ‚verblasstes Substantiv’9
angesehen wird (vgl. Deutsche Rechtschreibung 2005:35–36/ Duden 1996:874/ Duden
1980:62−63).
Die Schwierigkeit des ‚Worturteils’ in (3) und (4) und die Unsicherheit des Grammatikalitätsurteils in (4) deuten darauf hin, dass sich diese Gruppen von NVV in einem
Grenzbereich zwischen Wortgruppe und Zusammensetzung befinden. Das Grundproblem der GZS liegt darin, so genannte trennbare Zusammensetzungen (preisgeben)
von Wortgruppen (Eis laufen) zu unterscheiden. „Trennbare Zusammensetzungen erkennt man daran, dass die Reihenfolge der Bestandteile in Abhängigkeit von ihrer Stellung im Satz wechselt. […] Man schreibt sie nur im Infinitiv, im Partizip I und im Parti7
Diese implizite Regel folgt aus dem § 34(3), in dem die Zusammenschreibung von gewissen NVV mit
‚verblasstem’ Substantiv vorgeschrieben wird (vgl. Deutsche Rechtschreibung 2005:35–36/ Duden
1996:874).
8
Ickler (1997:267/1999:67) bemerkt zu § 34(3), dass es nicht nötig sei, „durch Erwähnung der Wortart
des ersten Bestandteils eine intensionale Definition zu versuchen, zumal der Begriff der ‚Verblasstheit’
ohnehin fragwürdig ist“. Diachron betrachtet sind diese ,nominalen Bestandteile’ tatsächlich nicht immer
durch Substantive motiviert (vgl. Ickler 1997:267/1999:67/ Anmerkung 9).
9
Gallmann (1999:300, Anmerkung 14) bemerkt, dass das „Element preis- in preisgeben […] diachron
gesehen überhaupt nicht zum nominalen Lexem Preis“ gehört.
Kopf stehen oder kopfstehen?
6
zip II sowie im Nebensatz bei Endstellung des Verbs zusammen“ (Deutsche Rechtschreibung 2005:34–35/ Duden 1996:873): heimgehen → ich gehe heim. Während also
in der alten Rechtschreibung das substantivische Element eis in eislaufen als ‚verblasst’
deklariert, eislaufen als trennbare Zusammensetzung interpretiert und folglich zusammengeschrieben wird (vgl. Duden 1980:63), sieht man Eis laufen in der Neuregelung
als eine Wortgruppe an. Eis in Eis laufen ist für die Reformer vermutlich zu wenig ‚verblasst’, um einen Platz in der Liste der trennbaren Zusammensetzungen, in dem § 34(3)
des Regelwerks, zu erhalten (vgl. Deutsche Rechtschreibung 2005:35–37/ Duden
1996:874). Das soll sich aber bald wieder ändern (vgl. Die Empfehlung des Rats
2005:3).
Es wurde nun ein Einblick in Wortbegriffe nach graphematischen, syntaktischen und
semantischen Kriterien gewährleistet. Zuletzt soll auf das phonologische Wort eingegangen werden: Das phonologische Wort ist eine sprachliche Einheit, die nach phonologischen Kriterien abgegrenzt wird, z.B. nur eine Hauptbetonungsstelle aufweist (vgl.
Bauer 2003:58−59/ Gallmann 1999:274−275). Zu den Verbindungen mit Verben bemerkt Gallmann (1999:275): „Je kürzer der erste Bestandteil ist, desto eher verhält sich
die ganze Verbindung wie ein phonologisches Wort“. Vermutlich heisst es deshalb in
alter und neuer Rechtschreibung weil das Schiff flussabwärts fährt (getrennt), aber weil
das Schiff wegfährt (zusammen). Wahrscheinlich hat das Konzept des phonologischen
Wortes auch in der alten Rechtschreibung u.a. dazu geführt, NVV wie masshalten und
eislaufen zusammenzuschreiben, die nach dem syntaktischen Kriterium der Trennbarkeit Wortgruppen wären. An diesem Beispiel wird offenbar, dass sich die Begriffe
‚phonologisches Wort’ und ‚syntaktisches Wort’ nicht immer decken (vgl. Gallmann
1999:274−277).
2.1.3 Verbale Pseudokomposita
Während Gallmann und Sitta (1996:109) unter einer Zusammensetzung ein Wort mit
mehreren Wortteilen verstehen (vgl. Kapitel 2.1.1), wird dieser Begriff oft auch als Synonym zum diachronen Prozess der Komposition oder zu dessen Resultat, dem
Kompositum, gesehen (vgl. Metzler-Lexikon 2000:361/ Linke et al. 2001:63).
Unter Komposition versteht man das Zusammentreten von zwei oder mehr frei vorkommenden Morphemen oder Wörtern zu einem Kompositum, z.B. Autorad (aus Auto
und Rad komponiert) (vgl. Metzler-Lexikon 2000:361).
Kopf stehen oder kopfstehen?
7
Viele der NVV sind jedoch nicht direkt durch Komposition entstanden; es handelt sich
um so genannte verbale Pseudokomposita (vgl. Åsdahl-Holmberg 1976:3,20–25).10
Åsdahl-Holmberg (1976:3) definiert Pseudokomposita als Zusammensetzungen, „die
scheinbar den Eindruck eines Kompositums machen, deren Herkunft aber anders zu
erklären ist“. Auf die Pseudokomposita und ihre Entstehungsweise soll in diesem Kapitel näher eingegangen werden, um den Status der Nomen-Verb-Zusammensetzungen,
die in dieser Arbeit in Bezug auf die GZS eingehend besprochen werden, vollständig zu
klären. Zudem dienen die im Folgenden erläuterten Begriffe dem besseren Verständnis
der Termini ‚Univerbierung’ und ‚Noun-Stripping’ in Kapitel 2.2 und der in Kapitel 3
vorgestellten Wortkonzepte, bei deren Argumentation auch auf die Entstehungsweise
der NVV hingewiesen wird (vgl. Kapitel 3.2.1).
Wunderlich (1987) vermutet, dass richtige Nomen-Verb-Komposita universell ausgeschlossen sind. Auch Åsdahl-Holmberg (1976:20–25) stellt fest, dass es sich bei den
von Fleischer (1969:280−282) als ‚Zusammensetzung’11 bezeichneten NVV um uneigentliche Komposita handelt:
Fleischer (1969:50−74) unterscheidet die Wortbildungstypen Zusammensetzung und
Ableitung (Derivation). „Ableitung ist die Wortbildung mit Hilfe von Affixen, die an
den Stamm angefügt werden, z.B. Änder-ung“ (Metzler-Lexikon 2000:5). Fleischer
(1969:59−71) differenziert die Ableitungen12 weiter in explizite Ableitungen, die durch
Anfügen eines Suffixes an ein freies Morphem (dumm → Dummheit) entstehen, und in
implizite Ableitungen. Die implizite Ableitung „ist ein freies Morphem oder eine freie
Morphemkonstruktion ohne Ableitungssuffix, das nicht durch zwei unmittelbare
Konstituenten, sondern als Ganzes durch seine semantische und formale Beziehung auf
ein anderes freies Morphem oder eine Morphemkonstruktion motiviert ist“ (Fleischer
1969:67−68), z.B. besuchen → Besuch.
Åsdahl-Holmberg (1976:20–25) identifiziert Fleischers (1969:280−282) Zusammensetzungen nun als eigentliche verbale implizite Ableitungen: Viele sind von substantivier-
10
Der Begriff ‚Zusammensetzung’ wird in dieser Arbeit jedoch weiterhin nach dem Verständnis von
Gallmann und Sitta (1996:109) als Oberbegriff von Komposita und Pseudokomposita verwendet.
11
Im Verständnis von Fleischer (1969:50−59) ist eine ‚Zusammensetzung’ ein Kompositum, während in
dieser Arbeit gemäss Gallmann/ Sitta (1996:109) zu diesem Begriff auch Pseudokomposita gerechnet
werden (vgl. Anmerkung 10).
12
Unter ‚Ableitung’ wird auch das Resultat des Wortbildungsprozesses Ableitung verstanden.
Kopf stehen oder kopfstehen?
8
ten Infinitiven abgeleitet, z.B. das Kopfrechnen → kopfrechnen.13 Diese Verben sind
zwar motiviert durch Nominalkomposita, selbst aber Ableitungen, und können deshalb
‚nur’ indirekt als Komposita verstanden werden. Die „Bildung neuer Wörter […] durch
Überführung in eine andere Wortklasse ohne formale Veränderungen“ (Fleischer
1969:70), also auch das Übergehen eines substantivierten Infinitivs in ein Verb, nennt
man Konversion (vgl. Åsdahl-Holmberg 1976:22).
