120 Jahre Biochemie

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120 Jahre Biochemie
120 Jahre Biochemie
(Festvortrag zum Bundeskongreß des BBD 1994 in Hahnenklee)
von Hans-Heinrich Jörgensen
Vorsitzender des Biochemischen Gesundheitsvereins Oldenburg
Als der in Oldenburg tätige homöopathische Arzt Dr.med. Wilhelm Heinrich Schüßler
1873 in einer medizinischen Fachzeitschrift seine Idee von einer gezielten
Mineralstofftherapie der Fachwelt vorstellte, wollte er die medizinische Forschung
bereichern. Daß er statt dessen - oder besser: darüber hinaus - eine weltweite
Volksgesundheitsbewegung ins Leben rief, hat er nicht geahnt - und zunächst auch
nicht gewollt.
Erst das Unverständnis seiner Ärztekollegen, die beharrlich der historisch-mystisch
tradierten Medizin-Philosophie des vergangenen Jahrhunderts anhingen und
Schüßlers, der Zeit vorauseilende, naturwissenschaftlich, rational und analytisch
geprägte Idee verlachten, war für ihn Anlaß, ein Jahr später dann seine Gedanken
über eine "abgekürzte Therapie" in Form eines kleinen Heftchens einer breiteren
Öffentlichkeit, und damit auch dem Publikum und den Patienten vorzustellen.
Je mehr der leicht verletzliche, und dann mit spitzer Feder und scharfer Zunge
äußerst agressiv reagierende Oldenburger Bullerkopf sich mit der medizinischen
Fachwelt anlegte, desto enger scharte sich ein Freundeskreis von zufriedenen
Patienten um ihn und bedrängte ihn, die Pflege und Erhaltung seiner Lehre durch
einen Laienverein zu unterstützen. Widerstrebend gab er schließlich seine
Zustimmung. Im Jahre 1885 schließlich gründete der Eisenbahnrechnungsführer
August Meyer zusammen mit einer Handvoll Freunden und Schüßlers Unterstützung
den ersten Biochemischen Verein in Oldenburg.
Die Vereinsgründer hatten sich hohe Ziele gesetzt. So schufen sie eine Stiftung zum
Bau eines Krankenhauses, die jedoch in den Inflationswirren wieder zugrunde ging.
Erst nach dem Kriege konnte dann hier in Hahnenklee dieses frühe Ziel verwirklicht
werden.
"Auswandernde" Oldenburger trugen den Gedanken der Biochemie in ihre neue
Heimat. Der Fabrikant Schlömann gründete in Clausthal-Zellerfeld einen neuen
Verein, Lage folgte bald danach, Altenau, Metjendorf, Wilhelmshaven, Neu-Südende
veröffentlichten schon 1902 in der Oldenburger "Zeitschrift für Biochemie" ihre
Vereinsnachrichten.
Im gleichen Blatt lese ich die Nachricht, daß der Oldenburger Verein für 10 Mark
"eine erhebliche Zahl" von Gipsabdrücken einer Schüßler-Büste, modelliert vom
Bildhauer Boschen, verkauft. Wir in Oldenburg besitzen noch ein Exemplar, ich
fürchte, eines der letzten. Es bereitet mir Albträume, sie könnte mir aus der Hand
fallen.
Nach dem 1. Weltkrieg gibt es in Deutschland ca. 70 Vereine, zusammengeschlossen
in drei Verbänden, dem Jade-Verband, dem Schüßlerbund und dem Verband der
Biochemischen Vereine, die dann 1922 zum "Biochemischen Bund Deutschlands"
mit gut 70 000 Mitgliedern und dem Oldenburger Wilhelm Töllner als Präsidenten
verschmelzen.
Seine Blütezeit erlebte der Biochemische Bund Deutschlands Ende der zwanziger
Jahre. In einem eigenen Verwaltungsgebäude in Potsdam-Babelsberg, das heute die
Brandenburgische Forstverwaltung beherbergt, betrieb der Bund eine zentrale
Organisation mit über 20 hauptamtlichen Mitarbeitern, eigenen Labors, einem
eigenen Verlag, einer regen Werbeabteilung und einem Hörsaal für die Fortbildung
der "Propaganda-Redner".
