Wann lügen Menschen
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Wann lügen Menschen
Wann lügen Menschen? – Dan Ariely Dan Ariely, ein amerikanischer Verhaltensvorscher, hat Menschen im Experiment Aufgaben vorgelegt, wie sie im Bild zu sehen sind. Dazu war folgende Aufgabe zu lösen: »Welche Zahlen ergeben zusammen 10?« Die Probandinnen und Probanden mussten in kurzer Zeit viele Aufgaben lösen. Im Durchschnitt war es in der vorgegebenen Zeit theoretisch möglich, vier Aufgaben zu lösen. Ariely ging nun wie folgt vor: 1. Pro richtige Aufgabe erhielten die Teilnehmenden Geld, z.B. 1 Franken. 2. Sie durften selber angeben, wie viele Aufgaben sie lösen konnten. 3. Sie durften ihr Lösungsblatt vernichten, so dass keine Kontrolle mehr möglich war. Was passierte? • Praktisch niemand gibt an, alle Aufgaben gelöst zu haben. • Eine geringere Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, hat keinen Einfluss auf das Maß, in dem gelogen wird. • Der zu erwartende Gewinn hat keinen Einfluss darauf, wie stark Menschen lügen. • Wenn andere einen Vorteil haben, wenn man selber lügt, sind viele Menschen stärker bereit, zu lügen. • Wenn andere offensichtlich sehr stark betrügen (Ariely benutzte einen Schauspieler), betrügt man selber auch stärker. • Je indirekter man lügen kann, desto stärker tut man es (wenn z.B. nicht Geld bezahlt wird, sondern Jetons, die man wieder in Geld umtauschen kann). • Wenn man selber schon in anderen Bereichen lügen muss, ist man bereit, viel stärker zu lügen. • Man wird ehrlicher, wenn man an ethische Regeln erinnert wird (z.B. die 10 Gebote). • Man wird ehrlicher, wenn man vor dem Experiment unterschreiben muss, dass man nicht lügen wird. Philippe Wampfler Version 1.0 phwa.ch/efphilo Datum: 14.04.2013 Arielys These ist, dass sehr wenige Menschen gar nicht lügen oder immer lügen – fast alle jedoch eine Tendenz dazu haben, unter gewissen Bedingungen leicht zu lügen. Das lässt sich wohl verallgemeinern: Wenn man sicherstellen will, dass Menschen sich anständig verhalten, müssen sie direkt miteinander interagieren, dürfen keine negativen Beispiele sehen und sollen an die eigene Verpflichtung erinnert hingegen oder mehr Kontrollen NZZwerden, am Sonntaganständig zu sein. Strafen Medienart: Print 8021 Zürich Medientyp: Tages- und Wochenpresse 044/ 258 11 11 Auflage: 130'837 www.nzz.ch/sonntag Erscheinungsweise: wöchentlich Interview in der NZZ am Sonntag, 14. April 2013 ist nicht weiter beunruhigend. Eine öffentliche Lüge, die das Vertrauen untergräbt, muss man sehr viel ernslegen - gestern oder heute? Ich habe ter nehmen. Vertrauen ist ein öffentheute Morgen gelogen. Wissen Sie, ich liches Gut. Moderne Errungenschaften wie abstraktes Geld und Banken erhalte jeden Tag eine Anfrage, irgendwo eine Rede zu halten oder Fra- sind ohne Vertrauen nicht denkbar. gen zu beantworten. Heute Morgen kam wieder so eine Anfrage, und ich Frankreichs Budget-Minister Oröme antwortete, ich sei nicht mehr in der Cahuzac, der für das Eintreiben der Stadt. Ich gab die Antwort, bevor ich Steuern verantwortlich ist, musste kürzin meine Agenda schaute. Es war eine lich zugeben, ein Bankkonto in der einfache Ausrede, um etwas nicht tun Schweiz zu haben, das er später nach zu müssen. Das ist nicht sehr schäd- Singapur transferierte. Zuvor hatte er lich, aber die Ausrede war eine Lüge. stets abgestritten, ein solches Konto zu haben - auch vor dem Parlament. Wie Sie haben Dutzende von Experimenten wirkt das auf die Menschen? Es führt dazu, dass das Vertrauen in gemacht, um herauszufinden, wie, wann der Gesellschaft weiter