Andere der vermeintlichen Komposita und eigentlichen impliziten Ableitungen sind als
so genannte Rückbildungen zu interpretieren. Nach Fleischer (1995:51) ist Rückbildung „Derivation nicht durch Hinzufügung, sondern durch Tilgung oder Austausch eines Wortbildungssuffixes mit gleichzeitiger Transposition in eine andere Wortart, wobei der Eindruck entsteht, das ‚rückgebildete’ Wort sei die – kürzere – Ausgangsform“,
z.B. Notlandung → notlanden, elastisch → Elast. Es muss angemerkt werden, dass der
Terminus ‚Rückbildung’ nicht einheitlich gebraucht wird. Gallmann (1999:295) versteht darunter das Auflösen einer Ableitung in syntaktisch selbständige Bestandteile,
das „Gegenteil von Univerbierung“14 (Gallmann 1999:295), vgl. das Schreiben mit der
Maschine (Nominalisierung) → das Maschineschreiben (Komposition) → Maschine
schreiben − wir schreiben Maschine (Rückbildung). Bei dieser Definition ist das Resultat der Rückbildung, die Rückbildung, eine Wortgruppe, bei Fleischer (1995:51−52) ein
Wort.
Zu den Pseudokomposita werden also – zusammengefasst – explizite und implizite Ableitungen (Konversion und Rückbildung) gezählt. Eisenberg (1998:316) rechnet auch
Univerbierungen und Inkorporationen dazu, auf die im folgenden Kapitel (2.2) genauer
eingegangen werden soll.
13
Nach Åsdahl-Holmberg (1976:24) soll der substantivierte Infinitiv tatsächlich nicht vom Infinitiv abgeleitet sein, sondern umgekehrt. Deshalb stimmt sie mit Kann (1974:162) überein, der Bildungen wie z.B.
Herunterdividieren nicht ‚substantivierten Infinitiv’, sondern ‚infinitivischen Substantiv’ nennt. Ihm ist
aufgefallen, dass ein passender unabhängiger Infinitiv zu diesen Substantiven noch nicht vorliegt. Im
Übrigen sind Günther (1997:6) und Eisenberg (1981:82) derselben Meinung. Letzterer führt den unvollständigen Formenbestand vieler Zusammensetzungen wie notlanden, bausparen oder bergsteigen darauf
zurück, dass sie von substantivierten Infinitiven abgeleitet wurden.
14
Der Begriff ‚Univerbierung’ wird in Kapitel 2.2.1 erläutert.
Kopf stehen oder kopfstehen?
9
2.2 Tendenz zur Univerbierung: Der Grund des Grundproblems
2.2.1 Univerbierung
Während Wörter ab 800 n. Ch. in der karolingischen Minuskelschrift endgültig und
ziemlich regelmässig von Spatia getrennt wurden, verstärkte sich in neuhochdeutscher
Zeit die Bildung von Zusammensetzungen und damit auch allmählich die Zusammenschreibung. Dieses Phänomen hält bis in die heutige Zeit an und wird auch ‚Tendenz
zur Univerbierung’ genannt (vgl. Nerius 2000:163−165). Bussmann (Lexikon der
Sprachwissenschaft 2002:722) definiert die Univerbierung als „Vorgang und Ergebnis
des Zusammenwachsens mehrgliedriger syntaktischer Konstruktionen zu einem Wort“,
z.B. wieder sehen → wiedersehen. „Univerbierung entspricht einer allgemeinen strukturellen Tendenz der (syntaktischen) Vereinfachung zum Zwecke der Informationsverdichtung, sowie zu Vermeidung unhandlicher Konstruktionen“ (Lexikon der Sprachwissenschaft 2002:722). Das Resultat des Univerbierungsprozesses, die Univerbierung, ist
„dann zwar nicht mehr syntaktisch, wohl aber noch morphologisch komplex“ (Gallmann 1999:294).
Notwendige Bedingung für die Univerbierung ist die Lexikalisierung, bei der sprachliches Material im mentalen Lexikon gespeichert wird. Man nimmt an, dass auch Sequenzen syntaktischer Wörter gespeichert werden können, die häufig vorkommen, z.B.
es herrscht dicke Luft (vgl. Gallmann 1999:291−292,294). Diese Lexikalisierungen,
deren semantische Interpretation von der Summe der Bedeutungen ihrer Elemente (unterschiedlich stark) abweicht, nennt man auch Phraseologismen. Phraseologismen sind
jedoch keine Univerbierungen, sondern Wortgruppen, die als fixe Wendungen gespeichert sind (vgl. Metzler-Lexikon 2000:530). Bei der Univerbierung hingegen wachsen
die Wortgruppenbestandteile zu einem Wort zusammen: Z.B. bildet der Bestandteil ins
in insbesondere mit einem zweiten Element eine Einheit, während er im Phraseologismus ins Gewissen reden erhalten geblieben ist (vgl. Gallmann 1999:294). Mit der Zeit
gleicht sich auch die Schreibung der Univerbierungen an die der Wörter an: Sie werden
zusammengeschrieben (graphische Univerbierung) (vgl. Nerius 2000:163).
An dieser Stelle wird wieder das in Kapitel 2.1 angesprochene Grundproblem der GZS
sichtbar: Wann ist eine Wortgruppe zu einem Wort, einer Univerbierung, geworden und
der Univerbierungsprozess abgeschlossen? Was ist ein Wort? Wann muss also zusammengeschrieben werden?
Kopf stehen oder kopfstehen?
10
Die Univerbierung ist ein Prozess über die Zeit. Bis sich aus ‚eindeutigen Wortgruppen’
wie den Schluss folgern ‚eindeutige Wörter’, untrennbare Zusammensetzungen wie
schlussfolgern, gebildet haben, entstehen Zwischenprodukte. Diese sind nicht klar als
Wort oder Wortgruppe identifizierbar und stellen folglich für die GZS ein Problem dar.
Dazu gehören die schon erwähnten trennbaren NVV wie Eis laufen (vgl. Kapitel 2.1.2).
Besonders deutlich wird der Prozess der Univerbierung an dem Beispiel staubsaugen
vs. Staub saugen. Beide Schreibungen sind in der neuen und alten Rechtschreibung zugelassen, weil die Varianten ich staubsauge/ ich habe gestaubsaugt und ich sauge
Staub/ ich habe Staub gesaugt nebeneinander existieren. Ein Grund dafür dürfte sein,
dass Staub saugen noch nicht, aber staubsaugen vollständig univerbiert ist. Eisenberg
(1981:84) nimmt an, dass es sich bei staubsaugen um eine Rückbildung vom Substantiv
Staubsauger (also um eine ‚indirekte Univerbierung’) handelt und daneben die reguläre
Fügung Staub saugen aus Verbform und Akkusativobjekt existiert. Nach Gallmann
(1999:298) jedoch stellen beide Varianten Ableitungen des substantivierten Infinitivs
Staubsaugen dar, wobei Staub saugen eine Rückbildung15 erfuhr.
Während die Variantenschreibung bei Staub saugen bzw. staubsaugen zugelassen ist,
dürfen umstrittene Fälle wie Eis laufen seit der Neuregelung 1996 nur getrennt geschrieben werden, da neben ich laufe Eis und ich bin Eis gelaufen weder *ich eislaufe
noch *ich bin geeislauft gesagt werden kann (vgl. Kapitel 2.1.2, 3.1). Dieses Beispiel
spiegelt das Bemühen der Reformer, Variantenschreibungen zu Gunsten einer Schreibweise zu vermeiden. Ein Grund für dieses Bestreben ist z.B., dass im Falle der Variantenschreibung die Wahl der Schreibart den Druckereien weitergegeben würde.
Um die in diesem Kapitel gewonnenen Erkenntnisse prägnant zusammenzufassen, muss
gesagt werden, dass der Univerbierungsprozess der Grund für die Entstehung der umstrittenen NVV ist, die zwischen Wort und Wortgruppe stehen. Univerbierung entlarvt
sich dadurch als Grund des Grundproblems der GZS.
2.2.2 Inkorporation und Noun-Stripping
Unter Inkorporation (Inkorporierung, lat. incorporatio ‚Einverleibung’) versteht man ein
„Wortbildungsverfahren, bei dem freie nominale Morpheme mit Verbstämmen zu kom-
15
Zur Rückbildung im Sinne Gallmanns (1999:295) vgl. Kapitel 2.1.3.
Kopf stehen oder kopfstehen?
11
plexen Verben kombiniert werden“ (vgl. Metzler-Lexikon 2000:303), wie Rad fahren16.
„Der inkorporierte Stamm drückt dabei ein Konzept aus und referiert nicht auf bestimmte Entitäten“ (Lexikon der Sprachwissenschaft 2002:309). Gerdts (1998:93) bemerkt in
Bezug auf die Eigenschaften der Inkorporation:
„Prototypically, the incorporated noun stem corresponds to the object of a transitive predicate or the
subject of an inactive intransitive predicate. In many languages, an incorporated noun may also correspond to an oblique nominal, such as a locative, instrument, or passive agent” (Gerdts 1998:93).
Nach diesen Definitionen kann Inkorporation als eine Untergruppe der Univerbierung
verstanden werden, als die Univerbierung von Substantiv und Verb.17
Häufig sind Inkorporationen nur als Partizipien oder Infinitive belegt, z.B. silberlackummantelt, schutzimpfen (vgl. Metzler-Lexikon 2000:303).