Ich wünschte, wir würden den Biochemischen Bund heute so stärken, daß wir uns
wenigstens einen hauptamtlichen Mitarbeiter leisten können.
Im 3.Reich widerfuhr dem Biochemischen Bund dann das Schicksal nahezu aller
freien Organisationen: Er wurde "gleichgeschaltet" in der Reichsarbeitsgemeinschaft
der Volksverbände, in der Reichsärzteführer Dr.Wagner alle Bünde zusammenfaßte.
Übrigens hieß er damals wieder "Schüßlerbund" mit einem Bundesleiter Löchl aus
Berlin. Zeitgemäß jubelte man zum 50. Jahrestag des Oldenburger Vereins im Jahre
1935, daß weite Kreise der Ärzteschaft der Biochemie nicht mehr so fremd
gegenüber stünden, und daß nicht nur die Arbeiter der Faust, sondern auch die
sogenannten Intellektuellen in die Reihen der Anhänger der Biochemie getreten seien.
Mit einem Sieg-Heil auf den Führer (Zitat) und dem Horst-Wessel-Lied schloß dann
Parteigenosse und Vereinsvorsitzender Hartwig die Jubiläums-Veranstaltung.
Über diese Jahre und die erste Zeit nach dem Kriege liegt mir sonst kaum Material
vor. Meine Bitte an alle alten Freunde der Biochemie, dem Bund oder mir mit
Archivmaterial unter die Arme zu greifen, wenn Sie denn welches haben.
1946 gab es dann einen Neuanfang. Der erste Präsident von 1924, Wilhelm Töllner,
übernahm wieder die Leitung des
neugegründeten Biochemischen Bundes. Die älteren von uns erinnern sich des
Mangels an allen Dingen in dieser Zeit, auch an Papier. Es war ein für damalige
Begriffe schneller Erfolg, als 1949 die erste Nummer einer neuen Verbandszeitung
erscheinen konnte, Nummer 1 noch unter dem etwas überholten Titel "Gesundes
Volk", Nummer 4 aber schon mit dem uns vertrauten Titel "Weg zur Gesundheit".
Der Papiermangel zwang damals zu zweimonatigem Erscheinen. Wie ich höre, gibt
es heute Überlegungen, den Erscheinungsabstand noch mehr zu strecken. Ich
empfände das als einen fürchterlichen Rückschritt. Wir wollen unser Anliegen doch
in die Welt hinaus rufen. Papiermangel kann heute kein Grund sein, Personal- oder
Geldmangel darf kein Grund sein, uns selbst den Mund zuzuhalten.
Nach langem Ringen gelang es schließlich 1949 auch, das einst bundeseigene
Kurheim in Hahnenklee wieder in Besitz zu nehmen und unter der Leitung von
Chefarzt Dr. Jaedicke zu einem Sanatorium mit biochemischer Behandlung und von
gutem Ruf zu machen.
Die Biochemie und Ihre Männer
Pardon, aber die Leitung des Biochemischen Bundes lag bislang stets in den Händen
von Männern. Nach der ersten Satzung konnten sogar nur Männer Mitglied werden.
Das tragende Fundament der Biochemie jedoch waren von Anbeginn die Frauen.
Mütter, in Sorge um die Gesundheit ihrer Familie, Hausfrauen, die in Zeiten der Not
und Armut mit kargem Etat haushalten mußten. Frauen haben die Schüßlersche Idee
gepflegt und gehegt. Frauen sind in großer Zahl Mitglieder in den örtlichen Vereinen
und ihren Vorständen. Ohne die Frauen wäre die Biochemie nicht zum lebendigen
Element der naturheilkundlichen Selbstmedikation geworden.
Gesundheitsvereine und die Kirche haben zumindest zwei Dinge gemeinsam: Um ihr
Anliegen kümmert man sich meistens erst dann, wenn es eigentlich zu spät ist. Und
die Last der Arbeit liegt auf den Schultern der Frauen, während die Männer das Ruder
führen.
Aber wer sagt denn eigentlich, daß nicht eines Tages eine Frau die Präsidentschaft
(mit weiblichem Pronomen) übernehmen kann ?
Aber nun doch zu den Männern, deren Namen in die Geschichte der Biochemie
eingegangen sind. Einige habe ich schon genannt, z.B.