ausgehöhlt und weshalb wir andere Leute täuwird. Unsere Erfahrung zeigt, dass die schen. Wie lautet Ihr Befund? Wir haben rund 30 000 Leute getes- Leute bei den Steuern nicht so stark tet, und nur ganz wenige waren echte lügen, wie sie potenziell könnten Schwindler. Aber etwa 18 000 der Pro- auch wenn es dabei alle Arten von banden haben bei den Aufgaben stets Schummeleien gibt. Wenn sich jeder perfekt egoistisch verhalten würde, ein bisschen geschummelt. Sie verfolgten zwei Ziele: Sie schummelten wären die Steuereinnahmen in den ein wenig beim Lösen der Aufgaben, meisten Ländern viel geringer als um mehr Geld zu erhalten. Gleich«Die meisten Leute zeitig wollten sie ihr Selbstbild als ehrliche, wahrhaftige Person aufrechtschummeln, doch sie erhalten. Das hat sie davon abgehalten, mehr zu schummeln. wollen auch ihr SelbstNZZ am Sonntag: Wann haben Sie zum letzten Mal geschummelt? Dan Ariely: Lassen Sie mich über- Wo sind die Folgen des Schwindelns sehr schädlich? Etwas vom Schädlichsten ist Lügen in der Öffentlichkeit, weil dies das Vertrauen in soziale Institutionen untergräbt. Erinnern Sie sich an die zehn Gebote? Wissen Sie noch, wie das achte oder neunte Gebot über die Ehrlichkeit lautet? Du sollst nicht lügen? Das dachte ich auch, aber es heisst: «Du sollst kein falsches Zeugnis von Dir geben.» Ich habe mich mit vielen Leuten darüber unterhalten, warum es nicht einfach «Du sollst nicht lügen» heisst. Das Gebot ist sehr weise formuliert. «Falsches Zeugnis ablegen» hat zwei Aspekte: Es ist eine Lüge in der Öffentlichkeit, und es erodiert das Vertrauen in öffentliche Institutionen. Wenn Sie Ihrer Frau sagen, sie sehe besser aus, als dies der Fall ist, handelt es sich um eine private Lüge. Das bild als ehrliche Person aufrechterhalten.» heute. Die Höhe der Einnahmen belegt aber, dass die Leute häufig einen guten Willen haben und an mehr als bloss ihren Eigennutz denken. Wenn der Chefbeamte im Finanzministerium unversteuertes Geld versteckt, untergräbt das den guten Willen. Sie schreiben, Banker seien vor der Finanzkrise blind gewesen für die Risiken von hypothekengesicherten Wertpapieren, der hohe Bonus habe ihre Wahrnehmung korrumpiert. Wie lässt sich das in Zukunft vermeiden? So, wie Banker heute bezahlt wer- den, sind sie einem starken Interessenkonflikt ausgesetzt - zwischen Optimierung des eigenen Bonus und dem Nutzen für den Kunden. Wenn wir Banker wie Richter entlöhnen würden, nämlich mit einem festen haben keinen Effekt darauf. Themen-Nr.: 377.12 Abo-Nr.: 1070143 Seite: 29 Fläche: 111'712 mm² Gehalt, könnte der Interessenkonflikt vermieden werden. Die Komplexität und Abstraktheit der derivativen Finanzprodukte, weit weg von realem Geld, erhöhen zudem den Anreiz zum Schummeln. Im Bankwesen gibt es viele versteckte Möglichkeiten, um Kunden zu belasten. Ich glaube nicht, dass Banker schlechte Leute sind. Wenn wir aus Ihnen einen Banker machen würden, und Sie sich während eines Jahres nur unter Bankern bewegten, würden Sie sich gleich verhalten. Schummeln und Betrügen kommt oft in Gestalt der Selbsttäuschung daher. Man schraubt etwas an den Margen, an den verborgenen Skalen, das ist nicht vollkommen illegal. Wie etwa bei der Manipulation der Libor-Leitzinsen? Ja, man manipuliert etwas, aber nicht zu stark. Oder man schraubt an den Gebühren und Kommissionen. Ich glaube, der Regulator schiesst am Ziel vorbei: Er zielt vor allem auf den Psychopathen, der stets seinen Eigennutz maximiert - und setzt darum auf Bestrafung und Transparenz. Aber es gibt keine Evidenz, dass das wirkt. Was ist Ihr Ratschlag? Ich glaube, im