Während im Metzler-Lexikon (2000:303) Bildungen wie Kopf rechnen und Eis laufen
als Inkorporationen, also als Wörter, angesehen werden, unterscheidet Gallmann
(1999:283−288) zwischen Inkorporation im engen Sinn und Wortgruppen mit NounStripping und fasst beide Typen unter dem Begriff Inkorporation im weiten Sinn
zusammen.
Inkorporationen im engen Sinn sind „Nomen-Verb-Verbindungen, die auch in Sätzen
mit Verbzweitstellung immer eine syntaktische Einheit bilden“ (Gallmann 1999:286),
also untrennbare Verben wie handhaben (ich handhabe das so). Dazu wird bemerkt,
dass es sich im Deutschen der Entstehungsweise nach nicht um eigentliche Inkorporationen handelt, sondern um Ableitungen von Nominalkomposita, um Rückbildungen18,
z.B: Handhabung, Handhabe → handhaben (vgl. Gallmann 1999:286,297).
Bei den Fügungen mit Noun-Stripping handelt es sich um die in der GZS umstrittene
Gruppe der trennbaren NVV, die Gallmann (1999:271−279,282/ vgl. Kapitel
2.1.2,3.1.1) nach seinem Wortkonzept, nach dem Kriterium der syntaktischen Trennbarkeit der Bestandteile, als Wortgruppen analysiert. Den Inkorporationen nähern sich
16
Der Terminus ‚Inkorporation’ wird in dieser Arbeit − analog zu ,Ableitung’ (vgl. Anmerkung 12),
‚Rückbildung’, ‚Konversion’ (vgl. Kapitel 2.1.3), ‚Lexikalisierung’ und ‚Univerbierung’ (vgl. Kapitel.
2.2.1) − auch für das Resultat des Prozesses, für das neue Wort, verwendet.
17
Anderer Meinung ist jedoch Gallmann (1999:294): „Der Terminus Univerbierung wird in der Literatur
sehr unterschiedlich gehandhabt. Ich möchte vorschlagen, ihn nicht als Synonym oder Oberbegriff für
Komposition oder Inkorporation zu verwenden, sondern als Bezeichnung für eine diachrone Erscheinung“.
18
Es geht hier nicht um Rückbildungen im Gallmann’schen Sinn (vgl. Gallmann 1999:295,297−299/
Fleischer 1995:51−52/ Kapitel 2.1.3).
Kopf stehen oder kopfstehen?
12
diese NVV insofern an, weil der nominale Bestandteil keinen normalen Objektstatus
hat. Dies zeigt Gallmann (1999:287) an folgendem Beispiel:
(1) a) Andrea liest die Zeitung
b) [Die Zeitung] hat Andrea noch nicht gelesen
(2) a) Andrea liest Zeitung
b) *[Zeitung] hat Andrea noch nicht gelesen
In (1) a) ist der Artikelgebrauch von Zeitung genau so, wie es bei einem Nomen mit
dem semantischen Merkmal [+ zählbar] zu erwarten ist. In (2) a) hingegen steht Zeitung
ungewöhnlicherweise ohne Artikel im Singular. Zudem ist Zeitung in (2) b) nicht topikalisierbar wie in (1) b). In (2) liegt scheinbar eine engere Verbindung zwischen den
Bestandteilen vor, Noun-Stripping.
Ein weiteres Beispiel für Noun-Stripping wäre die Verbindung Schlange stehen, bei
welcher der nominale Bestandteil Schlange auf die Präpositionalphrase in einer Schlange zurückgeht (Gallmann 1999:287−288).
Echtes Noun-Stripping ist also im Deutschen − im Gegensatz zu echter Inkorporation
im engen Sinne − vorhanden. Im Beispiel Schlange stehen könnte aber auch eine Rückbildung19 aus einem substantivierten Infinitiv vorliegen: das Schlangestehen → Schlange stehen (Gallmann 1999:288).
In Kapitel 3.1 wird auf das Wortkonzept Gallmanns (1999) noch genauer eingegangen.
2.2.3 Grammatikalisierung
In Kapitel 2.1.2 und 2.2.2 wurde gesehen, dass bei Konstruktionen wie Eis laufen und
Kopf stehen der syntaktische Status des nominalen Elements problematisch ist, dass es
einmal als Wortteil, einmal als Wort interpretiert wird – und doch eigentlich dazwischen
steht. Diese Elemente haben gewisse Eigenschaften eines Wortes, wie z.B. Referenzfähigkeit und Quantifizierbarkeit, verloren und nähern sich dem Status einer Verbpartikel,
eines Wortteils, an: Ich stehe Kopf vs. ich baue auf (vgl. Eisenberg 1998:325). Diese
Entwicklung, bei der eine „autonome lexikalische Einheit allmählich die Funktion einer
abhängigen grammatischen Kategorie erwirbt“ (Lexikon der Sprachwissenschaft
2002:260), nennt man Grammatikalisierung. Bei diesem Vorgang wird also lexikalische Bedeutung in grammatische umgewandelt und syntaktische Unabhängigkeit eingebüsst (vgl. Lexikon der Sprachwissenschaft 2002:260).
19
Hier ist wieder von der Rückbildung im Gallmann’schen Sinn (vgl. Gallmann 1999:295,297−299/
Kapitel 2.1.3) die Rede.
Kopf stehen oder kopfstehen?
13
Nachdem nun die wichtigsten Begriffe im Bereich der Diskussion um Wortgruppe und
Zusammensetzung bei den NVV eingeführt sind, folgt im nächsten Kapitel (3) die Gegenüberstellung dreier konkreter Wortkonzepte und ihrer Auswirkungen auf die GZS.
3. Kopf stehen oder kopfstehen? – Positionen und ihre
grammatische Begründung
Die drei verschiedenen Wortkonzepte, die in diesem Kapitel miteinander verglichen
werden, sind alle syntaktisch basiert. Je nachdem, wie der Begriff des syntaktischen
Wortes verstanden wird, kommen für die Schreibung der trennbaren NVV wie Rad fahren, Auto fahren und Kopf stehen nach Bredel und Günther (2000:103−104) zwei
grundsätzliche Möglichkeiten in Frage:
1) Der nominale Bestandteil wird als Substantiv, als Wort, erfasst. Man schreibt
ihn also gross und vom verbalen Bestandteil getrennt (auch in Kontaktstellung),
z.B. Rad fahren − ich fahre Rad, Kopf stehen − ich stehe Kopf.
2) Der nominale Bestandteil kann als Wortteil interpretiert werden. In Kontaktstellung wird dann − wie in der alten Rechtschreibung − zusammengeschrieben: radfahren, kopfstehen (anders in der alten Rechtschreibung: Auto fahren). Ferner
wird der nominale Bestandteil in Distanzstellung wie früher klein geschrieben:
Ich stehe kopf, ich halte mass (anders in der alten Rechtschreibung: Ich fahre
Rad/ Auto). Wird jedoch ich halte Mass geschrieben, was auch möglich ist, interpretiert der Schreiber Mass als „das Substantiv einer Akkusativergänzung des
zweiwertigen Verbs halten“ (Bredel/ Günther 2000:104).
Während das Wortkonzept von Gallmann (1999) ein Versuch ist, die Schreibmöglichkeit 1), also die neue Rechtschreibung, zu begründen, zielt die Argumentation von Günther
(1997/1997a)
in
Richtung
der
Schreibmöglichkeit
2).
Eisenbergs
(1981:80−84/1998:322−326) favorisierte Schreibung liegt dazwischen, nähert sich jedoch eher 2) an. Da Gallmanns Diskussion um die NVV, in der Noun-Stripping eine
grosse Rolle spielt, begrifflich ans Kapitel 2 anknüpft, soll mit dieser begonnen werden
(Kapitel 3.1). In Kapitel 3.2 wird die Position von Günther vorgestellt, der Gallmanns
Kopf stehen oder kopfstehen?
14
Ansatz offen kritisiert (vgl. Bredel/ Günther 2000). Darauf folgt Eisenbergs Konzept
(Kapitel 3.3) und die abschliessende Diskussion (Kapitel 3.4).
3.1 Position von Peter Gallmann
3.1.1 Phrasenkopf und Kopfadjunkt
Gallmann (1999:279) versteht das syntaktische Wort als Grundlage der GZS. Es wird
folgendermassen definiert:
„Ein syntaktisches Wort ist eine abgeschlossene morphologische Einheit mit bestimmten formalen
(phonologischen bzw. graphematischen) Merkmalen sowie bestimmten grammatischen und/oder inhaltlichen Merkmalen, das eine Position des Typs X° einnehmen kann“ (Gallmann 1999:272).
Syntaktische Konstituenten des Typs X° (N°, V° usw.) sind nach Gallmann (1999:272)
normalerweise Phrasenkerne. Ein Phrasenkern ist ein Element, das zu einer Phrase XP
(NP, VP usw.) projiziert wird. Z.B. besetzt Farbe in der NP blaue Farbe die Konstituente N° und bildet den Phrasenkern.