Wilhelm Töllner, Sohn eines der engsten Freunde Schüßlers und als Kind noch von
Schüßler selbst behandelt, leitete den Bund bis zu seinem Tode 1961 im Alter von
über 80 Jahren. Wer den Kongreß zu einem kleinen Spaziergang nutzen will, findet
sein Grab hier auf dem Friedhof in Hahnenklee. Für die Freunde der Musik: Paul
Lincke liegt nahe bei ihm.
Sein Nachfolger, Hans Möller aus Kiel, hat im "Weg zur Gesundheit" nur wenig
Spuren hinterlassen. Aber immerhin genoß er mehr als 10 Jahre das Vertrauen der
Delegierten, bis er 1972 um Entlastung bat.
Und dann kam Heinz-Dierk Schildt, den wir vor wenigen Wochen in Dormagen zu
Grabe getragen haben. Er war Oldenburger, wie Schüßler. Und er war eigenwillig,
wie Schüßler. 22 Jahre lang hat er die Geschicke des Biochemischen Bundes gelenkt.
Und dabei hat er einiges bewegt. Neue Vereinsgründungen, Schlichtung mancher
persönlicher Querelen, die Erweiterung des Sanatoriums zu einem repräsentativen
Großunternehmen, dessen Aufsichtsratvorsitzender er war. Ich habe selten einen
Menschen erlebt, der mit soviel Hingabe und Eifer für eine Idee gekämpft hat.
Wir alle sehen ihn noch vor uns, stattlich, schlohweiß, ein selbstbewußter und
manchmal bis zur Peinlichkeit beharrlicher Vertreter der Biochemie. Er hat drei Jahre
lang seiner bösartigen Krankheit getrotzt, getragen von der Besessenheit seiner Idee,
und wohl auch gestützt vom Vertrauen auf die unterstützende Hilfe der
biochemischen Salze. Als ich ihm das letzte Mal kurz vor Weihnachten in der
gemeinsamen Sitzung von Vorstand, Beirat und Satzungskommission begegnete, war
er körperlich nur noch ein Schatten seiner einstigen Stattlichkeit. Aber mit eiserner
Energie leitete er die zweitägige Mammutsitzung, getrieben von seinem Ziel: die
Zukunft der Biochemie zu sichern.
Ich habe bewundernd zur Kenntnis genommen, daß er neben seiner Aktivität im
Biochemischen Bund und der Deutschen Volksgesundheitsbewegung noch Zeit fand,
in Kirche, Sportverein und Politik aktiv zu sein. Heinz-Dierk Schildt, so habe ich in
einem Nachruf geschrieben, gehörte zu den wenigen Menschen, zu den ich
aufblicken mußte. Und das nicht nur wegen seiner einsneunzig.
Die Biochemie und ihre Mittel
Je einfacher eine umwälzende Idee ist, desto schwieriger scheint es, sie zu begreifen.
Schüßlers geniale Idee bestand darin, zu erforschen, was denn eigentlich die
anorganischen Mineralien im menschlichen Stoffwechsel tun. Organische Chemie,
das wissen wir alle, besteht aus den Elementen Stickstoff (N), Sauerstoff (O),
Kohlenstoff (C) und Wasserstoff (H), merken Sie sich NOCH. Und heute wissen wir
auch alle, daß ein Leben aus diesen Stoffen allein nicht möglich ist, daß eine Vielzahl
anorganischer Elemente die chemischen Umsetzungen dieser vier Stoffe steuert und
erst ermöglicht. Die Chemie des Lebens, die Bio-Chemie, ist das kunstvolle
Ineinandergreifen von steten Auflösungen und Neueingehen elementarer
Verbindungen.
Wilhelm Heinrich Schüßler war einer der ersten, die versucht haben, dieses
geheimnisvolle Zusammenspiel aufzuschlüsseln, in eine Ordnung zu bringen,
herauszufinden, welche Elemente denn was bewirken, und welche Krankheiten
entstehen, wenn eines dieser lebensnotwendigen Elemente fehlt. Der von ihm
geprägte Begriff "Biochemie" ist mittlerweile in den medizinischen Sprachgebrauch
eingegangen und steht für jene Wissenschaft, die genau das nachvollzieht, was
Schüßler begonnen hat: die Erforschung des Zellstoffwechsels. Nur - leider ist den
modernen Biochemikern der Name Schüßler aus dem Gedächtnis gekommen. Wir
aber brauchen nicht verschämt immer wieder zu betonen, daß es neben der
naturwissenschaftlichen Schulrichtung Biochemie noch so ein etwas zu kurz
gekommenes Kind "Schüßlers Biochemie" gibt. Jene tun genau das, was unser
Ziehvater wollte: sie erforschen, wer wann wo wie was in unserem
Stoffwechselgeschehen tut.