Bankwesen brauchen wir eine Art Vergebung. Wir haben eine Vertrauenskrise. Immerhin bringen die Leute ihr Geld noch auf die Bank . . . . . . aber nicht mehr so viel wie frü- Dan Ariely Der 45-jährige Professor an der Duke University in Durham (North Carolina) zählt zu den führenden Verhaltensökonomen. Er ist in Israel aufgewachsen, studierte Mathematik, Psychologie und Betriebswirtschaft. Arielys erstes Buch (Predictably Irrational: The Hidden Forces That Shape Our Decisions) wurde über eine Million Mal verkauft und in 25 Sprachen übersetzt. Auch seine zwei jüngsten Bücher sind Bestseller. Ariely ist verheiratet und hat zwei Kinder. (dah.) her. Die Leute misstrauen der Börse Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 49558771 Ausschnitt Seite: 2/3 Seite 2 / 4 NZZ am Sonntag 8021 Zürich 044/ 258 11 11 www.nzz.ch/sonntag Medienart: Print Medientyp: Tages- und Wochenpresse Auflage: 130'837 Erscheinungsweise: wöchentlich und den Aktien - und bevorzugen Bargeld, Häuser, Gold. Mit gravierenden Folgen: Viele Leute über 50, die in der Finanzkrise aus den Aktien ausstiegen, verloren viel Geld. Sie profitierten nicht von der Erholung, und sie werden viel zu wenig Erträge haben, um ihre Pension zu finanzieren. Bei 0% Sparzins stehen die Chancen schlecht, während der restlichen Arbeitsjahre genug Geld sparen zu können. Für die Normalverdiener ist es wichtig, dass das Vertrauen in den Markt wiederhergestellt wird. Dazu wäre eine Entschuldigung der Banker angebracht - kaum zu glauben, dass das bisher nicht passiert ist. Ferner braucht es eine andere Führung, andere Lohnsysteme, versteckte Kommissionen und Interessenkonflikte müssen eliminiert werden. Sie haben in einem Experiment belegt, dass Leute, die gefälschte Markenprodukte tragen, eher zum Schummeln neigen. Woran liegt das? Themen-Nr.: 377.12 Abo-Nr.: 1070143 Seite: 29 Fläche: 111'712 mm² Zifferblatt. Wir verknüpfen das gefälschte Produkt mit der Art und Weise, wie wir über uns selber denken. Wenn Sie sich selbst als nicht integre Person sehen, fällt es leichter, die nächste Stufe des Schummelns zu nehmen. Stellen Sie sich vor, Sie seien auf Diät. Sie futtern aber schon am Morgen einen Muffin. Was passiert dann beim Mittagessen? Sie werden sich sagen: Heute bin ich nicht auf Diät. Also genehmigen Sie sich noch ein Dessert. Wir können zu 92% gut sein und uns insgesamt immer noch für gut halten. Bei 67% wird es aber schon schwieriger. Sie begeben sich auf eine rutschige Bahn, und Sie werden die nächste Gelegenheit zum Schummeln rascher ergreifen. Es ist, wie wenn Sie am Morgen alle Lügen aufzählen müssten, die Sie in Ihrem Leben aufgetischt haben. Dann haben Sie ein schlechtes Bild von sich selbst - und lügen wird einfach ein Teil dessen, was Sie tun. Dieser Effekt ist nicht bei allen Produkten zu beobachten, sicher aber bei Wie würde man das in Hongkong sehen? Wenn Sie in Hongkong leben, wo einer gefälschten Uhr: Sie hat symbogefälschte Produkte kein soziales Stiglischen Wert, Sie tragen sie täglich ma bedeuten, spielt es keine Rolle, und schauen immer wieder auf ihr weil Kopien von Markenartikeln von den Leuten akzeptiert sind. Versicherungen erleben oft, dass die Leute nach einem Diebstahl den Wert der gestohlenen Ware nach oben frisieren. Sie haben belegt, dass die Leute ehrlicher deklarieren, wenn sie am Anfang des Formulars unterschreiben müssen. Darum haben Sie eine Umgestaltung angeregt. Warum sind die Versicherer nicht auf den Rat eingegangen? Versicherungen werden vor allem von Finanzmathematikern geführt. Es ist ihnen nicht so wichtig, wie die