Syntaktische Konstituenten des Typs X° können aber auch Kopfadjunkte sein. Unter
einem Kopfadjunkt versteht Gallmann (1999:272) ein Element, das „eine nichtprojizierende Konstituente des Typs X°“ besetzt und „gewöhnlich an einen anderen Kopf Y°
adjungiert“ ist. X° ist dann ein Kopfadjunkt von Y°. Im Beispiel Sie hasst die Farbe
Blau ist Blau eine nichtprojizierende Konstituente, ein Kopfadjunkt vom Phrasenkern
Farbe. Da Blau nicht erweitert werden kann (*die Farbe dunkles Blau), müssen andere
Indizien (z.B. semantische) herangezogen werden, um es als nominal zu bestimmen. In
Forelle blau ist das Kopfadjunkt blau mit seiner determinativen Semantik als adjektivisch anzusehen (vgl. Gallmann 1999:272−273).
Wenn der morphologische Ausdruck weder eine projizierende noch eine nichtprojizierende syntaktische Position X° besetzt, ist er ein blosser Wortteil (vgl. Gallmann
1999:274).
Die oben erläuterten Begriffe werden nun auf den Bereich der NVV wie Mass halten,
„bei denen die nominale Komponente nicht fix mit dem Verb verbunden ist“ (Gallmann
1999:299), übertragen. Der nominale Bestandteil dieser Fügungen projiziert nicht, er
wird deshalb als Kopfadjunkt des zweiten, des Phrasenkopfs, angesehen (vgl. Gallmann
1999:299). Gallmann (1999:287−288,299/ vgl. Kapitel 2.2.2) betrachtet solche Verbindungen demnach nicht als Wörter, sondern als Wortgruppen mit Noun-Stripping.
Kopf stehen oder kopfstehen?
15
3.1.2 Folgerungen für die GZS
Auf die GZS übertragen, sieht das Gallmann’sche (1999) Wortkonzept folgendermassen
aus:
Abbildung 1: Übertragung des Wortkonzepts von Gallmann (1999:299) auf die GZS.
Nach Gallmann (1999:299) ist das „Grundproblem […], dass drei morphosyntaktischen
Entitäten (Wortteil, syntaktisches Wort als Kopfadjunkt, syntaktisches Wort als Phrasenkern) nur zwei Möglichkeiten der Schreibung gegenüberstehen“. In Abbildung 1
wird deutlich, dass Phrasenkerne und Kopfadjunkte graphisch als ein Wort erscheinen −
im Gegensatz zum Wortteil. Es wird jedoch bemerkt, dass bei gewissen Fällen von Verbindungen, deren erster Bestandteil, analog zu Mass in Mass halten, als Kopfadjunkt
interpretiert werden muss, eine Tendenz zur Zusammenschreibung feststellbar ist. In der
neuen Rechtschreibung sollen diese deshalb als ‚markierter Fall’ zusammengeschrieben
werden. Diese Ausnahme betrifft Fälle, bei denen…
1) …der nominale Bestandteil den semantischen Bezug zum zu Grunde liegenden
Nomen verloren hat, also ‚verblasst’ ist, z.B. teilnehmen, wundernehmen (vgl.
Kapitel 2.1.2).
2) …das Paradigma als unvollständig anzusehen ist, z.B. notlanden, kopfrechnen,
bergsteigen (vgl. Gallmann 1999:299−301).
Mit diesem Wortkonzept werden Fälle der alten Rechtschreibung eliminiert, bei denen
z.B. der nominale Bestandteil nur in Distanzstellung (getrennt und) grossgeschrieben
wird, wie maschineschreiben (ich schreibe Maschine), oder deren Bestandteile man in
allen Positionen getrennt und kleinschreibt, wie diät leben (ich lebe diät). Die Gruppe
der trennbaren Zusammensetzungen, deren nominale Bestandteile man in Distanzstellung klein schreibt, verkleinert sich zu Gunsten der Wortgruppen mit Noun-Stripping,
z.B. wird eislaufen zu Eis laufen (vgl. Gallmann 1999:269−270).
Kopf stehen oder kopfstehen?
16
Gallmann, der auch an der Erarbeitung des neuen Regelwerkes mitgewirkt hat, kann zu
den Vertretern der neuen Rechtschreibung gezählt werden. Von Bredel und Günther
(2000:103) wird ihm vorgeworfen, dass er „mit seinem Beitrag Wortbegriff und NomenVerb-Verbindungen die theoretische Basis für einen Teilbereich der Neuregelung der
GZS“ nachliefern wolle.
3.2 Position von Hartmut Günther
3.2.1 Syntaktische Sollbruchstellen
Günther und Bredel (Bredel/ Günther 2000:107) kritisieren in ihrer Replik auf Gallmanns (1999) Aufsatz, dass sich seine Sichtweise zur GZS „weder theoretisch noch
empirisch halten“ lasse. Zum einen werde die Behauptung, unser Schriftsystem beziehe
sich hauptsächlich auf das syntaktische und nicht auf das phonologische Wort, nicht von
ihm begründet. Zum andern mache er, wenn er die Getrenntschreibung trennbarer NVV
in allen Satzkonstruktionen als Normalfall ansehe, den empirischen Normalfall20 zum
markierten. Z.B. wird die Zusammenschreibung der zahlreichen Partikelverben wie aufbauen als Ausnahme angesehen, was nach Bredel und Günther (2000:107) „schlechterdings inakzeptabel“ ist. Ausserdem haben Bredel und Günther (2000:106) „extreme
Vorbehalte gegen das Konzept des Kopfadjunkts“. Auf diese Kritik reagiert Gallmann
(2000:111) in seiner Duplik auf die Replik jedoch mit dem Vorwurf, dass sie weder
wissenschaftlich begründet sei noch ein Alternativkonzept böte.
Es muss gesagt werden, dass Günther (Bredel/ Günther 2000:103) − als Gegner der
Rechtschreibreform 1996 − den Bereich der GZS als grössten „Missgriff“ der Neuregelung bezeichnet, „theoretisch unklar, inhaltlich widersprüchlich“ und der Tendenz der
Univerbierung entgegenlaufend. Trotz seiner Kritik sieht Günther (1997a:92) die neue
Rechtschreibung jedoch als eine bessere Option an als die „Rückkehr zum alten DudenRegiment einer wissenschaftlich inkompetenten Redaktion“. Die uneinheitliche21, v.a.
auf semantischen Kriterien22 basierende Regelung der alten Rechtschreibung im Bereich
GZS der NVV und die knappe unklare Formulierung derselben betrachtet Günther
20
Mit ‚empirischem Normalfall’ ist der zahlenmässig häufiger vorkommende Fall gemeint.
Rollschuh laufen soll getrennt, eislaufen hingegen zusammengeschrieben werden (vgl. Günther
1997:7).
22
Z.B. R 206: „Getrennt schreibt man, wenn beide Wörter noch ihre eigene Bedeutung haben“ (Duden
1980:62).
21
Kopf stehen oder kopfstehen?
17
(1997:7−8) als unbrauchbar. Damit schliesst er sich anderen Kritikern wie Maas
(1992:176−177) an, der bemerkt, dass man sich anstatt dieser Regelung genauso gut
„auf das Telefonbuchsystem beschränken, und gleich nur nachschlagen lassen“ (Maas
1992:177) könnte. Maas (1992) schlägt ein syntaktisch orientiertes Wortkonzept als
Grundlage der GZS vor. Es geht dabei nicht um das „Wort als Lexikoneinheit mit einer
festen Bedeutung“, sondern um „das Wort als ein Element, das aus einem Text ausgegliedert wird“ (Maas 1992:177). Wortgrenzen werden als Bruchstellen angesehen, wo
gewisse syntaktische Operationen23 möglich sind, als so genannte syntaktische Sollbruchstellen. Maas (1992:177) stellt folgende Regeln auf:
„An syntaktischen ‚Sollbruchstellen’ wird ein Spatium gesetzt oder in Umkehrung davon Wo keine
syntaktische ‚Sollbruchstelle’ vorliegt, wird zusammengeschrieben“ (Maas 1992:177).
Was mit diesem Konzept der syntaktischen Sollbruchstellen genau gemeint ist, wird an
den in der alten Regelung der GZS mittels semantischen Kriterien differenzierten Begriffen sitzenbleiben (‚nicht versetzt werden’) und sitzen bleiben (‚weiterhin sitzen’)24
erläutert (vgl. Maas 1992:177−179). In R 205 des alten Regelwerks wird festgehalten,
dass „Verbindungen mit einem Verb als zweitem Glied“ zusammengeschrieben werden,
„wenn durch die Verbindung ein neuer Begriff entsteht“ (Duden 1980:62). Maas
(1992:177) bezeichnet diese Formulierung als unverständlich, da der Ausdruck ‚neuer
Begriff’ unklar bleibt. Der Unterschied von sitzenbleiben und sitzen bleiben soll mit
syntaktischen Kriterien sichtbar gemacht werden:
(1) Du wirst in der Schule sitzenbleiben.