Die Reihe der anorganischen Salze, die Schüßler als lebensnotwendig herausfand,
entspricht sehr genau dem, was die moderne Medizin als essentielle, sprich
unersetzliche, Mineralien bezeichnet. Es sind die Elemente Calcium, Kalium,
Magnesium, Natrium, Eisen und Silicium in Verbindung mit den Anionen Phosphor,
Schwefel und Chlor, im Ausnahemfall bei der Nummer eins auch Fluor. Schüßler war
ein exzellenter Beobachter. Wenn auch seine Erklärungsversuche für
Zusammenhänge heutigen Erkenntnissen nicht immer standhalten, die Ergebnisse
und die Schlußfolgerungen, die er zog, waren ausnahmslos richtig. Es ist
faszinierend, zu beobachten, wie moderne naturwissenschaftliche
Forschungsergebnisse mit arger Verspätung bestätigen, was Wilhelm Heinrich
Schüßler vor 120 Jahren beschrieb.
Bis zu seinem Tode 1898 hat Schüßler seine Erstschrift immer wieder überarbeitet,
erweitert und verbessert. Dabei ist erkennbar, daß er sehr aufmerksam die Fortschritte
der Medizin seiner Zeit verfolgt und in seine Lehre eingebaut hat. Wie ein
Vermächnis mutet es an, wenn er in seinem Schlußwort zur 22. Auflage schreibt,
"Wenn Ärzte, die auf dem Gebiet der physiologischen Chemie sich gründliche
Kenntnisse erworben haben, mir beim Aufbau meines Werkes behilflich sein wollen,
so würden ihre Beiträge mir sehr willkommen sein."
Wir sollten bemüht sein, auch heute so zu verfahren, wie er selbst es tat: Im
Zusammenspiel mit der modernen Medizin die Wirksamkeit und den
Wirkmechanismus der biochemischen Salze zu erforschen und anzuwenden.
Nach Schüßlers Tod hat es noch etliche Auflagen seiner kurz vor dem tödlichen
Schlaganfall fertiggestellten Endfassung der "Abgekürzten Therapie" gegeben. Und
es hat auch viele Autoren gegeben, die Eigenes hinzugefügt haben. Manchmal nicht
nur zum Wohle der Biochemie, sondern zum eigenen Profit. Nicht alles, was in
Nachfolgewerken steht, dient selbstlos der Schüßlerschen Idee.
Da gibt es zum Beispiel 1930 den Herrn Schöpwinkel aus Angermund, der in einem
umfangreichen Buch über die "Polarbiochemie" die Ergänzungsmittel in die
Biochemie einfügt. Das war nicht einmal verkehrt, denn zu Schüßlers Zeiten konnte
man mangels technischer Möglichkeiten die heute so genannten Spurenelemente
noch nicht präzise analysieren. Da sie zum größten Teil ebenso wichtig sind, wie die
oben aufgelisteten Funktionsmittel oder Mengenelemente, ist es sicher eine sinnvolle
Bereicherung der Biochemie, auch hierüber zu forschen und zu berichten. Herr
Schöpwinkel schießt aber sicherlich, wie so viele prominente Außenseitermediziner,
weit übers Ziel hinaus, wenn er von der "Polarbiochemie als Weltgesetz" schreibt.
Da gibt es auch die biochemischen Sommer-, Frühjahrs- oder WinterkurEmpfehlungen, in denen irgendwelche Autoren ihre ganz subjektiven Erfahrungen
über die zu bestimmten Jahreszeiten besonders bedürftigen Mineralien niedergelegt
haben. Sicher ist die umfassende Vorbeugung vor möglichen Mängeln sinnvoll, aber
nicht für jedermann gleichermaßen notwendig. Die Gedankengänge, die einer solchen
Kur-Zusammenstellung zugrunde lagen, bleiben meist im Dunkeln und sind darum
auch jederzeit variierbar.