Risiken zustande kommen, solange sie zum korrekten Preis in die Rechnung eingehen. Doch wenn einige Leute stets schummeln, bezahlen die aufrichtigen Kunden zu hohe Prämien. Das mag den Versicherungen egal sein, solange ihre Rechnung aufgeht, aber uns als Individuen betrifft das. Darum berate ich weiterhin Versicherungen. Oder auch die britische Regierung: Sie hat ein Büro für Verhaltensökonomie eingerichtet. Wir haben da einige Vorschläge eingebracht, wie man die Formulare im Sozialwesen verbessern kann. Interview: Daniel Hug So funktionieren die Experimente Wertvolle Erkenntnisse für die Praxis Der Saal in der Universität Zürich war Probanden ihr Blatt durch den Reisswolf am letzten Mittwoch übervoll: Dan Ariely lassen und brauchten der Übungsleiterin weilte auf Einladung der Excellence bloss mitzuteilen, wie viele Aufgaben sie Foundation (initiiert von Prof. Ernst Fehr) gelöst hatten. Tatsächlich war der Schredin der Schweiz. In freier Rede erklärte er der jedoch manipuliert: Er schnitt nur die die Ergebnisse seiner jüngsten ForSeitenränder ab, aber der Inhalt auf den schung (Dan Ariely: Die halbe Wahrheit Blättern blieb erhalten. So konnten Ariely ist die beste Lüge. Droemer, 2012). und sein Team jeweils ermitteln, wie stark In vielen Experimenten testete Ariely, die Leute schummelten. Ergebnis: Die wann Leute lügen. Dazu händigte er den meisten Probanden lösten vier Aufgaben Probanden ein Blatt mit zwanzig Aufga- und gaben an, sechs gelöst zu haben. ben aus: Jede Aufgabe bestand aus einer Dabei war es unerheblich, ob der GeldMatrix von 16 Zahlen (z. B. 4.67 und betrag pro Lösung tiefer oder höher an2.91). Zu suchen waren jeweils zwei Zah- gesetzt wurde, ebenso wenig wie die zu len, die zusammen 10 ergaben. Für jede erwartende Strafe, wenn man erwischt wird. Das herkömmliche Modell, wonach gelöste Aufgabe gab es einen halben Dollar, doch man gewährte den Leuten die Menschen jeweils nach dem Kostennur 5 Minuten Zeit. Am Ende durften die Nutzen-Prinzip handelten, konnte somit Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen verworfen werden. Dafür wirkten ganz andere Dinge: «Es gab kein Schummeln, wenn sich die Studenten zuvor an die zehn Gebote erinnern mussten. Wobei es egal war, dass sich niemand an die zehn Gebote erinnern konnte -sie erfanden einfach eigene», sagt Ariely. Wichtig war die Erinnerung an moralische Prinzipien. Positiv wirkte auch ein Gelöbnis oder eine Unterschrift, die zu Beginn des Experiments zu leisten war. Als Faktoren, welche die Unehrlichkeit fördern, erwiesen sich Interessenkonflikte, Kreativität (die Fähigkeit, eine gute Ausrede zu finden), Erschöpfung, ein vorangehender unmoralischer Akt oder eine Kultur, die Beispiele von Unehrlichkeit liefert. (dah.) ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 49558771 Ausschnitt Seite: 3/3 Seite 3 / 4 Ein deutsches Experiment In Deutschland haben Wirtschaftwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler 700 Menschen telefonisch gebeten, eine Münze zu werfen. Zeigt sie – angeblich – Zahl, zahlten sie den Probandinnen und Probanden 15 Euro (entweder per Post oder als Code für einen Geschenkgutschein). Hier das Ergebnis: Daraus schloss die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Nur wenige Menschen lügen direkt, die meisten bekommen dabei ein schlechtes Gewissen. Stattdessen schummeln die Leute oft nur ein wenig, um sich ein kleines bisschen besser darzustellen. Wie interpretieren Sie das Ergebnis? Quellen: ftp.iza.org/dp6919.pdf und faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/-11944631.html Seite 4 / 4