Substitutionsprobe: *Du wirst in der Schule stehenbleiben.
*Du wirst in der Schule liegenbleiben.
(2) Du wirst auf der Bank sitzen bleiben.
Substitutionsprobe: Du wirst auf der Bank stehen bleiben.
Du wirst auf der Bank liegen bleiben.
In (1) lässt sich keine Substitutionsprobe durchführen, sitzenbleiben ist demnach ein
syntaktisches Wort. In (2) ist diese Operation jedoch möglich, es liegt also zwischen
sitzen und bleiben eine syntaktische Sollbruchstelle vor. Sitzen und bleiben sind zwei
Wörter,
die
voneinander
getrennt
geschrieben
werden
müssen
(vgl.
Maas
1992:177−179).
23
24
Entweder die Verschiebe-, die Einschub- oder die Substitutionsprobe (vgl. Maas 1992:178−179).
In der neuen Rechtschreibung ist nur noch die Schreibung sitzen bleiben erlaubt.
Kopf stehen oder kopfstehen?
18
Nun zurück zu Günther (1997:10), der von dem vorgestellten Ansatz von Maas (1992)
ausgehend, folgenden Grundsatz aufstellt: „Innerhalb von syntaktischen Wörtern gibt es
keine Leerzeichen“. Dies ist nach Günther (1997:10) auch der Grund, warum Nominalkomposita wie Haustür oder Fernsehdirektübertragung zusammengeschrieben werden:
Ihre Bestandteile stehen in keiner syntaktischen Beziehung zueinander. Partikelverben
wie aufbauen analysiert Günther (1997:10) trotz Distanzstellung der Bestandteile in
gewissen Satzkonstruktionen (z.B. in Sätzen mit Verbzweitstellung) als ein Wort, denn
z.B. in dem Satz ich will das Zelt aufbauen kann zwischen auf und bauen kein Ausdruck eingeschoben werden, es liegt also keine syntaktische Sollbruchstelle vor. Aus
dieser Erkenntnis wird folgende Regel abgeleitet: „Partikelverben werden in Kontaktstellung zusammengeschrieben, weil die Partikel kein syntaktisches Wort bildet“ (Günther 1997:10). Analog zu den Partikelverben müssen auch trennbare NVV wie kopfstehen und eislaufen zusammengeschrieben werden, „weil das nominale Glied kein syntaktisches Wort bildet“ (Günther 1997:10). Um die ‚Worthaftigkeit’ solcher Verbindungen
zu begründen, zieht Günther (1997:6) neben der Ununterbrechbarkeit der Bestandteile
in Kontaktstellung25 noch ein weiteres Argument heran. Es wird erwähnt, dass die NVV
ihren Ursprung häufig in der Rückbildung aus Nominalkomposita haben (Staubsauger
→ staubsaugen, Lippenlesen → lippenlesen). Daraus folgert er, dass zwischen ihren
Bestandteilen keine Sollbruchstelle liegen kann, da die ihnen zu Grunde liegenden Nominalkomposita auch keine interne syntaktische Struktur aufweisen.
3.2.2 Folgerungen für die GZS
In der Folge der Betrachtung des Wortkonzepts von Günther (1997) und Maas (1992)
im vorangehenden Kapitel soll nun ein Blick auf die Auswirkungen desselben auf die
GZS geworfen werden.
Wie in Kapitel 3.2.1 erwähnt, müssen NVV wie kopfstehen nach Günther (1997:10)
zusammengeschrieben werden, da er sie als ein Wort, als eine trennbare Zusammensetzung, interpretiert. In Distanzstellung soll der nominale Bestandteil dann klein geschrieben werden: Ich stehe kopf, ich laufe eis (vgl. Bredel/ Günther 2000:104). Gemäss
Günther (1997:12) heuchelt die neue Rechtschreibung, in der die Elemente solcher Verbindungen immer voneinander getrennt und die nominalen Bestandteile grossgeschrie25
Indem Günther (1997:10) die ‚Worthaftigkeit’ der Partikelverben u.a. durch die Ununterbrechbarkeit
ihrer Bestandteile in Kontaktstellung beweist und die NVV analog zu den Partikelverben versteht, begründet er den Wortcharakter der NVV implizit durch diese Probe.
Kopf stehen oder kopfstehen?
19
ben werden, „syntaktische (!) Analysierbarkeit“ vor, „wo keine vorhanden ist“. In den
Beispielen Hans möchte gern mit seinen Kindern Eis laufen und Hans möchte gern mit
seinen Kindern Eis kaufen werde, so Günther (1997:12), durch die Getrenntschreibung
signalisiert, dass Eis in Eis laufen wie Eis in Eis kaufen ein Substantiv mit syntaktischer
Beziehung zum Verb sei, was „natürlich“ (Günther 1997:12) nicht stimme.
Neben eindeutig zusammenzuschreibenden Fällen wie eislaufen gibt es auch solche, bei
denen der nominale Bestandteil als Akkusativobjekt des Verbs oder als Wortteil analysiert werden kann. Die Elemente der Verbindung werden also der Analyse entsprechend
getrennt oder zusammengeschrieben. In den Beispielen wir gehen jetzt Bier trinken (und
keine Milch) und wir gehen jetzt biertrinken (wie jeden Mittwoch) ist sogar ein leichter
Bedeutungsunterschied spürbar. Ein guter Test für die Identifizierung des ersten Bestandteils
als
Akkusativobjekt
ist
dessen
Erweiterbarkeit
(vgl.
Günther
1997:6−7,10−11). Bei Günthers Ansatz wird demnach „die Entscheidung über die Zusammen- oder Getrenntschreibung nicht über im Lexikon verankerte Informationen
gefällt“, wie bei Gallmann (1999/ vgl. Kapitel 3.1), „sondern über die Organisation der
Wörter im Satz“ (Günther 1997:10−11).
3.3 Position von Peter Eisenberg
3.3.1 Modell der Bindungsfestigkeit: 5 Stufen
Günther (1997:4−5/ Bredel/ Günther 2000:107−109) nimmt in seinen Argumentationen
oftmals Bezug auf das Wortkonzept von Eisenberg (1981:80−84/1998:322−326). Während sich Günthers Verständnis vom Wort demjenigen von Eisenberg annähert und ihre
Position im Rechtschreibstreit eine ähnliche ist, entfaltet sich Eisenbergs Argumentation, in der verschiedene Gruppen von NVV genau voneinander unterschieden werden,
völlig anders. Die Beschreibung des Konzepts von Eisenberg ist Teil seiner Darstellung
des syntaktischen Hintergrunds der Substantivgrossschreibung im Deutschen (vgl. Eisenberg 1981). Gross- und Kleinschreibung und GZS stehen in einem so engen Verhältnis zueinander, dass im Fall dieses Aufsatzes die Begründung des Ersteren auch gleich
die des Letzteren ist. Später nimmt Eisenberg (1998:322−326) seinen Ansatz erneut auf,
diesmal aber im Zusammenhang mit der GZS. Er soll in diesem Kapitel eingehend dargestellt werden.
Kopf stehen oder kopfstehen?
20
Eisenberg (1981:80) richtet sein Interesse auf die „Art und Festigkeit der morphosyntaktischen Bindung“ zwischen den Bestandteilen von NVV. Er teilt die Verbindungen
nach dieser Bindungsfestigkeit in fünf Untergruppen ein. Gruppe SV126 hat die grösste
Bindungsfestigkeit, SV527 die geringste − dazwischen nimmt sie kontinuierlich ab (vgl.
Eisenberg 1981:81).
Zur Gruppe SV1 mit der grössten Bindungsfestigkeit gehören die untrennbaren Verben
wie brandmarken, massregeln oder nachtwandeln, deren erster Bestandteil nicht als
Verbpartikel fungiert (vgl. Eisenberg 1981:81).
Zur Gruppe SV2 gehören Zusammensetzungen, deren Elemente in den infiniten Formen
häufig voneinander getrennt werden, z.B. notlanden − notgelandet − notzulanden. Der
nominale Bestandteil verhält sich in diesem Punkt wie eine Verbpartikel, vgl. aufbauen
− aufgebaut − aufzubauen. Dies ist jedoch in den finiten Verbformen meist nicht der
Fall: bausparen → *er spart bau, bergsteigen → *er steigt berg. Verben der Gruppe
SV2 sind demnach morphologisch, nicht aber syntaktisch trennbar. Da auch nicht *er
bauspart oder *er bergsteigt gesagt werden kann, weisen die Verben der Gruppe SV2
ein defektives Paradigma auf (vgl. Eisenberg 1981:81).