Und da gibt es in jüngster Zeit eine von früher her gut beleumundete Schule, die
Rezepte von 60 bis 100 Tabletten pro Tag für sinnvoll hält. Bitte, wenn Sie denn all
den Milchzucker vertragen. Aber logischer wäre es dann sicher, von der
obligatorischen D6 auf D3 zurückzugehen oder gar die Ursubstanz zu geben, wenn es
denn auf die substantielle Menge ankommen soll. Schüßler selbst war keineswegs auf
die D6 eingeschworen. Er hat ausweislich überlieferter Apothekenrezepte von ihm
mit verschiedenen Potenzen gearbeitet und seinen Nachahmern empfohlen, die für
den Einzelfall richtige Potenz zu suchen. Man sollte schon irgendwann diskutieren,
ob denn für alle Salze die D6 wirklich optimal ist. Könnte nicht für die "heiße
Sieben", Magnesium mit dem schnellen spasmolytischen Effekt, nicht auch eine D3
angebracht sein ? Oder für Natrium als homöopathisches Simile bei der heute
häufigen Natrium-Intoxikation mit Bluthochdruck besser eine D9 ?
Für homöopathische Neulinge: D6 heißt 6.Dezimalpotenz und bedeutet, daß die
Reinsubstanz 6 x nacheinander im Verhältnis 1:10 durch verreiben oder verschütteln
verdünnt wurde. Die D6-Arznei enthält also noch ein Millionstel der ursprünglichen
Menge. Die Homöopathen nennen das nicht verdünnen, sondern potenzieren, weil
sich mit immer feinerer Aufschließung des Stoffes seine Wirkung verstärkt.
Genau das war auch der Grund, warum Schüßler für die Zubereitung seiner
Mineralstoffgaben die homöopathische Aufbereitung gewählt hat. Er hat damit einen
ganz modernen Begriff, der in der heutigen Pharmazie fast übermächtig geworden ist,
vorweggenommen: die Bioverfügbarkeit. Was nützt denn eine geschluckte Arznei,
wenn sie geradenwegs durch den Darm auch wieder verloren geht und dem inneren
Stoffwechsel, der Bio-Chemie, garnicht zur Verfügung steht ? Die wiederholte feine
Verreibung zerkleinert die Teilchen und vergrößert damit die wirksame Oberfläche.
Und mit der Empfehlung, das Salz nicht zu schlucken, sondern auf der Zunge
zergehen zu lassen, umgehen wir den Pfortaderkreislauf und die Um- und
Abbauprozesse der Leber. Pharmakokinetik heißt die Lehre vom Weg, den eine
Arznei in unserem Körper vom Schlucken bis zu ihrem endgültigen Abbau nimmt.
Selbst darüber hat Schüßler sich in prophetischer Vorausschau
naturwissenschaftlicher Überlegungen Gedanken gemacht.
Als homöopathische Therapie im Sinne der Hahnemannschen Ähnlichkeitsregel hat
Schüßler seine Mineralstofflehre nie verstanden, wenngleich er bei der Beschreibung
der Mangelsymptome seine lange Erfahrung als homöopathischer Arzt nicht
verleugnen konnte. Seine Jünger und viele heutige Biochemiker ordnen hingegen die
Biochemie der Homöopathie zu. Beides ist möglich und funktioniert auch, denn
schließlich sind die Salze ja nach den Regeln der Homöopathie aufbereitet. Aber die
Indikationsansprüche, die Zielrichtung, die Erscheinungen, die behandelt werden
sollen, sind andere, ob ich mit meiner Arznei schlicht Mineralmämgel beseitigen will,
oder ob ich entsprechend dem homöopathischen Arzneibild Konstitutionen verändern
will.
Joachim Broy, langjähriger Leiter des Arbeitskreises für praktische Biochemie,
schrieb in den 70er Jahren im "Weg zur Gesundheit" wörtlich: "Womit hat es
Schüßler, dieser aufrechte Kämpfer und Begründer einer im Kern doch
revolutionären Idee, verdient, daß seine Lehre so simpel in den großen Topf der
Homöopathie geworfen wurde, zusammen mit vielen anderen Dingen, die auch nicht
dahinein gehören ?"
Der Biochemische Bund und die Kollegen, die ihn fachlich begleiten und beraten,
sind ganz dringlich aufgerufen, in unser offizielles Schrifttum Ordnung zu bringen.
Wir müssen unsere Therapieempfehlungen gliedern in
a) mangelbedingte Anwendungen und
b) homöopathische Anwendungen.
Unser heutiges Arzneirecht hält diese beiden Therapierrichtungen streng getrennt.
Eine Vermischung der Ideen führt mit Sicherheit zum Versagen der Zulassung für ein
Medikament, und das entspricht einem Verbot. Diese Hausarbeit müssen wir schnell
und konsequent tun, wenn wir unser biochemisches Repertoire auch im Jahre 2000
noch glaubhaft verteidigen wollen.
Bei der Gelegenheit kann es dann auch nicht schaden, wenn wir ein paar überholte
oder aus fragwürdigen Motiven später hinzugeschriebene Indikationen ausmerzen
und zugleich auf andere bewährte aber wissenschaftlich noch nicht belegte unser
verstärktes Forschungsbemühen richten.
Wenn wir Schüßlers Auftrag ernst nehmen, dann müssen wir seine Lehre nicht nur
sakrosankt bewahren, wir müssen sie weiterentwickeln. Der Biochemische Bund
Deutschlands ist eine Laienbewegung. Er hat die Biochemie 120 Jahre lang sorgsam
gehütet und bewahrt, allen Fährnissen zum Trotz. Zum Weiterentwickeln aber bedarf
es medizinischen und pharmakologischen Sachverstandes. Die Installation eines
Fachbeirates, der dem Vorstand des Bundes beratend zur Seite steht, ist nach meinem
Dafürhalten längst überfällig, wenn wir den Anschluß an die Medizin des
kommenden Jahrhunderts nicht verlieren wollen.
Bei der Gelegenheit möchte ich kurz auf einen Brief eingehen, der mir und wohl allen
Biochemischen Gesundheitsvereinen in der letzten Woche zuging. Von hohen
ethischen Idealen getrieben kämpft die Schreiberin für ein Gedankengut, daß in
unseren Ohren gut klingt, für "lebendige Arznei". Wie nützlich und erfolggekrönt
könnte soviel Idealismus doch sein, wenn er auch noch mit Sachverstand gekoppelt
wäre.
Nur die Quellsalztabletten, so der Brief, seien lebendig und heilsam, die
"synthetischen toten" Mineralsalze der DHU und anderer Firmen seien Müll und
würden die Zelle verschlacken. Nun denn, die von Schüßler beschriebenen
Mineralsalze sind niemals "synthetisch", unsere Elemente Calcium, Kalium,
Magnesium sind Ur-Elemente, Atome, aus denen man im Labor zwar vielerlei neues
stricken kann. Sie selbst aber kann man nicht "synthetisieren", zusammensetzen, der
liebe Gott hat sie uns geschenkt, so wie sie sind. Wo immer wir sie finden auf dieser
Erde, sind sie zuvor vom Regen, von den Flüssen, den Meeren aus dem Gestein
herausgewaschen, und schließlich nach dem Eintrocknen der Meere als Salz
zurückgeblieben. Wir brauchen sie nur aufzuheben. Das Eindampfen von
Mineralquellen zu ihrem Salzgemisch verkürzt diesen langen natürlichen Weg zwar
im Dampfkessel um ein paar tausend Jährchen, aber es macht das Salz weder
lebendiger noch heilsamer.
Schüßler hat - im Gegensatz zur Behauptung des Briefes - keine Quellsalztabletten
verwendet. Das konnte er auch nicht, denn es gab sie damals garnicht. Mir liegt ein
Brief von ihm an seinen Apotheker Marggraf in Leipzig vor, in dem er schreibt:"
Außerdem wünsche ich noch einige Verreibungen, und zwar von der 3ten bis zur 6ten
(Potenz) von Chlorkalium (nicht chlorsaures Kali) sondern KCL nämlich eine
Verbindung von Kaliummetall und Chlor."