Die Gruppe SV3 besteht aus NVV wie kopfstehen, eislaufen oder masshalten, die im
Gegensatz zur Gruppe SV2 das volle Verbparadigma ausbilden, vgl. *er spart bau vs.
er läuft eis. Der nominale Bestandteil dieser Verben ist beinahe ganz zur Verbpartikel
grammatikalisiert (vgl. Kapitel 2.2.3): Er ist sowohl morphologisch als auch syntaktisch
vom verbalen Teil trennbar (vgl. Eisenberg 1998:324−325). Es verhalten sich jedoch
nur wenige Verben der Gruppe SV3 genauso wie Partikelverben. Bei vielen von ihnen
ist „unklar, ob der erste Bestandteil vorfeldfähig ist oder durch Adverbien vom Verbstamm getrennt werden kann“ (Eisenberg 1998:325), was bei echten Partikelverben
nämlich nicht möglich ist, vgl. *auf kann er kaum stehen und ?stand kann er kaum halten, *dass er auf kaum stehen kann und ?dass er stand kaum halten kann. Jedenfalls
sind stand (in standhalten) und eis (in eislaufen) auch keine echten Substantive, denn
sie sind weder quantifizier- noch referier- oder erweiterbar (vgl. Eisenberg 1998:325).
Nach Eisenberg (1998:325) haben sie auch keine syntaktische Funktion wie richtige
Objekte. „Ihre einzige Gemeinsamkeit mit den Substantiven ist paradigmatischer Art:
26
‚SV’ steht für ‚Substantiv + Verb’.
Die Gruppe der NVV mit der geringsten Bindungsfestigkeit zwischen ihren Bestandteilen, die bei Eisenberg (1981:81) zwar besprochen, aber nicht benannt wird, soll hier im Anschluss an die Bezeichnungen ‚SV1’, ‚SV2’, ‚SV3’ und ‚SV4’ der anderen Gruppen ‚SV5’ genannt werden.
27
Kopf stehen oder kopfstehen?
21
sie stimmen formal mit der Grundform von Substantiven überein“ (Eisenberg
1998:325).
Zu der Gruppe SV4 gehören NVV wie Klavier spielen, Radio hören oder Auto fahren,
die Eisenberg (1998:323) als Wortgruppen interpretiert. Nach ihm ist lediglich im Infinitiv eine Analyse dieser Verbindungen als Zusammensetzungen möglich, wenn man
sie als Ableitungen (Konversionen) von Nominalkomposita (substantivierten Infinitiven) betrachtet: das Klavierspielen → klavierspielen (neben dem Syntagma Klavier
spielen). Bei allen anderen Formen liegen immer Wortgruppen vor; die NVV der Gruppe SV4 müssen ausser im Infinitiv also immer getrennt und grossgeschrieben werden,
vgl. *er spielt klavier, aber er spielt Klavier. In den Syntagmen hat das Substantiv jedoch nicht den Status eines normalen direkten Objekts, denn es ist nicht erweiterbar und
steht für sich: *Hans spielt lautes Klavier, *Hans hört neues Radio (vgl. Eisenberg
1998:323). Bei diesen Wortgruppen „ist immer eine ‚längere Version’ möglich, die einen spezifischen Vorgang, eine Handlung usw. bezeichnet“ (Eisenberg 1981:83), wie
z.B. auf dem Klavier spielen, mit dem Auto fahren. Die Kurzform bezeichnet dagegen
„die allgemeine, prototypische Tätigkeit des Klavierspielens oder Autofahrens“ (Eisenberg 1998:323). Während in der langen Version die Objektstelle von einem Präpositionalobjekt besetzt wird, nimmt diese in der Kurzform ein artikelloses Substantiv ein (vgl.
Eisenberg 1981:83). Die Grammatiker nennen diese spezielle Art von Objekt ‚freien
Akkusativ’, ‚Akkusativ des Inhalts’ oder ‚Umstandsobjekt’ (vgl. Eisenberg 1998:323).
In der Gruppe der Verben SV3 können Bestandteile wie kopf in kopfstehen nicht als
Alternative zum Präpositionalobjekt (auf dem Kopf) verstanden, sondern müssen als
Wortteile angesehen werden: Während es sich bei Klavier spielen insgesamt um einen
intransitiven Ausdruck handelt (Klavier hat die Objektstelle des transitiven Verbs spielen schon besetzt), kann in der Verbindung kopfstehen die Objektstelle noch vergeben
werden, vgl. auf dem Dach stehe ich kopf und *die Mozartpartitur spiele ich Klavier
(vgl. Eisenberg 1981:83).
Die Trennung zwischen den Worttypen SV3 und SV4 ist sehr wichtig, da diese Grenze
in der Skala der kontinuierlich abnehmenden (oder steigenden) Bindungsfestigkeiten
nach Eisenberg (1998:325−326) diejenige zwischen Wortgruppen und Zusammensetzungen ist, also zwischen der Getrennt- und der Zusammenschreibung. Deshalb sollen
noch weitere Proben vorgestellt werden, um die beiden Gruppen operational unterscheiden zu können: Eine ist die Erweiterungsprobe des ersten Bestandteils mit dem Artikel,
vgl. ein (altes) Klavier spielen. Dieser Test führt bei den Verben der Gruppe SV3 zur
Kopf stehen oder kopfstehen?
22
Ungrammatikalität: *ein (festes) Eis laufen (vgl. Eisenberg 1998:325). Die zweite Probe
ist der schon weiter oben erwähnte Test, ob sich die Verbindung in Kontaktstellung
durch Adverbiale trennen lässt: Weil er Radio immer morgens hört. Analog zur vorhergehenden lässt sich auch diese Probe mit Verben der Gruppe SV3 nicht durchführen,
vgl. *weil er hohn am lautesten lacht (vgl. Eisenberg 1981:83). Wie schon gesagt, ist
jedoch ein Problem dieser Probe, dass sich nicht bei jeder Verbindung der Gruppe SV3
ein eindeutiges Grammatikalitätsurteil fällen lässt (vgl. oben: ?dass er stand kaum halten kann/ Eisenberg 1998:325).
Als Letztes soll die Gruppe SV5 mit der geringsten Bindungsfestigkeit zwischen ihren
Bestandteilen betrachtet werden. Es handelt sich hierbei um „Fügungen aus Objekt und
Prädikat“ wie Bier trinken und Reis kaufen, „bei denen die Bindung eine reine Valenzbindung ist“ (Eisenberg 1981:81). Nur beim reinen Infinitiv können nach Eisenberg
(1998:323) − analog zur Gruppe SV4 − neben dem Syntagma durch Konversion aus
Nominalkomposita entstandene Zusammensetzungen bestehen: Bier trinken und biertrinken sind möglich, jedoch nicht *er trinkt bier (sondern nur er trinkt Bier).
3.3.2 Folgerungen für die GZS
Nach der Betrachtung von Eisenbergs (1981:80−84/1998:322−326) Modell der Bindungsfestigkeit in Kapitel 3.3.1 sollen nun daraus die Folgerungen für die GZS gezogen
werden.
Da Eisenberg (1981:82/1998:325−326) die Grenze von Wortgruppe und Zusammensetzung zwischen den Gruppen SV3 und SV4 ansetzt, müssen die NVV SV1, SV2 und
SV3 als Zusammensetzungen angesehen und in Kontaktstellung zusammengeschrieben
werden. Wie bei Günther (Bredel/ Günther 2000:104/ vgl. Kapitel 3.2.2) sollen die ersten Bestandteile der Gruppe SV3 in Distanzstellung klein geschrieben werden (vgl. Eisenberg 1998:326). Die NVV der Gruppen SV4 und SV5 müssen − als Wortgruppen −
in allen Positionen getrennt geschrieben werden. Der nominale Bestandteil ist stets
grosszuschreiben. Weil sich nach Eisenberg (1998:323/ vgl. Kapitel 3.3.1) Verbindungen dieser Gruppen im Infinitiv auch als Zusammensetzungen interpretieren lassen,
kommt in dieser Form je nach Analyse wie bei Günther (1997:6−7,10−11/ vgl. Kapitel
3.2.2) Getrennt- oder Zusammenschreibung vor.
Der Unterschied der Wortkonzepte von Günther und Eisenberg liegt darin, dass bei
Günther (Bredel/ Günther 2000:104) die markante Grenze zwischen den Gruppen SV3
Kopf stehen oder kopfstehen?
23
und SV4 nicht existiert. Nach ihm sollen je nach Analyse auch Schreibungen wie er
trinkt bier und er fährt auto (mit Kleinschreibung des nominalen Bestandteils) möglich
sein. Zudem können NVV der Eisenberg’schen Gruppe SV3 wie masshalten nach Günther auch als Syntagmen interpretiert und getrennt geschrieben werden: Mass halten −
ich halte Mass.
3.4 Diskussion
Die drei verschiedenen Wortkonzepte, die in den vorangehenden Kapiteln dargestellt
wurden, sollen nun in einer Schlussdiskussion in ihren Grundzügen und Argumentationsweisen etwas genauer miteinander verglichen werden. Die verschiedenen Diskussionspunkte werden der Übersicht halber mit den Nummern 1) bis 4) versehen.