Quellsalztabletten verwenden wir in den Biochemischen Vereinen erst seit Anfang der
60er Jahre, und zwar aus einem ganz pragmatischen Grund. Sie sind nach § 44 (2)
Arzneimittelgesetz nicht apothekenpflichtig und können daher in Reformhäusern,
Drogerien und den Abgabestellen der Vereine abgegeben werden. Es war den
Vereinen schon immer ein wichtiges Anliegen, den Mitgliedern auch den preiswerten
Zugang zu den Biochemischen Mitteln zu verschaffen. Übrigens: Entgegen der weit
verbreiteten Ansicht bedarf es für die Abgabe dieser Mittel keiner
Sachkenntnisprüfung. Das ergibt sich aus den §§ 50 und 51 des obigen Gesetzes.
Bis vor wenigen Wochen noch mußten wir darum bangen, ob unsere
Quellsalztabletten die nach dem neuen Arzneimittelgesetz vorgeschriebene
"Nachzulassung" überleben würden. Nachzulassung bedeutet, daß alle am Markt
befindlichen Altmedikamente in einem Zulassungsverfahren ihre Qualität,
Wirksamkeit und Unschädlichkeit nachweisen müssen. Homöopathische Arzneien
genießen dabei wesentliche Erleichterungen weil jedermann weiß, daß die Wirkung
von homöopathischen Arzneien sich mit naturwissenschfatlichen Methoden nicht
belegen läßt. Unsere Quellsalze sind aber keine Homöopathika und unterliegen
darum den gleichen strengen Kriterien wie ein Antiobiotikum oder
Betarezeptorenblocker. Jeder Insider weiß, daß es nicht möglich sein wird, für unsere
vielfältigen Anwendungsgebiete diesen Nachweis zu erbringen. Es sah ganz danach
aus, als würden die Tabletten sterben.
Seit einigen Wochen dürfen wir wieder etwas hoffen. Im Zuge der spektakulären
Auflösung des Bundesgesundheitsamtes hat Minister Seehofer von einem
"Befreiungsschlag" gesprochen, mit dem er die Nachzulassung beschleunigen will.
Aus Gesprächen läßt sich zumindest vermuten, daß damit auch eine Erleichterung für
so bekanntermaßen harmlose Mittel, wie unsere Quellsalztabletten verbunden sein
werden. Ein Hoffnungsschimmer zumindest ....
Die Furcht vor den "synthetischen" Mineralien ist einem Buch von Wandmaker
nachempfunden, in dem die Verwendung von "organischen" Mineralien empfohlen
wird. Auch das klingt so schön biologisch und darum überzeugend in unseren Ohren.
Nur - es gibt keine "organischen" Mineralien. Wo immer sie eingebaut sind, in die
Pflanze oder den menschlichen Organismus, Mineralien sind und bleiben
anorganisch. Wohl aber können wir das anorganische Kation Calcium an ein
organisches Anion, z.B. Orotat oder Laktat binden. Das allerdings bietet uns die
Natur nicht frei Haus als Arznei an, es muß sehr künstlich im Labor
zusammengebastelt werden. Ein Gewinn ist damit nicht erzielt, es sei denn für den
Hersteller einer solchen Arznei, denn
1. sind diese Moleküle sehr groß und schwer resorbierbar,
2. sind sie oft so fest chelatförmig miteinander verbunden,
daß das benötigte Calcium garnicht wieder zur freien
Verfügung gestellt wird, und
3. wirkt unser Kation überhaupt erst, wenn es ionisiert,
dissoziiert, aus seiner Verbindung freigesetzt ist.
Und wenn es denn frei ist, dann ist es ihm ziemlich einerlei,
mit wem es zuvor verheiratet war.
Könnten wir keine anorganischen Mineralien verwerten, wir wären alle wie Lots
Weib zur Salzsäule erstarrt. 120 Jahre medizinische Forschung und 120 Jahre
Biochemie wären Makulatur. Und wiederum zitiere ich Schüßler im Original:
"Die organischen Stoffe dienen den zu bildenden Zellen als Grundlage, die
anorganischen bestimmen die Form und die Funktion." Und etwas weiter:
"Ich lasse jedem Heilverfahren sein Recht; ich protestiere aber gegen die Einführung
organischer Substanzen in meine Biochemie."
Die Biochemie und die Schulmedizin
Durch die Literatur der 120 Jahre Biochemie-Geschichte zieht sich wie ein roter
Faden die wiederkehrende Klage, unsere Lehre würde von der Schulmedizin
bekämpft. Das ist so nicht richtig. Sie wird nicht bekämpft, sie wird ignoriert. Wie
sehr die Ignoranz der offiziellen Medizin iun alle anderen rechtsbereiche
durchschlägt, zeigt sich aus einem Schriftwechsel des Hamburger Vereins mit dem
Finanzamt. Die Steuerbehörde beruft sich noch 1952 auf ein Urteil von 1937, in dem
es heißt "Für die Bildung der Volksanschauung ist die jeweils herschende
wissenschaftliche Erkenntnis maßgebend." Damit wird die Gemeinnützigkeit
abgelehnt. Glücklicherweise ist das "Schnee von gestern". Heute ist die
Gemeinnützigkeit bei korrekt gestalteter Satzung kein Streitpunkt mehr.
Ignoranz ist nicht immer eitler Hochmut, oft nur Unwissenheit.
So wie der prinzliche Reiter im Wald nicht ahnt, daß hinter der hohen Dornenhecke
ein Schloß versteckt liegt, in dem ein Dornröschen aufs Wachgeküßtwerden wartet,
so ahnt die Schulmedizin nicht, welches riesige Publikumspotential im
Biochemischen Bund schlummert, und nur auf den Versöhnungskuß wartet. Aber
wenn wir die Dornenhecke nicht von innen her abholzen, dann reitet der Prinz vorbei
und wir bleiben ungeküßt.
Als Wilhelm Heinrich Schüßler seine Theorie vorstellte, war er der etwas
angestaubten Medizin seiner Zeit weit voraus. Seine Kollegen taten sich schwer, der
überhaupt nicht außenseiterischen sondern sehr naturwissenschaftlich analytisch
geprägten Idee zu folgen. Und Schüßler war auch nicht gerade der Mann, der sich
sachlicher Kritik zu stellen bereit war. Als sich dann auch noch eine Laienbewegung
der Sache vehement annahm, war die Schüßler-Lehre für die offizielle Medizin nicht
mehr hoffähig.
Das heißt aber noch lange nicht, daß die Medizin sich nicht der Mineralstoffe
angenommen hätte. Die Erforschung des Stoffwechsels, die Biochemie, ist zu einem
eigenen Wissenschaftszweig geworden. Speziell mit den Mineralien und
Spurenelementen befassen sich mehrere Fachgesellschaften, eine Fülle von Literatur
zu diesem Thema überschwemmt die Ärzte und jedes Jahr finden mindestens 5
Fachkongresse statt, die sich ausschließlich mit unserem ureigensten Thema
beschäftigen - und das auf hohem wissenschaftlichen Niveau. Wieso stehen wir dabei
eigentlich draußen ?
Die moderne Medizin hat Schüßlers Beobachtungen längst bewiesen. Über all den
Fortschritt aber ist ihr der Name Schüßler aus dem Bewußtsein geraten. Im Ausland
weiß man offenbar mehr mit dem Namen anzufangen, als in seiner Heimat. Die EGRichtlinie über Homöopathie erwähnt in ihrem englischen Urtext ausdrücklich die
"biomedicine" (following Dr. Schussler), was die deutschen Medizinalbürokraten
nicht besser zu übersetzen wußten, als eben auch "Biomedizin" (Theorie nach Dr.
Schüßler).
Wer ist nun dran, die Axt an die uns trennende Dornenhecke zu legen ? Die drinnen
oder die draußen ? Ich denke, es stünde uns gut zu Gesicht, einen ersten Schritt zu
tun. Unser langjähriger Präsident Heinz-Dierk Schildt war von Hause aus doch
Brückenbauer. Er hat die Theodor-Heuß- und die Rheinknie-Brücke in Düsseldorf
mit projektiert. Sollten wir nicht auch in diesem Punkt seinem Vermächtnis folgen
und Brücken schlagen ? Es würde der biochemischen Bewegung gut tun, wenn wir
verstärkt die Erkenntnisse moderner medizinischer Forschung in unser Bemühen um
gesunde und natürliche Lebensweise einbauen - und im Gegenzug sollten wir der
Schulmedizin die historische Erinnerung an unseren Lehrmeister Dr.Schüßler wieder
ins Gedächtnis bringen.
Autor: Hans-Heinrich Jörgensen, Moorbeker Str. 35,
D-26197 Großenkneten/Germany
Tel: +49 4435 5068 Fax: +49 4435 6166