1) Obwohl alle drei Wortkonzepte syntaktischen Kriterien folgen, ist die Interpretation
der Resultate der syntaktischen Proben so unterschiedlich, dass sich das Wortverständnis und damit auch die daraus folgende GZS z.T. erheblich unterscheiden. Nach Gallmann (1999:274−275,282) handelt es sich, wenn sich die Bestandteile von NVV in gewissen Satzkonstruktionen (z.B. bei Verbzweitstellung) voneinander trennen, um die
Besetzung zweier syntaktischer Positionen, folglich um zwei syntaktische Wörter. Daraus folgert Gallmann, dass z.B. auch in Nebensätzen wie weil er Eis läuft zwei syntaktische Wörter vorliegen, obwohl hier die Bestandteile nicht voneinander getrennt werden.
Günther (1997:10) argumentiert genau umgekehrt: Weil bei trennbaren NVV wie bei
den Partikelverben kein Ausdruck zwischen die Bestandteile geschoben werden kann,
wenn diese in Kontaktstellung stehen, liegt auch in Distanzstellung nur ein Wort vor.
Was Günther als syntaktisches Wort bezeichnet, ist nach Gallmann (1999:274−275/ vgl.
Kapitel 2.1.2) ein phonologisches Wort mit nur einer Hauptbetonungsstelle. Beide können ihre Position also nur in einem Fall, entweder in Kontakt- oder Distanzstellung der
Bestandteile, begründen und ohne weitere Beweise übertragen sie diese Sichtweise auf
den zweiten Fall. Die Standhaftigkeit der Günther’schen Argumentation wird noch
mehr erschüttert, wenn man die in Kapitel 3.3.1 zu Eisenberg (1998:325) besprochenen
Fälle berücksichtigt, bei denen die Probe der Ununterbrechbarkeit der Bestandteile in
Kontaktstellung auf Grund der unklaren Grammatikalität des Resultats nicht funktioniert: ?dass er stand kaum halten kann, ?dass du halt hier drüben machst. Obwohl Eisenberg (1981:83) − trotzdem − auch wie Günther mit dieser Probe argumentiert, stützt
Kopf stehen oder kopfstehen?
24
er seine Thesen mit weiteren Operationen, wie z.B. der Erweiterungsprobe28 (vgl. Eisenberg 1998:325).
Dass Gallmann auf der einen, Günther (und Eisenberg) auf der anderen Seite aus demselben Fall eine geradezu gegenteilige These ableiten, zeigt meiner Meinung nach deutlich, wie undurchsichtig die Grenze von Wort und Wortgruppe wirklich ist und wie
leicht man in dieser Undurchsichtigkeit mehr auf Vermutungen als auf Beweisen Thesen aufbauen kann, welche die eigene Position unterstützen. Wie wäre es mit einem
Alternativkonzept, das beide Argumentationen einschliesst und besagt, dass bei Kontaktstellung ein, bei Distanzstellung jedoch zwei syntaktische Wörter vorliegen? Im
Satz er steht Kopf müsste einem solchen Konzept zu Folge getrennt, im Satz er will
kopfstehen jedoch zusammengeschrieben werden.
2) Die Argumentation bei Günther (1997) und Eisenberg (1981:80−84/1998:322−326),
die eine ähnliche Position stützt, verläuft unterschiedlich − und v.a. unterschiedlich genau. Eisenberg (1981:82−83/1998:325−326) versucht, die Verbindungen SV3 und SV4
mit ihren Merkmalen exakt voneinander zu trennen, um so die Grenze von Wortgruppe
und Zusammensetzung genau festzulegen. Günther (1997:10) hingegen folgert aus der
schon in Punkt 1) erwähnten Ununterbrechbarkeitsprobe, dass alle trennbaren NVV
Wörter sein und so zusammengeschrieben werden können. Wie in Kapitel 3.3.1 gesehen, erzielt man durch diese Probe, auf der Günthers Argumentation implizit basiert, bei
Verben, die Eisenberg zur Gruppe SV4 oder SV5 rechnet, jedoch durchaus grammatische Resultate: Weil er Radio immer morgens hört (vgl. Eisenberg 1981:83). Mit der
konsequenten Durchführung der besagten Probe müssten also − wie bei Eisenberg −
Verbindungen wie Radio hören getrennt geschrieben werden. Günther (1997:10) differenziert die trennbaren NVV jedoch nicht weiter und lässt bei allen Zusammenschreibung zu − genau gesehen unbegründet29.
3) Aber auch Günther (1997:6) lässt sein Wortkonzept nicht ungestützt in Bezug auf
weitere Argumente. Es wird bemerkt, dass die meisten NVV Ableitungen von Nominalkomposita sind. Da zwischen Bestandteilen von Nominalkomposita keine syntaktischen Beziehungen herrschen, können nach Günther auch zwischen den Bestandteilen
28
Günther bedient sich nach seinem Aufsatz von 1997 in seiner Replik auf Gallmann (1999) mit Bredel
(2000:108) ebenfalls der Erweiterungsprobe, da er auf Eisenberg (1981:80−84/1998:322−326) Bezug
nimmt.
29
Besser wäre wohl, zu sagen: Mit Begründung, aber ohne diese über die Gruppe SV3 hinweg zu untersuchen.
Kopf stehen oder kopfstehen?
25
der Ableitungen keine vorliegen. Dieses Argument betrifft jedoch nur die tatsächlich
abgeleiteten Verben. Welche und wie viele das sind, wird nicht und kann auch nicht
eindeutig gesagt werden. Günther plädiert aber für die mögliche Zusammenschreibung
aller NVV. Dieses Argument deckt jedoch, wie das in Punkt 2) besprochene, nicht die
ganze Palette der trennbaren NVV ab.
4) Obwohl Eisenberg (1981:80−84/1998:322−326) eine scharfe Trennlinie zwischen
den Zusammensetzungen SV3 und Wortgruppen SV4 zieht, ist nach ihm die Zusammenschreibung der Infinitive der Gruppen SV4 und SV5 mit der gleichen fragwürdigen
Argumentation, die in Punkt 3) in Bezug auf Günther (1997:6) besprochen und kritisiert
wurde, erlaubt. Dies erscheint mir äusserst unkonsequent. Erstens, weil so die klare
Grenze zwischen Wort und Wortgruppe − und somit auch die Grenze der GZS − verwischt wird. Zweitens, weil die nicht-infinitivischen Wortformen nach Eisenberg wiederum
als
Wortgruppen
angesehen
werden
sollen.
Hier
verfährt
Günther
(1997:6−7,10−11), bei dem beide Analysen bei allen Wortformen möglich sind, konsequenter. Gallmann (1999:301) bemerkt zu Eisenbergs Vorschlag: „Schreibungen dieser
Art lassen sich weder syntaktisch noch mit den bisherigen Normen noch mit dem bisherigen realen Schreibgebrauch rechtfertigen“.
Kopf stehen oder kopfstehen?
26
4. Fazit
Vor dem Hintergrund der in der Einleitung dargelegten Fragestellung zum Grundproblem der GZS im Bereich der NVV konnten − zusammengefasst − in dieser Arbeit folgende Erkenntnisse gewonnen werden:
In Kapitel 2 wurde gezeigt, dass die Begriffe ‚Wort’, bzw. ‚Zusammensetzung’, und
‚Wortgruppe’ − und ihre Abgrenzung zueinander − nicht eindeutig sind, da ihre Definitionen von unterschiedlichen Kriterien abhängig gemacht werden, z.B. von syntaktischen oder phonologischen, die sich z.T. widersprechen. Besonders trennbare NVV wie
Kopf stehen oder Eis laufen, die auf Grund der Univerbierungstendenz im Deutschen
entstanden sind, können mit ihren Eigenschaften weder eindeutig als Wort noch als
Wortgruppe identifiziert werden.
Weil Wörter in der Schrift durch Spatien voneinander getrennt werden, Wortteile hingegen nicht, folgen aus unterschiedlichen Wortkonzepten auch verschiedene Schreibungen. Dies ist der Grund, warum die Schwierigkeit der klaren definitorischen Trennung
von ‚Wortgruppe’ und ‚Zusammensetzung’ zum eigentlichen Problem der GZS wird.
In Kapitel 3 folgte die genaue Betrachtung von drei verschiedenen Wortkonzepten und
ihren Konsequenzen auf die GZS. Diese Gegenüberstellung wurde mit einer Diskussion
in Kapitel 3.4, in der die verschiedenen Ansätze und Argumente konkret miteinander
verglichen wurden, abgerundet:
Obwohl in allen drei Konzepten von syntaktischen Kriterien ausgegangen wird, unterscheidet sich das Verständnis vom Wort v.a. zwischen dem Reformbefürworter Gallmann (1999) auf der einen und den Reformkritikern Günther (1997) und Eisenberg
(1981:80−84/1998:322−326) auf der anderen Seite. Das liegt daran, dass den verschiedenen syntaktischen Proben unterschiedliche Gewichtung gegeben wird. Während
Gallmann (1999) alle trennbaren NVV wie Kopf stehen als Wortgruppen identifiziert
und demnach für ihre Getrenntschreibung plädiert, sehen Günther (1997:10) und Eisenberg (1981:83) diese Gruppe von Verbindungen u.a. auf Grund ihrer Untrennbarkeit in
Kontaktstellung als trennbare Zusammensetzungen an und schreiben sie zusammen:
kopfstehen.
Es unterscheiden sich aber nicht nur die Wortkonzepte von Gallmann und den Reformgegnern, sondern auch die von Günther und Eisenberg. Für Günther (1997:6−7,10−11)
Kopf stehen oder kopfstehen?
27
ist je nach syntaktischer Analyse die Zusammenschreibung aller NVV möglich. Eisenberg (1998:322−326) teilt sie hingegen nach der Bindungsfestigkeit ihrer Bestandteile
in fünf Gruppen ein und schliesst die Zusammenschreibung bei Verben der Gruppen
SV4 und SV5 mit geringer Bindungsfestigkeit in allen Formen ausser dem Infinitiv aus.
Er beschreitet also einen etwas gemässigteren Weg als Günther.
Offen bleibt nach der ganzen Diskussion um das Wort jedoch die im Titel gestellte Frage: Kopf stehen oder kopfstehen?
Die Beschäftigung mit der Abgrenzung von Zusammensetzung und Wortgruppe und der
daraus folgenden GZS warf noch viel mehr interessante Fragen auf, die im Rahmen
dieser Seminararbeit leider nicht genauer betrachtet werden konnten: Z.B. Was für ein
Wortkonzept liegt dem alternativen Reformkonzept von Herberg (1997) zu Grunde, das
nicht in das Regelwerk einging? Wie sieht die graphematische Diskussion zu anderen
Verbindungen, z.B. mit Adjektiv und Verb, aus? Wie lautete die konkrete Kritik an den
Paragraphen § 34(3) und § 34 E3(5) der Neuregelung der GZS von 1996, in denen die
Schreibung von NVV geregelt wird? Wie waren die Reaktionen darauf und was wurde
bisher geändert? Vielleicht kann darauf in einer weiteren Arbeit eingegangen werden.
Kopf stehen oder kopfstehen?
28
5. Bibliographie
Ágel, Vilmos/ Kehrein, Roland (2002): Das Wort – Sprech- und/oder Schreibzeichen?
Ein empirischer Beitrag zum latenten Gegenstand der Linguistik. In: Ágel, Vilmos/
Gardt, Andreas/ Haß-Zumkehr, Ulrike/ Roelcke, Thorsten (Hrsg.) (2002): Das Wort.
Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum
65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 3–28.
Åsdahl-Holmberg, Märta (1976): Studien zu den verbalen Pseudokomposita im Deutschen. Lund: Acta Universitatis Gothoburgensis (=Göteborger Germanistische Forschungen 14).
Bauer, Laurie (2003): Introducing linguistic morphology. 2. erweiterte Auflage. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Bredel, Ursula/ Günther, Hartmut (2000): Quer über das Feld das Kopfadjunkt. Bemerkungen zu Peter Gallmanns Aufsatz Wortbegriff und Nomen-Verb-Verbindungen. In:
Zeitschrift für Sprachwissenschaft 19, H. 1, 103–110.
Deutsche Rechtschreibung: Regeln und Wörterverzeichnis. Amtliche Regelung. Herausgegeben von der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung.
Tübingen: Narr Verlag 2005.
Die Empfehlung des Rats zur Schreibung von Verbindungen mit Verben (§ 34 des amtlichen Regelwerks). Ratssitzung 3.6.2005.
http://www.rechtschreibrat.com/ [Internet], zitiert: 6.9.2005.
Duden: Die Rechtschreibung. 18., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim/
Wien/ Zürich: Dudenverlag 1980.
Duden: Die deutsche Rechtschreibung. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich: Dudenverlag 1996.
Dürscheid, Christa (2002): Einführung in die Schriftlinguistik. 2., überarbeitete Auflage
2004. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (=Studienbücher zur Linguistik
8).
Eisenberg, Peter (1981): Substantiv oder Eigenname? Über die Prinzipien unserer Regeln zur Groß- und Kleinschreibung. In: Linguistische Berichte 72, 77–101.
Eisenberg, Peter (1998): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 2.,
überarbeitete und aktualisierte Auflage 2004. Stuttgart/ Weimar: Metzler.
Fleischer, Wolfgang (1969): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig:
VEB Bibliographisches Institut.
Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (unter Mitarbeit von Marianne Schröder) (1995):
Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchgesehene und ergänzte
Auflage. Tübingen: Niemeyer.
Gallmann, Peter (1999): Wortbegriff und Nomen-Verb-Verbindungen. In: Zeitschrift
für Sprachwissenschaft 18, H. 2, 269–304.
Gallmann, Peter (2000): Kopfzerbrechen wegen Kopfadjunkten: Eine Duplik. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 19, H. 1, 111–113.
Gallmann, Peter/ Sitta, Horst (1996): Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung.
Regeln, Kommentar und Verzeichnis wichtiger Neuschreibungen. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich: Dudenverlag (=Duden-Taschenbücher 26).
Gerdts, Donna B. (1998): Incorporation. In: Spencer, Andrew/ Zwicky, Arnold M.
(Hrsg.) (1998): The Handbook of Morphology. Oxford/ Massachusetts: Blackwell
Publishers, 84–100.
Günther,
Hartmut
(1997):
Zur
grammatischen
Basis
der
Getrennt/Zusammenschreibung im Deutschen. In: Dürscheid, Christa/ Ramers, Karl Heinz/
Kopf stehen oder kopfstehen?
29
Schwarz, Monika (Hrsg.) (1997): Sprache im Fokus. Festschrift für Heinz Vater zum
65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 3–16.
Günther, Hartmut (1997a): Alles Getrennte findet sich wieder – Zur Beurteilung der
Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. In: Eroms, Hans W./ Munske, Horst H.
(Hrsg.) (1997): Die Rechtschreibreform: Pro und Kontra. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 81–93.
Herberg, Dieter (1997): Aussageabsicht als Schreibungskriterium – ein alternatives Reformkonzept für die Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung (GZS). In:
Augst, Gerhard/ Blüml, Karl/ Nerius, Dieter/ Sitta, Horst (Hrsg.) (1997): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer
(=Reihe Germanistische Linguistik 179), 365–378.
Ickler, Theodor (1997): Getrennt- und Zusammenschreibung. Ein Kommentar zu § 34
und § 36 der Neuregelung. In: Muttersprache 107, H. 3, 257–279.
Ickler, Theodor (1999): Kritischer Kommentar zur „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung” mit einem Anhang zur „ Mannheimer Anhörung“. 2., durchges. u. erw.
Auflage. Erlangen/ Jena: Verlag Palm & Ecke (=Erlanger Studien 116).
Kann, Hans-Joachim (1974): Wortbildungsmuster neuer gemeinsprachiger Verben. In:
Muttersprache 84, 151−163.
Lexikon der Sprachwissenschaft. Bussmann, Hadumod (Hrsg.). 3., aktualisierte und
erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner 2002.
Linke, Angelika/ Nussbaumer, Markus/ Portmann, Paul R. (2001): Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer.
Maas, Utz (1992): Grundzüge der deutschen Orthographie. Tübingen: Niemeyer
(=Reihe Germanistische Linguistik 120).
Metzler-Lexikon Sprache. Glück, Helmut (Hrsg.). 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2000.
Nerius, Dieter et al. (Hrsg.) (2000): Deutsche Orthographie. 3., völlig neu bearbeitete
Auflage. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich: Dudenverlag.
Schaeder, Burkhard (1997): Getrennt- und Zusammenschreibung – zwischen Wortgruppe und Wort, Grammatik und Lexikon. In: Augst, Gerhard/ Blüml, Karl/ Nerius, Dieter/ Sitta, Horst (Hrsg.) (1997): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer (=Reihe Germanistische Linguistik 179),
157–208.
Vierter Bericht der Zischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung. Berichtszeitraum 1.1.2002 bis 31.12.2003.
http://www.bildung.bremen.de/sfb/4_bericht.pdf [Internet], zitiert: 5.9.2005.
Wunderlich, Dieter (1987): Schriftstellern ist mutmaßen, ist hochstapeln, ist Regeln
mißachten. – Über komplexe Verben im Deutschen. In: Asbach-Schnitker, Brigitte/
Roggenhofer, Johannes (Hrsg.) (1987): Neuere Forschungen zur Wortbildung und
Historiographie der Linguistik. Festgabe für Herbert E. Brekle zum 50. Geburtstag.
Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 284), 91–108.
6. Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Übertragung des Wortkonzepts von Gallmann auf die GZS. In: Gallmann,
Peter (1999): Wortbegriff und Nomen-Verb-Verbindungen. In: Zeitschrift für
Sprachwissenschaft 18, H. 2, 299.